Hol dir, gönn dir!

 

Genau! Alles, und zwar jetzt. Sofort! (Foto: Bernd Berke)

Wie war das noch, vor soundsovielen Jahren, als im 68er-Umfeld der „Konsumterror“ lauthals angeprangert wurde?

Damals lösten gerade erst einige Supermärkte die bis dahin gängigen „Tante-Emma-Läden“ ab. Welche eine vergleichsweise beschauliche Verbraucherwelt das noch gewesen ist! Was hätte man bloß gesagt, hätte man kommen sehen, was wir heute haben – mit allseits in letzte Winkel und Ritzen dringendem Internet-Wahnwitz und obenauf gesetzter „Künstlicher Intelligenz“, die sich in alles hineinfrisst und sich alles einverleibt. Nun, da man gar nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht und wo es noch Restbestände von vermeintlicher Wirklichkeit gibt.

Allüberall wird man verbal, bildlich und medial verfolgt, gnadenlos, ohne Unterlass: „Hol dir“, „Gönn dir“, „Sichere dir“. Versäume nicht, zögere nicht, ergreife den Vorteil, sichere dir Premium, Premium Plus oder Pro. „Ergattere“ dies und jenes, schlage anderen ein Schnippchen, hol dir das Schnäppchen, den Schnapper. Exklusiv. Nur für Dich! Das große Gelingen. Eigentlich kein übles Wort, jedoch dem verbalen Missbrauch preisgegeben.

Immerzu ist Sale, Angebote und Preise sind mega, ja giga. Alles ist Hammer! Geiz ist geil, immer noch, obwohl dieser Spruch schon älter ist. Und ständig herrscht Beben. Mark(t)erschütternd. Schon morgen kann es zu spät sein, vielleicht hört die Gelegenheit schon gleich auf. Carpe diem! Yolo! Du lebst nur einmal. Hau rein. Deal!

Und wenn nicht? Dann Apokalypse. Dann Doomsday. Dann Untergang. Finale Finsternis. Und damit Tschüss, nech?!




Mit Markenprodukten aus NRW: Bildband spürt der aufblühenden „Konsumlust“ der 1960er Jahre nach

Die Geschichte wird wahrlich nicht zum ersten Mal erzählt: wie „die“ Deutschen den Weltkrieg in jedem Sinne hinter sich ließen (nämlich auch nach Kräften zu verdrängen suchten); wie sie sich nach und nach dem Konsum zuwendeten; wie dabei Markenzeichen und folglich Werbung immer wichtiger wurden; wie das Land bunter und wohl zugleich oberflächlicher wurde. Das ganze „Wirtschaftswunder“-Programm eben.

Auch Ulrich Bienes Bildband „Konsumlust“ greift diesen Erzählfaden auf, knüpft ihn aber etwas anders. Gleich zwei Untertitel signalisieren, worum es geht: „Werbung, Wohlstand, Wirtschaftswunder“ und dann vor allem: „Die 1960er Jahre in Spiegel der NRW-Marken“. Heißt also: Hier wird die Geschichte regional aufgezogen, Firmen aus Nordrhein-Westfalen stehen im Vordergrund. Eigentlich kein Wunder, ist Biene doch hauptberuflich Pressesprecher der Veltins-Brauerei im hochsauerländischen Meschede. Er widmet denn auch dem Brauereiwesen im Lande ein ausführliches Kapitel. Apropos: In den 60ern waren die Gewichte noch ganz anders verteilt, rund die Hälfte aller NRW-Biermengen kam aus Dortmund, damals weltweit die zweitgrößte Bierstadt überhaupt. Auf heimelige Ruhrgebietstypologie getrimmte Werbung setzte seinerzeit den Revier-Komödianten Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeier als glaubhafte Vertrauensfigur für die Dortmunder Union-Brauerei ein.

„…und Erwachsene ebenso“

Die 1960er waren jenes Jahrzehnt, in dem sich endgültig etliche Markenbezeichnungen vor die Sachen schoben, es war also beispielsweise nicht mehr so häufig von Papiertaschentüchern, sondern von Tempotüchern die Rede und seltener von Gummibärchen, dafür umso öfter von Haribo, bekanntlich eine schon lange vor dem Krieg begründete Traditionsmarke aus Bonn. Doch nun stellten sie sich neu und zeitgemäß auf: 1967 wurde der Goldbär als geschütztes Warenzeichen eingetragen. Und der alte Vorkriegsspruch „Haribo macht Kinder froh“ wurde zur Mitte der 1960er ergänzt um „…und Erwachsene ebenso“. Vielleicht ein Vorzeichen dafür, dass der Konsum die Generationen einander anglich, indem er viele Erwachsene infantilisierte? Nun, wir wollen nicht gar zu sehr spekulieren. Jedenfalls zeigt sich, dass Konsum mehr ist als bloßer Verbrauch.

Zahlreiche Anzeigenmotive aus vielen Branchen versammelt dieses Buch, die allemal den jeweiligen Zeitgeist repräsentieren und manche Erinnerung wachrufen. Was im Rückblick auffällt: In jenen Jahren wurde der Konsum noch weit überwiegend in deutscher Sprache angeregt oder auch schon recht agil angestachelt. Die damals zunehmend kaufkräftige Generation hatte es noch nicht so mit dem Englischen.

Einflüsse aus der Pop-Art

Anfangs noch im herzig-naiven Stil der 50er Jahre sich ergehend, wurde die Reklame im Laufe des Jahrzehnts zunehmend frech oder grell, gegen Ende der Dekade nahm sie beispielsweise auch Einflüsse aus Pop-Art und Comics auf, sehr deutlich zu sehen anhand der Duisburger Sinalco-Werbung, welche als markanter Ausschnitt die Titelseite des Bandes ziert. Sprite konterte just 1968 mit dem Kunstwort „frischwärts“, einer fast schon sprichwörtlichen Schöpfung. Fanta war jedoch, wie man hier ebenfalls erfährt, eine Kreation aus dem Kriegsjahr 1941, mit der man die damals in Deutschland nicht mehr lieferbare Coca-Cola und deren amerikanische Ableger „ersetzen“ wollte. Nicht nur Bücher, auch Limos haben ihre Schicksale.

Sogar der weithin als biederes Damengetränk verschriene Eierlikör Verpoorten („Ei, Ei, Ei…“) sollte damals mit psychedelischen „Hippie“-Annoncen neue, jüngere Käufer(innen)schichten gewinnen. Auch dies kommt einem heute fremd und fernliegend vor: dass Tabakwaren und hochprozentiger Schnaps mit größter Nonchalance angepriesen und fröhlich verharmlost wurden. Alkoholhaltige Leckereien der Firma Brandt (mit Kirschwasser, Williamsbirne, Himbeergeist etc.) hießen „Hicks-Pralinen“, gleichsam beschwipst schwankten sie mit diesem Werbeslogan herbei: „Lustig ist das Pralinenleben. Faria, faria hicks.“

Hicks-Pralinen und Dinett-Servierwagen

Noch in den Anfängen steckte hingegen die Produktpalette zur Körperpflege, zumal die Männerdüfte beschränkten sich noch weitgehend auf SIR (irish moos) und Tabac, Kölnisch Wasser (4711) dominierte den noch recht schmalen Markt. Ältere Jahrgänge erinnern sich gewiss noch an diesen arg begrenzten olfaktorischen Bestand.

Näher betrachtet wird auch die (ost)westfälische Möbelproduktion, die kürzlich noch dem NRW-Arbeits- und Gesundheitsminister Laumann bei seinen ersten Corona-Lockerungsübungen als überraschend „systemrelevant“ galt. Zu nennen wären etwa die Hersteller Interlübke und Poggenpohl sowie das Ekawerk. Von den ach so praktischen Dinett-Servierwagen der Firma Bremshey aus Solingen redet man hingegen heute wohl kaum noch, dieser Alltags-Mythos ist eher zum Nostalgie-Stoff geronnen.

Regionaler Stallgeruch mit Nostalgie

Noch mehr regionaler Stallgeruch mit Vintage-Charme gefällig? Bitte sehr, hier in Stichworten noch ein paar Beispiele, die im Buch mit ihrer Werbung aus den 60ern Revue passieren: Brandt Zwieback (damals Hagen), die 1962 eingeführten Trumpf Schogetten (ursprünglich Aachen, später Bergisch-Gladbach), Falke-Socken (Schmallenberg/Sauerland), Seidensticker-Hemden (Bielefeld), Pril und Persil (Henkel/Düsseldorf). Die ausgesprochen breitenwirksame Prilblumen-Kampagne gehörte dann freilich in die 70er Jahre. Hinzu kommen Automobile von Ford (Köln) und Opel (damals – ab 1962 – auch noch in Bochum), Kraftstoffe von Aral (gleichfalls Bochum) oder auch frühere Kindheits-Legenden wie Siku-Modellautos (Lüdenscheid), das Kettcar (von Kettler aus Ense-Parsit im Kreis Soest, das später einen Rockband-Namen prägte) oder Puky-Räder (Wülfrath).

Alle eben genannten Namen und Marken sind auch heute noch geläufig und erhältlich, aber kann sich jemand noch an Rokal-Modelleisenbahnen (aus Lobberich)  oder an Rondo-Waschmaschinen (aus Schwelm) erinnern? Mh. Gibt es eigentlich ein Fachgebiet namens Wirtschafts- und Konsum-Archäologie?

„Konsumlust – Werbung, Wohlstand, Wirtschaftswunder – Die 1960er Jahre im Spiegel der NRW-Marken“. Klartext-Verlag, Essen. 160 Seiten Großformat, zahlreiche farbige Abbildungen. 29,95 €.

 

 




Einkaufen früher und heute

Ein hundert Jahre altes Foto: Es zeigt ein Fachwerkhaus im Dörfchen Voerde, heute ein Ortsteil der Stadt Ennepetal, das Haus mit einer Art Schaufenster, sonst keine Werbung außer dem Namen des Ladeninhabers. Einkaufen in einem solchen Kolonialwaren-Geschäft war damals normal. Und heute? Discounter und Supermärkte bestimmen unseren Alltag.

In solchen Läden wurde die Ware noch aus Fässern und Schubladen in Papiertüten gefüllt oder in Zeitungspapier eingewickelt, Heringe lagerten in der Tonne, Zucker und Mehl stand in Säcken auf dem Boden, und weil es keine Autos gab, fand man natürlich derartige Geschäfte der „Grundversorgung“ an jeder Ecke.

Ein Dorfladen in Voerde  vor 100 Jahren. (Foto: Stadtarchiv Ennepetal)

Ein Dorfladen in Voerde vor 100 Jahren. (Foto: Stadtarchiv Ennepetal)

Heute wird diese allgemeine Versorgung mit den wichtigsten Lebensmitteln von Supermärkten oder Discountern übernommen, und die kleinen Eckläden mit ihrer „Tante Emma“ sind verschwunden. Das führt in Gesprächen meist zu nostalgischen Seufzern – früher sei das doch besser gewesen.

Allerdings übersehen viele dieser Wehmutsmenschen, dass die Kleingeschäfte mit Alleininhabern für die Käufer ein teures Vergnügen waren. Mit den Erlösen bauten sich die Ladenbesitzer große Mehrfamilien-Mietshäuser, die Rendite ihrer Geschäfte lag meist im zweistelligen Bereich. Schon vor hundert Jahren versuchten die Konsumgenossenschaften der Arbeiterbewegung, dagegen anzugehen, doch auch sie waren nicht viel billiger.

Durch den Konkurrenzdruck arbeiten die Handelskonzerne heute mit sehr viel geringeren Margen. Die Preise sind im Vergleich zum Arbeitslohn günstig, und die Waren sind frischer und vor allem viel hygienischer verpackt und damit allgemein gesünder. Man denke nur daran, dass den größten Anteil an der Verlängerung der Lebenszeit der Menschen die Verbesserung unseres Trinkwassers hatte, also die Hygiene im weitesten Sinne.

Nostalgie macht zwar viel Spaß, führt aber rational manchmal auch ein wenig in die Irre.




Familienfreuden auf Reisen: Der Engel im Clownskostüm

 

Die Versuchung ist groß - der Wille auch. (Bild: Albach)

Die Versuchung ist groß – der Wille auch. (Bild: Albach)

Sommer, Sonne, Strand – diesmal kein Klischee, sondern Realität: Wir sind auf Menorca! Und Fi gewöhnt sich langsam an die hiesige Lebensart.

Wir waren bewaffnet. Für den Flieger meine ich. Gefühlte 20 Pixi-Bücher, Handpuppen, Fruchtriegel, Windeln, Feuchttücher. Für jede Eventualiät gerüstet. Und was geschah? Fi ließ fröhlich die Beine in ihrem Sitz baumeln, kaute ihr Sandwich, lugte durch die Sitze zu dem Jungen vor ihr und schlief sogar irgendwann ein. Kind, wer hat Dich erfunden?

Vielleicht hat Fi geahnt, dass ein kleines Paradies auf sie warten würde. Der Eingang dazu entpuppte sich als Strandbar mit selbst hergestelltem Eis. Auch mit der Sorte SchokoLADE im Sortiment. Kleine Hände können eine Eiswaffel sehr fest umklammern. Und jeder der Strandspaziergänger, denen wir anschließend begegneten, musste grinsen angesichts dieses schokobärtigen Kindes, das aussah, als sei es kopfüber in flüssige Schokolade gefallen. Mal anders ausgedrückt: Der elterliche Wille, das Kind gesund und vielseitig zu ernähren und nicht mit Konsum zu überschütten, wird arg angekratzt, wenn einem nonstop andere Nachwüchse über den Weg laufen, die Eis schlecken, Pommes essen oder sonstwie von der Fast food Industrie als Werbeträger angeheuert wurden.

Auch der Gang in den Pool wird zur Abwehrschlacht: Wir haben einen Schwimmring und einen Eimer dabei. Fi sieht: Schwimmende Fische, Krokodile, Boote. Und lernt das Wort „kaufen“! „Auch Boot kaufen, auch Fisch kaufen“, lautet der Sirenengesang, dem man sich kaum entziehen kann. Hart bleiben kommt einem plötzlich grausam und so spielverderberisch puritanisch vor.

Fi jedenfalls passt sich schnell an die Umgebung an. Die spanischen Damen begrüßt sie schon mit „Hola“! Und erntete dass aufgeregte Gekreische und wilde Geküsse der Kellnerinnen anfangs noch einen entsetzten Gesichtsausdruck und einen Fluchtimpuls in den elterlichen Arm, streckt Fi jetzt bereits ihre Wange hin und verteilt selbst schmatzende Luftküsse.

Das größte aber ist eine Einrichtung, die wir wahrscheinlich sträflich missachtet hätten, wären unsere Nachbarn mit Tochter im gleichen Alter nicht so freundlich gewesen, uns darauf aufmerksam zu machen: die Mini-Disco! Menschen ohne Kinder dürften sich eher mit Grausen abwenden, wenn das kleine Animatoren-Team mit seinem Lautsprecher anrückt, die grellen Töne erklingen und die Kinder loshüpfen.Für Fi ist es der Himmel. Und der Engel darin ist in Form einer ansehnlichen Dame auf die Erde gekommen, die sich allabendlich in ein neues Clownskostüm wirft, die Lippen rot schminkt und einen Glitzerhut aufsetzt. Fiona kann den Blick nicht von ihr lassen, während ihre kleinen Beinchen auf und ab hüpfen. Und die Eltern? Die klatschen verzückt mit, das Eis für später in der Hand, das Gummiboot im Supermarkt nebenan in Gedanken schon gekauft.

Glück hat eben viele Gesichter.

 

Mehr über Nadine Albach unter www.medienwiese.tv




Das pralle Leben der Pröllmanns: Ein Sozialarbeiter gibt hintersinnige Einblicke

Nabelschau (und das durchaus im eigentlichen Sinn des Wortes) können Leser betreiben, die sich an der Seite eines Sozialarbeiters aus dem Ruhrgebiet Zugang zu einer speziellen gesellschaftlichen Spezies verschaffen. Die Wege werden ihnen in dem Buch „Schantall, tu ma die Oma winken“ geebnet.

Der Titel lässt erahnen, welche Zeitgenossen hier observiert werden. Der Band hätte auch genauso gut die Überschrift „Mach dem Mä mal Ei“ vertragen. Schantall Pröllmann, die vor allem in knalligen Farben auftritt, würde an solch einem Satz nichts Falsches oder Verstörendes finden, ihr kleiner Schastin, also Justin, wüsste auf Anhieb, was gemeint ist.

2310826_orig

Willkommen also in einer Familie, die zu betreuen dem Jochen wohl nie in den Sinn gekommen wäre, hätte es da nicht im Rathaus des Städtchens Bochtrop-Rauxel diesen Frauentausch, pardon Rollentausch gegeben. Jochen ist eigentlich für die Kulturbehörde tätig, soll aber – wie übrigens auch andere aus der Verwaltung – mal Tapetenwechsel betreiben und andere Ämter kennenlernen. So kommt er schnurstracks in den Bereich Soziales und von dort – ohne über Los zu gehen – als Betreuer zu den Pröllmanns samt Anhang.

Jochen findet sich wieder in einem Land, das die Kevinisten regieren, das seinen Bewohnern unendlich viele Freiheiten gewährt, beispielsweise sprachlich schon längst alle grammatikalischen Einfriedungen beseitigt hat, Jobsuche und finanzielle Grenzen als unerbetene Einmischung in innere Angelegenheiten betrachtet. Da werden dann halt an der Kirmesbude 197 Euro gelassen, Hauptsache man kann eine Grünpflanze sein Eigen nennen. Wenn’s Geld nicht reicht, zeigt Vater Pröllmann eben, was seine Fäuste noch können. Dumm nur, dass die 200 Euro Gewinn ausbleiben, weil der Gegner ein routinierter Kirmesboxer ist und der „Vadder“ der Familie sich eine blutige Nase holt. Mit seinem Gewinn, einer Küchenrolle, zum Abtupfen gedacht, lässt sich das Grünzeug vielleicht noch nett einwickeln.

Apropos einwickeln: Männer umgarnen ist wohl so etwas wie der Breitensport der Weibchen in diesen Kreisen. Ob im Fitness-Studio, zu Karneval oder in Lloret de Mar, Austragungsort der Urlaubssommerspiele mit Sohn und Freundin Cheyenne, wie auch immer dieser Name ausgesprochen werden will: Der Jagdtrieb bestimmt Sein und Bewusstsein. Natürlich funktioniert das Prinzip auch in gegensätzlicher Richtung. Die Männer sind auf der Suche nach paarungswilligen Geschöpfen für den Augenblick. So ist auch Schastin das Ergebnis einer Liaison, deren andere Hälfte längst wieder in Ostdeutschland untergetaucht ist.

Aber das ist nun mal das Schöne an dieser Klientel. Es gibt ja noch Familie, die gefallene Engel auffängt, und angesichts des Verhältnisses von „Quotientenkurve des Intellekts“ und „Anzahl der in die Welt gesetzten Kinder“ nimmt sich die Keimzelle der Gesellschaft nicht gerade klein aus. Entsprechend sind auch die Wohnungen gestaltet, den Begriff Dekoration würde hier – nach Jochens Erfahrungen – wohl niemand verstehen. Gelsenkirchener Barock hat dagegen glatt noch Stil, wobei die Verantwortung für wahllos vollgepfropfte Wohnzimmer eindeutig bei der Industrie liegt, wie der Sozialarbeiter erkennen muss. Ihren Verheißungen, sei es in Prospekten oder Werbespots, kann sich kaum einer und schon keiner vom Schlage Pröllmann entziehen.

Kaufen gehört ohnehin zu den Lieblingsbeschäftigungen von Schantall und ihrer Cheyenne, bei der die Bezeichnung Busenfreundin eine gesonderte Berechtigung hat. Shoppen, wie man auch sagen könnte, rangiert mit wenig Abstand hinter dem Begehren, einen Mann zu kaschen. Die Freude an den Konsumtempeln wird auch durch Anglizismen wie Sale nicht getrübt, sondern eher noch angeheizt, selbst schrille Musik wirkt antörnend. Wenn es mal zu geschmälertem Amüsement kommt, dann schon eher aufgrund der Komplexität von Sonderangeboten wie „Drei für zwei“. Wie soll man sich nur entscheiden, wenn es nicht drei, sondern vier T-Shirts sein sollen?

Bei den Kerlen wiederum belässt es Schantall (vorübergehend) bei einem Exemplar, Cedrik sein Name. Wie man es aus Film und Fernsehen kennt, darf ein Happyend nicht fehlen. Da das Traumpaar schon drei Monate zusammen ist, wird es höchste Zeit, den Bund fürs Leben zu schließen. Getreu dem Motto, „Wenn man schon kein Geld hat, lässt sich doch das am besten ausgeben“, ehelichen die beiden in einem Etablissement, in dem an diesem Tag mal der übliche Betrieb ruht, das Personal aber fröhlich mitfeiert.

Mögen manche Szenen am Ende auch ein wenig überzeichnet wirken, der Autor, der sich in die Rolle des Sozialarbeiters versetzt, beschreibt gesellschaftliche Wirklichkeiten, mal bissig, mal ironisch, oftmals aber auch mit ganz ernsthaftem Ton. Ihm ergeht es so wie vielen Lesern: Erstaunen und Sprachlosigkeit machen sich breit. Letzteres würde man sich auch bei den beschriebenen Kreisen vorstellen können. Hat da jemand von wünschen gesprochen?

Kai Twilfer: „Schantall, tu ma die Oma winken“. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 219 Seiten, 9,95 Euro




Zurüstungen für die heimische Kaffeefabrik

In Versuchung geraten, eine nagelneue Kaffeemaschine zu kaufen. Einen von diesen polierten Lifestyle-Apparaten als Schaustück für die Küche, ihr wisst schon. Rasch vom Wunsch kuriert gewesen.

Der fix geschulte Fachverkäufer schüttet Familie B. mit Fachbegriffen zu und weidet sich daran, dass wir so gut wie nichts richtig verstehen. Wir sollen offenbar weichgekocht werden, bis wir dastehen wie Trottel. Doch mit dem erlösenden Kauf tritt man ja garantiert ein in die strotzmodern mittelschichtige, allzeit kreative, rundum verwöhnte, prenzlauerberghafte, politischökologischkorrekte Gesellschaftsschicht, welche die schicken Innenstadtviertel der Metropolen okkupiert. Keine Angst: Das Fass mit den Aufschriften „Gentrifizierung“ und „Bionade-Biedermeier“ machen wir an dieser Stelle nicht weiter auf. Friede den Altbau-Idyllen. Einstweilen.

Zurück zum Schnellkursus in Sachen häuslicher Kaffeefabrik. Mit Imponiergeste zeigt der Ladenschwengel sündhaft teure Boliden vor, mit denen man – wenn’s hoch kommt – gerade mal je zwei Tässchen Espresso, Cappuccino oder Latte auf einmal herstellen kann. Ergo: Wenn etwas mehr Besuch kommt, muss jemand permanent an der Maschine stehen und für stetigen Nachschub sorgen. Wenn einem das keine 1200 Euro oder mehr wert ist, dann gehört man eben nicht dazu!

Dessen ungeachtet, schwafelt der auf smart getrimmte Verkäufer über die konkurrierenden Systeme der Vollautomaten und Siebträger. Nein, nicht Vollidioten und Sargträger. Bitte sachlich bleiben!

Die simple Variante (Foto: Bernd Berke)

Die simple Variante (Foto: Bernd Berke)

Doch weiter, weiter, bloß kein Innehalten, man könnte sonst zur Besinnung kommen: Nun geht’s um Einknopf-Bedienungen und die „absolut erforderlichen“ 15 Bar Druck. Auf den Einwand hin, man könne Espresso – wie viele ältere Italiener dies tun – doch auch mit herkömmlichen Metallkännchen (siehe Foto) machen, empört er sich geradezu. Das sei doch kein Espresso, sondern nur Mokka. Ach, wir müssen wohl hoffnungslos zurückgebliebene Bergbauern sein. Er geißelt alles, was vordem war. Und er geißelt uns mit.

Mal ernsthaft ins große Ganze aufgeblendet: Es ist der Geräteindustrie im Verein mit den Röstern offensichtlich gelungen, auf breiter Front das heimische Kaffeebrühen völlig neu zu definieren. Wahrscheinlich nennen sie es Kaffee 2.0 oder so ähnlich. Das Pulver häufelt man demnach nicht mehr selbst, sondern bekommt es in Dutzenden Sorten als Einheitsmenge fertig dosiert vorgesetzt.

So kommt es, dass die Tasse mit Pad- und Kapselsystemen ungleich mehr kostet und dass man möglichst immer wieder dieselbe Marke kaufen muss. Schon die bloße Vorstellung, dass jemand fragt „Liebling, haben wir noch Pads im Haus?“, lässt den hohen Affigkeits-Quotienten ahnen.

Vom wachsenden Abfallaufkommen mal abgesehen. Auch würde man gern wissen, wie viel Strom all die automatischen Spülsysteme und Warmhalteplatten fressen. Die meisten dieser Geräte haben tatsächlich überhaupt keinen Ausschalter mehr. Vier bis sechs Großkraftwerke laufen vielleicht nur für Kaffee. Aaaargh!

Da hilft nur harsche Konsumverweigerung: Die gute alte Kaffeemaschine für acht bis zehn Tassen tut’s in aller Regel auch; es wäre gut, wenn sie bald unter Denkmalschutz stünde. Meinethalben plus Espressokanne und Milchaufschäumer, wenn’s denn unbedingt mal der unsägliche Latte Macchiato sein muss. Jawohl, laut Duden ist das Gesöff maskulin. Nix mit „Ich sitz‘ hier und trinke meine Latte…“

Wie bitte? Ausdifferenzierung des Geschmacks sei auch ein Stück Kultur? Na, geschenkt. Hauptsache lecker, woll?




Die vertraute Markenwelt

Es mag ja betrüblich zu sagen sein, doch ist es wahr: Unter allen Dingen und Verhältnissen, die uns Weltvertrauen einflößen, sind nicht zuletzt die seit Kindheit vertrauten Marken. Ziemlich klar, woran es liegt: Unser Weltausschnitt ist vorwiegend eine Markenwelt.

Einige Beispiele, ohne jeden Schleichwerbe-Effekt, abseits jeder Qualitätsvermutung, streng alphabetisch: Bosch, Hansaplast, Haribo, Langnese, Märklin, Miele, Nivea, Opel, Osram, Persil, Philips, Pril, Rama, Ritter Sport, Tempo, Tesafilm, Volkswagen. Und viele andere, je nach Generation wechselnd. Für manche beginnt die Erinnerung mit Nogger oder Nutella. Kaufartikel halten längst für die Benennung ganzer Altersgruppen her, siehe „Generation Golf“ etc. etc. Ich kaufe das, also bin ich. Ich stilisiere mein Leben mit Waren, also gelte ich.

Schon wenn man erfährt, dass sich hinter den gewohnten Namen neue (meist globale) Besitz- und Produktionsverhältnisse verbergen, fühlt man sich ein wenig verunsichert. Erst recht wird einem mulmig zumute, wenn solche Namen gänzlich getilgt werden. AEG, Borgward, Eduscho, Grundig, Nordmende, Simca, Telefunken, neuerdings Saab. Selbst um die dürftigen Ost-Labels von Trabant bis Rotkäppchen wird seit Jahren nostalgischer Kult getrieben. Oder mal aus Dortmunder Nahsicht betrachtet: Hoesch als „Name für Stahl“ (früherer Slogan) und etliche Biermarken gehören einer immer mehr entgleitenden Vergangenheit an.

Hin und wieder tauchen alte Namen wieder auf, doch meist handelt es sich um billigen Etikettenschwindel. Mit Markenrechten soll altbewährtes Vertrauenskapital umgemünzt werden. Pah! Auch ihr dreht die Zeit nicht um.

Und wie schnell der Schwund, dieser Wandelfraß sich ausbreitet! Man schaue sich nur Filme aus den 1970er oder 1980er Jahren an. Wie anders wirken da Kleidung und Straßen. Ja, die gesamte Farbpalette sieht fremdartig aus; ganz zu schweigen vom Takt der Wahrnehmung, der sich im Filmschnitt zeigt.

Zurück zu den Marken. Bereits im nahen Ausland verschieben sich Koordinaten des Konsums. Trotz regen internationalen Handels ist diese und jene Marke schon in geringer Entfernung nicht mehr vertreten, dafür tauchen andere auf, die einem zunächst oder auf Dauer nicht geheuer sind. Es sei denn, man wäre ein Anbeter des Immer-wieder-Neuen, des Täglich-Anderen. Allmählich scheint es ja zu gelingen, diesen kapitalistisch dringlichst erwünschten Menschentypus zu züchten. Dass dieser Typus wiederum weltweit das Vorhandensein gewisser Leitmarken verlangt, gehört zum Kraftfeld, das keineswegs widerspruchsfrei ist.

Die Beharrenden aber ahnen: Fortwährender Markenschwund ist ein Zeichen der Vergänglichkeit und ragt bis ins Existenzielle, kündigt also Stück für Stück das Sterben an.




Der Tod des Margarine-Mädchens

Seit kurzem ist sie nicht mehr da. Sie hat uns wohl für immer verlassen;  eine Gestalt, die das deutsche Alltagsleben durch viele Jahrzehnte recht unscheinbar, doch stetig begleitet hat: das „Rama-Mädchen“.

Auf Schachteln, Bechern und Einwickelfolien war sie (in einer zunehmend stilisierten Tracht) all die Jahre treulich und sittsam zugegen. Ihr Erscheinungsbild hatte sich mit der Zeit gewandelt, aber man hat sie immer gleich wiedererkannt.

Doch die Hersteller der Margarine (Konzern Unilever) haben sich nun mal entschieden, der Marke ein völlig anderes Design beizumessen. Dafür haben sie ihre „Ikone“ geopfert, die – wie man nun gleichsam posthum erfährt – sogar einen Namen hatte, nämlich Jule. So hat das Seufzen der Nostalgiker wenigstens eine benennbare Adressatin: „Ach, Jule, kehr zurück!“ Doch solches Flehen wird wahrscheinlich nicht erhört.

Und jetzt? Jetzt prangen auf den Packungen nur noch vier halbwegs liebliche Blümchen, die den Urhebern zufolge allen Ernstes für die Mitglieder einer „typischen“ (?), sicherlich ebenso konsumfreudigen wie klimagerechten, nachhaltig naturnahen, vierköpfigen Kleinfamilie stehen sollen. Man könnte jetzt weit ausholen, um hier eine herzlich unverbindliche, völlig austauschbare „grüne“ Fühl- und Denkungsart (oder einfach: Attitüde) als Nährboden auszumachen. Wie wir zur Genüge wissen, befinden wir uns damit in der gar nicht mehr so neuen „Mitte“, im durchaus mehrheitsfähigen Bereich, der bis weit ins ehedem bürgerliche Lager reicht. Lassen wir das.

Warum aber hat man sich von einer derart eingeführten, nachgerade legendären Figur getrennt? Wie eine Diskussion auf der Internet-Seite „Designtagebuch“ (dort gibt’s bildliche Vorher-Nachher-Darstellungen) ahnen lässt, kritisieren auch etliche Leute vom Fach diesen Schritt weg von der Tradition. Man gebe ein „Alleinstellungsmerkmal im Kühlregal“ auf, heißt es beispielsweise. Einer vermutet gar, der Abschied sei vielleicht auf „political correctness“ zurückzuführen: Frauen sollten halt nicht mehr in bildlichen Zusammenhang mit Nahrungsmittelzubereitung gebracht werden…

Gerade Zeitschriften mit ländlicher Thematik heben derzeit in ungeahnte Auflagenhöhen ab. Vor diesem Hintergrund gibt man eine weibliche Figur auf, die idealtypisch fürs gesunde Landleben gestanden hat? Unerfindlich. Und das alles für eine dürre, laue, beinahe an die putzigen „Prilblumen“ der 1970er Jahre erinnernde Schöpfung. Es sind, wie einer in der besagten Debatte bebend bemerkt, eigentlich just die Blumen auf dem Grab des Rama-Mädchens. Wer jetzt nicht ein Tränchen verdrückt, muss wohl von sehr roher Wesensart sein.