Denkmal der Deutschen, die Demokratie wagen: Willy Brandt wäre 100 Jahre alt geworden

Wir lauschten in einen Bildschirm, auf dem nur eine Person und deren markantes Gesicht zu sehen war, eine Person, die sich anschickte einer der historischen Bundeskanzler dieser Republik zu werden.

Wir, das waren Christine Markhoff, Malte Markhoff, Klaus Mendel und Rosel Linner und ich (das war so ziemlich der Kernbestand der damaligen Schwerter Ruhrnachrichten). Politisch waren wir aus unterschiedlichen Ecken, doch eines einte uns: Wir waren ziemlich gefesselt von dem, was dieser Willy Brandt 1969 als persönliche Botschaft ins Land schickte: „Mehr Demokratie wagen!“

Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt beim Besuch der Dortmunder Zeche Minister Stein am 1. März 1974. (Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ulrich Wienke)

Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt beim Besuch der Dortmunder Zeche Minister Stein am 1. März 1974. (Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ulrich Wienke)

Am 18. Dezember wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Er ist bereits vor seinem Tode am 8. Oktober 1992 sein eigenes Denkmal gewesen, er ist dieses bis heute für seine Partei, die SPD. Im Foyer des nach ihm benannten Hauses der SPD-Zentrale in Berlin steht er als solches, überlebensgroß, in Bronze gegossen, geformt vom Bildhauer Rainer Fetting. Furchig, die personifizierte Weisheit, eine erklärende, mahnende Körpersprache, aber keinen Widerspruch duldend: Willy Brandt eben, der wesentlich härter sein konnte, als sein Weggefährte Herbert Wehner („Der Herr duscht gern lau“) ihm zutraute, der ungeduldiger sein konnte, als seine ruhige Redner-Sprache verriet, der unleidlicher werden konnte, wenn es nicht so ablief, dass es seinen Vorstellungen entsprach.

Ja, ich weiß, dass er als Herbert Ernst Karl Frahm zur Welt kam. Meine Eltern sagten es mir so häufig und meist so abfällig, dass ich eine Zeitlang glaubte, meine Bewunderung gelte einem Menschen, der dem gesunden deutschen Wiederaufbau destruktiv entgegenarbeite. Aber selbst deren, aus Willy Brandts subversiver Nazi-Widerstandsarbeit gespeiste Abneigung wurde im Laufe der Jahre durch dessen (mindestens in der SPD) unerreichtes Charisma weg gehobelt. Die Abfälligkeit ersetzten sie durch einen distanzierten Respekt.

Willy Brandt begleitet mich in Lebensphasen, die für mich einschneidend und entscheidend waren. Ich sah ihn nach dem Mauerbau, als Regierender Bürgermeister war er damals ebenso wehrlos wie unerschrocken empört (ähnlich wie einst sein Vorgänger Ernst Reuter, als der die „Völker dieser Welt“ aufrief, auf Berlin und die Blockade zu schauen). Ich sah ihn, als er US-Präsident John F. Kennedy zuhörte, dessen „Ich bin ein Berliner“ sich in die Erinnerung erschütterten Republik grub. Ich sah und hörte ihn, als er begann, für sein Konzept der Aussöhnung mit Osteuropa zu werben und zu streiten. Ich sehe das legendäre Bild des Kniefalls von Warschau und höre die „Willy, Willy“-Rufe von Erfurt, als die DDR-Bürger pfiffig den Vornamen von Willi Stoph skandierten und keine Konsequenzen fürchten mussten.

Und ist sehe auch heute noch sein bewegtes Gesicht, als die Mauer fiel und „zusammenwachsen sollte, was zusammen gehört“.

Willy Brandt war aus der Ferne ein Wegbegleiter, ein Vorbild, ein Magnet, der mir den Eintritt in eine Partei erleichterte und die Auswahl, welche Partei es sein sollte, beinahe zwingend auf eine fokussierte. Er hat ganz sicher jede Menge Fehler gemacht, er hatte ganz sicher auch persönlich jede Menge davon, aber er hatte für diese Republik einen ganz besonderen Wert. Er konnte Menschen jeden Alters und beinahe jeder politischen Herkunft für eine große und gute Idee begeistern: die Demokratie und ihre Freiheiten, für die es lohnt zu streiten und zu kämpfen.

Ich habe ihm einmal, als ich ganz und gar nicht einverstanden mit seinem Handeln war, einen Brief geschrieben. Das war im Frühjahr 1987, als er die parteilose Margarita Mathiopoulos zur zukünftigen Parteisprecherin küren wollte. Heute sehe ich das so: Wir hatten beide recht. Er, weil er seiner SPD neue Wege erschließen wollte, ich, weil Margarita Mathiopoulos sich später bei einer wirtschaftsliberalen FDP und Herrn Westerwelle besser aufgehoben fühlte. Willy Brandt antwortete natürlich nie, was ich ihm auch nicht übel nahm.

Ich schreibe auch an dieser Stelle nicht, was ich ihm wirklich stets nachtragen werde, was ich insgeheim an meinem Idol ernsthaft zu mäkeln habe. Das wäre in meinen Augen auch klein (von mir) und seiner historischen Bedeutung unangemessen.

Michail Gorbatschow wollte ihn wenige Tage vor seinem Tod unangemeldet besuchen. Willy Brandts Frau öffnete nicht, weil sich Gorbatschow über die Gegensprechanlage mit seinem Namen meldete, und sie das Ganze für einen schlechten Scherz hielt. So kamen die beiden Männer, deren Wege im jeweiligen Heimatland ähnliche Schleifen gehen mussten und Willys politische Vorarbeit Teile des Weges von Michail Gorbatschow pflasterten, nicht mehr zusammen.

Willy Brandt wurde neben Ernst Reuter auf dem Berliner Waldfriedhof Zehlendorf beigesetzt. Zwei große Männer, die für Berlin, die Bundesrepublik und das freie, demokratische Deutschland unbeirrt ihren Traum verfolgten.

Am 18. Dezember 2013 wäre der Mann, für den wir damals „Willy wählen!“ an jede sich bietende Häuserwand pappten, 100 Jahre alt geworden. Und noch immer begleitet er alle die, die noch immer „mehr Demokratie wagen“ wollen, durch den beschwerlichen Alltag.




Willy Brandt: Größer als ein übliches Porträt

Willy Brandts legendärer Kniefall in Warschau am 7. Dezember 1970. (© WDR/Interfoto)

Willy Brandts legendärer Kniefall in Warschau am 7. Dezember 1970. (© WDR/Interfoto)

Eigentlich waren auch 95 Minuten Sendezeit viel zu kurz, um einen Stoff wie „Willy Brandt: Erinnerungen an ein Politikerleben“ (arte) auch nur annähernd zu fassen. Einer wie er sprengt den Rahmen der üblichen Porträts.

Vor allem politische Freunde und journalistische Weggefährten äußerten sich über den großen Sozialdemokraten, der am 18. Dezember 100 Jahre alt werden würde. Es war eine Würdigung ohne Misstöne. Das fiel kein böses Wort über den Porträtierten. Und tatsächlich: Was hat dieser Mann nicht alles erreicht! Und wie sehr fehlen uns heute Politiker von solchem Charisma, von solchem Schrot und Korn. Vor allem die klugen Einschätzungen des langjährigen Brandt-Mitarbeiters Egon Bahr brachten einem die menschliche Seite dieser historischen Gestalt näher.

Wenig originelle Form

Die Machart solcher Porträts ist leider immer ziemlich ähnlich. Da wird von mehr oder minder berufenen Zeitzeugen enorm viel geredet, während die ins Unscharfe geblendeten Hintergrundbilder stets ausgesucht idyllisch (vorzugsweise mit Büchern, Bäumen und Blumen) arrangiert werden. Da würde man sich gelegentlich originelle und mutigere Formen der Darstellung wünschen. Immerhin hatte André Schäfer („Lenin kam nur bis Lüdenscheid“) für seinen Beitrag teilweise rare und aussagekräftige Filmausschnitte aus den Archiven ans Licht geholt.

Von der Schulzeit in Lübeck und der norwegische Emigration reichte der ungeheuer weite Bogen über die Amtszeiten des „Deutschen Kennedy“ als Regierender Bürgermeister von Berlin, als Außenminister (ab 1966) und Bundeskanzler (1969-1974). Dazwischen noch so legendäre Ereignisse wie die Ostverträge, der Kniefall von Warschau und die Guillaume-Affäre. Sehr anrührend war es schließlich zu sehen, wie Brandt den Fall der Berliner Mauer und die deutsch-deutsche Grenzöffnung noch erlebte – ein Ziel, für das er all die Jahre hartnäckig gestritten hatte. Da wehte wirklich der Atem der Geschichte.

Depressionen und Intrigen

Deutlich wurde auch, wie sehr der Politikbetrieb schon damals einen Mann zermürben konnte. Brandts ohnehin vorhandene Neigung zur Depression wurde zunächst von Adenauer (der sich infam über Brandts Namenswechsel und die Emigration empörte) und später vom intriganten „Partei-Freund“ Herbert Wehner gesteigert. Da kann man noch im Nachhinein zornig werden.

Manchmal heißt es ja recht allgemein, der heutigen Politik fehlten überhaupt solche Typen. Doch da gibt es wahrlich Unterschiede. Einem Apparatschik wie Wehner muss man nicht viele Tränen nachweinen, einem beseelten Gestalter wie Willy Brandt schon. Über den jetzigen Zustand der SPD wollen wir in diesem Zusammenhang lieber nicht sprechen.

„Unvollendete Kanzlerschaft“

Vieles konnte nur angerissen werden, dennoch schälten sich zwischendurch immer wieder ein paar schlaglichtartige, prägnante Befunde heraus. Brandt war offenbar einer, der auch nach grandiosen politischen Siegen nie den Triumphator herauskehrte. Fast im Gegenteil: Gerade in solchen Momente konnte er überaus nachdenklich und wie versteinert wirken.

Brandts einstiger Redenschreiber Klaus Harpprecht sprach von einer „Unvollendeten Kanzlerschaft“. Hätte Brandt trotz Guillaume einfach weitermachen sollen? Hätte damals eigentlich FDP-Innenminister Genscher zurücktreten müssen, wie es im Film hieß? Auch darüber gibt es weitaus mehr als eine Meinung.

Übrigens: Wer noch etliches mehr über Willy Brandt wissen will, sollte sich (neben der Lektüre einschlägiger Bücher) für den 13. Dezember im WDR-Fernsehen „Die lange Willy Brandt Nacht“ vormerken. Ab 23.15 Uhr dauert sie über sechs Stunden. Ein typischer Fall für den Recorder.




Das zwiespältige Phänomen John F. Kennedy – eine neue Biographie von Alan Posener

Die Welt am Rande des Nuklearkrieges, politisches oder auch militärisches Desaster in Kuba und Vietnam, massive Rassenunruhen im Inneren des eigenen Landes und schließlich der Bau der Berliner Mauer, der den Fall des Eisernen Vorhanges für Jahrzehnte besiegeln sollte: Eine solche Bilanz scheint eigentlich nicht geeignet, einen Mythos zu begründen. Warum John F. Kennedy bis zum heutigen Tage dennoch wie ein Säulenheiliger betrachtet wird, damit befasst sich Alan Posener in seiner Biographie über den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Eine Spurensuche. Dabei drängt sich unweigerlich die Frage auf: Kann der Autor, Korrespondent bei der „Welt“-Gruppe, der schon Monographien u.a. über Franklin D. Roosevelt, John Lennon und William Shakespeare verfasst hat, Altbekanntem überhaupt etwas Neues hinzufügen? Darauf hebt Posener auch gar nicht ab, ihm geht es um das Phänomen Kennedy, dem er sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln nähert. Eben diese verschiedenen Betrachtungsweisen auf das Wesentliche zu konzentrieren, zusammenzuführen und sich nicht in Verschwörungstheorien über den Mord vom 22. November 1963 zu verheddern oder Kennedys Frauenaffären weidlich auszubreiten, genau darin liegt die Stärke des Buches.

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Aus dem familiären Hintergrund filtert Posener sehr anschaulich heraus, welchem Anspruchsdenken „Jack“ Kennedy durch seinen ehrgeizigen Vater ausgesetzt war: Nur die Sieger zählen, niemals die Nächstplatzierten. Dieses Denken sei, so der Autor, tief im Bewusstsein des Präsidenten verhaftet gewesen. Als die Demokraten ihn als Kandidaten für das höchste Staatsamt auf den Schild heben, hat er es zuvor geschafft, sich als „Politiker neuen Typs“ zu positionieren, der über Fraktionskämpfen und Interessengegensätzen steht. In ihm und seinen politischen Zielen, welche es auch immer sein mögen, können sich viele Amerikaner wiederfinden.

Das Bild von Kennedys Amtsführung, das der Nachwelt erhalten bleibt, ist, wie der Autor hervorhebt, ebenfalls von einem Kurswechsel geprägt, einer neuen Kultur, die mit dem Präsidenten und seiner Frau Jackie Einzug ins Weiße Haus hielt. Hier ist nicht mehr nur Platz für den politischen Führungszirkel, sondern vor allem auch für Intellektuelle und Persönlichkeiten aus Film, Musik und Wirtschaft.

Im kollektiven Gedächtnis erhalten ist von Kennedy, dass er die Kuba-Krise zu meistern wusste, den Berlinern das Gefühl verlieh, der mächtigste Mann der Welt sei einer von ihnen („Ich bin ein Berliner“), und dass er den Schwarzen versicherte, ihr Kampf sei ein gerechter. Poseners Buch ist aber auch durchaus eine Fundgrube für gegenteilige Positionen, stand doch die Welt 1962 am nuklearen Abgrund, reagierten die USA sehr spät auf den Mauerbau und schließlich: War nicht Kennedys Eintreten für die Rechte der Schwarzen vor allem wahlkampftaktischem Kalkül geschuldet?

In der Frage der Vietnampolitik besteht für Posener kein Zweifel, dass Kennedy ein hohes Maß an Verantwortung für die Eskalation des Krieges getragen hat. Sicherlich sei bei ihm eine gewisse Skepsis gegenüber einer Militärhilfe noch in den 50er Jahren erkennbar gewesen, aber die Sichtweise habe sich später geändert. „In Kennedys Denken spielt Südvietnam also für Asien eine ähnliche Rolle wie West-Berlin für Europa“. Dass Kennedy im Falle einer Wiederwahl einen Rückzug aus Indochina angestrebt habe, gehört für Posener in das Land der Legenden.

Zur Wahrheit über Kennedy zählt nach den Ausführungen von Posener nicht zuletzt auch dessen Medikamentenabhängigkeit. Ohne Arzneien hätte er seine Rücken- und Magenprobleme und schließlich auch seine Antriebslosigkeit nicht beherrschen können. Für den Autor eine Dimension, die angesichts der Machtfülle eines Präsidenten Angst mache – auch in einer historischen Rückschau.

Bedenklich stimmt zudem das „Herrschaftssystem“, das nach den Ausführungen von Posener mit Kennedy verbunden war. Es passt so gar nicht in das Bild eines liberalen Politikers und vorbildlichen Demokraten. Neid, Missgunst, Intrige und Machtmissbrauch gehörten laut Autor zum Alltag. Doch Kennedy habe es sehr geschickt verstanden, sich selbst in Szene zu setzen.

Zum Nimbus des Präsidenten habe sicherlich, erläutert der Autor, auch das Attentat auf ihn beigetragen. Es bot Anlass für eine Fülle an Mutmaßungen über mögliche Hintermänner und internationale Verflechtungen. Was aber hätte es zur Folge, wenn Harvey Oswald nichts anderes als ein (verwirrter) Einzeltäter war? Kennedys Tod wäre dann eben nicht von Castro oder Chruschtschow in Auftrag gegeben worden und somit auch kaum geeignet, ein Heldenepos zu schreiben. Schlicht- statt Lichtgestalt.

Alan Posener: „John F. Kennedy. Biographie“. Rowohlt-Verlag, 200 Seiten, 18,95 Euro




Kennedys frühe Deutschland-Reisen: Seine Berlin-Rede hatte eine lange Vorgeschichte

Der Besuch von US-Präsident Barack Obama ruft nicht nur Erinnerungen an den legendären Auftritt von John F. Kennedy wach, dessen Aufenthalt in Berlin sich in diesen Tagen zum 50. Mal jährt. Er bietet auch einmal mehr Anlass, die Rede des damaligen Hoffnungsträgers historisch einzuordnen und zu analysieren.

Dass die vier Worte „Ich bin ein Berliner“, mit denen Kennedy Geschichte schrieb, mehr waren als nur ein momentaner oder spontaner Ausdruck von Solidarität mit den Menschen in der geteilten Stadt, versucht Oliver Lubrich in seinem neuen Buch dem Leser nahezulegen. Es handelte sich, so betont der Professor für Neue deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Uni Bern, wahrlich nicht um den ersten Besuch von JFK in Deutschland, sondern Kennedy hatte während seiner Reisen in den 30er und 40er Jahren eine ganze Reihe von Eindrücken gesammelt. Diese spiegeln sich in Briefen und Tagebüchern wider, die nach Aussage von Lubrich jetzt erstmals vollständig in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden.

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Wer allerdings nun auf ausführliche und weitreichende Betrachtungen über Deutschland, den Krieg, Nazi-Regime und Wiederaufbau hofft, der wird den aufwändig gestalteten Band wohl eher enttäuscht zur Seite legen. Kennedy berichtet zwar über seine drei Reisen in den Jahren 1937, 1939 und 1945, doch insgesamt betrachtet, sind es nur wenige Passagen und die mitunter auch noch in knappen, kurzen Sätzen. Gleichwohl sollte Kennedy mit einigen Einschätzungen und Prognosen richtig liegen, wie es Herausgeber Lubrich in seinen ausführlichen Erläuterungen hervorhebt. Gleichwohl sind auch Aussagen zu finden, die irritierend wirken.

Kennedys erste Begegnung mit Deutschland, ein Jahr nach den Olympischen Spielen in Berlin, war Teil einer Europareise, die ihn unter anderem nach Oberammergau, München und Köln führte. Gemeinsam mit einem Studienfreund unternahm er wohl vor allem auf Geheiß des ehrgeizigen Vaters Joseph P. Kennedy die Tour durch Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland. Tiefgreifende politische Betrachtungen sucht man hier vergebens, bis auf wenige und dann auch eher schwierige Passagen. Nachdem er seinen Herbergsbesitzer als „großen Hitler-Fan“ bezeichnet hat, schlussfolgert er: „Es besteht kein Zweifel, dass diese Diktatoren im eigenen Land aufgrund ihrer wirkungsvollen Propaganda beliebter sind als außerhalb“. Munter erzählt JFK von weiblichen Bekanntschaften und vom Besuch im Nachtclub. Doch zum Tagesablauf des Katholiken gehörten nicht nur amouröse Abenteuer, sondern auch ein klar strukturiertes Kulturprogramm. Beindruckt war er unter anderem vom Kölner Dom, „Glanzstück der gotischen Architektur“.

Als sich Kennedy zwei Jahre später erneut auf den Weg über den großen Teich macht, hat er zunächst einmal das Ziel, für seine Abschlussarbeit an der Harvard-Universität zu forschen. Das Münchner Abkommen von 1938 lieferte die Blaupause, will sich doch JFK, dessen Vater inzwischen zum amerikanischen Botschafter in Großbritannien ernannt worden ist, mit der Nachgiebigkeit der Demokratien befassen. Kurz vor Kriegsbeginn weilt er unter anderem in München, Berlin, Danzig und Warschau. Seine politischen Reflexionen sind inzwischen aber weit intensiver als noch beim Besuch 1937, wie aus einem Brief an den Freund, mit dem er die erste Deutschlandtour unternahm, hervorgeht. Kennedy gibt seiner Sorge Ausdruck, dass das NS-Regime Polen in die Rolle des Aggressors drängen könnte. Und tatsächlich: Beim Einmarsch am 1. September 1939 bezichtigt die NS-Propaganda den polnischen Staat unter anderem, den Sender Gleiwitz überfallen zu haben.

Beim dritten Besuch ist der Krieg vorbei, Kennedy arbeitet als Journalist für den Medienunternehmer Hearst und hat Gelegenheit, die Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) aus nächster Nähe zu erleben und Hitlers Berghof auf dem Obersalzberg zu besuchen. Er schreibt aber nicht nur seine politischen Einschätzungen nieder, wie etwa, dass die Russen wohl in Deutschland eine eigene Sowjetrepublik gründen wollen, er berichtet auch über die Eindrücke aus dem völlig zerstörten Berlin. „In manchen Straßen ist der Gestank der Leichen überwältigend- süßlich und ekelerregend“. Besonders geißelt Kennedy, dass russische Soldaten in großer Zahl deutsche Frauen vergewaltigen. Überhaupt sei der Umgang der Sowjetarmee mit der deutschen Bevölkerung so, „wie es die Propaganda vorhergesagt hatte“.

Verstörend wirken indes die Sätze Kennedys ganz am Ende seines Berichts, als er noch einmal auf Hitler zu sprechen kommt. „Sein grenzenloser Ehrgeiz für sein Land“ hätten ihn zwar zur Bedrohung für den Weltfrieden gemacht, aber „er hatte etwas Geheimnisvolles“. Es sei, so meint Kennedy, „der Stoff, aus dem Legenden sind.“ Der Herausgeber des Buches liefert für die Worte eine Erklärung, über die jeder Leser selbst urteilen sollte: Die Aufzeichnungen seien im Eindruck des Obersalzbergs entstanden und damit vor einer überwältigenden Naturkulisse…

Festhalten lässt sich gewiss, dass Kennedy schon bei seiner ersten Reise von der Schönheit deutscher Landschaften und Städte als auch von dem Leben der Menschen angetan war, wie es seine Aufzeichnungen bezeugen. Wahrscheinlich lässt sich mit dieser Begeisterung auch die kleine Episode erklären, mit der Kennedys Besuch 1963 in Deutschland endete. Im Gespräch mit dem damaligen Kanzler Konrad Adenauer kommt die Sprache auf die politische Großwetterlage und die schwierigen internationalen Bedingungen in Zeiten des Kalten Krieges. Kennedy erzählt nun das, was er am Vorabend bereits dem hessischen Ministerpräsident gesagt hatte. Seinem Nachfolger, also dem nächsten US-Präsidenten, werde er eine Mitteilung hinterlassen mit der Aufschrift „Bei Mutlosigkeit öffnen“. Darin stehen, so Kennedy, dann nur drei Worte: „Geh nach Deutschland“.

Oliver Lubrich (Hg.): „John F. Kennedy – Unter Deutschen“. Aus dem amerikanischen Englisch von Carina Tessari, mit einem Geleitwort von Egon Bahr. Aufbau-Verlag, 256 Seiten, 22,99 Euro.




Im deutschen Nirgendwo – Frank Castorf besorgt in Hamburg die Uraufführung von „Vaterland“ / Was wäre, wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten?

Von Bernd Berke

Hamburg. Das ist ja ein tolles Theater im Hamburger Schauspielhaus: Mitten im Stück springt ein Zuschauer in den vorderen Reihen vom Platz auf und lässt eine Papierschwalbe durch den Raum segeln. Manche spenden dafür Beifall auf offener Szene.

Andere rufen „Aufhören!“ Oder auch, ganz flehentlich: „Gnade!“ Zwischendurch immer wieder demonstrativ lautes Trappeln und Türenschlagen derer, die vorzeitig gehen.

Die teilweise infantilen Regungen im Parkett entsprechen nicht dem Anlass. Auf dem Spielplan steht die Uraufführung des Stückes „Vaterland“ nach dem 1992 erschienenen Roman des britischen Journalisten Robert Harris. Regie bei der hanseatisch-preußischen Koproduktion führt Berlins Volksbühnen-Chef Frank Castorf, berüchtigt als Stücke-Zertrümmerer. Diesmal hatte er – mangels gefestigter Substanz – nichts zu zertrümmern, sondern nur zu collagieren. Dabei scheint er mittendrin aufgehört zu haben, so unfertig wirkt das Resultat dieser fast vierstündigen Zumutung.

Kennedy will Hitler besuchen

Robert Harris hat sich vorgestellt, wie es wäre, wenn der NS-Staat den Krieg gewonnen hätte und sich von Flandern bis zum Ural erstreckte. Schaurige Vision fürs Jahr 1964: Alle monströsen Architekturprojekte des Albert Speer sind verwirklicht, Adolf Hitler herrscht über ganz Europa. Sein 75. Geburtstag steht ebenso bevor wie ein Staatsbesuch des US-Präsidenten John F. Kennedy, der – wie feinfühlig – „die Frage der Menschenrechte anschneiden“ will…

Zudem richtet Harris eine Kriminalgeschichte an: Xaver März (Stephan Bissmeier), Kripofahnder in SS-Diensten, der aber mehr und mehr zum Dissidenten wird, will eine mysteriöse Mordserie aufklären. Wie sich herausstellt, fallen ihr all jene zum Opfer, die zu viel von der (längst verdrängten) „Endlösung der Judenfrage“ wussten, also vom Holocaust. Roman und Stück jonglieren mit dem Schwindel erregenden Gedanken, dass die realen 50er und 60er Jahre nicht weit von solchen Phantasien entfernt waren. Ex-Nazis saßen wieder auf wichtigen Posten, Deutschland errang erneut wirtschaftliche Macht.

Die Szenerie (Bühnenbild: Peter Schubert) bleibt granitstarr, setzt sich aber aus disparaten Elementen zusammen. Links ein schemenhaft sichtbarer Raum, wohl eine Flammenhölle. Dorthin führen Rampen. Zentral flimmern drei Lichtreihen wie auf einer Flug-Landebahn. Ein niedriger Torbogen öffnet sich zur Hinterbühne, rechts befinden sich lauter Türen, als erstrecke sich dort eine kafkaeske Behörde. Der Boden ist mit braunem Granulat bedeckt. All das wirkt wie zufällig addiert und mutwillig verstreut. Kein Ort, nirgends. Wie denn auch – in einer Welt, in der Hitler und die Beatles koexistieren?

Mit Regie-Einfällen und Spielweisen verhält es sich ähnlich. Unentwegt wechseln Tonlagen und Stile ohne ersichtlichen Grund. Zuweilen sehen wir kindische Sandkastenspiele: Figuren hopsen in Fässern oder Kartons über die Bühne. Ri-Ra-Rappelkiste!

Mal schnoddrig, mal hysterisch

Derart beflissen klingt oft der Tonfall des Kommissars März, der naiv und nervös durchs Drama taumelt, dass man sich in einen biederen Wallace-Krimi der 60er versetzt fühlt. Andererseits hält Castorf die Darsteller auch zum schnoddrigen Gestus, zu hysterischen Anfällen oder aggressiven Aufwallungen an – nach Lust und Laune. Vieles gilt als lachtauglich in diesen Comedy-süchtigen Zeiten: Ein Wort wie „Vermissten-Liste“ wird anfangs ausgiebig zerlegt unermüdlich wiederholt. Gewisse Moden werden also, wenn auch lustlos, bedient.

Hin und wieder gelingen allerdings wahrhaft verstörende Sequenzen. Vor allem eine halbstündige Passage fräst sich ins Hirn: Plötzlich geht im Zuschauerraum das Licht an, und es werden originale Beratungs-Protokolle zur Drangsalierung und späteren Vernichtung der Juden mit verteilten Rollen verlesen. Unerträglich schon das Beamtendeutsch, mit dem die materiellen Folgen der Pogrome versicherungstechnisch „geregelt“ wurden Hier konfrontiert uns Castorf mit einer Absurdität, die man schlichtweg nicht aushält.

Buhruf-Orkane für die Regie, unwesentlich gemildert durch lauen Beifall für die Dar- steller. Die Zuschauer, die durchgehalten haben, sind zugleich erschöpft und aufgebracht. Kein gutes Klima zum Nachdenken.

Termine: Hamburg (Schauspielhaus): 2., 4. Mai (Karten: 040/24 87 13) / Berlin (Volksbühne): 27. April.