Sechs Stunden sind nicht genug – In Bochum inszeniert Johan Simons Elena Ferrantes Roman „Meine geniale Freundin“

Freundinnen fürs Leben: Elena Greco (Jele Brückner, links) und Raffaela Cerullo (Stacyian Jackson) (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Sechs Stunden! Wo sitzt man noch so lange im Theater? Die Schauspielexzesse Peter Steins fallen einem ein, sein Antiken-Projekt, der Faust, der Wallenstein. Doch das ist Jahrzehnte her, und seitdem sind „90 Minuten, keine Pause“ längst schon so etwas wie gültiger Bühnenstandard geworden. Man mag das bedauern. Oder sich dem widersetzen. Johan Simons tut das, in Bochum.

Neapolitanische Saga

Er macht es wieder, seine „Brüder Karamasow“ nach Dostojewskij, Premiere im Oktober 2023, dauerten gar sieben Stunden, inklusive zweier Pausen nebst Gastmahl. Zu essen gab es diesmal auch, doch dazu später (vielleicht) mehr. Nun also: Premiere der Bühnenadaption von Elena Ferrantes Romanen um zwei Freundinnen aus dem armen italienischen Süden, deren erster den Titel „Meine geniale Freundin“ trug und die als Zyklus „Neapolitanische Saga“ enorm erfolgreich waren und sind. Die Textfassung stammt von Koen Tachelet, einem langjährigen Mitstreiter Simons‘ seit gemeinsamen Zeiten am NTGent.

Jele Brückner als Elena am Schreibtisch und in der Videoprojektion (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Rechtlose Frauen

Erzählt werden die Lebensgeschichten von Elena und Raffaela, kurz Lenù und Lila, beginnend mit ihrer Kindheit in einem armen Stadtviertel Neapels. Das Viertel heißt Rione, was das italienische Wort für Viertel ist, und von wo man vor allem weg will. Doch die Möglichkeiten sind begrenzt, mafiöse Strukturen herrschen, und die faktische Rechtlosigkeit der Frauen scheint gottgegeben zu sein. Das Rione ist ein Hort der strukturellen Gewalt, zu der brutale Erniedrigungen und Vergewaltigungen ebenso zählen wie das ängstliche Festhalten an traditionellen Rollenbildern. In dieses Milieu werden die beiden Protagonistinnen hineingeboren. Elena, unschwer erkennbar als Alter Ego der Autorin, schafft die Aufnahmeprüfung einer Elitehochschule in Pisa, wird eine erfolgreiche Journalistin und Schriftstellerin; Raffaela heiratet früh, bekommt früh ein Kind von einem anderen, trennt sich von ihrem gewalttätigen Ehemann, schließt eine „Vernunftehe“, landet schließlich als Arbeiterin in der Fleischfabrik.

Feministischer Jahrhundertroman

Natürlich geschieht noch viel mehr in den Romanen, sind atmosphärische Elemente von großer Bedeutung. Elena Ferrante hat weit über tausend Seiten mit ihren Beschreibungen gefüllt, daran gemessen sind sechs Stunden Theater – netto vielleicht um die fünf – immer noch wenig, auch wenn fast pausenlos dialogisiert wird. Offenbar hat sich die Inszenierung, was man begrüßen mag, zum Ziel gesetzt, die biografische Grobstruktur beizubehalten. „Kindheit und Jugend“ ist der erste Teil überschrieben, es folgen „Erwachsenenjahre“ und „Reife und Alter“. Das Dilemma dieses Vorgehens ist jedoch die weitgehende Reduktion auf biografische Fakten – Männergewalt, Kinderkriegen, Trennungen, persönlicher Erfolg. Den feministischen Jahrhundertroman, den manche Kritiker in Ferrantes Werk sehen, findet man hier nicht wieder, gesamtgesellschaftliche Themen wie bürgerlicher Reichtum, organisierte Kriminalität oder Vetternwirtschaft bleiben lediglich strukturelle Grundierung.

Bühnenbild aus der Zentralperspektive. Es soll sich um eine typische italienische Piazza handeln. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

68 und danach

Gewiß gibt es im Stück auch Klassenkampf und revolutionäre Bestrebungen. Die Zeit nach 1968 und die 70er Jahre waren davon geprägt, in Italien verübten die Roten Brigaden Gewalttaten, ermordeten Politiker wie den christdemokratischen Ministerpräsidenten Aldo Moro. Ferrante, Jahrgang 1943, erzählt vermutlich vieles aus eigenem Erleben im universitären Milieu. Wiederholt werden (vorwiegend im zweiten Teil des Abends) Nachrichten von revolutionären Taten in das Bühnengeschehen getragen, treten klassenkämpferische junge Männer aus gutem Haus als Agitatoren auf, gibt es den Versuch, Arbeiter und Studenten im Klassenkampf zu vereinen. Doch bei den Frauen reift die Erkenntnis, daß offenbar auch die Revolution Männersache ist, sich strukturell für sie somit nicht viel ändern würde. Hier finden sich die Wurzeln der autonomen Frauenbewegung, und wer etwas älter ist und früher mal „links“ war, kennt das vielleicht auch alles. Dieser Wiedererkennungseffekt hat sicherlich einen nicht geringen Anteil am Erfolg der Ferrante-Bücher, auch beim deutschen Publikum.

Strukturelle Zusammenhänge

In Bochum indes, kommen wir zum Theaterstück zurück, zeigt die Inszenierung letztlich wenig Interesse daran, strukturelle Zusammenhänge herauszuarbeiten. Einige Male liest Elena Sätze aus ihren Texten vor, die man vielleicht als analytischen Versuch bezeichnen könnte. Aber sie bleiben isoliert. Doch bietet diese Art der Inszenierung immerhin eine gute Wiedererkennbarkeit der Textvorlage. Wer die Bücher gelesen hat, kann alte Bekannte grüßen.

Ein bißchen wie bei Pina Bausch: Das Bühnenpersonal nimmt auf gereihten Stühlen Platz. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Johans Stühle

Von Johan Simons wissen wir, daß er gerne Stühle auf der Bühne mag. So auch hier. Und die Schauspieler sind gut damit beschäftigt, Stühle hin und her zu tragen, aufzureihen, abzuräumen. Wenn gar ein Erdbeben die Stadt erschüttert, bleibt als bildlicher Ausdruck ein großer Haufen Stühle, unter denen (Trümmer!) Opfer zu beklagen sind. Doch mehr als einprägsame Bilder entstehen so nicht; anders als in manchen Psychotherapien erklären die Stühle in ihren Anordnungen nicht die Beziehungen der Menschen zueinander, bleibt es bei allgemeiner Symbolik von Verortung und Seßhaftigkeit.

Es soll eine italienische Piazza sein

Zweites prägendes Bühnenelement ist die permanent rotierende Drehbühne. Sie bewahrt vor allzu großer Statuarik des Geschehens und bietet in Verbindung mit mitkreisenden Videokameras zudem den Vorteil, daß auf allen Plätzen – es gibt sie im Zuschauersaal wie auch hinten auf der Bühne – in Verbindung mit der Videoprojektion alles gesehen und verfolgt werden kann. Zu Beginn rotieren zwei Schreibtische mit den beiden jungen Mädchen, umlegt mit Büchern der eine (von Elena), mit Schuhen der andere. Der Bühnenraum selbst, war vor der Premiere in einem Vorgespräch zu erfahren, sei einer italienischen Piazza nachempfunden, aber wenn man das nicht weiß, kommt man auch nicht drauf. Dafür bleibt es zu abstrakt, trotz der warm erstrahlenden Straßenlaterne.

Nicht folkloristisch

In gewisser Weise ist der hohe Abstraktionsgrad dieser Ausstattung aber auch vorteilhaft, bewahrt er das Publikum doch vor allzu folkloristischer Deutung des Geschehens. Etwas anderes wäre es vielleicht gewesen, wenn die Inszenierung sich statt für eine lineare Protokollierung für punktuelle Verdichtung der Handlung entschieden hätte.

Nochmal die Freundinnen: Stacyian Jackson als Raffaela links, Jele Brückner als Elena rechts. . (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Ideale Besetzung

Schauen wir auf die Darsteller. Jele Brückner ist Elena Greco, schon vom Typ her eine geradezu ideale Besetzung. Nachdem sie sich mit etwas Verzögerung „warmgespielt“ hat, ist sie eins mit ihrer Rolle. Die Zumutungen des Lebens – Freude, Angst, Selbstzweifel, Bedürftigkeit wie auch späterhin Selbstbewußtsein und Kraft weiß sie intensiv zu geben. Später wird ihr dafür reicher Applaus zuteil. Ihre Freundin Raffaela Cerullo wird von Stacyian Jackson gegeben, deren körperlicher Einsatz beeindruckt, die sprachlich aber nicht überzeugt. Sie spricht mit starkem (amerikanischen?) Akzent, was immer wieder zu Verständnisschwierigkeiten führt. Zudem gibt es ärgerliche Versprecher, die dem Redefluß ebenfalls nicht guttun. Außerdem legt sie (legt der Regisseur) die Rolle der Lila recht prollig an, was Leser der Bücher für unzutreffend halten.

Unmengen von Text

Mit Ausnahme der beiden Hauptkräfte spielen die anderen meistens mehrere Rollen. Garderobenwechsel geschieht oft auf der Bühne, was der Produktion die Anmutung des Unfertigen gibt. Darstellerinnen und Darsteller schlagen sich gut, stundenlang, bewältigen eine Unmenge von Text, beeindrucken mit ihrer scheinbar grenzenlosen Beweglichkeit. Wir erleben in Bochum ein hochwertiges, homogenes Ensemble, das die Inszenierung, die nicht immer frei von Längen ist, souverän trägt und alles in allem und trotz vieler bedrückender Handlungselemente zu einem unvergeßlichen Theaterabend macht.

Ein Solitär in der deutschsprachigen Theaterwelt

Erwähnt werden muß noch, daß es bei der Premiere eine ca. viertelstündige Unterbrechung durch einen Notarzteinsatz gab. Schließlich aber: Stehender Applaus, lang anhaltend. Mit seiner selbstbewußten Art, Theater zu machen, ist der 78jährige Johan Simons mittlerweile ein Solitär, nicht nur im Ruhrgebiet, sondern im ganzen deutschsprachigen Theaterraum.

Ach ja: Zu essen gab es verschiedene italienische Vorspeisen, vom Caterer in praktischen Einmalverpackungen dargeboten, außerdem Brot und Wasser. Man nahm es dankbar an an diesem beeindruckenden Theaterabend, der erst weit nach Mitternacht sein Ende fand.

Weitere Aufführungen: 1., 2., 23. Februar, jeweils 16:00 Uhr
www.schauspielhausbochum.de




Aus dem Geisterreich der Geschichte: Johan Simons inszeniert in Bochum „Die Jüdin von Toledo“ nach Feuchtwangers Roman

Alles zertrümmern: Ensemble-Szene aus „Die Jüdin von Toledo". (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Alles zertrümmern: Ensemble-Szene aus „Die Jüdin von Toledo“. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Große Erwartungen an der Königsallee: Der neue Schauspielhaus-Intendant Johan Simons (zuvor Chef der RuhrTriennale) zeigt seine erste Bochumer Premiere und hat mit „Die Jüdin von Toledo“ nach Lion Feuchtwangers Roman gleich einen höchst gewichtigen Stoff gewählt, der sich trotz historischer Ferne immer wieder aufs Heute beziehen lässt und verblüffende bis bestürzende Aktualität gewinnt. Und das keineswegs nur gedanklich, sondern mit genuin theatralischen Mitteln.

Das Grundgerüst der vielfältigen Ereignisse: Der kastilische König Alfonso (Ulvi Erkin Teke) sinnt mit anderen christlichen Fürsten auf einen neuen Kreuzzug gegen die andalusischen Gebiete Spaniens, in denen Muslime herrschen, seinerzeit als Garanten einer kulturellen Blüte sondergleichen. Zur Abwehr christlicher Angriffe rufen sie hernach freilich andere, weit weniger tolerante Glaubensbrüder zur kriegerischen Hilfe – ein Umstand, der sich womöglich durch all die Jahrhunderte fatal ausgewirkt hat.

Amour fou mit Gewalt-Faszination: Raquel (Hanna Hilsdorf), König Alfonso VIII. (Ulvi Erkin Teke). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Amour fou mit Gewalt-Faszination: Raquel (Hanna Hilsdorf), König Alfonso VIII. (Ulvi Erkin Teke). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

König Alfonso, hier eher mit trottelhaften Zügen als bruchlos imponierende Heldenfigur, verfällt derweil einer Amour fou mit der schönen, muslimisch erzogenen Jüdin Raquel (gegen jedes Klischee besetzt: Hanna Hilsdorf) und lässt gar eigens ein Lustschloss errichten. Lässt ihr Vater etwa zu, dass sie sich als eine Art Hure verdingt?

Jedenfalls zieht Raquels mit manchen Wassern gewaschener Vater Jehuda (Pierre Bokma), vormals zum Islam konvertiert und nun wieder zum jüdischen Glauben zurückgekehrt, geschickt die Fäden in Alfonsos Staats- und Wirtschaftswesen. Derlei Aufschwung aber braucht Frieden als Grundlage, während der Ritterkönig Alfonso trotz anders lautender Verträge zum „Heiligen Krieg“ gegen die Muslime drängt und vom christlichen Scharfmacher De Castro (Guy Clemens) zusätzlich angetrieben wird. Zur gleichen Zeit werden Juden in Europa zunehmend verfolgt.

Gewalt macht grässlich geil

Es entsteht eine kreuz und quer verwobene, mitunter auch verworrene Gemenge-, Gefühls- und Gefechtslage, die tief bis in die Körperlichkeit hineinreicht. Macht und „Heldentum“, so sieht man vielfach, machen mitunter grässlich geil. Die abgründige Faszination durch schrankenlose Gewalt ist ein Kernthema des Stücks. Blutrünstige Vorstellungen erfassen nicht zuletzt die Frauen, die Königin (Anna Drexler) ebenso wie Alfonsos jüdische Geliebte. Hie und da erkundigen sie sich lechzend nach Leichenzahlen, bevor sie es bereitwillig treiben.

In einer Szene steigert sich der Befund zur ebenso bizarren wie lachhaften Gruppen-Orgie. Unbedingt nötig war diese Aufgipfelung nicht, sie brachte freilich die lautesten Lacher des Abends. Auch wirkte das anfängliche Gezerre des zehnköpfigen Ensembles um ein Tuch noch ein paar Spuren zu harmlos und „sportlich“ verhampelt für die verwickelten Interessenlagen. Doch das sind Ausnahmen in einer ansonsten sehr ernsthaften Aufführung, die gleichsam von Szene zu Szene an Dringlichkeit gewinnt. Übrigens erleichtern englische Obertitel auch deutschsprachigem Publikum den Zugang, falls denn mal ein Satz vernuschelt sein sollte.

Einige Zeitebenen sind zu bedenken

Regisseur Johan Simons und sein Dramaturg Koen Tachelet haben den Roman (als Aufbau-Taschenbuch immerhin 511 Seiten) zu einer knapp dreistündigen Theaterfassung konzentriert und dialogisch gekonnt aufbereitet. Das Ganze ist wahrlich nicht unkompliziert, sind doch einige Zeitebenen zu bedenken: Der Roman über die Kreuzzugszeit des 12. Jahrhunderts beschreibt die Beziehungen zwischen Christen, Muslimen und Juden in jener frühen Epoche. Gewiss ist er nicht ohne die Erfahrungen des jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger im erzwungenen Exil ab 1933 zu verstehen. Feuchtwangers Roman erschien 1955, umfasst also auch das furchtbare Wissen um den Holocaust. Schließlich spielen nunmehr heutige Konflikte zwischen den drei monotheistischen Weltreligionen hinein. Solche Fülle will erst einmal bewältigt sein.

Beiderseits der Mauer: Szene mit (v. li. im Vordergrund) Musa (Gina Haller), Raquels Vater Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma) und Raquel (Hana Hilsdorf). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Beiderseits der Mauer: Szene mit (v. li. im Vordergrund) Musa (Gina Haller), Raquels Vater Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma) und Raquel (Hanna Hilsdorf). (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Der Bühne (Johannes Schütz) merkt man die Vielschichtigkeit nicht direkt an, im Gegenteil: Sie ist radikal reduziert auf eine im Grunde simple Geometrie aus Kreis (Drehbühne) und raumgreifendem Rechteck. Eine große weiße Mauer (Aus Styropor? Aus Rigips?) teilt die Spielfläche die ganze Zeit über in zwei variierende Hälften. Immerzu werden Figuren voneinander getrennt oder auch wieder zueinander gebracht. Beinahe unaufhörlich rotiert die Drehbühne, so dass die Darsteller stets in Bewegung sein müssen, sollen sie vorne sichtbar bleiben; es sei denn, sie lägen leblos Boden, was überaus häufig geschieht. Dabei sieht es manchmal so aus, als würden sie beinahe von der Mauer zermalmt. Doch selbst dann vollführen sie zwangsläufig die Drehung der Bühne mit.

Auch eine Klagemauer

Auf diese Weise entstehen – wie von Geisterhand – immer wieder neue Situationen und Konfrontationen oder auch Allianzen, wie denn überhaupt die Figuren gelegentlich wirken, als seien sie flackernde, schwankende, wankende Gestalten aus einem geschichtlichen Geisterreich, die aber jederzeit wiederkehren können. Sie tragen ja auch einen „ewigen“ Streit aus; jedenfalls einen, der nicht und nicht aufhören will und immer wieder ins falsche Heldentum „Heiliger Kriege“ mündet, die schon hier (jüdische) Flüchtlingsströme und deren rigide Abwehr nach sich ziehen. Die dominierende Trennwand ist daher auch und vor allem eine Klagemauer.

Zu schrecklichen Opfern bereit

Feuchtwangers historisch weitgehend faktengetreuem Roman folgend, ist dies ein vielfältig und oft gedanklich haarfein differenzierendes Stück, reich an Zwischentönen, die am Ende allerdings brutal erstickt werden. Mehrere Protagonisten, wie Alfonsos Beichtvater Rodrigue (Michael Lippold) oder auch der muslimische Arzt Musa (Gina Haller) unternehmen – aus unterschiedlicher Motivation (Menschenliebe, Pragmatismus, Fatalismus etc.) – immer wieder Anläufe zur Friedensstiftung und zur Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen, ungefähr im guten Geiste von Lessings „Nathan“-Drama. Doch die kriegerischen Gegenkräfte scheinen übermächtig.

Die eifersüchtige Königin sorgt dafür: Den Juden wird am Ende, als alles zerstört ist, die Schuld an der christlichen Niederlage zugeschoben, weil die lüsterne Raquel Alfonso von Kriege abgelenkt habe. Die Juden haben keine Armeen und sie sind, wie es einmal raunend heißt, oft auf schreckliche Weise zu allen erdenklichen Opfern bereit. Wehe, wenn das aufgehetzte Volk auf sie losgelassen wird. Zunächst werden hier „nur“ Raquel und ihr Vater umgebracht, doch sind diese Morde Vorboten der Pogrome kommender Zeiten.

Neben all dem steht ein blinder Bettler und etwas entrückter „Seher“ (Risto Kübar), der – mal weise, mal opportunistisch – weitere Perspektiven ins Geschehen einbringt. Ist er nicht ein Nachfahr Shakespearescher Narren?

Nach der Schlacht: Ensemble-Szene. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz - Schauspielhaus Bochum)

Nach der Schlacht: Ensemble-Szene. (Foto: © Jörg Brüggemann / Ostkreuz – Schauspielhaus Bochum)

Wenn alles zertrümmert ist

Als Kriegslüsternheit und tödliche Intrigen die Oberhand gewonnen haben, wird minutenlang die weiße Mauer in Stücke geschlagen, bis die Bühne wie ein Schlachtfeld aussieht – oder wie das Eismeer auf Caspar David Friedrichs berühmten Gemälde. Es ist, als sei auch die Schutzmauer der Zivilisation gefallen.

Schon zu Beginn hat eine schrille Alarmsirene aufgeheult, zwischendurch haben immer wieder (Wach)hunde bedrohlich gebellt und schlimmste Assoziationen geweckt, auch haben anschwellende Motorengeräusche an Schlachten und Abtransporte neuerer Zeiten gemahnt. Am Schluss fährt die Bühne zurück und wird in Richtung Zuschauerraum gekippt, so dass alle Trümmerteile und alle Schauspieler haltlos hinunter rutschen. Ein immens starkes Katastrophen-Bild, das in Erinnerung bleiben wird.

Erstmals sind mit dieser Produktion Teile des völlig neu formierten Bochumer Ensembles zu erleben. Man darf annehmen, dass sie sich mit der Zeit noch mehr aufeinander einspielen, doch schon jetzt war ein von Simons geweckter Ensemble-Geist zu spüren. Niemand spielt sich über Gebühr in den Vordergrund, alle miteinander sind sie aufs bestmögliche Ergebnis aus. Ungeschmälerte Bewunderung ist indes Pierre Bokma als Jehuda zu zollen. Er ist denn doch ein Zentralgestirn, um das diese Aufführung zu wesentlichen Teilen kreist.

Großer, anhaltender Beifall für alle Beteiligten. Gut möglich, dass das Haus mit solchen Inszenierungen wieder nachdrücklicher auf der überregionalen Theater-Landkarte auftaucht. Eine ganz andere Frage ist, ob auch nennenswert viele muslimische Zuschauer sich das Stück ansehen werden.

Nächste Vorstellungen: 3., 4., 7., 16. November, 14., 16., 26. Dezember. Karten-Telefon: 0234 / 3333 5555. 

www.schauspielhausbochum.de