Das „Opernhaus des Jahres“ Frankfurt zeigt „Le Nozze di Figaro“ als schwerelose Komödie

Danylo Matviienko (Graf Almaviva) und Elena Villalón (Susanna) in der Frankfurter Neuinszenierung von Mozarts „Hochzeit des Figaro“. Foto: Barbara Aumüller

Im Frankfurter Opernhaus atmet alles Leichtigkeit. Thomas Guggeis, neuer GMD als Nachfolger von Sebastian Weigle dirigiert zum Einstand Wolfgang Amadeus Mozarts so leichtfüßiges wie gewichtiges Meisterwerk „Le Nozze di Figaro“.

Sein blonder Schopf hebt sich über die Brüstung des Grabens. Rötlich schimmern die Haare, rucken im Rhythmus eines Körpers, der dem Orchester Signale setzt. Eine Hand erscheint, dreht sich, winkt, zeigt, kommandiert, schlängelt sich um ein scheinbar ohne Widerstand bewegliches Gelenk. Das diskret alle Nuancen ausspielende Orchester zieht so federnd und flexibel mit, als würde Rossini den Musikern Bögen, Tasten, Klappen, Ventile und Schlägel führen.

Und Tilmann Köhlers Regie kleidet Beaumarchais‘ und da Pontes untergründig aufgeladene Komödie entsprechend in gewichtslose Beweglichkeit, bei der die jungen Darsteller mit Freude und Witz dabei sind. Bedeutung wird nicht vorgezeigt, nicht aufgesetzt, sondern ergibt sich wie von selbst aus der Bewegung eines Augenblicks, einem betonten Gang, einer kräftiger nuancierten Geste. Nichts wirkt schwer, wir blicken auf keine Atlanten, die das Gewölbe einer Deutung zu tragen hätten. Sogar das Finale lässt einen „glücklichen“ Ausgang offen: Der fast schon genetische Pessimismus heutigen Post-Regietheaters ist lustvoll mit leichter Hand gebannt. Das tut, gerade bei Mozarts quirliger, nervöser, manchmal hyperaktiver Musik richtig gut!

Schmerz in luftigem Gewand

Die sich beißenden Farben der Kostüme zeigen: keine Harmonie zwischen Graf und Gräfin (Adriana González). Foto: Barbara Aumüller

Das heißt nun nicht, dass Köhler die verschattete Seite der Medaille gnadenlos trivial wegleuchtet. Die kindlich-feine Verzweiflung der – reizend gesungenen – Barbarina Karolina Bengtssons lässt ahnen, wie sich Schmerz in luftiges Gewand hüllen kann. Und wenn die Gräfin in sattem Rot ihrer Robe auftritt, weht Melancholie durch den Saal. Thomas Guggeis wandelt dann die musikalischen Haltung hin zu einem träumerischen Impressionismus, den Adriana González auch vokal verströmt, wenn sie ihre Piano-Phrasen korrekt auf den Atem legt und sich nicht, wie manches Mal im Ensemble, auf zweifelhaft gelagerte Töne verlässt.

Aber auch dieser Hauch der anderen, der seelenmörderischen Welt strömt schwerelos: Die Qual enttäuschter Liebe trägt ja für die Außenwelt oft komische Züge; das Weh der bitteren Erkenntnis einer verdorbenen Lebenschance muss nicht zwangsläufig Betroffenheit oder Empathie auslösen. Das ordnet die Figur der Gräfin Rosina in die Komödie ein, macht aber ganz behutsam auch ihre endlose Einsamkeit spürbar. Wenn sich solche feinsten Charakter-Schattierungen vermitteln, ist Regie – auch ohne spektakulären Zugriff – gelungen.

Auch Thomas Guggeis kann im Graben getrost auf Spektakel verzichten. Er versteht die endlosen Achtelketten Mozarts als den dynamischen Triebimpuls der Musik, die vorwärts strebt, keine Pause einlegen will. Das passt zum Tempo der Musik, die ja „presto“ drängt und drängt und selbst im Innehalten den nächsten Impuls zum Lospreschen kaum zurückhalten kann. Guggeis macht aber auch deutlich, wo dieser hurtige Fluss auf Klippen stößt und scharfe Kanten umspülen muss: Die Bläser grätschen scharf dazwischen, wenn sich Figaro und Susanna in die Wolle kriegen, und die Dissonanzen im Umgang der Personen hallen nicht nur in Kostümen von Susanne Uhl, sondern auch im Orchester deutlich wider.

Ungeduldige Energie hat ihren Preis

Bei all der luftigen Präzision, dem ziselierten Tempo, das die Streicher des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters vorlegen, den lichtvollen Bläserakkorden und den sanft, aber mit Kontur getupften Staccati ist es kein Wunder, dass Guggeis nach dreieinhalb Stunden herzlich gefeiert wird. Aber man hört auch, dass der jugendliche Überschwang und die ungeduldige Energie einen Preis haben: Die Ouvertüre gerät überraschend flach, das Wechselspiel von Flöten und Klarinetten auf der einen aufsteigenden, Oboe und Horn auf der anderen absteigenden Seite bleibt beiläufig, die Doppelachtel der Bläser in Takt 16 und 17 sind nicht deutlich artikuliert, so wie zuvor die Violinen ihre Mini-Verzierungen nicht ausformen können.

„Presto“ ist, das ist den Mozart-Tempolimitgegnern á la Currentzis immer wieder vorzuhalten, eben eine Musizierhaltung, und keine Anweisung, sich das „Blaue Band“ der Orchesterrennen zu holen. Ein organischer Atem lässt selbst bei raschestem Puls Zeit, Melodie zu formen und Details zu modellieren. Schnappatmung verbreitet nur Hektik. Und das ist keine Frage der Virtuosität des Orchesters, dessen Mitglieder wohl in allen Taktschnellen den Kopf über Wasser halten können. Guggeis vergibt sich so manche Chance, den Klang plastisch zu gestalten, die Haltung zu wechseln, mit der Varietät des Tempos Ausdruck zu gestalten. Aber so, wie er dirigiert, wie er dann wieder den Sinn von Ensembles, von ariosen Momenten, von Rhythmus-Coups Mozarts erfasst, mag man getrost sagen: Kommt noch!

Was Guggeis als glückliche Wahl für die Oper Frankfurt qualifiziert, ist seine Expertise im Umgang mit den Sängern. Es ist ein Vergnügen zu beobachten, wie klar er durch komplexe Ensembles führt, wie er den Menschen auf der Bühne hilft, wie er dadurch Präzision und souveräne Leichtigkeit erreicht, auch, wie er selbst am Flügel die Rezitative mit witzigen Erinnerungsmotiven verziert. So kann Kihwan Sim seinen klangvollen Bassbariton frei entfalten und seinem Konkurrenten, dem Grafen von Danylo Matviienko Paroli bieten. „Non piu andrai“, von ausnehmend aparten Bläsern veredelt, vertrüge deutlicher ironische Farben in der Stimme. Matviienko hebt dagegen mit seiner stimmlichen Eleganz hervor, dass er das Spiel der Geschlechter durchaus als solches verstehen will, manchmal vordergründig gefasst, aber nie harmlos.

Vollendete Studie eines Zwischenwesens

Ganz zeitgenössisch, auch im Kostüm: Kelsey Lauritano (links) mit der Gräfin (Adriana González) als Cherubino – ein Wesen ohne festgelegte Geschlechtssignale. Foto: Barbara Aumüller

Kelsey Lauritanos Cherubino ist eine vollendete Studie eines Zwischenwesens, das sich im Labyrinth der Geschlechter erst orientieren muss. Die Sängerin gestaltet eher hell und brillant als mit sanften Mezzorundungen; ihr „Non so piu cosa son …“ huscht wie ein Irrwisch vorbei, ein rastloser Spuk ohne die Chance, auf differenzierte Artikulation. Auch „Voi che sapete“ könnte Lauritano sicher bewusster ausformen, würde ihr der Dirigent eine Spur mehr Zeit geben. Elena Villalón brilliert als Susanna in den Ensembles mit einer fabelhaften Sprach-Musik-Sensibilität. Zwischendurch will es ihr nicht gelingen, die Stimme im Körper zu halten – die Töne werden spitz und kopfig. Aber ihre Arie im vierten Akt ist ein Musterbeispiel bewussten, makellosen Singens.

Dass Frankfurt nicht umsonst zum wiederholten Mal den Titel „Opernhaus des Jahres“ eingeheimst hat, ist nicht nur der exquisiten Spielplanpolitik von Intendant Bernd Loebe zu verdanken, sondern auch seiner Ensemblepflege. Die zeigt sich in diesem „Figaro“ von ihrer besten Seite: Die kleineren, dennoch wichtigen Rollen sind mit der leuchtenden Cecilia Hall als Marcellina, dem wunderbar diskret polternden Donato di Stefano als Bartolo, dem fast zu schönstimmigen jungen Tenor Magnus Dietrich als Basilio und dem bewährten Franz Mayer als Antonio durchweg vorzüglich besetzt. Sie alle nutzen die Chance des neutralen Bühnenkastens von Karoly Risz, der sich mit raumhohen Drehlamellen durchlässig oder verschlossen geben kann: Hier triumphieren nicht die Szenerie, nicht die Atmosphäre, sondern die Darsteller.

Weitere Vorstellungen: 12., 14., 21. Oktober; 28., 30. Dezember 2023; 5., 7., 18., 21. Januar 2024. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/le-nozze-di-figaro_3/




Rossini aus Konventionen befreit: An der Oper Frankfurt eröffnet ein fulminanter „Otello“ den Reigen der Premieren

Otello (Enea Scala) und Jago (Theo Lebow) in der Frankfurter Inszenierung von Gioachino Rossinis "Otello". Foto: Barbara Aumüller

Otello (Enea Scala) und Jago (Theo Lebow) in der Frankfurter Inszenierung von Gioachino Rossinis „Otello“. Foto: Barbara Aumüller

Und wieder einmal ist die Oper Frankfurt Vorreiterin: Mit der szenischen Realisation von drei kaum gespielten Werken Gioachino Rossinis durchbricht sie in der neuen Spielzeit 2019/20 die eintönige Kette immer wieder „neu befragter“ Aufführungen des „Barbier von Sevilla“ in deutschen Opernhäusern, befreit Rossini aus dem Dunstkreis verdienstvoller, aber begrenzt wirksamer Festivals und stellt ihn einem städtischen Theaterpublikum im Rahmen eines Repertoirebetriebs vor.

Endlich wird so auch der „ernste“ Rossini gewürdigt: Die Fachwelt ist sich längst einig, dass nicht die sicherlich genialen und öfter gespielten Opern wie „La Cenerentola“ oder „Der Türke in Italien“, sondern Rossinis Seria-Opern den bedeutenderen Platz in seinem Schaffen beanspruchen können.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

So hat die Ehre der ersten Premiere der Frankfurter Spielzeit Rossinis „Otello“. Die 1816 – im Jahr des „Barbiere“ – uraufgeführte Version von Shakespeares Drama, durch die Brille italienischer Bearbeitungen gesehen, war trotz der anspruchsvollen Besetzung mit fünf Tenören ein nachhaltiger Erfolg und wurde gespielt, bis ein gewandelter Geschmack und Giuseppe Verdis moderne Version von 1887 das Werk verdrängten. Das Problem der Besetzung ist letztlich auch das größte Hindernis auf dem Rückweg des „Otello“ auf die heutige Opernbühne. Nur große Theater schaffen es, drei erstklassige Belcanto-Tenöre und einen Koloraturmezzo vom Schlage der Uraufführungs-Sängerin Isabella Colbran zu gewinnen.

Ein anderes Problem ist das Sujet. Es bedarf schon eines entschiedenen und durchdachten Zugriffs, wie ihn jetzt Damiano Michieletto für diese Produktion, einer Kooperation mit dem Theater an der Wien und dort 2016 gezeigt, entwickelt hat. Dann aber wird das viel gescholtene Libretto von Francesco Maria Berio gerade wegen seiner Unzulänglichkeiten und seiner dramaturgisch offenen Stellen zur Vorlage für szenische und konzeptionelle Kreativität.

Ein venezianisches Familiendrama

Michieletto hat diese Chance genutzt und „Otello“ als ein Familiendrama konzipiert. Die geschlossene Gesellschaft zweier Clans, für die der venezianische Doge und der Vater Desdemonas, Elmiro Barberigo, stehen, das vergebliche Werben eines Fremden um Aufnahme in die hermetischen Kreise von Macht und Einfluss, der Mangel an Empathie und Liebe in den Beziehungen und das schlechthin Böse, für das mehr als Metapher denn als psychologisch fundierte Person Jago steht, hat Michieletto nach allen Regeln zeitgemäßer Regiekunst ausinszeniert und damit für einen reflektierten Abend gesorgt. Vom „albernen“ Umgang mit dem Thema, den noch ein Rossini-Kenner wie John Osborne bemängelte, war in diesen schlüssig gefügten drei Stunden nichts zu spüren – sicher auch ein Verdient der frisch wirkenden szenischen Einstudierung von Marcin Lakomicki.

Nino Machaidze als Desdemona. Foto: Barbara Aumüller

Nino Machaidze als Desdemona. Foto: Barbara Aumüller

Die Bühne von Paolo Fantin signalisiert mit üppigen Marmorwänden, einem Murano-Glaslüster und schweren Möbeln den Reichtum, aber auch die Kälte dieser gehobenen Gesellschaft und gibt den Sängern einen akustisch günstigen Entfaltungsraum. Denn auf die Sänger kommt es an: Sie sind in Rossinis musikalischer Konzeption am kreativen Entstehungsprozess der Komposition mit beteiligt. Ihnen obliegt es, durch Verzierungen und Variationen die Musik auf der Bühne zu aktualisieren. Zudem ist es für diese Form der Belcanto-Oper entscheidend, Traditionen der Gestaltung zu beherrschen, mit denen das gesungene Wort erst seine musikalische Vollendung findet.

Vieles davon, früher vergessen oder nicht beachtet, ist heute wiedergewonnen und wurde in Frankfurt vom Dirigenten Sesto Quatrini und einem im Ganzen hervorragenden Ensemble eingesetzt. Quatrini, Generalmusikdirektor im litauischen Vilnius, lässt den Sängern den erforderlichen Raum, koordiniert sie stilsicher mit dem Orchester und schäumt die Dramatik nie so auf, dass ihnen der Primat genommen oder der Stimmklang beeinträchtigt wird. Das Orchester besteht diese ungewohnte Bewährungsprobe glänzend – „Otello“ ist eine Frankfurter Erstaufführung und trotz einer ausgezeichneten „La gazza ladra“ vor einigen Jahren haben die Musiker bisher mit dem ernsten Rossini keine Erfahrung sammeln können.

Alle Farben des Klangprismas

Reynaldo Hahn beschrieb den für Rossini erforderlichen Gesangsstil einmal so: Der Belcantist müsse seine Stimme „endlos modulieren und sie durch alle Farben des Klangprismas filtern können“. Diese Forderung erfüllt am ehesten Jack Swanson als Rodrigo, der sein Paradestück im zweiten Akt („Ah, come mai non senti“) nach allen Regeln der Kunst ausziert, mit furiosen Spitzentönen aufwartet, aber auch die Momente lyrischen Innehaltens mit einwandfrei gebildetem Klang erfüllt.

Die Titelrolle fordert von dem seit einem guten Dutzend Jahren im Rossini-Fach tätigen Tenor Enea Scala einen ungewöhnlichen Stimmumfang, der bis in die Lage eines modernen hohen Baritons hinabreicht. Scala bewältigt die fiebrige, auch für Rossinis Otello nötige Dramatik mit ambitionierter Präsenz; seine Tiefe allerdings neigt zu ausgeprägtem Vibrato und vernachlässigt die Färbung mancher Vokale. Im Duett mit Theo Lebow als in niederträchtiger Blässe angelegten Jago allerdings zeigt sich Scala als intensiver Gestalter. In dieser ausgedehnten Szene wird deutlich, wie sehr es in Rossinis Drama auf die Sänger ankommt: Von Farbe und Klang der rezitativischen Rede sind Sinn und psychologische Wirkung der Worte abhängig; gestaltendes Singen wird zum Schlüssel des Verstehens.

Experimentelle Musik jener Zeit

Nino Machaidze kann als Desdemona in ihrem ersten Auftritt in einem Duett mit der jugendlich strahlend singende Emilia von Kelsey Lauritano das Profil einer realistisch beobachtenden Frau entwerfen, die zwischen Liebe und Angst ratlos nach einem Ausweg sucht, während ihr fremdenfeindlicher Vater Elmiro (Thomas Faulkner) längst beschlossen hat, seine Tochter dem Sohn des Dogen, Rodrigo, zur Frau zu geben, nicht ahnend, dass diese bereits heimlich mit Otello verheiratet ist. Der Höhepunkt ihrer Partie ist allerdings der dritte Akt, beginnend mit der schwermütigen, von der Harfe eingeleiteten Lied von der Weide („Assisa a’pie d’un salice“), ihrem Gebet und der tödlichen Konfrontation mit Otello – Szenen von romantischem Reiz, die etwa Giacomo Meyerbeer als „göttlich schön“, aber auch als „ganz und gar antirossinianisch“ bezeichnet hat.

Er hat Recht: Rossini schreibt in diesem dritten Akt eine für seine Zeit in ihrer Konsequenz experimentell moderne Musik, die er Jahre später in „Semiramide“ und schließlich in „Guillaume Tell“ perfektionieren sollte. Machaidze singt die Rossini-Desdemona mit nobler Brillanz und dem Selbstbewusstsein einer venezianischen Patriziertochter, bleibt aber mit unruhiger Tongebung, unscharfer Artikulation und einer fast unverständlichen Diktion der Partie die Präzision und Klarheit des Singens schuldig. Die Oper Frankfurt hat mit diesem „Otello“ die Trias der diesjährigen Rossini-Entdeckungen fulminant eröffnet.

Als nächste Premiere ist „La Gazzetta“ am 2. Februar 2020 im Bockenheimer Depot angekündigt, gefolgt von „Bianca e Falliero“ am 5. April im Opernhaus.