Feuervogel spreizt farbenfrohe Federn: Das Konzerthaus Dortmund heißt „Maestra Mirga“ willkommen

Mirga Gražinytė-Tyla wurde bereits mit 29 Jahren Chefin des CBSO. (Foto: Pascal Amos Rest)

Ihre Füße stecken in schwarzen Ballerina-Schühchen. Klein, zierlich und mädchenhaft jung wirkt die Frau, die jetzt im Konzerthaus Dortmund aufs Dirigentenpodest steigt und sich verbeugt. Beinahe möchte man um sie fürchten angesichts der schieren Masse von Orchestermusikern, der sie sich an diesem Abend gegenüber sieht: verlangen doch zwei der drei aufgeführten Werke eine ausgesprochen üppige Besetzung. Aber derlei Gedanken verpuffen, sobald die Künstlerin den Taktstock hebt.

Als „Maestra Mirga“ begrüßt das Konzerthaus Dortmund seine neue Exklusivkünstlerin aus Litauen, deren komplizierter Nachname so manchen bei der Aussprache ins Schwitzen bringt. Mirga Gražinyté-Tyla (sprich: Mirga Graschiniiiite-Tilá) kehrt mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra zurück, das sie seit September 2016 als Chefin leitet. Die 32-Jährige tritt am Pult des CBSO in große Fußstapfen: vor ihr formte Andris Nelsons diesen Klangkörper, den Simon Rattle ab 1980 von eher provinziellem Niveau zu internationaler Klasse führte.

Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech heißt die neue Exklusivkünstlerin mit Blumen willkommen. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nicht zufällig eröffnet sie diesen Konzertabend mit Musik von Mieczysław Weinberg. Die Litauerin setzt sich stark für das Werk des polnisch-jüdischen Komponisten ein, das sie für nicht minder bedeutend als das Schaffen von Bach oder Beethoven hält. Weinbergs „Rhapsodie über Moldawische Themen“ gleicht unter ihrer Leitung einem temperamentvollen Ausrufezeichen voller folkloristischer Klänge. Die Dirigentin scheut sich nicht vor ausladenden Gesten, kann aber auch so knapp und präzise sein, dass kein Zweifel aufkommen kann, wie sehr sie den großen Orchesterapparat im Griff hat.

Einer spannungsreichen Einleitung, in der Kontrabässe, Celli und Bratschen im Pianissimo raunen, folgen feurig wirbelnde Tänze, die sich nahe an der Welt von Zoltán Kodály und Béla Bartók bewegen. Hinreißend verführerisch geraten die ruhigeren Passagen, in denen das Tambourin effektvolle Akzente setzt. Das CBSO breitet eine luxuriöse Klangpracht aus, als gelte es, die Salome von Richard Strauss im Tanz der sieben Schleier zu begleiten.

Für die erkrankte Yuja Wang sprang kurzfristig der Pianist Kit Armstrong ein: freilich nicht mit dem 5. Klavierkonzert von Sergej Prokofjew, sondern mit dem Klavierkonzert von Robert Schumann. Der von Alfred Brendel stark geförderte Künstler, der selbst komponiert und neben Musik auch Physik, Mathematik, Chemie und Biologie studierte, bevorzugt in seiner Interpretation kristalline Klarheit statt romantische Emotionalität. Unter seinen Fingern klingt Robert Schumann, als sei er ein direkter Nachfahre von Johann Sebastian Bach.

Kit Armstrong sprang mit Robert Schumanns Klavierkonzert für die erkrankte Yuja Wang ein. (Foto: Pascal Amos Rest)

Das führt zu gläserner Transparenz und introvertiert-leisem Spiel, das sich von Gefühlen bewusst fern zu halten scheint. Der langsame Satz (Intermezzo) klingt eher weltabgewandt als verträumt. Nicht immer wirkt Armstrongs Fingerfertigkeit in den vollgriffigen Akkordfolgen souverän. Aber er hat sein Ohr stets nahe am Orchester, sucht wach und aufmerksam den kammermusikalischen Dialog. Das kommt dem rhythmisch vertrackten Schluss-Satz zugute, der das auch dynamisch sehr ausgewogene Zusammenspiel mit dem Orchester noch einmal unterstreicht.

Zum Abschluss spreizt Igor Strawinskys „Feuervogel“ seine Federn. Es ist ein wahres Prachtvieh, das hier vor unseren Ohren zu tanzen beginnt. Wir hören flirrende Delikatesse, zauberische Leichtigkeit, irisierende Farben. Mirga Gražinyté-Tyla begnügt sich nicht mit der verkürzten Fassung der allseits bekannten Suiten, sondern spielt die Ballettmusik in voller Länge. Daraus wird ein packendes Abenteuer, das über quirlige Holzbläser-Arabesken, ferne Hornsignale und märchenhafte Idylle in den Höllentanz des bösen Zauberers Kaschtschei führt. Frenetischer Beifall.

Informationen zu weiteren Konzerten mit Mirga Gražinyté-Tyla: 

https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/276/?gclid=EAIaIQobChMIjpPYgZei4gIVBeN3Ch2uMQrJEAAYASABEgLv-_D_BwE)

(Der Text ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen).




Tiefgründiges Durchleuchten der Musik: Kit Armstrong beim Klavier-Festival Ruhr

Kit Armstrong. Foto June Artists Management

Kit Armstrong. Foto June Artists Management

Kit Armstrong ist in einer schwierigen Phase. Er merkt es vielleicht nicht einmal, weil es ihn nicht interessieren dürfte.

Aber: Die „Wunderkind“-Zeit – auch die hat ihn nicht interessiert – ist vorüber, und der Pianisten-Boygroup entwächst der 23-jährige gerade, auch wenn er noch wie ein schüchterner, etwas linkischer Teenie wirkt. Jetzt kommt das Hineinwachsen in die „erwachsene“ Musikerwelt, ohne Kinder- und Jugendbonus.

Für viele junge Musiker war und ist das eine schwer zu nehmende Schwelle. Denn der Betrieb ist knallhart; sich zu behaupten heißt nicht selten, um Gidon Kremers besorgten „Brief an eine junge Pianistin“ zu zitieren, seine Seele mit zu verkaufen.

Man lese die Autobiografie der Geigerin Midori Goto („Einfach Midori“), um zu ermessen, was das bedeutet. Wie viele wunderbar begabte junge Menschen sind auf der Strecke geblieben – aus unterschiedlichsten Gründen? Um im Klavier-Business zu bleiben: Wer erinnert sich zum Beispiel noch an den Wunderknaben Dimitris Sgouros, einst vom alten Arthur Rubinstein bewundert?

Kit Armstrong hat einen anderen Mentor aus der Kaste der legendären Tastengrößen, Alfred Brendel. Der gab ihm nicht nur die Attribute des Wunderkinds und des Jahrhundertpianisten mit, sondern begleitete auch die Wege des hochbegabten Jugendlichen am Flügel und ins Leben. Einen „superlative guide to life“ hat ihn Armstrong in einem Interview genannt.

Heute wirkt Armstrong nicht mehr wie ein verschlossen weltabgewandtes Genie. Wenn er in akzentfreiem, mit Wörterbuch und Grammatik selbst erarbeitetem Deutsch seine Zugaben ansagt, hört man einen zurückhaltend, aber selbstbewusst wirkenden jungen Mann.

Beim Klavier-Festival Ruhr gehört Kit Armstrong seit 2009 zu den regelmäßigen Gästen. Am Ort seines Debüts, in Mülheim, präsentierte er nun einen Gang durch die barocke Kunst des Variierens und sorgte nebenbei für die Entdeckung eines staunenswerten Schatzes früher Kompositionen für Tasteninstrument.

Die dreißig Veränderungen über das Thema des englischen Volkslieds „As I went to Walsingham“ von John Bull sind nicht nur in der Zahl Bachs „Goldberg-Variationen“ gleich, denen Kit Armstrong den zweiten Teil seines Konzerts widmete. Sondern sie offenbaren eine Klugheit und Dichte in der kompositorischen Anlage, die den englischen Virginalisten und Lieblingsmusiker der „Virgin Queen“ Elisabeth I. problemlos an die Seite Bachs erheben. Armstrong demonstrierte noch einmal mit einer seiner vier Zugaben, „Bull’s Good Night“, welche Schätze es aus Fitzwilliams Virginal Book, der Quelle der Stücke, auch für die Spieler eines modernen Flügels zu entdecken gibt.

2013 erschien bei Sony das Debüt-Album von Kit Armstrong mit einer bezeichnend unkonventionellen Auswahl von Werken: Bach, Ligeti und einer eigenen Komposition des jungen Pianisten. Cover: Sony

2013 erschien bei Sony das Debüt-Album von Kit Armstrong mit einer bezeichnend unkonventionellen Auswahl von Werken: Bach, Ligeti und einer eigenen Komposition des jungen Pianisten. Cover: Sony

Wer einmal Grigory Sokolov mit seinen vergeistigten Byrd-Interpretationen erlebt hat, weiß, dass große Musik nicht von historisch möglichst korrekten Bedingungen ihrer Aufführung abhängt. Armstrong spielt Byrd, Bull, Bach und Sweelinck, als hätten die ehrwürdigen Alten nichts anderes als den Steinway im Kopf gehabt, als sie ihre Noten niederschrieben. Das liegt daran, dass Armstrong sein Spiel aus einem bewundernswerten Überblick über den Plan der Kompositionen entwickelt und den Klang des Flügels in den Dienst dieser Einsicht stellt.

William Byrds „Hugh Ashton’s Ground“ lässt er andächtig aus der Stille entstehen. Er forscht jedem Vorschlag, jedem Triller, jeder harmonischen Subtilität nach. Die linke und die rechte Hand sind klug aufeinander bezogen. Das Rallentando, mit dem er das Tempo sanft abbremst, die maßvolle Agogik, mit der er den Satz belebt, sind keine Zeichen für eine Romantisierung.

Es sind stilistische Elemente, die Armstrong logisch platziert, um die Struktur des Stücks zu erklären. Sein Byrd hat nichts, aber auch gar nichts von dem mechanischen Geschnatter, an dem sich Alte-Musik-Fans jahrzehntelang erfreuten. Vor dem inneren Gehör entwickelt sich ein wundersamer Bau. Armstrong, der 2011 ein Mathematikstudium abgeschlossen hat, schwärmte einmal von der Schönheit, die es in der Mathematik zu entdecken gibt. Voilà – hier lässt sie sich hören!

Souverän berechnet, das ist eines der Kennzeichen der Musik des alten Sebastian Bach. Mag sein, dass sich Kit Armstrong eben deshalb bei ihm so wohl fühlt, ihn neben Mozart zu den prägenden Komponisten seines Lebens zählt.

In den Goldberg-Variationen ist es eben auch die strenge Schönheit einer vollendet beherrschten musikalischen Mathematik, die uns ins Reich der Ideen entführt und verzaubert: den einen durch die Logik der Entwicklung, den anderen durch den Zauber des strukturierten Klangs. Denn Bachs dreißig Variationen über eine Arie loten nicht nur alle möglichen formalen Möglichkeiten aus.

Die Vortragsbezeichnungen gehen – ungeachtet aller quellenkundlichen Einschränkungen – über das lapidare Bezeichnen der Tempi hinaus. Schon die Aria will „espressivo“ vorgetragen sein – also mit emotionalem Ausdruck. Von hurtiger Lebendigkeit bis maßvoller Distinktion reicht die Spannweite der geforderten Haltungen.

In dieser Welt fühlt sich Armstrong hörbar zu Hause. Sein Spiel leistet nichts weniger als den Blick in die klare, harmonische, vollendet wirkende Struktur der Variationen zu öffnen, ihre Entwicklung zu erschließen. Dass der Pianist auch noch die Möglichkeiten des modernen Flügels nutzt, sie in wechselndes Licht zu tauchen, ist eine wunderbare Zugabe. Ein mildes Licht für den ersten Kanon, ein sprödes, klares auf die Fughetta, ein luftig-leuchtendes auf das „leggiero“ der elften Variation. Das Andantino der Nummer Dreizehn lässt Armstrong mit feinen Rubati singen. Über verinnerlichtes Reflektieren, Staccato-Entschiedenheit, den majestätisch punktiert aufmarschierenden Prunk der Ouvertüre bis hin zu atemloser Energie, die keinen Punkt und kein Komma kennt, entfaltet der junge Pianist den Zyklus. Nach allen Stürmen und Wechselbädern kommt die Aria wieder: einfach, ruhevoll, geläutert.

Immer ist es der Blick auf strukturelle Entwicklungen, den Armstrong konsequent festhält, ohne den Zuhörer mit einem trockenen Lehrwerk zu strapazieren. Davon profitieren auch John Bulls komplexe „Veränderungen“ und Jan Pieterszoon Sweelincks deutlich von der Orgel her gedachte Variationen über „Mein junges Leben hat ein End“. Die Logik der Bezüge zwischen Bass- und Oberstimme ist souverän und klar herausgearbeitet, die Betonungen und Phrasierungen schlüssig gesetzt, rasche Passagen konsequent durchmodelliert.

Die Finger setzt Armstrong unbestechlich präzis; ein paar halb erwischte Töne erinnern sympathisch daran, dass hier ein Mensch am Flügel sitzt. Armstrong geht auch mehr als früher aus sich heraus: der Rhythmus bekommt etwas Swingendes, perkussive Momente und markante Repetitionen haben Gewicht. Aber stets – und das macht das Faszinierende von Armstrongs Kunst aus – dienen solche pianistischen Mittel nicht einer flüchtig-vordergründigen Expression, sondern einem tiefen Durchleuchten der Musik. Wer so spielt, muss um die Zukunft nicht bange sein. Beglückend, erhellend.




Kent Nagano und Kit Armstrong überraschen in Essen mit Berlioz und Liszt

Kent Nagano. Foto: Leda and St-Jacques/Sony Classical

Kent Nagano. Foto: Leda and St-Jacques/Sony Classical

Über dem Konzert stand nicht die glutvoll goldene Sonne Italiens, sondern das kühle blaue Licht des griechischen Gebirges. Kent Nagano und das Orchestre symphonique de Montréal durchleben in der Essener Philharmonie Hector Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ nicht als fiebriges Passionsstück. Sie richten den Blick auf die Exaltationen, Leidenschaften und Schmerzen dieser ur-romantischen Komposition, als säßen sie auf den Rängen eines Amphitheaters, während unten eine Tragödie spielt. Eine erhabene Tragödie, kein heißblütiges Melodram.

Kent Nagano hat einen höchst präzisen, höchst reflektierten Zugang zu solchen Werken. Er ist kein „Bauch“-Musiker, der sich in die elegischen und grotesken, die hochfahrenden und depressiven Seiten hineinwirft, die Berlioz in fünf Sätzen aufblättert. Er betrachtet diese Seelen-Landschaft nicht, als habe sie Eugene Delacroix mit sattfarbigem Schwung auf die Leinwand geworfen, sondern als habe – sagen wir einmal – der Goethezeit-Maler Jakob Philipp Hackert eine ordentlich gegliederte, kühl beleuchtete Landschaft gemalt.

Oder, musikalisch gesprochen: Bei Nagano führt eher der lichte, erhabene Tonfall des von Berlioz hochverehrten Christoph Willibald Gluck Regie, nicht der brodelnde Hexenkessel eines Franz Liszt. Frisch und durchsichtig wirkt der Klang des Orchesters aus Montréal. Hier interessieren Entwicklungen, Dissoziationen von Klang und Form, Reibungen und Verschränkungen des Materials. Kochende Emotionen, Wahn und Rausch, Bizarres und Magisches treten unter diesem nahezu perfekt gestalteten Klanggewand nicht offen hervor: Es scheint, als verhülle ein kostbar-leicht gewebter Stoff ihre brutale Unmittelbarkeit.

Wer sich auf diesen distanzierten Zugang zu Berlioz einlässt, muss zunächst Askese üben: Das Idyllische und das Fiebrige im zweiten Satz haben keine Farbe. Der „Szene auf dem Lande“ fehlt der melancholisch träumende Duft, den eine spannungsreiche Agogik, das Spiel mit Pause, Fermate und melodischem Bogen erzeugt. In der psychedelischen Wahnwelt des Finalsatzes sind weder die klanglichen Extreme etwa von Klarinette und Fagott ausgereizt, noch spielt das – ausgezeichnet disponierte – Blech mal so richtig „dirty“.

Aber die Belohnung lässt auch nicht auf sich warten: Nagano weiß ja, was er tut, sein Tauschgeschäft zeitigt Früchte. Er führt konsequent weiter, was einst Lorin Maazel mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks schon einmal durchexerziert hat: Gegen alle Kritik an den formalen Dispositionen gibt er Berlioz vor dem Hintergrund Beethovens die Würde als Symphoniker zurück. Hier erklingt eben nicht romantische Stimmungsmusik, sondern trotz aller „idée fixe“ ein auch aus seiner Form heraus faszinierendes Werk. Und um diese Erkenntnis nicht durch den überwältigenden Effekt zu übertönen, übt Nagano überlegte Zurückhaltung. Die Münchner mochten ihn deswegen nicht – aber wer sagt, dass an der Isar das Urmaß musikalischen Denkens definiert wird?

Mit dem 21jährigen Kit Armstrong hat Nagano einen Partner für Franz Liszts Zweites Klavierkonzert gefunden, der es ihm in der Verweigerung des Naheliegenden gleich tut. Hei, wie könnten die Finger fliegen, wie könnte das Pathos prunken, wie könnte der mondäne Virtuose sein Publikum becircen! Nichts dergleichen bei dem sehr ernsten, einmal zu reif, dann wieder fast kindlich schüchtern wirkenden Armstrong: Wie absichtslos verwebt er die Arpeggien des Beginns aufs Delikateste mit dem Orchester.

Wie glücklich geben und nehmen sich die Musiker aus Montréal und der Solist die Motive und Stimmungen gegenseitig weiter. Wie geschmackvoll finden sich die kontrollierte Noblesse des Pianisten und der fein-sonore Ton des Solo-Cellos zu intimer Salonmusik zusammen. Hier wird eher über Liszt meditiert als Material lustvoll ausgestellt. Für jeden Freund saftigen Musizierens enttäuschend, wer aber subtile Zwischentöne und einen moderat-unkonventionellen Zugang liebt, wird reich beglückt. Auch in seiner Zugabe hält sich Kit Armstrong konsequent von virtuosem Auftrumpfen fern: eine zart sinnierende Liszt-Miniatur statt einer beifallheischenden Glanznummer.

Mit Claude Viviers „Orion“ bringt das Orchester einen Blick auf Kanadas zeitgenössische Musik mit: Der 1948 geborene Vivier studierte unter anderem in Köln bei Karlheinz Stockhausen, ließ sich von östlich-asiatischer Musik inspirieren und kam 1983 durch einen Mord in Paris ums Leben. Das knapp viertelstündige Werk, 1980 vom Montréaler Orchester unter seinem damaligen Chef Charles Dutoit uraufgeführt, setzt ausgiebig Schlagwerk ein, aber der Solo-Trompete ist vorbehalten, eine Melodie vorzustellen, die in sechs Abschnitten verarbeitet wird. Das klingt, wie es eben in den achtziger Jahren geklungen hat: tonal gezügelt, klangverliebt und in ahnungsvoller Ruhe meditierend. Ein Konzert, das in der Sicht auf Berlioz wie auf Liszt aufschlussreich ent-täuschte.




Wundersamer Wunderknabe

Er hat alles unter Kontrolle. Die paar Schritte über die Bühne zum Klavier, das Lächeln, die Verbeugung. Und sein Spiel natürlich, das sich über die Strukturen der zu interpretierenden Musik definiert. Ernst wie ein Erwachsener wirkt der 19jährige Kit Armstrong, dieser wundersame Wunderknabe, dem noch so viel Kindliches anhaftet.

Sein größter, überzeugtester, bedeutendster Fürsprecher und Mentor ist Alfred Brendel, der die außergewöhnliche Begabung des jungen Eleven in höchsten Tönen hervorgehoben hat. Das kommt nicht von ungefähr: Die manuellen Fähigkeiten Kit Armstrongs und sein fast instinktives Erkennen musikalischer Verläufe sind von bestechender Aussagekraft.

Nun, wer mit 16 bereits ein abgeschlossenes Musik- und Mathematikstudium vorweisen kann, wer selbst komponiert, wenn auch in arg harmonischen Bahnen, dem dürften Gewissenhaftigkeit, ja die Logik des Interpretierens kaum fremd sein. Armstrong beweist dies beim Klavier-Festival Ruhr zu Ehren des nunmehr 80jährigen Alfred Brendel. Kristallin fließen dem Jungen dabei Bachsche Figurationen aus den Fingern, keine Wendung im polyphonen Geflecht bleibt unbeachtet – nehmen wir nur vier von ihm ausgewählte Präludien und Fugen.

Wer indes an diesem Abend in Mülheims Stadthalle von Kit Armstrong, der zwischen Bach und Liszt pendelt, bilderstürmerisches Aufbegehren eines wunderkindlichen Bühnentiers erwartet, wird enttäuscht. Der Interpret steht über der Musik, beobachtet, analysiert. Er ist nicht in der Musik, geht keine Risiken ein, um etwa der Lisztschen Ausdrucks-Opulenz, in der rauschenden Nr. 10 des großen Etüden-Zyklus, Gewicht zu geben. Mitunter wirkt es, als wolle der Pianist sich selbst Note für Note noch einmal bestätigen, was er doch längst im Kopfe abgespeichert hat.

Armstrong verströmt Disziplin, die in Perfektion münden soll. Er wirkt dabei wie ein Asket des Gefühls. Manche finden das spröde. Doch er macht uns staunen – so oder so.

(Der Text ist in kürzerer Form in der WAZ erschienen)