Früher war einfach mehr Kneipe!

Schankraum der Gaststätte Lohsträter, Herringen (Hamm), um 1920. (Gustav-Lübcke-Museum/Sammlung Heinz Hilse)

Ach, wo sind sie nur geblieben, die vielen Eckkneipen Westfalens, zumal im Ruhrgebiet? Wo sind die knarzigen, urigen Typen, die dort Abend für Abend gehockt und frei von der (wohl arg strapazierten) Leber weg geredet oder stundenlang schweigend gesüffelt haben?

Früher war’s nicht besser, aber anders. Da gehörten mindestens zwei Dinge zwingend zum Kneipenwesen: eine Jukebox und ein Flipper. Aber halt! Das war ja schon eine Weiterentwicklung für die damals jüngeren Jahrgänge. Noch vorher zählten zum unverbrüchlichen Inventar die gemeinschaftlichen Sparkästen mit nummerierten Fächern – und Soleier im Glas, das möglichst auf der Theke zu stehen hatte. Zuallererst natürlich stets das „Grundnahrungsmittel“: frisch gezapftes Bier, zünftiger noch in Form des „Herrengedecks“, also Bierchen und Schnäpschen in ritueller Abfolge.

Richtige Arbeiterkneipen habe ich kaum noch kennengelernt. Eine Frage des Jahrgangs und des Wohnviertels. Immerhin hat mein Vater mich (es muss wohl 1958 gewesen sein, zur Fußball-WM in Schweden) im Schatten der Dortmunder Zeche Germania als Kind mal zum Fußballgucken in eine solch proletarische Kneipe mitgenommen. Da flackerte einer der frühen Fernsehapparate – und es ging ziemlich hoch her, wenn ich mich recht entsinne.

O grelles frühes Tageslicht!

Die Zeit, als ich öfter in Kneipen gegangen bin, ist auch schon lange her. Die Lokale hatten sich allerdings schon damals verändert. Wir haben uns meist im vormals kleinbürgerlichen Dortmunder Kreuzviertel herumgetrieben, wo sich in den 1970er Jahren allmählich Szenekneipen herausbildeten, also eher studentische Treffs. Ein abendlicher Lebensmittelpunkt war für uns der „Bunker“, tatsächlich ein ehemaliger Weltkriegsbunker, in dem man sich – buchstäblich unterirdisch – ganze Nächte um die Ohren schlug. Frühmorgens gegen vier ließ der Wirt nach all dem Rock-Gedöns unversehens „Guten Morgen Sonnenschein“ von Nana Mouskouri laufen. Ein Schock. Draußen zwitscherten schon die Vögel. O grelles frühes Tageslicht im Sommer!

Wirtin Ingrid Brede in der Hammer Kneipe „Blauer Affe“, 1962. (Gustav-Lübcke-Museum/Sammlung Ludger Moor, Hamm)

An solche harmlosen Eskapaden bin ich jetzt durch eine Ausstellung im Hammer Gustav-Lübcke-Museum erinnert worden: „Treffpunkt Kneipe“ erzählt die Geschichte, die mit allerlei klösterlichen und privaten Braustätten (wenn etwas übrig war, stellte man halt Bänke auf und bat Gäste hinzu) als Kneipen-Vorläufern beginnt. Anno 1719 hat es allein in Hamm rund 50 Braustellen gegeben, mit der Industrialisierung wuchs die Isenbeck-Brauerei, die mittlerweile auch Geschichte ist. Warsteiner hat die Marke gekauft.

Funktionen gewonnen, Funktionen verloren

Die Kneipe, so erfährt man in der Schau, hat im Laufe der Zeit viele Funktionen gewonnen und nach und nach wieder verloren. Ehedem dienten die Lokale als politische Versammlungsstätten, als Vereinsheime, Orte für Gymnastik und Boxsport (im Rahmen der Arbeiterbewegung), Proben- und Auftrittsräume für Chöre oder sonstige Musikensembles. Überhaupt gab’s hier Kultur sämtlicher Sparten. Etliche Kneipen hatten Theaterbühnen oder dienten mangels Museum als Ausstellungsräume. Zeitweise fanden Modenschauen oder Auktionen statt, es wurden bizarre kleine Weltwunder vorgeführt, auch schauten Zahnärzte nebst anderem ambulanten Gewerbe vorbei. Das ganze bunte Leben.

Bergleute der Zeche Radbod beim Umtrunk, 1913. (Gustav-Lübcke-Museum/Sammlung Christa Weniger)

Zwei westfälische Stätten haben sich mir vor Jahren besonders eingeprägt: zum einen das gediegene, urgemütliche Gasthaus Porten Leve in Warendorf – und die ganz anders geartete „Klosterkanne“, ein bahnhofsnaher Schuppen just in Hamm. Heute kann man’s ja freimütig zugeben: In dieser Spelunke sind auch gewisse Lokaljournalisten verschiedener Blätter gelegentlich schon mal untertags „versackt“. Alle Gäste rauchten wie die Teufel, aus der Jukebox plärrten damals Gassenhauer wie „Waterloo“ von Abba und „Sugar Baby Love“ von den Rubettes, wahlweise auch Schunkler wie „Drink doch eine mit“ von den Bläck Fööss oder „Die kleine Kneipe“ von Peter Alexander. Andere Zeiten, andere Songs, andere Sitten.

Wie es wohl weitergehen wird?

All das war nicht annähernd vergleichbar mit dem, was wir zu jener Zeit in Irland erleben durften. Das war eine andere Kneipen- oder eben Pub-Kultur! Wenn zu so manchem „Pint of Guinness“ der ganze proppenvolle Laden zusammen aus voller Brust Folk-Songs anstimmte, wurde es einem auch ums westfälische Herz recht warm.

Inzwischen hat es einigen Niedergang oder jedenfalls Wandel gegeben. Ganze Kneipenquartiere, wie etwa jenes um den Dortmunder Ostwall herum, sind praktisch restlos verschwunden. Ob das Bochumer „Bermuda-Dreieck“ ein Ersatz ist? Nun ja, es ist nicht dasselbe. Ansonsten sind reine Kneipen vielfach Speiselokalen mit internationaler Anmutung gewichen. Statt von Kneipen redet man öfter von Clubs. Im Gefolge der Corona-Pandemie und erst recht seit Aufkommen der Omikron-Mutation ächzt die gesamte Gastronomie nicht nur unter Personalnot.

Wie es weitergehen wird? Hoffentlich bald wieder vital und betriebsam. Darauf heben wir die Gläser und bringen den landesüblichen Trinkspruch aus: „Wohlsein!“

Lokal fokussierte Ausstellung zum Thema: „Treffpunkt Kneipe. Hammer Lokalgeschichten“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße. Noch bis 20. März. Mehr Infos:

https://www.museum-hamm.de/ausstellungen/aktuell/treffpunkt-kneipe/
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Der Text ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ (Münster) erschienen. www.westfalenspiegel.de




Heilig, heilig, heilig – mitten im Lokal

Prösterchen mit Sekt im (einstmals) kirchlichen Kontext. (Foto: Bernd Berke)

Kurz vor dem Dreikönigstag ist mir abermals aufgefallen, dass eine weitere Gaststätte sich mit einem dreidimensionalen Heiligenbildnis schmückt. Daran knüpfen sich Fragen:

Erstens würde es mich interessieren, ob es Deko-Lieferanten gibt, die solche Figuren eigens für Lokale herstellen – oder ob es sich um Objekte aus aufgegebenen Kirchen handelt. Der stellenweise beschädigte Zustand der Figur auf dem großen Foto deutet darauf hin, dass man das Stück aus einer Kirche oder einem entsprechenden Depot geholt hat. Nicht ganz auszuschließen wäre freilich, dass solche Skulpturen im Sinne eines „used look“ eigens so hergestellt werden. Vintage rules. Man kennt das aus anderen Bereichen.

Zweitens möchte ich gern wissen, woraus sich dieser Trend herleitet, wenn es denn einer ist. Sind die Gastronomen darauf aus, allerhöchsten Beistand zu erflehen – erst recht „seit Corona“? Oder gilt derlei Schmuck einfach als „cool“, weil er eine Bildwelt ausbeutet, die bisher noch nicht an der Reihe war, jedenfalls nicht in diesem Zusammenhang?

Anderes Lokal, anderes Bildnis: hier nicht auf Augenhöhe, sondern deutlich über den Sitzen schwebend. (Foto: Bernd Berke)

Eifrige Kneipengänger werden sicherlich noch mehr Beispiele aufführen und daraus vielleicht genauere Schlüsse ziehen können. Wahrscheinlich ist die Chose z. B. in Berlin längst durch und das Ruhrgebiet gesellt sich mal wieder zu den Nachzüglern. Es mag aber sein, dass es sich ganz anders darstellt.

Und wie hält man es wohl in Bayern? Wäre es nicht verständlich, wenn jemand ein gewisses kulturkonservatives Unbehagen verspürt, auf solche Weise fromme Figuren ins Profane herabgezerrt zu sehen?

Aber nein! Es ist ja längst alles so vermischt und verwurstet, dass den meisten Leuten die Unterschiede kaum noch auffallen. Wenn es wenigstens dämmert, wenn also die verschiedenen Ebenen überhaupt zur Kenntnis genommen werden, so ist es schon viel.

Bemerkenswert die ersten Äußerungen bei Facebook (FB), wo ich die beiden Bilder ebenfalls eingestellt habe. Ein FB-Freund scherzt, hier wandle sich wohl „Wasser wieder zu Wein“. Ein derart biblischer Vorgang wäre in der Tat günstig für Wirtsleute. Eine Freundin sagt, bei dem Anblick vergehe ihr – aus welchen Gründen auch immer – der Appetit, eine weitere meint, angesichts solcher Statuen traue man sich ja gar nicht mehr, „über die Stränge zu schlagen“. Noch eine Stimme: „Offensichtlich sind die Betreiber seeeehr weit weg davon und konnotieren NICHTS (mehr) damit…“ Genau. Siehe oben.

Uuuuund noch eine Reaktion, getragen von Verständnis für die Heiligen: „Die wollen doch auch mal unter Leute und gesehen werden. In die Kirchen kommt ja kaum noch jemand.“




Vorfälle (4): Die Zechpreller vom Nebentisch

Saßen wir doch dieser Tage abends auf zwei Gläser Wein vor einem Dortmunder Lokal. Am Nebentisch eine Frau mittleren Alters, die las und las und las. Und gar nicht aufblickte. Und immer mal ein wenig an ihrem Getränk nippte. Irgendwann ist sie dann aufgestanden und gegangen.

Warum ich das so breit erzähle? Gemach!

Kurz darauf erschien der Wirt: „Ist die Dame etwa gegangen?“ Tja. Sie hatte zwar „generös“ zwei Euro hingelegt, aber ihr Getränk kostete ein bisschen mehr. Wie soll man das nennen: negatives Trinkgeld?

Egal.

Egal?

Am selben Tisch, den besagte Dame verlassen hatte, nahmen nun zwei geschniegelte Typen Platz und legten ihre Smartphones vor sich hin. Wie man das so macht, wenn man zeigen will, welche man hat. Die selbstgefälligen Herren tranken ein Pils und hatten es offenbar eilig.

Dieses Foto (© Bernd Berke) zeigt den Ausschnitt einer ordnungsgemäß bezahlten Getränkerechnung des Abends.

Dieses Foto (© Bernd Berke) zeigt den Ausschnitt einer ordnungsgemäß bezahlten Getränkerechnung des Abends.

Sie ließen sogar, als hätten sie das eichstrichgenau abgesprochen, jeweils ein Drittel im Glas zurück. Mit anderen Worten: Sie waren ebenfalls einfach gegangen, ohne einen Cent zu bezahlen. Doch auf so etwas achtet man nicht im Moment des Geschehens. Man merkt es erst, wenn die Kellnerin nachfragt, ob die Leute vom benachbarten Tisch etwa schon…

Bin ich denn der Hüter des verhexten Nebentischs? Nein.

Aber ein paar Fragen drängen sich wohl auf: Zeigen solche kleinen Szenen einen Zustand in der Gesellschaft an – oder muss man so etwas niedriger hängen und sich nur ein bisschen wundern?

Man könnte ausgiebig über das schäbige Verhalten dieser Zechpreller spekulieren. Es waren jedenfalls ersichtlich keine bedürftigen Leute. Und auch keine herkömmlichen Kleinkriminellen.

Schwappt hier etwa die im Internet täglich antrainierte Gratis-Mentalität auf andere Bereiche über? Reichen denen die üblichen Schnäppchen und Flatrates nicht mehr aus? Muss es jetzt auch noch „umsonst und draußen“ sein? Empfinden sie so etwas wie kleptomanische Angstlust, wenn sie sich aus dem Staub machen?

Noch eine Mutmaßung: Seit 1. Mai darf in NRW bekanntlich nur noch draußen vor der Tür geraucht werden; dort also, wo man sich – sitzend, stehend, sich bereits halbwegs entfernend – schon mal viel leichter den Blicken des Personals entziehen kann. Damit soll keinesfalls unterstellt werden, dass Raucher… Nein, nein! Wo denkt ihr hin? In ihrem Windschatten drucksen ja auch Nichtraucher herum – und schwupp…

Eins aber steht fest. Wenn der Wirt ein gutes Personengedächtnis hat, so können sich diese Zechpreller bei ihm nie wieder blicken lassen. Ihre Kneipenauswahl schrumpft und schrumpft. Ein schwacher Trost für die Gastronomie.