Die tiefe Wahrheit der Komödie: Vor 400 Jahren wurde der Dramatiker Jean-Baptiste Molière geboren

Es ist sicher nicht übertrieben, Molières „Tartuffe“ als eine der wichtigsten Komödien der Weltliteratur zu bezeichnen. Bei ihrem Erscheinen 1664 erzeugte sie einen gewaltigen Skandal. Ihr Autor wurde als Jean Baptiste Poquelin am 15. Januar vor 400 Jahren getauft*. In seiner Bedeutung als einer der großen dramatischen Autoren der Literaturgeschichte ist er William Shakespeare an die Seite zu stellen.

Jean Baptiste Molière im Jahr 1664. Stich von Charles Courtry nach einem heute verlorenen Gemälde von Michel Corneille d. J.

„Le Tartuffe“ wird bis heute häufig aufgeführt. Die Geschichte eines gerissenen Betrügers, der sich der Religion bedient, um mit vorgetäuschter Frömmigkeit und demonstrativem Glaubenseifer eine ganze Familie unter Kontrolle zu bringen, ist nach wie vor aktuell. Denn Molière beleuchtet in seinen Figuren die Mechanismen der Manipulation. Er führt die psychologischen Ursachen vor, die Menschen dazu bringen, ihre Einsichtsfähigkeit auszuschalten.

Der wohlhabende Herr Orgon und seine auf religiöse Perfektion fixierte Mutter Madame Pernelle unterwerfen alles, was sie erfahren und erleben, einem auf Tartuffe bezogenen Erklärungsmuster. Die Menschen in ihrem familiären Umfeld entlarven die Täuschung unschwer. Aber ihre Kritik führt dazu, die eigene Anschauung noch hartnäckiger zu verteidigen und sich an ihrer Wahrheit festzuklammern. Das Ende ist ein menschliches Desaster und der Bankrott der bürgerlichen Existenz. Ein Phänomen, das nur allzu bekannt wirkt. Doch in der Realität gibt es, anders als bei Molière, keinen wissenden König, dessen Eingreifen eine Katastrophe verhindern könnte.

Molières „Tartuffe“, eine bissige Abrechnung mit falscher Frömmigkeit und religiöser Heuchelei, wird im Frankreich Ludwigs XIV. als Angriff auf Glauben und Kirche missdeutet. Die Königinmutter Anna erwirkt, ganz im Sinne einer katholischen gegenreformatorischen Geheimgesellschaft, der Compagnie du Saint-Sacrement, ein Aufführungsverbot. Molière wird verdammt als ein „in Fleisch gehüllter, als Mensch verkleideter Dämon“, als „pietätloser Libertin“. Fünf Jahre kämpft er beim König, der ihm eigentlich gewogen ist, für sein Stück, bis es endlich nach der Entmachtung des alten Hofstaats 1669 mit riesigem Erfolg öffentlich in Paris aufgeführt werden kann.

Verblendung und Realitätsverlust

Dass Tartuffe erst im dritten der fünf Akte persönlich auftritt, ist mehr als ein spannungsfördernder Theaterkniff, den schon Goethe bewundert hat. Er gibt Molière den Freiraum, die Unzulänglichkeiten der Charaktere zu entwickeln, die auf ihre eigenen Gedankenkonstruktionen und Illusionen hereinfallen. Er führt dem Zuschauer schmerzlich vor, wie sich Menschen verrennen und von der Realität verabschieden.

Nicht nur in „Tartuffe“ überwindet Molière das possenhafte Unterhaltungstheater seiner Zeit. Seine Komödien haben den Anspruch, in der Deutung der menschlichen Existenz mit der Tragödie gleichzuziehen. Molière nimmt charakterliche Schwächen aufs Korn und kritisiert soziale Verhältnisse seiner Zeit. Ironie und karikierende Verzeichnung sollen die Zuschauer jedoch nicht nur lachen lassen, sondern dienen dazu, den Blick in die menschliche Seele zu vertiefen.

Als Molière 1659 mit seiner Komödie „Der verliebte Arzt“ auf Einladung seines Förderers Herzog Philippe von Orléans in Paris gastiert, gewinnt er das Wohlwollen des jungen Königs. Davor lagen für ihn fast zwei Jahrzehnte Theater in der Provinz. Molière hatte als Zwanzigjähriger darauf verzichtet, das erfolgreiche Geschäft seines Vaters, eines Tapissiers (Raumausstatters) zu übernehmen, und gemeinsam mit seiner langjährigen Gefährtin Madeleine Béjart eine Theatertruppe gegründet. Dieses Unternehmen geht nach zwei Jahren Bankrott und Molière wandert in Schuldhaft.

Komödien für den König

In den folgenden 13 Jahren lernt er das Theater von Grund auf kennen: Er leitet eine Theatertruppe, betätigt sich als Schauspieler und Autor. Mit „Die lächerlichen Preziösen“ karikiert er das exaltierte Verhalten von Pariser Mädchen, die gerne adelig und gebildet wären, und erzielt einen viel beachteten Erfolg, den er mit „Die Schule der Frauen“ fortsetzt. Wie der „Tartuffe“ ist dieses Stück über eine sich selbst bewusst werdende junge Frau und ihr Recht auf Liebe Anlass für eine heftige Kontroverse.

Für den König entwickelt Molière in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Jean-Baptiste Lully unterhaltsame Ballettkomödien, bleibt aber auch dem Genre der Charakterkomödie treu. Bis heute gespielt werden etwa „Der Geizige“, „Der Bürger als Edelmann“ oder „Der eingebildete Kranke“. Die Titelrolle dieses Stücks über naive Medizingläubigkeit und unfähige Quacksalber sollte am 17. Februar 1673 sein letzter Auftritt auf dem Theater werden: Während der Vorstellung attackiert den seit Jahren an Krankheiten laborierenden Molière ein schwerer Hustenanfall. Mit Fieber und Schüttelfrost bringt man ihn nach der Vorstellung nach Hause, wo er einen Blutsturz erleidet und stirbt. Nur auf Drängen des Königs gewährt die Kirche ihrem exkommunizierten Kritiker ein Begräbnis in aller Stille.

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* Geburtsdatum vermutlich einen Tag vor der Taufe, am 14. Januar 1622.

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Von den über 30 Stücken Molières ist in seinem Geburtsjahr an den Theatern in der Region so gut wie nichts zu finden. Lediglich die Burghofbühne Dinslaken spielt den „Tartuffe“  (Premiere war am 10.01.2020) in drei Vorstellungen in Limburg, Goch und Kamp-Lintfort.

Das umfangreiche Werk und die schillernde Persönlichkeit Molières stellt Frank Castorf ab 21. Januar 2022 ins Zentrum eines Abends im Depot 1 des Schauspiels Köln: „Ich bin ein Dämon, Fleisch geworden und als Mensch verkleidet“ ist der Titel der Produktion, zu der Aleksandar Denic die Bühne geschaffen hat. Tickets gibt es unter Tel. (0221) 221 28 400.

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Ultimativer Frohsinn auf der Bühne – das Westfälische Landestheater gibt die Komödie „Taxi Taxi“

Szene mit Barbara Smith (Franziska Ferrari), Polizeiinspektor Porterhouse (Burghard Braun) und dem verunglückten John Smith (Mario Thomanek, von links) (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Szene mit (von links) Barbara Smith (Franziska Ferrari), Polizeiinspektor Porterhouse (Burghard Braun) und dem verunglückten John Smith (Mario Thomanek). (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Falls es stimmt, dass es im Theater um so lustiger zugeht, je ernster die Lage „draußen“ ist, leben wir in schlimmen Zeiten. Jedenfalls, wenn der Blick auf die neueste Produktion des Westfälischen Landestheaters fällt. Mit Ray Cooneys krawalliger Boulevardkomödie „Taxi Taxi – Doppelt leben hält besser“ setzt das Theater einen ultimativen Maßstab in Sachen Bühnenheiterkeit. Und dabei kann eigentlich niemand behaupten, er habe Geschichten wie die des Londoner Taxifahrers John Smith noch nie gehört.

John Smith – den Mario Thomanek, das kann getrost schon hier gesagt werden, mit sportlichem Körpereinsatz ganz hinreißend gibt – lebt mit zwei Frauen in zwei Ehen in zwei Londoner Stadtteilen. Natürlich dürfen die Gattinnen nichts voneinander wissen. Mit exaktem Timing und penibel geführtem Terminkalender hat das bislang funktioniert.

Die ganze filigrane Zeitarchitektur aber bricht zusammen, als John, eine heldische Tat ja eigentlich, einen Streit schlichten will, verletzt wird, ins Krankenhaus kommt – und beide treu sorgenden Gattinnen ihn bei der Polizei als vermisst melden. Zwei Inspektoren begeben sich auf die Suche nach dem Verschollenen, doch obwohl dieser bald wieder auftaucht, nimmt das Desaster nun unaufhaltsam seinen Lauf.

Mrs. Smith (Franziska Ferrari, links) und Bobby Franklyn (Emil Schwarz), der nette schwule Nachbar von oben (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Tür auf, Tür zu

Aus dem Motiv finaler Destabilisierung vermeintlich ganz alltäglicher Verhältnisse hat der Londoner Boulevard-Autor Ray Cooney (Jahrgang 1932) wiederholt dramatischen Honig gesaugt. „Außer Kontrolle“ heißt folgerichtig sein wohl erfolgreichstes Stück, das ebenso wie hier nun „Taxi Taxi“ nicht mehr und nicht weniger ist als eine fetzige, etwas schwarze Tür-auf-Tür-zu-Komödie.

Irre Tapete

Das Stück lebt von der Gleichzeitigkeit des Unerhörten, was Regisseur Markus Kopf hervorhebt, indem er alles in einem einzigen großen Raum mit irrwitzig gelb und grün bepunkteter 70er-Jahre-Tapete (Ausstattung: Manfred Kaderk) spielen lässt. Zwei Wohnungen in einer – das verwirrt im ersten Augenblick, doch die Irritation verfliegt schnell, macht Platz für intensives, atemloses, komödiantisches Theaterspiel.

Man brüllt

Ein „unkaputtbares“ Theaterstück ist „Taxi Taxi“ (Uraufführung 1983) trotz gut funktionierender Handlungsmechanik allerdings nicht. Mit zweieinviertel Stunden (eine Pause) ist es in Castrop-Rauxel schon recht lang geraten, und die Inszenierung hätte durchaus auch scheitern können. Der Spannungsbogen, den Markus Kopf setzt, schwingt sich früh in große Höhen und entschwindet bald danach in die Unsichtbarkeit. Dann werden viele Sätze in ermüdender Gleichförmigkeit herausgebrüllt, humorvolle Pointen der Vorlage hingegen sterben gleich platzenden Seifenblasen einen stillen Tod. Mary Smith (Svenja Marija Topler), der grausen Wahrheit ansichtig, schreit in den letzten Stückminuten nur noch unartikuliert, was zwar beeindruckt, aber von geringer Aussagekraft ist.

Gespräch mit der anderen Gattin, von links: Mary Smith (Svenja Marija Topler), Kumpel Stanley Gardener (Mike Kühne) und John Smith (Mario Thomanek) (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Wunderbares Ensemble

Wenn „Taxi Taxi“ am Westfälischen Landestheater trotzdem ein großer Erfolg ist, wenn es gar zu einem frenetisch bejubelten Ereignis wird, liegt dies zum einen an dem bis zum Ende durchgehaltenen hohen Tempo der Inszenierung, zum anderen jedoch, wichtiger noch, an der hervorragenden Darstellerriege.

Geradezu liebevoll, wenn man so sagen darf, entsprechen sie sämtlich ihren Rollenklischees, Franziska Ferrari als langbeinige Verheißung im kleinen Roten ebenso wie Svenja Marija Topler im Wohlfühl-Sweatshirt. Guido Thurk gibt den biederen Streifenpolizisten Troughton mit einer entwaffnenden Mischung aus Güte und terrierhafter Beharrlichkeit, Burghard Braun, schon physiognomisch eine der stärksten Bühnenerscheinungen hier, ist mit Tweed und Schlips prototypisch der scheinbar grundkorrekte Inspektor Porterhouse.

Mike Kühne, etwas fülliger, weckt das Mitgefühl des Publikums, wenn er als Johns Kumpel Stanley Gardener von einer Extremsituation in die nächste taumelt, Emil Schwarz schließlich, nicht füllig, zelebriert die Tuntigkeit des Nachbarn Bobby Franklyn mit angenehmer Zurückhaltung, kurzum: das eigentliche Theatererlebnis sind bei „Taxi Taxi“ einmal mehr die Schauspieler. Und die Schauspielerinnen, selbstverständlich.

Szene mit (von links) Stanley Gardener (Mike Kühne), John Smith (Mario Thomanek), Mary Smith (Svenja Marija Topler) und Polizeiinspektor Troughton (Guido Thurk) (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Süße Versuchung

Etwas Mahnendes zum Schluß: Mit Produktionen wie dieser ist das Westfälische Landestheater natürlich auf dem Niveau jener privaten Wanderbühnen angekommen, die mit anspruchsloser Unterhaltung ihr Geld verdienen, mit leichten, manchmal auch derben Produktionen, in deren Mittelpunkt häufig ein ehemaliger Film- oder Fernsehstar agiert.

Leichte Unterhaltung ist keineswegs tabu, auch nicht die schenkelklopfende. Doch muß das WLT, ein Landesinstitut immerhin, bei der Spielplangestaltung auch zukünftig qualitative Distanz wahren und dem klassischen resp. „ernsten“ Repertoire Raum geben. Daß sie das in Castrop-Rauxel können, haben sie mit Goethes „Faust“ oder der Bühnenadaption des Houellebecq-Romans „Unterwerfung“ {beide Male führte Gert Becker Regie) und vielen weiteren Produktionen längst bewiesen.

  • Termine:
  • 2., 3., 4., 6.5. Castrop-Rauxel
  • 22.9. Hameln
  • 28.10. Marl
  • 16.11. Solingen
  • 4.12. Bocholt
  • 12.12. Lünen
  • 13.12. Hamm



Es gibt etwas zu lachen – „Der nackte Wahnsinn“ in Dortmund

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Vicki (Merle Wasmuth) und Tramplemain (Frank Genser) haben Streß auf der Treppe (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nein, dass das Dortmunder Theater in der Intendanz von Kay Voges eine besonders trübselige Veranstaltung wäre, kann man wirklich nicht behaupten. Glücklicherweise gibt es hier immer wieder was zu lachen. Und jetzt erst recht!

„Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn, der hier am Samstag seine Premiere erlebte, ist ein Spaßstück erster Güte, ein Komödienstoff nach allen Regeln der Kunst, den ein hellwaches Ensemble mit Tempo und großem Körpereinsatz zum ungetrübten Vergnügen macht. Damit wäre fast schon alles gesagt. Aber warum sollte eine Bewertung erst am Schluß der Besprechung stehen, wenn sich der Rezensent so gut amüsiert hat?

„Der nackte Wahnsinn“ ist der Form nach eine klassische Türenkomödie, folgerichtig hat die Kulisse derer zehn, auf mehreren Ebenen (Bühne: Pia Maria Mackert). Außerdem dient das Fenster dem Einbrecher als Bühnenzugang. Allerdings beschränkt sich das Stück nicht auf die Mechanik der exakt gespielten Auf- und Abtritte durch die diversen Türen, sondern ist zudem ein „Theater auf dem Theater“ – in drei Akten.

Im ersten Akt erleben wir, wie eine eher unbekannte Theatertruppe das Stück „Spaß muß sein“ des (fiktiven) Stückeschreibers Robin Housemonger für die Premierentournee probt, im zweiten – der Drehbühne sei Dank – erleben wir staunend, daß die Vorstellung für uns fast unsichtbar irgendwie weiterläuft, während sich hinter den Kulissen die Mimen zanken und prügeln, Eifersuchtsgeschichten, Sinnkrisen und Alkoholismus den Fortgang der Tournee gefährden. Doch die Show muß bekanntlich weitergehen. Das dritte Bild schließlich zeigt die Bühne wider von vorn. Die Tournee ist fast zu Ende, Kulisse und Mimen sind verschlissen, die Hauptdarstellerin ist betrunken und außerdem ist ihr das auch völlig egal. Running Gag bei alledem ist von Beginn an ein Teller mit Sardinen, der mal da ist und mal nicht, was für Verwirrung sorgt.

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Das Ehepaar Brent (Ekkehard Freye und Eva Verena Müller) weilt inkognito im eigenen Hause (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Der Plot schließlich, um auch ihn kurz zu erwähnen, kreist wesentlich um zwei Liebespaare, die sich heimlich in das Haus schleichen, um es dort miteinander zu treiben. Das eine sind (mit ihren Rollennamen des Stücks im Stück) der Häusermakler Tramplemain (Frank Genser) und das blonde Dummchen Vicky (Merle Wasmuth) sowie der Dramatiker Philip Brent (Ekkehard Freye) und seine Gattin Falvia (Eva Verena Müller). Alle wähnten Haushälterin Clackett (Friederike Tiefenbacher) abwesend, doch die ist noch da, weil sie irgendeine Promi-Hochzeit im Farbfernseher sehen möchte, während sie selbst zu Haus nur Schwarzweiß hat. Und einen Teller mit Sardinen hat sie sich fertig gemacht. Den Brents gehört das Haus tatsächlich, doch sind sie inkognito hier. Die Steuerfahndung darf nicht wissen, daß sie in England weilen.

Schließlich gibt es noch einen Einbrecher, der von Uwe Schmieder gespielt wird. Er ist dem Whisky sehr zugetan, weshalb man nie weiß, ob er seinen Einsatz schafft. Und da das Stück ja im Stück spielt, sind auch noch drei Personen sozusagen ohne Rolle dabei: der fette Regisseur Lloyd Dallas (Andreas Beck), der schwule Regieassistent Poppy (Peer Oscar Musinowski) und der Bühnenmeister Tim (Sebastian Graf).

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Vicki und Tramplemain mit ihrem Regisseur Lloyd Dallas (Andreas Beck, rechts) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

So viel zur Handlung, die, man ahnt es vielleicht schon, natürlich zu keinem glücklichen oder auch weniger glücklichen Ende führt, sondern sich im atemlosen Kampf gegen das Unheil in der Welt im allgemeinen und das Entdecktwerden im Besonderen, aber auch um verlorene und nicht wieder aufgefundene Kleider, Bettlaken, Kisten und Taschen dreht. Und natürlich um Teller mit Sardinen. Das Stück im Stück hat auch deshalb kein Ende, weil ja nie bis zum Ende gespielt wird. Wie aber sollte so ein Plot schon enden, wenn nicht im Chaos?

Urkomisch sind viele Handlungsdetails – wie Brents absehbar aussichtsloser Kampf gegen den Sekundenkleber, mit dem er sich unlösbar einen Mahnschreiben vom Finanzamt und einen Sardinenteller an die Hände klebt, weshalb er im Weiteren nicht mehr in der Lage ist, die Hose hochzuziehen und panisch durch das Bühnenbild hüpft, treppauf, treppab. Poppy wechselt jedes Mal Hemd und Hose, wenn er aus der Szene verschwinden darf, Regisseur Lloyd Dalls stiftet mit Blumengeschenken, die Inspizient Tim zuverlässig an die falschen Adressen leitet, Chaos und Haß. Ausgesprochen spaßig auch sind im dritten Akt die Kostüm-Tauschaktionen, um schnell Ensemblemitglieder zu ersetzen, die gerade irgendwie abhanden gekommen sind. Schließlich stehen gleich drei Einbrecher auf der Bühne, was den Regisseur nur noch „Vorhang“ flehen läßt.

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Mrs. Clackett (Friederike Tiefenbacher) findet sich zwischen der Doppelbesetzung für den Einbrecher wieder (Uwe Schmieder li., Sebastian Graf re.) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Entscheidender aber als die Vielzahl gelungener Einzelgags ist das rasende Tempo, das diese immerhin dreistündige Produktion von Anfang bis Ende durchhält. Peter Jordan und Leonhard Koppelmann, die gemeinsam für die Regie zeichnen, verdeutlichen das durch einen Moment der Verlangsamung: Wenn dem Regisseur im ganzen Bachstage-Durcheinander ein Kaktus in den Allerwertesten gerammt wird, reduziert sich die Geschwindigkeit des Bühnengeschehens plötzlich wie in einer Zeitlupe. Die Töne dehnen sich, das Licht flackert wie bei einem langsam laufenden Filmprojektor, Schmerzverzerrt verzieht sich das Gesicht des fülligen Regisseurs im Schneckentempo, und ganz langsam beginnt Poppy, ihm die Nadeln einzeln wieder herauszuziehen. Und dann ist die Zeitlupe zu Ende und es geht so flott weiter wie vorher.

Die Damen nuttig, die Herren hasenfüßig, der Regisseur zynisch, der Schwule schwul: Natürlich ist das hier reinstes Chargenkino. Doch diese Überzeichnungen wirken nicht wirklich diskriminierend, weil ausnahmslos alle Personen auf der Bühne einen Schuß haben.

Und jetzt müßten noch ein paar wertende Zeilen folgen. Doch die stehen ja schon am Anfang. Das Publikum applaudierte erwartungsgemäß begeistert.

Termine: 9., 19., 25., 27. April, 8., 23. Mai, 1. Juni. www.theaterdo.de




„Alles koscher!“ – britische Komödie, die mit religiösen Klischees spielt

Bei Alles koscher! handelt es sich um eine britische Komödie. Thematisch geht es um Religionen – neben der jüdischen, die ja auch schon im Titel mehr als deutlich angedeutet wird, auch um die muslimische Religion. Hauptperson des Films ist der muslimische Familienvater Mahmud, der in der Londoner Vorstadt mit seiner Familie lebt, dort eine kleine Firma hat und bezüglich religiöser Regeln es nicht ganz so genau nimmt, denn der westliche Lebensstil gefällt ihm (und seiner Familie) schon.

Problematisch wird das ganze nur, als sein Sohn Rashid seine große Liebe heiraten will. Eigentlich wäre das kein Problem, doch er braucht dazu die Einwilligung des Stiefvaters der Braut. Dieser ist jedoch niemand Geringeres als ein sehr bekannter fundamentalistischer Prediger. Das gefällt Mahmud nicht wirklich, auch wenn er seiner kleinen Tochter immer was vom Kampf gegen die Ungläubigen erzählt. Doch für das Glück seines Sohnes ist er bereit, sich auch mal zu verstellen (dauert ja auch nicht lange…).

Kurz zuvor ist jedoch Mahmuds Mutter gestorben und bei der Regelung des Nachlasses fällt ihm plötzlich eine Adoptionsurkunde in die Hände – seine eigene…
Er versucht daher herauszufinden, wer seine leiblichen Eltern sind und schafft es zumindestens seinen ursprünglichen Namen herauszufinden:
Heute heißt er Mahmud Nasir, früher war er Solly Shimshillewitz – ein Jude!

Da bricht ein Weltbild zusammen und er versucht seine leiblichen Eltern zu finden. Hilfreich ist dabei der jüdische Taxifahrer Lenny, den er vorher noch immer wieder mal verflucht hatte und der ihn jetzt belustigt als Teil der Weltverschwörung begrüßt. Lenny erinnert sich an einen Shimshillewitz, der in der Nähe wohnte und man versucht gemeinsam ihn zu suchen.

Natürlich kommt es da zu Komplikationen, vor allem nachdem der Schwiegerstiefvater in spe überraschend vorzeitig auftaucht und wissen will, ob seine Stieftochter in eine gottesfürchtige muslimische Familie einheiratet…

Alles koscher! spielt gewitzt mit den Klischees der Religionen und der Historie, teilweise sogar recht drastisch. Die Identitätsprobleme Mahmuds werden sehr gut dargestellt, sowohl schauspielerisch als auch szenisch, wenn er plötzlich nur noch Juden um sich herum sieht (was nicht so ganz verwundert, da sie in direkter Nähe zu einer Synagoge spielt).

Auch die Vermutungen von ihm mehr (seine Frau) oder weniger (sein Imam) nahestehenden Personen über den Grund seiner momentan bemerkbaren Verwirrung sind gut dargestellt und auch noch amüsant.

A propos amüsant: Der ganze Film ist – was bei einer Komödie eigentlich auch so sein sollte – durchweg amüsant, dabei aber auch gesellschaftskritisch. Es ist jedoch kein Film, wo man noch über den einen Gag lacht, wenn der andere schon im Anflug ist – aber insgesamt gesehen kommt der Humor definitiv nicht zu kurz. In der Kino-Vorstellung, in der ich den Film gesehen habe, gab es daher auch diverse laute Lacher an besonders lustigen Stellen.

Doch ein wenig Kritik muss auch sein – denn gerade am Ende des Films gewinnt man den Eindruck, dass die Drehbuch-Autoren das ganze in eine bestimmte Richtung drängen wollten und es daher dann nicht so ganz mit der Logik und Glaubwürdigkeit nahmen. Da war schon etwas zu viel Deus ex machina – aber irgendwie passt das ja bei einem Film zum Thema Religion(en).

Der Trailer „Alles koscher!“
Nachfolgend gibt es den Trailer zum Film – wobei ich persönlich vielleicht den Trailer erst nach dem Besuch mir anschauen würde (so versuche ich es generell bei Komödien zu halten – womit ich aber in diesem Fall nicht andeuten will, dass man gerade mal 100 Sekunden was zu lachen hat!) … aber der Vollständigkeit halber ist er hier:




Ein Hyper-Chonder im Bochumer Prinz Regent Theater

Hypochonder? Dieser Mann ist eher ein Hyper-Chonder. Krank fühlt er sich, wälzt sich im Lehnstuhl, greift nach der Sauerstoffmaske, sehnt sich nach Einläufen und wohlklingenden Mittelchen.

Gestatten: „der eingebildete Kranke“, die Hauptfigur aus Molières letzter Komödie. Wolfram Boelzle verkörpert ihn leidenschaftlich, amüsant und stimmig auf der Bühne des Prinz Regent Theaters in Bochum.

DAS STÜCK
Nur ein Tag ohne Arznei? Nur eine Stunde ohne Klistier und Fremdwörter-lastige Rezepturen? Das wäre sein Tod, glaubt Argan. Und zahlt. Auch wenn die Rechnungen, der Ärzte und Apotheker ihn direkt in den nächsten Hustenanfall und zurück zum Inhaliergerät treiben.

Ach, hätte er doch schon einen Arzt als Schwiegersohn, wünscht sich Argan und träumt. Von der kostenlosen medizinischen Versorgung im eigenen Haus.

Dass er seine Familie tyrannisiert? Dass er seine Tochter ins Unglück zu stoßen droht? Egal, keine Zeit – der nächste Hustenanfall ist da.

BÜHNENBILD UND VIDEO

Weiße Stoffwände umgeben den eingebildeten Kranken – so wie die Notaufnahme-Patienten in US-Krankenhausserien. Und rasch wird die Rückseite dieser drehbaren Bühne wieder zur Projektionsfläche.

Scheußlich-schöne Schaubilder hat Peer Engelbracht in seine Video-Sequenzen eingebaut: die Details der menschlichen Anatomie: Skelette, Blutkreislauf, abgezogene Haut und als Krönung die Anleitung, wie man ein Loch durch die Stirn bohrt.

ART DER INSZENIERUNG

Ganz einfach, ganz effektiv – so inszeniert Regisseurin Sibylle Broll-Pape diesen Klassiker. Tiefgang und Slapstick haben nebeneinander Platz.

Während sich Kranken-Tochter Angélique und ihr Verehrer Cléante blumenhaft ihre Liebe gestehen, verzweifelt einige Meter weiter der tölpelhafte Arzt Diarrhoerius jun., der Schwiegersohn-Kandidat des eingebildeten Kranken. Kurz zuvor hat sich Diarrhoerius auf ein Buch gekniet und der Kranken-Tochter eine auswendig gelernte Liebeserklärung entgegengeholpert. Jetzt will er den Wälzer unter den Knien wegziehen, ohne aufzustehen.

Allein Martin Molitor in dieser Szene zu erleben, ist das Eintrittsgeld wert.

LEISTUNG DER SCHAUSPIELER

Bei allen Darstellern stimmen nicht nur Einzelleistung, Erscheinungsbild und Begeisterung, sondern auch Abstimmung und Zusammenspiel untereinander.

Einzelne textliche Verhaspler sind da mehr als verzeihlich. Auch weil die wichtigsten Pointen sitzen, weil das Timing exakt stimmt.

DAS STÜCK DAMALS….

1673 schrieb Molière diese Komödie über folgsame Patienten und überschätzte Ärzte. Am Puls erkennen sie: die Milz.

Ach, der Herr Kollege hatte die Leber in Verdacht…ja dann, hmm, muss es auch die Leber gewesen sein.

Blutkreislauf? Welch blödsinnige neumodische Theorie!

…UND HEUTE

2011 ist die Beziehung zwischen Arzt, Apotheker – und dem Pharmahersteller – immer noch undurchsichtig. Manch ein eingebildeter Kranker schluckt mehrfach: erst bei der Diagnose, dann die Pillen.

Umso wichtiger, dass dieses Stück auf den Bühnen bleibt. Umso wunderbarer, wenn es derart leicht umgesetzt wird wie am Prinz Regent Theater.

 

(Dieser Text ist – in leicht veränderter Form – auch im Westfälischen Anzeiger (Hamm) erschienen).