Soziale Miniaturen (15): Zuckfuß

Krankenhausflur (Foto: Bernd Berke)

Krankenhausflur (Foto: Bernd Berke)

Nein, es ist eigentlich gar nicht komisch – und doch…

In der Arztpraxis. Etwa einen Meter vor dem Empfangs-Tresen ist die übliche Linie auf den Boden gezeichnet, die da bedeuten soll: Bitte Diskretion!

Die ältere Dame im Kamelhaarmantel, die jetzt an der Reihe ist, spricht allerdings so laut, dass man nichts überhören kann. Sie muss einmal recht elegant gewesen sein, doch heute achtet sie wohl nicht mehr so sehr auf sich.

Was sie der Arzthelferin mitteilen möchte, gestaltet sich schwierig. Immer und immer wieder diese Nachfragen. Ein zäher Dialog. Die Warteschlange wird währenddessen nicht kürzer.

Es geht um eine Klinik-Einweisung. Ja, wieso denn? Welche Klinik? Nach längerer Wechselrede scheint schließlich einigermaßen festzustehen, dass es sich um ihren „Zuckfuß“ handelt.

Zuckfuß. Dieses gleichsam selbst zuckende Wort wird sie fortan wie eine neckische Formel einstreuen. Vielleicht hat sie gelernt, durch hartnäckige Wiederholung aus einer gewissen Verzweiflung für sich selbst etwas distanzierende Komik zu schöpfen? Sie kokettiert geradezu damit.

Doch weiter geht’s mit der Befragung. Warum hat sie diesen Zuckfuß? Gibt es schon eine tragfähige Diagnose? Endlich rückt sie mit der Sprache heraus: „Ja, vom Kopf her.“ Das müsse näher untersucht werden. Also soll sie in die Neurologie gehen? Offenbar ja. Es steht wohl eine MRT-Untersuchung an. Wirklich nicht witzig.

„Ach. Und da wäre noch etwas.“ – „Ja? Was denn?“ – „Ja, diese Botox-Sache.“ – „Wie bitte?“ – „Ja, ich soll doch – äh – gebotoxt werden.“ – „Warum denn das?“ – „Ja, wegen dem Zuckfuß…“ Jetzt muss sie selbst leise lachen. Und auch die Arzthelferin glaubt, nun endlich herausprusten zu dürfen. Diskret war das alles nicht. Aber dann doch lustig. Irgendwie.

P. S.: Nachher habe ich „Zuckfuß“ in eine Suchmaschine eingegeben und erfahren, dass es sich vorwiegend um eine Pferdekrankheit handelt und man auch „Hahnentritt“ dazu sagt. Steigert oder mindert das nun die Komik?

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Mit diesem Beitrag soll die 2011/2012 begonnene und dann abgebrochene Textreihe „Soziale Miniaturen“ sporadisch wieder aufleben. Die bisherigen Folgen:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14)




Revierpassagen-Texte wurden bühnenreif: Rolf Dennemanns Krankenhausreport „Unterwegs mit meinem Körper“

Wenn ein gelegentlicher Mitarbeiter der „Revierpassagen“ ein Bühnenprogramm entwickelt und aufführt; wenn noch dazu sehr lesenswerte Textvorlagen zu diesem Projekt als Beiträge in den Revierpassagen gestanden haben – dann, ja dann machen wir umso lieber ein bisschen Reklame dafür.

(Foto: d-man)

Eine Station der Krankenhaus-Odyssee (Foto: d-man)

Die Rede ist von Rolf Dennemann und seiner szenischen Lesung „Unterwegs mit meinem Körper“, die kürzlich erfolgreich Premiere hatte. Der Autor, Regisseur und Schauspieler schildert seine Odyssee durch diverse Krankenhäuser des Landes. Es halten sich dabei erzkomische und durchaus ernsthafte Aspekte die Waage. Anders gesagt: Sie folgen einander in aberwitziger Weise.

Hand aufs hoffentlich nicht allzu kranke Herz: Wann habt ihr zuletzt über die Rolle des Hagebuttentees in deutschen Kliniken nachgedacht? Und was haltet ihr von der künstlerischen Ausstattung unserer Krankenhäuser? Und das sind nur die harmlosesten von vielen, vielen Fragen…

Einen gewissen Vorgeschmack erhält man, wenn man sich noch einmal – ebenso schaudernd wie genüsslich – Rolf Dennemanns dreiteiligen Revierpassagen-Text „Krankenhausreport“ (Links stehen am Ende dieses Beitrags) zu Gemüte führt. Doch natürlich hat Rolf Dennemann seine Erlebnisse für die Bühne noch einmal ganz anders bearbeitet.

Auch darf man sicher sein, dass die Präsenz Rolf Dennemanns und der Schauspielerin Elisabeth Pleß den Texten noch einige weitere Dimensionen verleiht, zumal auch Bild- und Videoprojektionen zum Repertoire gehören.

So. Ich denke, jetzt haben wir genügend Vorfreude auf die weiteren Auftritte geweckt. Der nächste begibt sich am Freitag, 17. April (20 Uhr), im Dortmunder „Theater im Depot“, ein weiterer am 29. Mai in Gelsenkirchener Consol Theater. Da ahnt man schon: Unter den Absurditäten des stationären Gesundheitswesens ächzen auch ansonsten scharf rivalisierende Revierstädte gemeinsam.

Weitere Infos auf Rolf Dennemanns Internet-Seite: www.artscenico.de

Die drei Teile des „Krankenhausreports“, erschienen im Februar 2014:
http://www.revierpassagen.de/23415/der-krankenhausreport-teil-1-ich-nehme-dann-das-einzeldoppel/20140209_1733

http://www.revierpassagen.de/23421/der-krankenhausreport-teil-2-wir-sind-die-gruenen-damen/20140211_1004

http://www.revierpassagen.de/23424/der-krankenhausreport-teil-3-das-bekommen-sie-jetzt-alles-von-uns/20140212_1217




Der Krankenhausreport (Teil 3): „Das bekommen Sie jetzt alles von uns“

Was ist ein „apallisches Durchgangssyndrom“? Dazu gibt es heute im Hospital eine Selbsthilfegruppe. Viel wissen, sich selbst zu helfen, zumindest kulinarisch. Draußen hält ein Pizzataxi. Ein riesiger Karton Pizzas und Colakisten werden ins Haus geschleppt. Vielleicht das Ergebnis der Ernährungsberatung?

Mein neuer Nachbar erhält eine Biopsie. Man schickt mich raus. Gott sei Dank, denn man will ja nicht mit schmerzenden fremden Körpern konfrontiert werden. Außerdem wartet eine solche Maßnahme auch auf mich. In meiner Arzneischatulle fehlt heute Morgen eine Tablette. Versehen oder der erste medizinische Fehler, der mich mein Leben kostet? Ich frage nach und man sagt mir in der Organisationszentrale der Abteilung, ich bekäme ja abends eine. Ich sage „Nein, morgens und abends“. Es sei nicht so wichtig, denn ich habe ja noch Tabletten aus dem eigenen Bestand.

Ein Namensschild – gottlob noch nicht am Zeh

Vor der Selbsteinlieferung hatte ich der Ärzteschaft eine Liste meiner einzunehmenden Medizin überreicht. Genaue Bezeichnung, Menge, Sinn und Zweck. Bei der Zimmeraufnahme fragte man mich dann, welche Medizin ich einnähme. Ist das ein Trick, um meine Zurechnungsfähigkeit zu testen? Ich deute auf den mitgebrachten Eigenbestand. Alles wird notiert. „Das bekommen Sie jetzt alles von uns. Bis auf Präparat I.“ Das hätten sie gerade nicht vorrätig.

Aussichten

Aussichten

Bei der Visite am dritten Tag fragt mich der Arzt, den ich zum ersten Mal sehe, welche Medikamente ich einnähme. Ich zähle alles auf und er notiert. Es wird viel notiert. Das beruhigt mich. Als hilflose Person würde mir wahrscheinlich irgendwas oder nichts verabreicht. Ich wiederhole meinen Namen, damit es keine Missverständnisse gibt.

Eine Untersuchung muss wiederholt werden wegen eines Computerfehlers. „Wann?“ frage ich. „Bald“ heißt die Antwort. Ich will raus. Die Sonne scheint. Am Fußende des Bettes klebt ein Namensschild, Gott sei Dank noch nicht an meinem Zeh. Das Wort „Frau“ ist durchgestrichen. Herr Dennemann, lese ich. Richtig. „Richtig. Das bin ich“, denke ich.

Nach dem Mittag wird es stiller im Gang. Das ist die Zeit, wo sich die Bösen ins Spital schmuggeln, sich einen Kittel klauen und wichtige Zeugen töten. Ich bin kein Zeuge. Vor meiner Tür sitzt kein dösender Polizist. Glocken läuten. Andacht für alle Glaubensrichtungen. Ich versuche zu dösen und versuche gleichzeitig, mich in einen Traum zu taumeln. Der Traum von einem Kloster, wo unentwegt Füße gewaschen werden.

Stille kann so nervös machen

Stille kann nervös machen. Die Nacht gelingt mir. Sie geht vorüber. Der Aufstand beginnt wieder um 5.50 Uhr mit einem Morgengruß. Ein hinkender Stationsarzt mit migrantischem Hintergrund kündigt die Punktierung des Rückens an. Für 13.30 Uhr. Ich lese die Belehrung, die er mir vorlegt und die darauf hinweist, dass ich möglicherweise dahingerafft werde, falls ich dieses eine Prozent bin. Er verspricht Schmerzfreiheit, ein kühner Bursche.

Das Mittagessen ist wieder akzeptabel, vor allem, weil ich Salzkartoffeln mit Gemüsebeilage mag; egal, welche Fleischbeigabe dazu noch in der Soße schwimmt. Das Hähnchen heute ist wie alle Hähnchen. Die Brühe ist mit ungewürztem Ei angedickt.

Gleich wird eine Hohlnadel in den Rücken gejagt. In gebückter Haltung werden mir Wässerchen entnommen. Der hinkende Arzt ist mir willkommen. In mancher Hinsicht ist er Außenseiter im Ärzteleben. Er wird keiner Krankenhausfußballmannschaft angehören. Und auch bei Golf und Tennis eher zuschauen. Vielleicht beschäftigt er sich auch in seiner Freizeit mit Krankheiten und forscht und forscht. In aller Ruhe zapft er bei mir ab, nachdem er mich vorher vereist hat. Teile von mir sind Polargebiet. Alles läuft gut. Ich solle zwei Stunden ruhen. Nach siebzig Minuten verhalte ich mich gegen den Befehl und renne ins Freie. Jetzt ist die Bettkante Wartepunkt für die irgendwann anstehende Muskeluntersuchung, auf die ich mich freue, habe ich doch selten direkt mit meinen Muskeln zu tun, zumindest nicht mit denen, die Kraft bedeuten. Kau- und ein paar andere Muskeln funktionieren tadellos.

Der Mann aus Libyen sitzt nachts im Flur

Im Foyer gibt es neue Ankündigungen. Man lädt zu einer Krabbelgruppe. Dafür käme ich mutmaßlich erst nach meiner Muskelbehandlung in Frage. Es regnet. Nebenan liegt ein Mann aus Libyen. Eingeflogen. Spricht Englisch. Arbeitet bei der UN. Die Neurologie habe einen guten Ruf bei der UN. Nachts sitzt er im Flur, da die Schlafgeräusche seines Bettnachbarn ihn an kriegerische Auseinandersetzungen erinnern.

Ich achte auf Schritte im Flur. Ob sie sich meinem Einzeldoppel nähern? Ich warte auf die Aufforderung zur angekündigten Untersuchung. Im Gefängnis sind das die Schritte, die das Ernährungsbrett in die Zelle schieben. Gegenüber vom Krankenhaus liegt eine Haftanstalt für Freigänger – wie ein unbewohntes Schloss. Die Insassen gehen zur Arbeit, machen ihre Pausen und kehren abends in die Zelle zurück, lesen, schlafen ein. Kein Doppeleinzel. Nein, ich will nicht tatsächlich tauschen. Hier kann ich jederzeit gehen, meinen Koffer packen und sagen: „Das Hotel gefällt mir nicht. Ich buche um.“

Auf der Wasserflasche steht „gutgesund“

Ich lese das Etikett meiner Wasserflasche und sehe das neue Wort „gutgesund“, also nicht gut und gesund, sondern schlicht gutgesund. Ich frage nach einer Falsche mittelgesund oder mediumgesund. Man blickt mich in der engen Teeküche an, wie man Störenfriede anschaut. Die Teeküche ist so klein, dass alle Vorstellungen von sexuellen Übergriffen des Stationsarztes mit der jungen Schwester ins Leere laufen. Wenn sich dort drei Personen gleichzeitig aufhalten, ist das automatisch schon sexuelle Belästigung – wie in den meisten Aufzügen dieser Welt. Da kann man noch so viele Beutel Pfefferminztee in den Händen haben. Das Stationszimmer, also die Stationsrezeption, das Zentrum der Abteilung, ist der Arbeitsraum für gefühlte elf Personen und man weiß nicht recht, wer Schwester, wer Pfleger, wer Arzt und wer möglicherweise der Vertreter der outgesourcten Ernährungsfirma ist.

Gespräche draußen vor der Tür

Eine mir bisher unbekannte Schwester betritt mein Zimmer, das ich jetzt Warteraum nenne. Eine neue Verkündigung? Nein, sie will zu einem Herrn Pütz, der ich nun mal nicht bin. „Wer sind Sie denn?“ fragt sie. „Darf ich mich vorstellen? Dennemann mein Name.“ „Dann nicht“, sagt sie und verirrt sich in der nächsten Tür.

Draußen vor der Tür finden weiter unentwegt Krankengespräche statt. Nach dem Frühstück oder irgendeinem anderen Vorgang, der mit Magen zu tun hat, kann man nicht empfehlen, solchen Gesprächen zu lauschen. Die junge, hagere Frau mit der gedrehten Zigarette, beginnt ihre Erzählung aus dem Nichts (es ist halb acht Uhr morgens), dass sie ihr Kind verloren habe. Dritter Monat. In der Badewanne. „Flutsch. Einfach so.“ sagt sie. Aber sie habe ja bereits eine 16-jährige Tochter. Ich renne weg. In der Raucherzone sitzen zwei Frauen mit den kratzigen, tiefen Stimmen und dem Gemüt herzhaft knackiger Baumfäller. Sie unterhalten sich über Ausfluss und innere Blutungen, als ginge es um ein neues Kochrezept. Ich renne weg.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, gut aussehende Menschen würden nicht krank. Sorry, aber es sieht so aus. Oder die Gutaussehenden werden in anderen Häusern gehalten. Oder sie rauchen nicht. Also sieht man sie nicht vor den Eingängen herumlungern. Kann aber auch sein, dass die Schönen eine eigene frische Luft erhalten. Vielleicht oben in einem Penthouse-Garten. Dort haben sie Ausgang und da unten vor der Drehtür stehen die Gefallenen und Elenden, die Männer und Frauen in Krankheitskleidung, in Bademänteln und Sporthosen, in Schlappen oder mit übergeworfenen Mänteln, in Rollstühlen mit ausgestreckten Beinen und nackten Zehen, mit Gehhilfen und dicken Kindern. Oben im Penthouse-Garten knabbern die Schönen mit ihren Zipperlein an Möhren und schnappen ihre frische Luft. Ich weiß es nicht.

Wenn Edelgard Schnipper-Henrichs klimpert

Entlassene warten mit ihren Taschen und Koffern auf ihre Anverwandten oder das Taxi. Das Essen auf Rädern ist bereits organisiert. Ich löffle meinen Frankenland-Joghurt Fit 0,1 % Fett. Ich treffe den Chefingenieur der Abteilung und er teilt mir mit, dass die lang erwartete Untersuchung meiner Beinmuskulatur am Nachmittag stattfände. Ich bin es also – „vielleicht“. Das erfüllt mich mit einer solchen Fröhlichkeit, dass ich beschließe, das Klavierkonzert im Foyer wahrzunehmen. Dort vor dem Eingang zum Bistro steht dieses schwarze Piano, als habe es dort jemand vergessen. Dort sitzt Edelgard Schnipper-Henrichs (zugegeben, der Name ist erfunden, aber es gibt keinen Hinweis auf die Künstlerin). Sie spielt eine Largo-Version von „Something stupid“. Welch ein passender Titel.

Ich bin der einzige Zuhörer auf den Drahtstühlen an der Wand. Aufzüge gehen auf und zu. Liegendkranke werden hin- und hergeschoben. Ein älterer Patient setzt sich dazu. „Something stupid“ – Ich bin drauf und dran, mitzusingen, aber ich beherrsche mich, gehe auf und ab unter den Klängen dieser musikalischen Annäherung an Frank Sinatra. An der Wand neben Aufzug 1 hängt eine Hommage auf Leinwand an Pina Bausch. Eine wunderbare Fügung, dass sie von diesem Bild keine Kenntnis mehr erhalten wird. Man sieht eben in einem Krankenhaus auch grausame Dinge. Und es folgt die musikalische Klimax, die ich erwartet hatte: Richard Clayderman. Der ältere Herr im Zuschauerraum hält seinen Kopf eigenartig schief. Ich muss fliehen. Ich bin kein Arzt. Ich kann jetzt auch nicht helfen. Jemand wird ihn schon finden. Und ein anderer wird eventuell das Piano töten und Frau Schnipper-Henrichs in ein Koma versetzen.

Hommage an Pina Bausch in lila

Hommage an Pina Bausch in lila

Im Fahrstuhl bin ich mit der Stationsschwester allein, die mir berichtet, sie käme immer mit guter Laune zur Schicht. „Ich komme lächelnd hier morgens an. Ich bin gut gelaunt.“ Und abends in der Düsternis ihrer Wohnung sei alle Energie von ihr abgesaugt und sie freue sich wieder auf den nächsten Morgen. Ich wünsche ihr ein schönes Leben.

Zurück in der wirklichen Welt

Die Verwaltung ruft mich an und fragt, ob ich einen Abschlussbericht benötige. Ich beharre auf einen Zwischenbericht, denn ich habe noch so einiges vor im Leben. Solche Gags kommen woanders besser an. Ich bereite mich auf meine Entlassung vor. Noch ein weiterer Tag und der Gewöhnungsprozess würde einsetzen. Dem zu entgehen, ist lebenserhaltend, denke ich.

Die neurologische Muskeluntersuchung ist ein Vorgang, der zeigt, was man mit Menschen alles anstellen kann. Eine Nadel wird in den Muskel geschoben, von außen naturgemäß. Der Arzt dreht die Nadel, schiebt sie einmal in die eine, dann in die andere Richtung. Sagen wir mal so: Es ist unangenehm. Ich könne nun mit meinem Muskel musizieren, sagt er. Und in der Tat – ich produziere durch Muskelanspannung den Sound eines Maschinengewehrs, elektronisch etwas verfremdet und somit feure ich Salven ab, die an ein Filmgemetzel erinnern. Bilder aus Vietnam kommen mir in den Sinn. Ich schieße mit meinem Muskel.

Es ist später Nachmittag und ich packe meinen Koffer. Ich kann gehen. Obwohl die Entlassungen morgens stattfinden, ist es mir frei gestellt, bereits des Abends die Lokalität zu verlassen. Ich steuere einen Supermarkt an. Alles scheint mir fremd. Bereits nach viereineinhalb Tagen muss ich erst wieder in die reale Welt eintauchen. Ich trage weder Bademantel noch Blutzufuhrkabel. Ich schleppe meinen Plastikbeutel mit Kartoffeln und fetthaltigen Lebensmitteln in das Auto und fahre heim.

Ende




Der Krankenhausreport (Teil 2): „Wir sind die grünen Damen“

Heute sind zwei Veranstaltungen im Veranstaltungszentrum angesagt: Patientenberatung zum Thema Ernährung und ein katholischer Gottesdienst für alle Glaubensrichtungen. Ich muss zum EKG auf B1. Ich nehme Platz gegenüber dem Schreibzimmer B01.21. Hier gibt es Schreibzimmer. Das klingt nach Therapie. Sitzen hier diejenigen, die sich schreibend ihre Lasten von der Seele schreiben? Ist es etwa das Dichterzimmer?

Ich will hinein, aber es ist verschlossen. Vielleicht ein Geheimbund für alle Glaubensrichtungen. Neben meiner Bank ist das Patienten-WC, ein wunderbarer Hort für all die Bakterien, die hier ihr Unwesen treiben können. Das stille Rauschen wird plötzlich untermalt von einem anhaltenden Piepsen, das man bei Dr. House oder Emergency Room immer dann hörte, wenn die Spannung steigen sollte. Alarm. Exitus. Ich bin dran. Das Piepsen hört auf. Das EKG sagt: „Fit wie ein Turnschuh.“

Kunst im Spital

Kunst im Spital

Um 20.15 ist Nacht. Der Nachbar will den zweiten Teil eines Fernsehfilms sehen. „Okay“, sage ich verständnisvoll und schaue mir diese Wiederholung zum wiederholten Male an. Bereits nach Minuten vernehme ich Schlafgeräusche, die den Text in den Kopfhörern übertönen. Ich schließe die Augen und vor mir tut sich die Nacht auf in Form eines langen dunklen Ganges, in dem ich stundenlang auf- und abgehe.

Um 22.00 Uhr übernehme ich heimlich die Herrschaft über die Fernbedienung. Um 00.00 beschließe ich, Schlaf über mich kommen zu lassen, die Fernbedienung fest in meiner linken Hand. Um 2.15 Uhr habe ich das Gefühl, acht Stunden geschlummert zu haben. Um 3.20 Uhr bin ich sicher, dass schlummern nicht schlafen ist.

Disziplin wie im Luftschutzbunker

Um 5.50 Uhr kommt das erste von vielen Rollkommandos, die den Kranken an das erinnern, worum es im Leben geht: Disziplin und Gesundheit. „Guten Morgen!“ Das klingt so, als ob man direkt ohne Umwege sich in den Luftschutzbunker begeben soll. Es werden aber nur Papierkörbe geleert. Immerhin: Ordnung. Fünfzehn Minuten später wird die Tür erneut eingetreten. Dieses Mal wird ein Wagen hereingeschoben mit allerlei Gerät. Zwei starke Frauen schieben das Labor auf Rädern. Sie wollen messen. „Unter die Zunge“ lautet der freundliche Befehl für das Fiebermessen und „Arm freimachen“ für den Blutdruck, den man auf solche Weise um diese Uhrzeit krankenhausgemäß auf die notwendige Höhe treibt.

6.30 Uhr erneutes Rumpeln in den Gängen. Auf dem Flur ist offenbar der Bär los. Lautes Palavern, Geschirrgeklirre, als sei man bei der Frühschicht der Opelwerke zu besseren Zeiten. Frühstück – mit dem identischen Flashback wie beim Abendbrot. Bevor ich mich strafbar mache, nehme ich alles ein. Es sind immerhin Lebensmittel und darum geht es. Ich schiebe mir gerade das Brot mit Käse in den Mund, da hat mir eine neue Schwester schon die Armbinde umgeschnallt, um mir mein Blut abzunehmen. In der einen Hand das trostlose Käsebrot, aus dem anderen Arm wird zeitgleich gezapft. Ich solle noch etwas drücken. Also drücken mit der labbrigen Stulle in der Hand. Mein Gesicht ist beige wie der Streichkäse.

Ich gehe eine rauchen. Wo sich nachts noch die Krähen in den Bäumen versammelten nach lautem Getöse, ragen nun die leeren Äste unbewohnt vom Baum ab, als wären sie vereinsamt, blattfrei und winterlich. Taxis fahren vor. Selbsteinlieferer zuhauf. Zurück in meiner Kammer. Es erscheint eine Ernährungsfachfrau, die mich aufklärt über meine privaten Wahlmöglichkeiten. Also bestelle ich zum Frühstück am folgenden Tag Rührei mit Kräutern. Eine Schale Obst käme gleich sowieso. Sie wird gebracht wie die Medizin: Eine Banane, ein Apfel, eine Clementine und viel süßes Kekszeug. Um 10.00 Uhr liefert jemand die Tageszeitung, wahrscheinlich auch ein outgesourctes Unternehmen, zuständig für die Belieferung von Tageszeitungen in deutschen Krankenanstalten. Na also, geht doch.

Glaubensgemeinschaft der Liegenden

Kurze Zeit später – eine seltsame Begebenheit, eine dieser Situationen, mit denen man nicht rechnet. Eine ältere Dame mit grüner Bluse, gefolgt von einer jungen schwarzhaarigen Frau um die zwanzig. „Wir sind die grünen Damen“, sagt sie, „und dies ist unsere Neue.“ Grüne Damen? Sind sie an die Stelle des schwarzen Sensenmanns getreten? Gibt es eine neue Glaubensgemeinschaft für Liegende? Die ältere Dame fragt, ob ich Sorgen habe oder Probleme, über die ich sprechen möchte. „Ja“, denke ich, „endlich“. „Nein“, sage ich, „ich bin glücklich und zufrieden.“ Selten kam mir eine Lüge so schnell über die Lippen.

Sie verschwinden, wie sie gekommen sind, fast, als würden sie sich auflösen. Ich schaue bei Wikipedia nach. Vielleicht hätte ich sie herzen sollen oder in mein Bett einladen oder meine Hand zur Verfügung stellen. Ich weiß es nicht. Sie sind in der ökumenischen Krankenhaus- und Altenheim-Hilfe kirchenübergreifend tätig und christlich inspiriert. Meist übernehmen sie Vorlese-, Einkaufs- und andere Dienste. Das habe ich nicht gewusst. Vorlesen aus Kafkas „Verwandlung“ – das wäre eine Behandlung gewesen, der ich mich gerne untergeordnet hätte.

Zwölf Uhr mittags…

Das Mittagessen wird gebracht. Es ist knapp vor zwölf, eine Uhrzeit, die ich zuletzt als Zehnjähriger zu Hause mit Essen in Verbindung gebracht hatte. Zeitgleich kommt der Chefarzt und spricht mit mir. Ich warte ebenso auf Erkenntnisgewinne wie er. Wir sitzen in einem Boot. Er kündigt für heute und morgen weitere Untersuchungen an. Die Tage sind ausgefüllt. Die Brühe habe ich verschmäht, weil kalte Brühe eher etwas ist für die Sommerzeit unter Pinien in Andalusien. Draußen ist Winter im Ruhrgebiet. Der Rosenkohl und die Salzkartoffeln und das Stück Braten erhalten meine Aufmerksamkeit. Alles lauwarm, wie es die Griechen mögen. Ich muss also immer, wenn ein Essen bereitgestellt wird, damit rechnen, dass eine ärztliche Begleitung da ist, die mich zeitgleich untersucht.

Plötzlich gibt es Privat-Alarm. Der alte Herr neben mir muss raus. Man muss ihm die Fernbedienung aus der Hand operieren. „Aber…“, sagt seine treusorgende Frau. „Tut mir Leid“, sagt die Schwester, die für die Zimmervergabe zuständig ist.  „Sie hätten vorher bezahlen sollen“, diesen Liegeplatz bekäme nun ein richtig Privater. Der Pfleger, ein junger Bursche mit wirr auf dem Kopf verteiltem Haar, bestätigt der Gattin des alten Herrn, dass er im Dreier von ihm genauso behandelt würde wie im Zweier. Das Bett wird samt Hab und Gut des Nachbarn herausgefahren. Mit Blutschnüren verkabelt sehe ich ihn winken, aber das ist nur meine Vorstellungskraft im Zuge der Umzugsmaßnahmen. Mann und Frau wehren sich mit Händen und Füßen. Sie verschwinden in einem Dreier-Saal. Ich habe jetzt eine Tanzfläche.

Hier geht es nicht um Wellness

Krankheit ist nicht Wellness. Hier soll man sich nicht wohl fühlen. Man wäre falsch. Man stellt sich seiner Krankheit. Es ist ein Härtetest, nichts für Weicheier. Wer Ruhe will, geht gleich ins Grab. Hier gilt es, was auszuhalten, Gemeinschaft vor allem. Ich spüre es schon. Habe Magenschmerzen. Die Nase läuft plötzlich. Es juckt. Nachts schreit und stöhnt es auf den Gängen und aus den Zimmern. Hier lohnt es sich, Aufnahmen zu machen, die später für Splattermovies genutzt werden können. Das ist das Leben und darum geht es ja. Aber ich kann mir ja noch eine rauchen gehen.

Draußen stehen drei, vier Taxis mit laufendem Motor. Da trifft man sich zum Durchatmen und Rauchen.

Ein Neuer wird in mein temporäres Wohnzimmer eingeliefert. Ein großer Mann an die zwei Meter. Kopfschmerzattacken plagen ihn. Er braucht eine Bettverlängerung und ist Computerfachmann. Jetzt bin ich der ältere und habe die Fernbedienung schon auf mein Nachttischschränkchen gelegt. Wenn er etwas Bestimmtes schauen wolle, solle er ruhig Bescheid sagen, sage ich großzügig. Das sei okay. Er habe sein Notebook. Für mich ist das auch okay. Ich trinke meinen inzwischen obligatorischen „Cafeteria-Cappuccino für unterwegs.“ Es folgen zwei Untersuchungen auf A5. Elektronik. Impulse. Eine gelungene Abwechslung vor dem Mittagessen. In zehn Minuten solle ich mich auf B1 einfinden zum EEG. „Jawoll!“, sage ich, „ich laufe los“. „Nicht jetzt! In zehn Minuten!“, heißt es. Ich könne mir ja noch eine rauchen.

Der Rest des Tages ist Zeitvertreib zwischen Bettkante, Dieselgeruch und Fahrstuhlfahren.

Paris erkennt man am Eiffelturm

Krankenhausgänge sind kein kunstfreier Raum. Im Gegenteil. Hier wird den lokalen Künstlern Raum gegeben. Auf A5 beherrscht Mischtechnik auf Leinwand die Ausstellung. Impressionen in Pastell. Cities. Das Motiv „Paris“ irritiert mich. Es zeigt deutlich den Eiffelturm. Das ist subtile Direktheit. Auch „Pisa“ kommt ohne den schiefen Turm nicht aus. Wie solle man sonst Pisa erkennen? Ein Gesichtsausschlag macht auch ohne sichtbaren Ausschlag keinen Sinn – also für den Betrachter.

Im Wartebereich zum EEG zieren Landschaftsbilder die Wände, an die man wartend unweigerlich zu starren beginnt. Wo sonst, wenn nicht hier, hat das Kunstwerk uneingeschränkte Aufmerksamkeit? Wer geht in ein Museum, um sich stundenlang ein einziges Bild anzusehen? Leicht der japanischen Seidenmalerei angelehnt, ist hier Landschaft Landschaft. Im Foyer des Hauses gibt es Aquarelle und bunte Malerei, wegweisend für den weiteren Verlauf der Gänge und Abteilungen. Manche Bilder hängen schief. Niemand wird sie je gerade richten.

In allen Nachrichten liest und hört man heute Berichte über Zustände in deutschen Krankenhäusern. 19000 Tote durch Behandlungsfehler. Das ist prickelnd, wenn man gerade selbst einsitzt oder –liegt. Überhaupt ist Humor unerlässlich. An der Wand meines Zweierappartments hängt ein Gerät, aus dem Desinfektionsmittel sprühen, wenn man es betätigt. Es betätigt nur niemand. Ich mache einen Versuch und die Flüssigkeit sprüht aus einer Düse auf meine Hose, an eine Stelle, wo das Erklären von Flecken keinen glaubwürdigen Sinn macht.

Fortsetzung folgt




Der Krankenhausreport (Teil 1): „Ich nehme dann das Einzeldoppel“

„Ich brauche etwas Schleim von Ihnen!“ So beginnt der Besuch an meinem neuen Bett, die Befragung des Stationspersonals nach meiner Selbsteinlieferung ins Spital. Das hatte ich am Sonntag noch im Tatort gesehen.

Sie nimmt diesen langen Stab mit dem Watteköpfchen, schiebt ihn in meinen Mund, dreht ein wenig und schiebt ihn dann sofort in ein Nasenloch, dreht ihn wieder hinaus, den Stab. Um 13.40 Uhr melde ich mich zuvor auf Station B4. Ich müsse zuerst in die Patientenaufnahme unten links.

Ich lasse meinen Reisekoffer zurück, an dessen Tragegriff der noch den Gepäckaufkleber der Lufthansa baumelt. Dieser dunkelrote Koffer hatte bisher für mich nur eine einzige Bedeutung: Reisen. Dazu verfolge ich eine Packliste, die ich angefertigt hatte, um nichts zu vergessen. Es gibt die Varianten „2 Tage“, „3-5 Tage“, „bis zu 10 Tagen“. Daraus folgen die Anzahl der Socken, Unterwäsche, Hemden etc., die mir den Aufenthalt am jeweiligen Reiseort – zumindest was die Kleidungsvariationen betrifft – variabel gestalten soll. Ein bisschen Urlaubsgefühl ist dabei, wenn ich diesen Trolley durch die Gänge schiebe. Hier allerdings suche ich nicht den richtigen Terminal, sondern die richtige Station, ein Urlaub also zur Verhärtung weicher Lebensgefühle.

Einzeldoppel

Einzeldoppel

Ich melde mich an und erhalte eine Info-Mappe der Krankenanstalt mit einem kleinen Prospekt für Zusatzleistungen. Die Fotos haben etwas von einem Reiseprospekt. Man kann also Extras nachbuchen. Zum Beispiel Einzeldoppel. Das kenne ich von meinem ersten Urlaub, damals in den 70ern auf Mallorca. Damals hatte ich ein Einzeldoppel, wusste also vorher nicht, wer noch in meinem Bett wohnt. So ist das also auch hier. Ich fahre wieder hoch zur Station B4 und frage die Schwester in der Rezeption nach einer solchen Sonderleistung und deute auf das Foto im Prospekt. Vor einer bunten Wandtapete liegt eine fröhliche Einzelperson in einem opulenten Bett. Sie lächelt so wie auch die Schwester. Man habe ein solches Einzel nicht. Die Diensthabenden lächeln unisono. „Okay“, sage ich, „ich verstehe. Ich nehme dann das Einzeldoppel.“ Ich könne mir ruhig noch eine rauchen gehen.

Bitte im Voraus bezahlen

Das Zimmer, also das Einzeldoppel, soll ich im Voraus bezahlen. Die Dame in der Patientenanmeldung muss wieder ein paar Formulare ausfüllen. Ich kann per Karte bezahlen. Ist klar, wer hier bucht, dessen letztes Stündlein könnte geschlagen haben und dann ist es schwer, an die Kohle zu kommen, also vorab cash. Kein Sonderfall also. 59,00 Euro inklusive Tageszeitung, heißt es. Der Chefarzt sagte mir schon bei meinem Vor-Einlieferungsgespräch, dass ich nicht in einem Schlafanzug herumlaufen müsse. Von Dinnerkleidung hat er nicht gesprochen. Also sitze ich in zivil auf der Bettkante und schaue auf graue Dächer. So wie es die Wahnsinnigen tun, wenn es um Filmszenen geht. Die Kamera zeigt den Kranken von hinten auf der Bettkante sitzend, aus dem Fenster schauend. Unten draußen meist ein Park mit einer Bank. Dieses Zimmer ist ein Einzeldoppel mit einem Flachbildschirmfernseher. Keine bunte Tapete, aber ein geräumiges Bad.

Bettnachbar mit Fernbedienungshoheit

Der Zimmer- und Bettnachbar ist ein älterer Herr, der an Zu- und Ableitungen gefesselt ist. Er hat die Fernbedienungshoheit. Es läuft RTL2. Das deprimiert mich, gelinde gesagt. Ich sollte zur Rezeption flitzen und auf eine Reisepreisminderung von mindestens 20% pochen. Aber ich versuche stattdessen, mir etwas Niederträchtiges einfallen zu lassen, um an die Fernsehhoheit zu kommen. Nach circa 20-minütigem Bettkantensitzen fällt mir etwas ein, aber ich werde es nicht tun. Man würde mich in ein Zimmer verfrachten, welches nicht einmal über eine Bettkante verfügt.

Bei der Schleimentnahme kurze Zeit später meint die Schwester, sollte ich jenen Virus oder jenes Bakterium mitgebracht haben, müsste ich umgehend in ein Einzelzimmer, Aber es gelingt mir nicht, mir diese kleinen Biester schnell zu besorgen. Also Doppel-Einzel. Fertig. Immerhin gelte ich jetzt als „privat“, nur mit der gleichnamigen Sphäre ist nicht weit her. Scheinbar sieht man mir das Private an. An der Rezeption der Empfangshalle frage ich nach einem Kopfhörer. „Sie müssen nichts zahlen. Sie sind ja privat, “ sagt Frau Sommer. Vielleicht liegt es an meiner Stimmlage oder Haltung. Ich gebe ihr trotzdem zwei Euro. Das wirkt wie ein Strauß roter Rosen. „Schon gut“, sage ich in meiner Graf-Koks-Haltung. Und ich könne mir ja noch eine rauchen.

Draußenk in der fünfzig Meter vom Eingang entfernten Raucherbox für die Aussätzigen, aber immerhin Wind geschützt, stehe ich rum wie man nur rumstehen kann. „Ich bin privat“, denke ich. Dass man eines Tages für reine Privatheit extra zahlen muss, ist mir längst klar. Privatier innerhalb eines Massensystems – das können sich eines Tages nur die Reichen leisten.

Nach den Elektroschocks eine rauchen gehen

Es ist gut, dass sich die Türen ins Spital automatisch öffnen. Das hat etwas Erhabenes. Ich soll in den fünften Stock kommen zur ersten Untersuchung. Es gibt Elektroschocks. Ich weiß, was auf mich zukommt. Bereits im Vorfeld meiner neurologischen Laufbahn hatte ich diese Untersuchung über mich ergehen lassen. In einem stillen Raumschließt sie mich an ein Gerät an, die Mitarbeiterin, die für Elektroschocks ausgebildet wurde. Ich werde nicht als Ganzes angekabelt, sondern nur Beine, Füße und Hände. Und es zuckt und stößt. Das erinnert mich an Bilder aus einem Schlachthof. Dort vibrieren die Schweine und Rinder nach dem Elektroschlag noch etwas nach. Sie zucken, bevor sie zur Wurst werden. Auch ich zucke und es zeigt, dass Leben in mir tobt. Das ist gut. Und anschließend könne ich ja noch eine rauchen gehen.

Mein Zimmernachbar schaut jetzt irgendein Reality-Format. Ich versuche, Müdigkeit in Schlaf zu verwandeln. Ich stöpsele den Kopfhörer in mein iPhone und höre Radio. Es kommt zum ärztlichen Aufnahmegespräch.

Der Arzt hat etwas von einem Assistenz-Arztdarsteller in Arztfilmen. Er fragt Fragen, die ich bereits vorher sorgfältig schriftlich beantwortet hatte. Er füllt seinen Aufnahmearztbogen aus und sagt, er sei mit der Diagnose seines Chefs einverstanden. Auf Wiedersehen. Ich sitze auf der Bettkante und lese meine Emails auf dem iPhone. Kurz zuvor hatte ich dem Arzt noch meine Röntgenaufnahmen hintergeworfen. „Hier meine Röntgenbilder“, rief ich, „Füße, Hände, Hüfte. Falls das von Interesse ist.“ Ich hätte auch noch Lunge und Hals, auch den kompletten Kiefer. Fast widerwillig nahm er die großen Umschläge mit den Aufnahmen und verschwand mit wehendem Kittel.

Ich sehe mal unten im Foyer nach. Dort gibt es laufend Ankündigungen zum Veranstaltungsprogramm des Instituts. Es gibt Sprechstunden bei einem Patientenfürsprecher. Mh?

Dinner

Dinner

Seelsorge, Selbsthilfegruppen aller Art und ein Klavierkonzert. Alles Vorbereitungen auf den Ernstfall. Ich bekomme Besuch und das erste Abendbrot. Es ist 17.00 Uhr! Wir besuchen die Cafeteria, die ihre Öffnungszeiten bis 18.30 Uhr begrenzt. Vielleicht gibt es da ein Gesetz, denn nun wäre die Zeit für den großen Schnitzel- und Pommesumsatz.

Abendbrot als Zeitreise in die 1970er

Das Abendbrot war eine Zeitreise an den Anfang der 1970er, als ich meinen ersten Krankenhausaufenthalt absolvieren musste. Sechs Wochen stationär. Das Abendbrot war exakt dasjenige, welches ich soeben lieblos angeknabbert hatte. Eine Scheibe Graubrot, eine Scheibe Weißbrot, Marmelade und eine Packung billigster Streichkäse of the world, Pfefferminztee und ein Fruchtjoghurt ohne Löffel. Damit sind alle Erkenntnisse der letzten Jahre über Ernährung über den Haufen geworfen. Alles, was man über gute Ernährung seit den 70ern hat erkennen können, wird hier missachtet. Aber ich esse mein Brot und trinke meinen Pfefferminztee, weil ich mich den Gegebenheiten einer Krankenanstalt anpassen will. Das gehört hier zum Überlebenstraining und was ist gegen deutsches Brot einzuwenden? Gar nichts. Die Amerikaner fahren Meilenweit, um etwas graues Brot zu bekommen, anstelle der weißen Knetmasse, die man in Toaster drückt.

Fortsetzung folgt




Ein fremdes Organ im Leib: David Wagners Krankheitsgeschichte „Leben“

Es beginnt damit, dass der Ich-Erzähler Blut erbricht.

Alsdann sehen wir diesen Menschen zunächst einmal als reine Physis, als Bündelung biochemischer Vorgänge, zurückgeworfen auf grundlegende Körperfunktionen, aufs kleine bisschen Leben, das da noch pulsiert.

Schon beim Zwölfjährigen hatte man damals eine Autoimmunkrankheit festgestellt. Jetzt ist nach vielen Jahren dringend eine Leber-Transplantation nötig. Der Erzähler hängt nun an dem und jenem Tropf, muss viele Untersuchungen über sich ergehen lassen. Beim Warten auf eine Spenderleber (wird das Organ überhaupt rechtzeitig eintreffen?) ist da zum einen eine unendliche, sich über alles senkende Müdigkeit. Dennoch – und trotz des medikamentösen Bewusstseins-Schleiers – regen sich auch noch Lebensgeister.

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In dieser Lage drängt alles zur Bilanz. Was liegt in der Waagschale? Einerseits eine seltsame Todessehnsucht. Wozu sich noch wehren oder gar aufbäumen? Andererseits ist die Freude an den Dingen des Lebens nicht erloschen. Es gibt eine Tochter, für die der Vater weiterhin da sein will. Doch selbst dieser innige Wunsch ist nicht ungebrochen.

David Wagner (Jahrgang 1971) hat sein Buch in 277 Kürzest-Abschnitte aufgeteilt, was ungefähr der Seitenzahl entspricht. Soll man argwöhnen, dass hier nur Lesehäppchen verabreicht werden? Unsinn. Die Einteilung passt zum notgedrungen flüchtigen Nachsinnen des Erzählers, das immer wieder erschlafft, wegdriftet und mühsam neu einsetzen muss. Eine solche Geschichte ist nicht mit langem Atem und weit ausholender epischer Geste erzählbar.

Das Buch spielt weit überwiegend in einer Berliner Klinik, allfällige Krankengeschichten der wechselnden Bettnachbarn und sonstige Krankenhaus-„Folklore“ (Klagelitaneien über Ärzte, übers Essen usw.) inbegriffen. Zwar befindet sich der Erzähler neben anderen Patienten, doch lebt oder vegetiert hier letztlich jeder in seiner eigenen Welt vor sich hin. In dieser Beschränkung entsteht eine eigentümliche Wahrnehmung; unerreichbar für Aufregungen des Tages, umso empfänglicher für zarten Anschein, Hauch oder Duft.

Schier endlos dehnt sich das Warten auf die Organspende. Eine dreiviertel Seite wird ausschließlich mit „Ich warte, ich warte, ich warte…“ gefüllt. Der Patient sammelt Wartezeit, noch und noch. Und er sammelt in seiner – gelegentlich galgenhumorig getönten – Vorstellung alle möglichen, auch bizarre Todesarten, wie sie täglich in den bunten Spalten der Zeitungen stehen.

In all diesen leeren Stunden schweifen Gedanken suchend umher, segeln Erinnerungen hinaus. Beispielsweise nach Mexiko, wohin der Kranke einst gereist ist. Oder nach Paris, wo er eine Zeit gelebt hat. Szenen aus verflossenen Frauengeschichten ziehen vorüber. Andrea, Rebecca, Katja, Hanja und wie sie alle geheißen haben. Was war wirklich bedeutsam?

Als die neue Leber schließlich zur Verfügung steht und der Patient sogleich viele Stunden lang operiert werden muss, finden sich an der Schwelle in der Mitte des Bandes einige weiße und graue Seiten ohne Text. Ein gestaltloses Rauschen, eine unsagbare Zeit.

David Wagner hat die Erfahrungen selbst durchlitten, die er hier beschreibt. Sonst könnte er wohl nicht so davon berichten. So umstandslos und schmucklos. Ohne Pathos, Selbstmitleid und jegliche Übertreibung. Ein Roman ist das nicht, auch keine Dokumentation. Aber was ist es dann? Ein Überlebensbericht? Eine Überlebens-Phantasie?

Versehen mit dem neuen Organ eines fremden, gestorbenen Menschen, fragt sich das aus dem narkotischen Dämmerzustand erwachte Ich bald, ob es nun womöglich eine Chimäre sei. Schafft sich die neue Leber nicht auch einen teilweise neuen Geist im ungewohnten Körper? Leib-seelische Grundfragen, über schon Thomas von Aquin umgetrieben haben…

Auf einmal dies: „In einer der Nächte wache ich auf und bin auf einmal glücklich (…) Plötzlich weiß ich wieder: Es gibt noch so viel da draußen. Es gibt das Kind, das mich noch ein paar Jahre braucht, es gibt so viel zu sehen, zu tun, zu lesen, es gibt so viel zu leben. Liegt nicht alles da?“

Doch so einfach ist das nicht. Das Weiterleben ist keine leichte Aufgabe. Die Operation mag glimpflich und mit günstiger Prognose verlaufen sein. Doch hernach muss sich der ganze Mensch neu denken, sich gleichsam neu zusammensetzen. Leben ist ungleich mehr als eine Organfrage.

David Wagner: „Leben“. Rowohlt. 288 Seiten. 19,95 Euro.