Schamlose Klangfarben: Der Dirigent Klaus Mäkelä triumphiert mit Berlioz in der Essener Philharmonie

Klaus Mäkelä und das Orchestre de Paris in der Essener Philharmonie. (Foto: Sven Lorenz)

Klaus Mäkelä ist einer jener Shooting-Stars, die in der Klassik-Szene gerade willkommen sind. Denn die alte Garde der Dirigenten tritt allmählich ab und in der mittleren Altersgruppe sind charismatische Figuren rar.

Da steht er also zum ersten Mal am Pult der Essener Philharmonie, der 27 Jahre alte Finne Klaus Mäkelä, weltweit bei großen Orchestern gefragt und in vier Jahren Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouworkest. Man fragt sich: Ist es das Marketing, das die Aura erschafft? Oder baut der Ruf auf Ausstrahlung und Können auf? Bei seinem Kölner Debüt mit Mahlers Sechster am Beginn der Spielzeit 2022/23 hätte man Mäkelä gewünscht, mehr Zeit und Reife mitbringen zu können. Da lieferte er ein sinfonisches Hochglanzprodukt, das die existenziell aufwühlenden Tiefen der Musik überspielte.

Doch Hector Berlioz und seine „Symphonie fantastique“ zerstreuten nun den Verdacht, diese Dirigentenpersönlichkeit müsse sich erst noch ausformen. Da standen Präzision und Brillanz des Orchestre de Paris, das Mäkelä seit 2021 leitet, im Dienst der Sache. Und die heißt bei Berlioz: unbekümmerter Umgang mit der symphonischen Form, unerhörte Farben, ungeheure Rhetorik, ungeahnte Experimente in der Harmonik, von Robert Schumann einst als platt und verzerrt kritisiert. Der Deutsche hat Recht: Die gellende Gemeinheit des Hexensabbats steht – wie zwei Generationen später bei Mahler – nicht für die Raffinesse absoluter Musik, sondern für ein geradezu szenisch gedachtes Programm, dessen Radikalität viele entsetzte, aber andere wie Franz Liszt elektrisierte.

Fieberbrand mit Reserve

Alles beginnt mit einer gelösten Idylle: Mäkelä lässt den lyrischen Beginn sanft aufblühen, heimst erste Bewunderung ein für die fabelhaft abgestufte Mikro-Dynamik, an der sicher die Berlioz-Erfahrung des Orchestre de Paris ihren Anteil hat. Mäkelä hält klug die Reserven für die exaltierten letzten Sätze zurück, lässt den Fieberbrand des Berlioz’schen Opiumrauschs erst verhalten züngeln. Die heftigen Kontraste, die atemlose Rasanz haben zu warten. Der glühend aufgeladene Ton der Bässe oder das herrlich runde Blech: Sie haben ihre Höhepunkte noch vor sich.

Das Abmischen der Instrumentengruppen, das Verfließen der Farben, der intensive, mit vollem Bogen ausgekostete Klang der Streicher gelingen expressiv –ob sie sonor grundieren oder als dominierende Stimme hervortreten. Mäkelä evoziert mitreißende rhythmische Energie, kann das Orchester aber im Bruchteil eines Taktes zurückschalten in gelöstes Legato. Takt- und Rhythmuswechsel frappieren und lassen ahnen, wie Berlioz seine Zeitgenossen gefordert und überfordert hat. Der zweite Satz mit seinen Harfen-Effekten und seinem in verschiedenen Beleuchtungen schimmernden Walzer dirigiert er wie eine Opernszene, bedacht auf Rubato und pulsierenden Atem.

Im vierten Satz mit seinem unheimlich grellen Fagott-Marsch brechen dann die Gewalten herein, gefordert von Mäkeläs imperialen Gesten, seiner niedersausenden Faust, dem Aufstampfen mit dem Fuß. Dennoch drängt sich nie der Eindruck bloßen Effekts auf. Infernalischer Lärm und unwirkliches Filigran im Hexensabbat des letzten Satzes sind nicht unkontrolliert entfesselt. Sie folgen mit ihrer ganzen schamlosen Ausnutzung der Klangfarben einer wohlüberlegten Dramaturgie. Für Mahler mag Mäkelä noch manche Erfahrung sammeln müssen – mit Berlioz und dem phänomenalen Pariser Orchester legt er nahe, dass sein Ruf der Persönlichkeit entspricht. Zu hoffen ist, dass man von dem jungen Mann nach diesem Debüt auch in Essen noch hören wird.

Vom Schaum der Ekstase kaum ein paar Flocken

Janine Jansen und Klaus Mäkelä. (Foto: Sven Lorenz)

Vor der Pause ging es weit gesitteter zu: Jean Sibelius‘ Violinkonzert entbehrt zwar nicht der schwärmerischen Leidenschaft, aber selbst die prägnanten rhythmischen Passagen und die Ausbrüche des Orchesters im letzten Satz bleiben hinter dem Höllenritt von Berlioz zurück. Mäkelä emanzipiert das Orchester zu einem dynamisch wunderbar dosierten, mit kostbaren Farben spielenden Partner der Solistin. Doch die Geigerin Janine Jansen zeigt kein Interesse, ihre schlanke, bisweilen zu Blässe neigende Tongebung expressiv aufzuladen. Das „Espressivo“ will sich in ihrem abgemagerten Ton nicht einstellen, die schwer lastende, leidenschaftliche, mit edlem Sentiment getränkte Melodik des Adagio will Jansen entfetten, aber das löbliche Vorhaben verdünnt den Klang und überzeugt nur in den leisen Momenten. Im Finalsatz fliegen vom Schaum der Ekstase kaum ein paar Flocken.




Unheimlich geheimnislos: Klaus Mäkelä und das Concertgebouworkest mit einem brillanten Mahler in Köln

Klaus Mäkelä. (Foto: Marco Borggreve)

Der Satz, so abgedroschen er klingt, stimmt: So hat man Mahler noch nicht gehört. Der 26jährige Klaus Mäkelä liefert bei seinem Debüt in der Kölner Philharmonie mit dem Concertgebouworkest eine Sechste, deren Scharfschnitt und Präzision geradezu unheimlich sind.

Ein unerbittlich flotter Marschrhythmus zu Beginn, räumlich aufgespannte Bläser – etwa wenn die Hörner den Trompeten antworten –, ruhevolle Choralinseln der Holzbläser, ein „Alma“-Thema, in dem die Streicher klingen, als habe Antonín Dvořák ein paar Takte seiner warmen Melodik ausgeliehen.

Mäkelä ist ab 2027 Chefdirigent des traditionsreichen, in den letzten Jahren im Zuge zweifelhafter Vorwürfe gegen seinen früheren Chef Daniele Gatti ins Zwielicht und durch lange Führungslosigkeit künstlerisch ins Trudeln geratenen Orchesters. Davon war in Köln nichts zu hören: Die Akkuratesse der Einsätze, die Balance der Orchestergruppen, die Konzentration des Klangs waren ohne Makel. Wer die auch bei großen Orchestern auftretenden Verunklarungen in den Mahler’schen Katastrophen erwartete, wurde auf faszinierende Weise enttäuscht. Ein gutes Omen für die bevorstehende Residenz des Orchesters in der beginnenden Spielzeit 2022/23 in der Essener Philharmonie.

Doch genau an diesen diamantgleich in kalter Präzision aufblitzenden Momenten macht sich das Unheimliche fest, nicht etwa im raunenden Dunkel verschwommener Klangmagie, sondern im erbarmungslosen Licht eines Dirigats, das alles, aber auch alles offenlegt. Mäkelä offeriert einen Mahler, den man durch und durch jugendlich nennen möchte – ein dirigierender Siegfried, der erst noch das Fürchten lernen muss. Ein von Zweifeln, Erinnerungen, Traditionen, Belastungen, vielleicht auch Momenten des Rauschs ungetrübter Blick richtet sich unbekümmert auf Mahler, flankiert von der Präzision des Gedankens, der reaktionsschnellen Schärfe eines jungen Geistes.

Der Dämon der technischen Überwältigung

Aber in der Kulmination dieser technischen Überwältigung gleißt der Mittagsdämon im unfehlbaren Licht auf die nackte Partitur. Unheimlich ist also nicht die düster-unerbittliche Grundierung der ins Extrem getriebenen Diesseits-Katastrophe der Sechsten, unheimlich ist die Abwesenheit der Mahler’schen Selbsterkundung, die in der Sechsten so auf die Spitze getrieben ist, dass Alexander von Zemlinsky sie Mahlers „Eigentliche“ genannt haben soll. Unheimlich ist der Zusammenbruch der verzweifelten Hochspannung zwischen „klassischen“ Formteilen und den geradezu traumatisch hartnäckigen Kräften ihres Aufsprengens.

Klaus Mäkelä, der schon große Orchester von Berlin über Chicago bis London dirigiert, macht nicht den Eindruck, sich in diesem alerten Umtrieb auf die wirklichen Abgründe Mahlers eingelassen zu haben. Das ist keine Frage von Lebensjahren: Jugend kann Ahnung spüren von tiefer Lebenstragik, so wie sich Alter in harmlosem Lebensfrohsinn vertändeln kann. Aber es ist bemerkenswert, wie ein zweifellos hochbegabter junger Dirigent einem Orchester mit der Mahler-Tradition des Concertgebouw eine Lesart abringt, die sich in geheimnisloser Brillanz erschöpft.

Die Folge ist ein sinfonisches Hochglanzprodukt, das die existenziell aufwühlenden Tiefen der Musik überspielt. Die sind in technisch-musikalischen Kategorien so schwer zu beschreiben, wie sie in einer Aufführung heraufzubeschwören sind – aber sie kennzeichnen einen gelingenden, berührenden Mahler-Abend. Einige Indizien: Die (zu leise) von draußen klingenden Kuhglocken kommen über die Wirkung als instrumentaler Effekt nicht hinaus, weil sich drinnen die Anmutung von Idylle nicht einstellt und die Farben des Orchesters zu freundlich und ungetrübt bleiben. Wenn sich dann die Kräfte ballen, wirken sie nicht bedrohlich, weil Mäkelä nichts über die Noten hinaus aus der Musik liest. Das Andante an zweiter Stelle wirkt sehr sanft, sehr transparent. Die Ländler wirken so unmittelbar, als habe Mahler tatsächlich naive Tänzlein gemeint und nicht die wehmutsvollen Erinnerungsfetzen an ein imaginiertes bäuerliches Arkadien.

Gepflegte Katastrophen

Die katastrophischen Zuspitzungen des Scherzos wirken überaus gepflegt – da klingt kein Höllengelächter und kein brutales Stampfen, nur zwingend dosierte Lautstärke. Die fahlen Holzbläser tragen keinen grinsenden Grimm auf der polierten Oberfläche ihres Klangs. Der vierte Satz beginnt für einige Momente so klangverliebt, als stamme er von Franz Schreker; danach leiden die – vorzüglichen – Violinen keine Schmerzen, bleibt die Spannung zwischen Tuba und Harfe Effekt statt herzzerreißende Kluft. Sicher, es gibt wundervolle kammermusikalische Momente als Kontrast zur Fortissimo-Entfesselung, aber sie sind kein zaghafter Trost in einem Meer von Brutalität. Alles, so hat man den Eindruck, ist bereits gesagt, als der Hammer niedersaust. So unheimlich brillant, glatt und aussagelos geht Mahler auch – das ist die Erkenntnis dieses Abends, der bei erschreckend vielen freien Plätzen im Rund der Kölner Philharmonie sein Publikum gleichwohl beeindruckt: Die Stille nach dem letzten Donnerschlag wollte sich lange nicht lösen; die ersten zögernden Klatscher wurden wie eine Störung empfunden.

Eigentlich nicht gerecht ist es, wenn das Eröffnungsstück des Abends in den Schatten Mahlers verbannt wird: Das 2002 entstandene Orchesterstück „Orion“ von Kaija Saariaho wäre eingehender Betrachtung wert. Zumal in Köln im Herbst 2021 die Oper „L’amour de loin“ in einer erhellenden Inszenierung von Johannes Erath und im klangsensiblen Dirigat von Constantin Trinks auf die Qualitäten der Musik der finnischen Komponistin aufmerksam gemacht hat. „Orion“ lebt im ersten Satz von rhythmisch unterfütterten flirrenden Klanggebilden, im zweiten von einer sich ständig, aber unmerklich wandelnden Gewebestruktur aus Mikro-Kombinationen der Instrumente, im dritten aus einem markanten, vom Xylophon in den Klangraum gesetzten Motiv, das sich mit rhythmischer Energie durchsetzt. Zwanzig Minuten subtile, sphärische Sinnlichkeit.

Das Concertgebouworkest beginnt seine Zeit als „Artist in Residence“ der Essener Philharmonie am Samstag, 10. September, mit einem Sinfoniekonzert: Alain Altinoglu dirigiert, der Porträtkünstler der Philharmonie, Víkingur Ólafsson, spielt das Klavierkonzert von Edvard Grieg. Weiter im Programm: Tänze von Johannes Brahms, Béla Bartók, Leonard Bernstein und Göran Fröst, mit Martin Fröst als Klarinettensolist.

Erstmals gestaltet ein ganzes Orchester die Künstler-Residenz der Essener Philharmonie. 1888 gegründet, gehört es zu den Top-Orchestern der Welt. Im Proramm stehen zwei weitere Orchesterkonzerte: am 27. Januar 2023 mit Sir John Eliot Gardiner am Pult und am 15. April 2023 mit dem Komponisten Matthias Pintscher, der neben eigene Werke den „Wunderbaren Mandarin“ Béla Bartóks stellt. Außerdem treten Musiker des Orchesters in kleineren Formationen auf, so am 1. Oktober die Blechbläser als RCO Brass. Tickets unter (0201) 81 22 200, Info: www.philharmonie-essen.de