Mozart in der Manege: Patricia Kopatchinskaja und Teodor Currentzis loten die Freiheit des Interpreten aus

Patricia Kopatchinskaja ist auf ihrem Instrument ebenso vielseitig wie technisch überragend (Copyright: Marco Borggreve)

Im Schauspiel gehört das längst zum Alltag: Regisseure setzen Faust „nach Goethe“ in Szene oder Hamlet „nach Shakespeare“. Stücke werden zu ungefähren Handlungsanweisungen, zu Steinbrüchen, aus denen man hie und da größere Brocken heraus schlägt, um dann wieder Fremdes in sie hinein zu montieren: Nietzsche, Freud, Dostojewski, egal.

Im Konzerthaus Dortmund war jetzt freilich eine Seltenheit zu erleben: ein Violinkonzert in D-Dur nach Wolfgang Amadeus Mozart. Vom Köchelverzeichnis möchten wir erst gar nicht anfangen. Die Freiheit des Interpreten bis an die Grenzen und darüber hinaus zu treiben, haben sich die Geigerin Patricia Kopatchinskaja und der Dirigent Teodor Currentzis zusammen getan, der mit seinem 2004 gegründeten Originalklang-Ensemble „MusicAeterna“ in Dortmund gastierte.

„Bloß keine Klangschönheit!“, scheint die Kopatchinskaja sich selbst für ihre Interpretation ins Stammbuch geschrieben zu haben. Sie verpasst Mozarts galantem Stil eine Kratzbürsten-Ästhetik mit lachhaft spitzigen Staccati und einer gehörigen Portion Geräuschhaftigkeit. Wo sich Klangschönheit kaum vermeiden lässt, zumal in den Kantilenen des Andante, verhaucht sie ihren Ton bis zur Unkenntlichkeit. Sie staucht und dehnt Tempi, als wolle sie gegen die Verbindlichkeit des Metrums rebellieren.

Patricia Kopatchinskaja
(Foto: Marco Borggreve)

Für den Mut eigene, halb improvisierte Kadenzen zu spielen, mögen wir diese überragende Geigerin nicht im Geringsten tadeln. Auch nicht dafür, dass sie auf zeitgenössische Weise mit dem thematischen Material umgeht. Schließlich montierte Gidon Kremer schon in den 1970er Jahren eine Kadenz von Alfred Schnittke in Beethovens Violinkonzert hinein. Dabei blieb er freilich hoch seriös.

Die Kopatchinskaja aber versteigt sich zu Albernheiten, die im Saal Gekicher und Gelächter auslösen. Sie kaspert mit dem Solo-Oboisten herum und nimmt die Bordun-Töne im Schluss-Satz zum Anlass, eine Art Irish-Fiddler-Wettbewerb mit den Streichern des Orchesters zu eröffnen. Spiellaune schlägt um in Unfug.

Spätestens jetzt ist der Zirkus im Konzerthaus angekommen. Mozart selbst, keiner Albernheit abhold, hätte über derlei Clownerien womöglich herzlich gelacht. Das Publikum scheint sich mehrheitlich wie Bolle zu amüsieren. Ob Mozarts Werk damit gedient ist, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Teodor Currentzis, 1972 in Athen geboren, ist Künstlerischer Leiter der Staatsoper im russischen Perm. (Foto: Aleksey Gushchin)

Es ist am Ende Teodor Currentzis zu verdanken, dass aus diesem Konzertabend dann doch ein sehr gelungener wird. Das vermeintliche Enfant terrible der aktuellen Dirigentenszene zeigt sich in Dortmund als gewissenhafter Vertreter der historischen Aufführungspraxis, wie wir sie seit Nicolaus Harnoncourt, Sir Roger Norrington, Thomas Hengelbrock und vielen anderen kennen. Nicht viel unterscheidet Currentzis’ Interpretationen von Mozarts „kleiner“ g-Moll-Sinfonie (Nr. 25 KV 183) und Beethovens „Eroica“ an diesem Abend von den genannten Vorläufern. Charakteristisch ist ein Hang zur Überakzentuierung und zu extrem schnellen Tempi, die aus manchem Stück einen Sprint machen. Sechzehntel-Ketten der Streicher klingen unter seiner Leitung gerne hitzig erregt wie ein Fieberschauer.

Die Aura des Rebellen, der wie ein Sturmwind aus dem russischen Perm daher gefegt kommt, um die Klassik-Szene gehörig durcheinander zu wirbeln, mag von findigen Marketing-Strategen erfunden und gepflegt worden sein. Wo die Werbung einen Messias verspricht, erleben wir einen jungen, musikbesessenen Dirigenten, der sein Orchester zu erfrischend kontrast- und spannungsreichem Spiel animiert.

Größere Schockwirkungen bleiben aus: Weder gibt es einen Brachial-Mozart zu bestaunen noch einen Rüpel-Beethoven. Und das wilde und lautstarke Fußstampfen auf dem Podium scheint er sich mittlerweile weitgehend abgewöhnt zu haben. Begeisterter Beifall.

Informationen zum Programm des Dortmunder Konzerthauses: http://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/konzertkalender/?layout=grid

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Großereignis, Oberhammer: Die viertägige „Ruhr Residenz“ der Berliner Philharmoniker

Sir Simon Rattle am Pult der Berliner Philharmoniker (Foto: Monika Rittershaus)

Gleich fällt er, der Vernichtungsschlag, mit dem die Welt zusammenkracht. 2000 Menschen beobachten in der ausverkauften Philharmonie Essen gebannt, wie sich der Kopf des Riesen-Holzhammers hebt, den ein Schlagzeuger der Berliner Philharmoniker jetzt hoch über sein Haupt schwingt. Dann saust das mehr als vier Kilo schwere Mordsding nieder, mit einem Dröhnen und Krachen, das die Eingeweide erschüttert und das Herz niederschmettert.

Gustav Mahlers 6. Sinfonie, apokalyptisch düster, verwehrt uns ein glückliches Ende, eine triumphale Apotheose, wie wir sie aus anderen Sinfonien des Komponisten kennen. Den Schlussjubel muss diesmal das Publikum übernehmen. Im gleichen Haus, in dem Gustav Mahler selbst im Mai 1906 die Uraufführung dieses monumentalen Werks dirigierte, bricht nun ein mit Bravorufen durchsetzter Beifallssturm los.

So feiern die Essener Musikfreunde das deutsche Vorzeige-Orchester und seinen Chefdirigenten Sir Simon Rattle, der diese Position nach nunmehr 15 Jahren aufgeben wird, um 2018 zum London Symphony Orchestra zu wechseln. Sein Nachfolger Kirill Petrenko wird die Arbeit erst im Jahr 2019 voll aufnehmen, zuvor aber schon als Gast präsent sein.

Für das Orchester ist dieser Abend der Abschluss einer viertägigen Tour de force, genannt „Ruhr Residenz“, die durch gemeinsame Bemühungen des Dortmunder Konzerthauses und der Philharmonie Essen Wirklichkeit wurde – sowie durch die Unterstützung einiger finanzkräftiger Sponsoren.

Im Gepäck hatten die Berliner ein wahres Mammut-Programm. Zweimal, in Dortmund und in Essen, führten sie György Ligetis vertrackt hintersinnige Oper „Le Grand Macabre“ in einer halbszenischen Fassung von Peter Sellars auf. Sie spielten zwei Mahler-Sinfonien und streuten, als sei das noch nicht kräfteraubend genug, Perlen ein wie György Ligetis Violinkonzert, sein berühmtes Orchesterstück „Atmosphères“ und Richard Wagners Vorspiel zu „Lohengrin“.

Edles Ensemble für Ligetis „Le Grand Macabre“

Der „große Makabre“ landet bei Regisseur Peter Sellars im Atomzeitalter. Hier sehen wir den Fürsten Gogo (Anthony Roth Costanzo, Mitte) und seine Getreuen (Foto: Monika Rittershaus)

Es dürfte lange, vermutlich sogar sehr lange dauern, bis man György Ligetis groteske Weltuntergangs-Oper in annähernd vergleichbarer musikalischer Brillanz zu hören bekommt. Keiner in dieser Sänger-Riege, dessen stimmliches Vermögen nicht das Staunen lehrt: Sei es der wirkmächtige Bariton von Pavlo Hunka, der dem Sensenmann (alias Nekrotzar) brutale Untertöne gibt, der gelenkige Tenor von Peter Hoare, der als Piet vom Fass halsbrecherische Intervallsprünge meistert, oder Frode Olsen, dessen Bass als Hof-Astrologe Astramadors wie von ständiger Übererregung vibriert. Sie seien stellvertretend für das Ensemble herausgehoben, in dem sich so edle Namen wie der von Anna Prohaska finden. Über allem irrlichtert zudem der Wahnsinns-Sopran von Audrey Luna, die sich zunächst als Venus in stratosphärische Höhen schwingt und als Geheimdienstchef „Gepopo“ so lange artistische Kapriolen in höchster Lage schlägt, bis man nicht mehr an die Kraft der Erdanziehung glaubt.

Der Rundfunkchor Berlin übt sich in Volkszorn gegen den Fürsten Gogo (Foto: Monika Rittershaus)

Der exzellente Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Gijs Leenaars) und die Berliner Philharmoniker steigen mit der gleichen packenden Spielfreude in das Geschehen ein, das auf einem absurden Theaterstück von Michel de Ghelderode basiert. Wenn der Volksaufstand gegen Fürst Gogo seinen Höhepunkt erreicht, skandieren Choristen und Musiker mit vereinter Kraft gegen den Machthaber. Wie schön, dass der angekündigte Weltuntergang am Ende doch entfällt, denn zum Glück hat sich der große Makabre mit Piet vom Fass und dem Hof-Astrologen kräftig besoffen. Der große Nekrotzar verpennt schlicht seinen Einsatz.

Warum die Inszenierung von Peter Sellars wiederbelebt wurde, über die György Ligeti bei der Aufführung 1997 bei den Salzburger Festspielen wenig erfreut war, bleibt freilich rätselhaft. Sellars macht aus Ligetis grotesker Anti-Anti-Oper kurzerhand ein Anti-Atomkraft-Stück. Fässer mit dem Warnzeichen für radioaktive Strahlung prägen die Bühne, Video-Sequenzen aus dem zerstörten Reaktor von Tschernobyl erheischen Betroffenheit. Damit stülpt Sellars dem Werk einen Bierernst über, der quer steht zu Ligetis skurrilem Humor: Der Komponist selbst sprach von einer „semantischen Subversion“ seines Werks.

Das sagenhafte Spiel der Patricia Kopatchinskaja

Die temperamentvolle Geigerin Patricia Kopatchinskaja präsentierte eine spektakuläre Lesart des Violinkonzerts von György Ligeti (Foto: Monika Rittershaus)

Umso spektakulärer gelingt die Aufführung von Ligetis Violinkonzert durch die moldawisch-österreichische Geigerin Patricia Kopatchinskaja im Konzerthaus Dortmund. In dem knapp halbstündigen, Saschko Gawriloff gewidmeten Werk dialogisiert die Geige mit einem Orchester von nur 25 Musikern. Der Komponist verwendet dabei exotische Instrumente wie die Okarina oder die asiatische Lotusflöte. Die Streichinstrumente sind teils verstimmt und erzeugen so neuartige Klangeffekte.

Es spottet jeder Beschreibung, wie die Kopatchinskaja den extrem virtuosen Solo-Part meistert. Wie üblich barfuß auftretend, wird sie auf der Bühne zu einem Irrwisch, der das Werk mit einer gleichermaßen nervösen wie furiosen Energie auflädt. Ihre Finger rasen über das Griffbrett, sind scheinbar überall zugleich. Man kann das gar nicht so schnell hören, wie die Geigerin das spielt. Wie um alles in der Welt schafft sie es, derart hoch komplexe Rhyhtmen in die Saiten zu fetzen? Fast lässt ihre lustvolle Vehemenz uns glauben, dass dieses Werk für sie geschrieben sei – und für sie allein.

Patricia Kopatchinskaja im musikalischen Wettstreit mit einem Geiger der Berliner Philharmoniker (Foto: Monika Rittershaus)

Wie eine Schauspielerin steigert sie sich in musiktheatralische Momente à la Mauricio Kagel hinein. Diese Frau kann alles gleichzeitig: Geige spielen und singen, Geige spielen und schauspielern, Geige spielen und eine Flut von Geräuschen und Lauten von sich geben. Weil Außergewöhnliches nach außergewöhnlichen Mitteln verlangt, möge die Ich-Form an dieser Stelle bitte verziehen werden: In meinem ganzen bisherigen Leben habe ich auf der Konzertbühne nichts Vergleichbares gesehen und gehört. Dabei geht es dieser Künstlerin ganz gewiss nicht um Showeffekte oder gar um Selbstdarstellung. Es ist sagenhaft.

Klangpracht für Mahler-Sinfonien

Auswendig dirigierte Sir Simon Rattle die Sinfonien Nr. 4 und Nr. 6 von Gustav Mahler (Foto: Monika Rittershaus)

Zwei Mahler-Sinfonien standen in diesen Tagen ebenfalls auf dem Programm: In Dortmund zunächst die 4. Sinfonie G-Dur, die im Schlussgesang von den „himmlischen Freuden“ kündet. Mag die merkwürdig schwammige Tempo-Gestaltung zunächst auch irritieren, ja den ersten beiden Sätzen gar eine klare Kontur verwehren, schmälert das den Musikgenuss doch erstaunlich wenig. Das liegt an der Klangpracht, die jede einzelne Instrumentengruppe dieses Orchesters zu entfalten weiß. Das österreichische Idiom, die Ländler- und Walzer-Anklänge taumeln uns zu verführerisch entgegen, um sich lange an Kritik aufzuhalten. Der ruhige Fluss des dritten Satzes führt dann vollends in andere Sphären. Die Berliner Philharmoniker fächern ihren Klang auf, bis eine Orgel aus der Ferne zu uns herüber zu klingen scheint. Jede harmonische Wendung rückt weiter von allem Irdischen ab. Erst die süße Beschwörung des „himmlischen Lebens“ durch die Sopranistin Camilla Tilling wird wieder vom scharfen Klang der Narrenschellen kommentiert, die wir bereits vom Beginn der Sinfonie kennen.

Einige Streicher der Berliner Philharmoniker in Aktion (Foto: Monika Rittershaus)

Den monumentalen Schlusspunkt setzt das Orchester mit der 6. Sinfonie a-Moll in der Philharmonie Essen. Mit scheinbar unerschöpflichen Kraftreserven werfen sie sich in die düsteren Märsche dieser Musik, stets vorangetrieben von der kleinen Trommel, die kaum einen Moment des Atemholens zulassen will. Immerzu! Immerzu! Ohne Rast und Ruh! So geht das voran in düsteren und grellen Farben, in einem zunehmend wilden Schlachtenlärm, der brachiale Züge annimmt.

Guter Geist der Kooperation

Aber die Berliner ermüden nicht und lärmen nicht. Bei ihnen führt das Getümmel von einer erregenden Klang-Eruption zur nächsten. Wenn der berühmte Hammer schließlich fällt, stampft er die Musik förmlich zu Brei. Sie stockt, zerfasert, versinkt endgültig ins Dunkel. Ende. Aus. Der Jubel ist grenzenlos.

Es war der Geist der Kooperation, der die kostspielige Ruhr Residenz der Berliner überhaupt erst möglich machte. Etwaige Konkurrenz im Alltag beiseite lassend, zogen die Leitungsteams des Konzerthaus’ Dortmund und der Philharmonie Essen an einem Strang, um das Großereignis wahr werden zu lassen. Gewonnen haben dabei alle, die beiden renommierten Häuser ebenso wie die Musikfreunde der Region.




Überraschender Verlust: Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa wechselt von Dortmund nach Baden-Baden

Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa wird nach 13 Jahren in Dortmund zum Festspielhaus in Baden-Baden wechseln (Foto: Peyman Azhari)

Das hatte keiner geahnt. Sogar für seine Mitarbeiter kam die Nachricht offenbar überraschend. Benedikt Stampa, Geschäftsführer und Intendant des Konzerthauses Dortmund, wird seinen Posten nach 13 Jahren verlassen und ab der Spielzeit 2019/20 (1. Juni) an das Festspielhaus Baden-Baden wechseln. Der Stiftungsrat des privatwirtschaftlich finanzierten Hauses bestellte Stampa in seiner Sitzung am Samstag (28. Januar 2017) zum Nachfolger von Andreas Mölich-Zebhauser.

Ruhig und knapp, ja beinahe ein wenig einsilbig fiel die Pressekonferenz aus, in der Benedikt Stampa und Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann die Einzelheiten publik machten. Obgleich Stampa seinen Dortmunder Vertrag regulär erfüllen wird, also noch bis Juli 2018 Konzerthaus-Chef bleibt, soll die Suche nach einem Nachfolger sofort beginnen. „Sie wird schwierig werden“, betonte Stüdemann, der gleichwohl hofft, schon bald fündig zu werden: „Je eher, desto besser.“ Stampas Fortgang nannte der Kulturdezernent „einen Riesen-Verlust.“

In der Tat war es dem 51-jährigen gelungen, das Konzerthaus Dortmund rasch zu konsolidieren, nachdem es 2005 durch den geräuschvollen Rausschmiss des Gründungsintendanten Ulrich Andreas Vogt in schweres Fahrwasser geraten war. Stampa baute auf, was er die „Dortmunder Dramaturgie“ nennt: Eine jeweils drei Jahre währende enge Bindung von Residenzkünstlern an das Haus, die dem Publikum einen hohen Grad von Vertrautheit und Identifikation ermöglicht. Zudem konzipierte er erfolgreiche Formate wie die „Zeitinseln“, die „Jungen Wilden“, die „Symphonie um Vier“, „Musik für Freaks“ und das deutschlandweit erste „Pop-Abo“, um nur einige zu erwähnen.

Stampa selbst legte der Presse gegenüber nicht weniger als ein Liebesbekenntnis ab für das Haus, seine Akustik, sein Team und sein Publikum, das ihm sehr ans Herz gewachsen sei. Er blicke zurück auf „zwölf intensive, beglückende und bereichernde Jahre.“ Die Nachfrage, ob er im Laufe der Zeit vielleicht doch etwas vermisst habe, verneinte er entschieden. Er ist sich sicher, dass viele der international begehrten Musiker dem Haus auch nach seinem Weggang die Treue halten werden, und sieht einer Veränderung der „Dortmunder Dramaturgie“ gelassen entgegen. Was aus den Mitarbeitern wird, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Im Festspielhaus von Baden-Baden, das mit seinen 2500 Plätzen zu den größten Häusern in Deutschland zählt, wird Stampa in Zukunft auch szenische Opernaufführungen realisieren können, nicht nur halbszenische wie in Dortmund. Dies hat eine nicht unerhebliche Rolle gespielt bei seiner Entscheidung, die er als „nächsten logischen und guten Schritt für mich“ bezeichnete. Zu Andreas Mölich-Zebhauser pflegte er seit vielen Jahren einen freundschaftlichen Kontakt. Ab wann auch Fragen der Nachfolge zum Gesprächsthema wurden, verriet Stampa bei der Pressekonferenz nicht.

Wie schon bei seinem Wechsel von der Hamburger Laeiszhalle nach Dortmund, wird sich der Kulturmanager bald wieder auf eine andere Mentalität von Sponsoren und Publikum einstellen müssen. Seine Familie wird mit ihm in den Süden ziehen, aber vielfältige Kontakte nach Dortmund werden bleiben. Da ist sich der aus Emsdetten in Westfalen stammende Intendant sicher.




Ein Guss, ein Fluss: Andris Nelsons dirigiert Anton Bruckners 5. Sinfonie im Konzerthaus Dortmund

Der lettische Dirigent Andris Nelsons ist Residenzkünstler in Dortmund und designierter Gewandhauskapellmeister (Foto: Marco Borggreve)

Mehrfach erlitt die Partitur von Anton Bruckners 5. Sinfonie Verschlimmbesserungen. Bei der Grazer Uraufführung im Jahr 1894 präsentierte der Bruckner-Schüler und Dirigent Franz Schalk das monumentale Werk in einer völlig verstümmelten Bearbeitung.

Selbst Gustav Mahler erlaubte sich Kürzungen, als er das Werk 1901 in Wien einstudierte. Er eliminierte einige der von Bruckner gesetzten Pausen mit der Begründung, sie würden den musikalischen Fluss zerschneiden.

Wer jetzt erleben konnte, zu welch grandiosem Gesamtkunstwerk sich Bruckners Originalfassung im Konzerthaus Dortmund rundete, wird Gustav Mahler selbst als eingefleischter Anhänger Unrecht geben müssen. Verantwortlich für diese Augen und Ohren öffnende Interpretation waren das in London ansässige Philharmonia Orchestra und der lettische Dirigent Andris Nelsons, Musikdirektor in Boston und aktueller Residenzkünstler in Dortmund.

Es ist die reine Wohltat, Bruckners Musik einmal nicht als rumpelndes Geschiebe erratischer Blöcke zu erleben. Vielmehr beginnt mit Takt 1 ein großer Fluss zu strömen, der die nach Beethoven an einen Endpunkt gelangte Gattung der Sinfonie in die Zukunft trägt. Vier weit ausgreifende sinfonische Sätze verschmelzen zu einer einzigen Welt. Was diese im Innersten zusammenhält, scheinen Nelsons und die Musiker mit untrüglichem Instinkt zu wissen.

Den zahlreichen Generalpausen kommt dabei besondere Bedeutung zu. Sie sind an diesem Abend nicht trennende, sondern verbindende Elemente: nie scharfer Abbruch einer Entwicklung, sondern ein gespanntes Hineinhorchen in das, was kommen mag. So visionär und aufregend das ist, so entspannt und edel klingt das Philharmonia Orchestra. 1945 von Walter Legge gegründet und vielen als „Schallplattenorchester“ bekannt, bietet es den Ohren berauschenden Wohlklang, vom mysteriös raunenden Naturlaut bis in die zackig auffahrenden Fortissimo-Gipfel. Dass trotzdem nichts auf Hochglanz poliert klingt, ist das nächste Wunder dieses Abends. Wir hören einen souveränen Klangkörper, der in höchster Konzentration und Geschlossenheit auf dem schmalen Grat balanciert, der rustikale Vitalität und schicksalhafte Wucht voneinander trennt.

Der Ansturm auf den letzten Gipfel beginnt, wenn alle Themen der vorangegangenen Sätze im Finale durch den großen Fugen-Häcksler geschickt werden. Nun bleiben Beethoven-Zitate und Schubert-Anklänge endgültig zurück. Hier, im titanischen Ringen disparater Kräfte, beginnt etwas Neues, das zwar weniger Schmerzensschärfe besitzt als bei Gustav Mahler, aber wie bei diesem in eine alles überstrahlende Apotheose mündet.

Wie mühevoll der Weg dorthin ist, beschönigen Nelsons und das Philharmonia Orchestra nicht. Umso grandioser wirkt die Coda mit ihrem Choral, der im dreifachen Fortissimo über uns hinweg fegt. Es ist ein Triumph, der Anton Bruckner und Gustav Mahler unvermutet als Brüder im Geiste erscheinen lässt. Dies ist die letzte und vielleicht erstaunlichste Einsicht dieses Abends. Grenzenloser Beifall.

(Informationen zur Residenz von Andris Nelsons: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/263/ Ticket-Hotline: 0231/22 696 200)




Wien an der Ruhr: Konzert der Philharmoniker in Essen und der Symphoniker in Dortmund

Der Geiger Andrey Baranov sprang in Dortmund für Patricia Kopatchinskaja ein. Foto: Petra Coddington

Der Geiger Andrey Baranov sprang in Dortmund für Patricia Kopatchinskaja ein. (Foto: Petra Coddington)

Wo gibt es das schon, außer in Wien? Die beiden international bekannten Wiener Orchester, die Philharmoniker und die Symphoniker, spielen im Abstand weniger Tage: So geschehen in Essen und in Dortmund. Ein Zeichen für das Kultur-Potenzial des Ruhrgebiets.

Außerdem war es eine spannende Hör-Erfahrung für die, die sich zu beiden Konzerten aufgemacht haben, zumal an beiden Abenden Peter Tschaikowskys Violinkonzert angekündigt war – mit Solisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: in Dortmund die impulsive, temperamentvolle, Patricia Kopatchinskaja, deren unkonventionelle Aufnahme gerühmt wurde. In Essen der meisterliche Klangmagier Joshua Bell, der emotionale Unmittelbarkeit und intellektuelle Durchdringung miteinander verbinden kann.

Leider ohne das „Traumpaar“

Leider machte eine schmerzhafte Entzündung den Auftritt der Geigerin kurzfristig unmöglich. Mit Andrey Baranov sprang ein junger Könner ein, der schon einige renommierte Wettbewerbe für sich entschieden hat. Das „Traumpaar“ Kopatchiskaja – Currentzis, das sich auf den Bildern des Dortmunder Programmhefts so selbstbewusst wie ironisch inszeniert hat, war auseinandergerissen. Baranov bot weniger Event, aber deswegen nicht uninteressantere Musik.

Was der 1986 geborene Russe nicht mitbringt, ist die drahtig gestählte Nervosität der Kopatchinskaja. Er bleibt näher an der „Konvention“; stellt sein individuelles Spiel weniger aus. So scheint auch der Dirigent Teodor Currentzis, Liebling einer nach dem unerhört Anderen gierenden Musikgemeinde, etwas gezügelter zu Werke zu gehen. Mit weit ausholenden Spinnengliedern facht er ein kaltes Feuer an, unfehlbar in der präzisen Rhythmik, punktgenau auch in der Artikulation: Da werden keine Details verhuscht, da sind die Holzbläser des ruhevollen Andante-Beginns im zweiten Satz peinlich genau ausgehört, werden aber auch die Kanten der Kontraste blitzend gewetzt. Currentzis macht aus dem plötzlichen Einbruch der Rasanz in ein extrem langsam geformtes Tempo ein Ereignis, nutzt das Finale zu einer virtuosen Hatz. Die Wiener Musiker folgen dem drängenden Tempo, der gezähmten Dynamik mit einer kaum einmal in Frage gestellten Mühelosigkeit.

Und Baranov? Der steigt in die ersten Takte wie in einen small talk ein, um das Thema dann süß und intensiv im Ton aufzuladen. Auch im schmachtend-zarten zweiten Thema drückt er nicht auf die Bedeutungs-Tube, spielt mit großer, klarer Artikulation und leuchtenden Farben, aber nicht mit innerem Drängen oder mit magischen Momenten der Spannung und Lösung. Die herkömmlichen Floskeln der „Leidenschaft“ sind dieser Jugend fremd geworden, man bleibt perfekt und cool. Baranovs hohe Lagen sind ganz rein und süß, die Flageoletts perfekt. Die Canzonetta kennt keine Gefühlsheroik, sondern nimmt mit zart bebendem, innerlichem Ton gefangen.

Teodor Currentzis in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Teodor Currentzis in Dortmund. (Foto: Petra Coddington)

Beste Voraussetzungen für Tschaikowskys Vierte Sinfonie im zweiten Teil des Dortmunder Abends: Die Exposition des Materials durchleuchtet Currentzis so klar und folgerichtig wie selten jemand, den Rhythmus lässt er hartnäckig insistieren.

Das quälend Statische der thematischen Verläufe, das die gelehrte Welt früher als Ungenügen qualifiziert hat, entdeckt dieser Dirigent im Sinne des Programms Tschaikowskys als „Fatum“: Biographische Hintergründe spielen eben bei Tschaikowsky eine ganz andere Rolle als etwa bei Beethoven, Mozart oder Brahms. Currentzis hat die Erregungskurve in der Musik im Blick, aber das Fieber vernebelt weder Kontur noch Transparenz. Und der Finalsatz gerät zum verzweifelten Fest. Eine voll und ganz überzeugende Interpretation.

Seltene Schostakowitsch-Sinfonie in Essen

In Essen nehmen sich Ingo Metzmacher und die Wiener Philharmoniker Dmitri Schostakowitschs nicht eben häufig gegebene Elfte Sinfonie vor. Gespannte Ruhe. Ferne Glocken. Signale und militärisches Trommeln aus dem Hintergrund: Metzmacher und die Philharmoniker kosten den Adagio-Beginn breit, langsam und unheimlich aus. Fast eine Viertelstunde dauert es, bis das Orchester zum ersten Mal losbricht zu wuchtiger, dicht gestaffelter Attacke, zur brachialen Steigerung und zur Eruption von Blech und Becken.

Solist des Tschaikowsky-Violinkonzerts in Essen war Joshua Bell. Foto: Sven Lorenz

Solist des Tschaikowsky-Violinkonzerts in Essen war Joshua Bell. (Foto: Sven Lorenz)

Die Elfte, 1957 komponiert zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution, gehalten in der Trauer-Tonart g-Moll, will an den Petersburger Blutsonntag 1905 erinnern, an dem zaristische Truppen in eine Demonstration unbewaffneter Arbeiter schossen. Aber, so Schostakowitsch später, auch an den Ungarn-Aufstand von 1956 mit seinen Ausbrüchen mörderischer Gewalt. Bei allem brachialen Einsatz des Riesen-Orchesters: das Monumentale bleibt düster, das Ende holt die leise, unheilvolle Klangfläche des Beginns zurück. Optimismus? Fehlanzeige!

Ingo Metzmacher dirigiert die Wiener Philharmoniker. Foto: Sven Lorenz

Ingo Metzmacher dirigiert die Wiener Philharmoniker. (Foto: Sven Lorenz)

Metzmacher meidet „russische“ Leidenschaft, besteht auf Transparenz und plastischer Staffelung der Klangmassen selbst im irrsinnigsten Fortissimo. Er hat in den Wiener Philharmonikern Partner, die in Schönheit des Klangs und geschärftem Ausdruck keinen Widerspruch sehen. Die Brutalität des fast opernhaft deutlich geschilderten Geschehens ist bei den Wienern eingekleidet in ihren sagenhaften Streicherklang, in eine ans Wunder grenzende Einheit und Freiheit der Holzbläsergruppe. Und das Blech bleibt bei seinem Höllenritt fest im Sattel. Lärm kann wundervoll sein.

Musikdenker statt Showmaster

Die Musiker von Flöte bis Fagott nehmen auch für sich ein, als sie in Tschaikowskys Violinkonzert als Partner von Joshua Bell die Farben im Orchester auffächern. Bell bietet einen leidenschaftlicheren Zugang zu der hochemotionalen Musik, setzt Pathos und Portamento ein, bindet die Ausdrucksmittel aber stets zurück an den Notentext. So hastig er manchen Lauf absolviert, so souverän modelliert er die Themen, variiert er die Intensität des Tons, gewichtet er in Akzent und Phrasierung. Bewundernswert die gedankenreich gestaltete Kadenz und das sicher ansprechende Flageolett.

Metzmacher verweigert nicht die gewaltig-dramatische Steigerung, das Losbrechen des Polonaisen-Rhythmus im Orchester, aber er opfert nichts auf dem Altar des bloßen Überwältigungs-Klangs. Metzmacher ist eben kein Showmaster, sondern ein Musikdenker – und einer, der die geistige Durchdringung mit eminenter Überzeugungskraft in Klang und Form bringen kann.

Die Wiener Philharmoniker kommen schon bald wieder, diesmal ins Konzerthaus Dortmund am Sonntag, 26. März 2017: Andris Nelsons dirigiert, auf dem Programm Ludwig van Beethovens Sechste und das Cellokonzert Antonín Dvořáks mit Tamás Varga. Tickets unter Tel.: (0231) 22 696 200, Info: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/konzertkalender/221357/




Ohne Zauberhand: Gabriel Feltz und die Dortmunder Philharmoniker eröffnen die Reihe der Sinfoniekonzerte

Gabriel Feltz  


Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk/Stage Pictures

Claude Debussy war sein Leben lang verliebt in Spanien. Betreten hat er das Land allerdings nur ein einziges Mal. Seine Musik spiegelt also eher eine Vorstellung wieder, einen Traum des idealen Spanien. Zu hören schon in seinen frühen Liedern, vor allem aber in „Ibéria“ aus den „Images“ für Orchester. Debussy verwendet für die drei Impressionen keine Folklore, sondern er erfindet das Charakteristische neu – und so gut, dass kein Geringerer als Manuel de Falla das spanische Idiom geradezu beispielhaft getroffen sah.

In Dortmund heißt das erste der Philharmonischen Konzerte der neuen Spielzeit – anbiedernd an modisches Neuschreib – „zauber_bilder“. Dem „Zaubrischen“ nähern sich die Philharmoniker und ihr Chef Gabriel Feltz auf drei unterschiedlichen Wegen. Debussy steht in der Mitte, flankiert von Paul Dukas‘ „Zauberlehrling“, der wörtlichsten Konkretion des Themas, und Peter Tschaikowskys Fünfter Symphonie, in der Verzauberung in Verzweiflung mündet, wenn man denn ein verborgenes, möglicherweise sogar biografisches Programm annehmen will.

Der Zauber Spaniens, seiner Straßen und Wege, des Parfums seiner Nacht und der Stimmung des Morgens eines Festtages erforderte für Debussy, eine neue Musik zu entwickeln, die weder Volkstümliches kopiert noch den Merkmalen des  damals in Frankreich beliebten Exotismus huldigt. Natürlich kannte er die melodischen Muster der spanischen Musik, ihr rhythmisches Profil, ihre harmonischen Entwicklungen und ihre typischen Instrumente. Aber er gießt dieses Wissen in einem langen, mühevollen Kompositionsprozess in etwas Neues. Pierre Boulez nannte „Les parfums de la nuit“ eines der einfallsreichsten Stücke Debussys, nicht so sehr wegen seines thematischen Gehalts, sondern wegen der innovativen Art, wie er Entwicklungen aufbaut, wie er den Orchesterklang ausbildet und Übergänge subtil gestaltet.

Von dieser Raffinesse ist bei den Dortmunder Philharmonikern nicht viel zu hören. Feltz legt Debussys drei Bilder unter das harte Licht einer mühevollen Analyse, als liege die Landschaft Spaniens stets nur unter gleißend unbarmherziger Sonne. Der milde Mond der Nacht, der Konturen verschwimmen lässt, Formen ins Ungefähre auflöst, Farben sanft verzeichnet, die materiellen Grenzen zwischen den Dingen weich verlöschen lässt, ist Feltz‘ Lichtquelle nicht. An spieltechnischen Grenzen der Musiker hat es nicht gelegen. Die Holzbläser lassen sich nicht unterkriegen, auch von langsamen Tempi nicht; die Streicher, vor allem die Bratschen und Celli, haben immer wieder magische Pianissimo-Momente.

Das Dortmunder Konzerthaus: Hier spielen die Philharmoniker. Foto: Häußner

Das Dortmunder Konzerthaus: Hier spielen die Philharmoniker. Foto: Häußner

Aber wenn Feltz Oboe oder Klarinette herausfordert, kommt der Ton zu direkt. Wenn Tamburin oder Celesta sich einmischen, ein Xylophon fern verwehende Töne spielt, ein Rhythmus aufkeimt und wieder verwischt, zeigt Feltz all diese Vorgänge in so deutlichen Konturen, dass die Mischung kaum mehr gelingt. Farben reiben sich, Klänge prallen aufeinander, Harmonien – zumal, wenn die Präzision der Töne nicht minutiös getroffen wird – wirken eher wie Streulicht als wie magische Reflektionen. So macht man, um die Malerei zu bemühen, aus einem Claude Monet einen Karl Schmidt-Rottluff.

Paul Dukas‘ malend erzählende Musik gelingt an diesem Abend am besten: Vom filigranen Beginn an bis hin zum quarzend ersterbenden Fagott am Ende schwelgt das Orchester in Farben und Gesten, und Gabriel Feltz sorgt für die Dynamik, die dem Zauberlehrling erst unheimlich Spaß, bald aber absolut keine spaßige Panik bereitet. Das hat Schwung und lebt vom sinnigen Aufbau der Dynamik.

Um Tempo- und Lautstärke-Dramaturgie geht es auch in Tschaikowskys Fünfter. Das vergebliche Anrennen der symphonischen Motive gegen die wuchtigen Abbruchkanten der Form, die depressiven Irrläufe, die lastende Schwere wollen vor allem dynamisch gestaltet werden, brauchen auch eine überlegte Disposition der Tempo-Entwicklungen.

Bei Feltz hat man eher den Eindruck von expressiven Inseln, deren innerer Zusammenhang nicht deutlich wird. Der Andante-Beginn ist verhalten und ausdrucksstark, die Innenspannung lässt ahnen, was sich zusammenbraut. Auch das „con anima“ hat in der belebten Bewegung des Allegro seinen Platz. Aber der erste Höhepunkt in Blech und Pauke bereitet sich nicht vor. Feltz gestaltet das Wechselspiel von Ladung und Entladung, von sich Anspannen und sich Lösen nicht. Und immer wieder schleudern die Philharmoniker eruptive Entladungen als brachialen Lärm von sich. Da wäre die dämpfende, nicht die fordernde Hand des Dirigenten gefragt.

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Es gibt also noch Luft nach oben in dieser Spielzeit, für die noch zwei Mal Debussy im Konzert angekündigt ist: am 8. und 9. November im Dritten Philharmonischen Konzert „Prélude à l´après-midi d´un faune“, am 4. und 5. April 2017 im Siebten Konzert „La Mer“ – in Kombination mit Antonín Dvořáks Sinfonischer Dichtung „Der Wassermann“ und dem nicht eben häufig gespielten Cellokonzert des vor 100 Jahren geborenen Henri Dutilleux. Im Achten Philharmonischen Konzert am 9. und 10. Mai 2017 spielt Mirijam Contzen das Violinkonzert Tschaikowskys; dazu gibt es Sergej Rachmaninows Dritte Sinfonie.

Im nächsten Konzert am 18. und 19. Oktober eröffnet Wagners „Holländer“-Ouvertüre den Abend, gefolgt von fünf orchestrierten Liedern Franz Schuberts mit Bo Skovhus als Solist und Dvořáks Siebter.




Nichts als Überraschungen: Das Scala-Orchester mit starkem Auftritt im Konzerthaus Dortmund

Leidenschaftliche Einsätze: Riccardo Chailly leitet das Scala-Orchester. Foto: Petra Coddington

Leidenschaftliche Einsätze: Riccardo Chailly leitet das Orchestra Filarmonica Della Scala. Foto: Petra Coddington

Impressionen eines Konzertes, die, so dahingewürfelt, seltsam klingen mögen. Doch gemach: Die Symbolkraft und Besonderheit der Beobachtungen wird sich alsbald erschließen. Also halten wir fest, dass Daniil Trifonov jetzt Vollbart trägt, dass die Zugabe dieses spannenden Nachmittages ein zeitgenössisches Stück ist – der Komponist sitzt im Saal – und dass Schumanns Musik teils wie von Fieber geschüttelt, teils ungewohnt introvertiert klingt.

Wir hätten das so nicht erwartet, bei diesem Gastspiel des Mailänder Orchestra Filarmonica Della Scala in Dortmunds Konzerthaus, am Pult der Chefdirigent, Riccardo Chailly. Andererseits gehört es ja zur Philosophie der Dortmunder Veranstalter, dem Publikum immer aufs Neue scheinbar Bekanntes im veränderten Klanggewand zu präsentieren. „Raus aus deinen Hörgewohnheiten“ ist das Motto. Nun, in diesem Konzert mit Schumanns „Manfred“-Ouvertüre, dem Klavierkonzert und seiner 2. Sinfonie ist das auf Eindrucksvollste gelungen. Nichts als Überraschungen, wohin sich Aug’ und Ohr auch wenden.

Beginnen wir mit dem Solisten. Der 25jährige Daniil Trifonov scheint aus seiner übervirtuosen Sturm-und-Drang-Phase schon herausgewachsen, technische Schwierigkeiten können ihm offenkundig kaum noch etwas anhaben, sein Spiel hat an Reife und Reflektion enorm gewonnen. Bei Schumann jedenfalls nimmt er sich extrem zurück. Versinkt in der Musik, artikuliert zartfühlend, wirkt wie ein scheuer Zeremonienmeister. Oder auch, die Assoziation sei ob des Bartes gestattet, wie ein Eremit, der ganz im Klang gefangen ist.

Daniil Trifonov spielt das Schumann-Konzert überaus introvertiert. Foto: Petra Coddington

Daniil Trifonov spielt das Schumann-Konzert überaus introvertiert. Foto: Petra Coddington

So einer will nicht auftrumpfen, nicht voller Überschwang durchs lebhafte Finale fegen. Stattdessen rhythmische Strenge, das Virtuose fest unter Kontrolle, auf dass der Satz ja nicht zu viel Gewicht bekomme. Schumanns Konzert atmet gewissermaßen romantische Clarté, hell im Klangbild und wie abgespeckt. Dies ist dem fulminanten Dirigat Chaillys zu danken: Nie wird das Klavier vom Mailänder Orchester zugekleistert, vielmehr hören wir eine dynamisch wunderbar ausbalancierte Musik.

Trifonov spielt Schumann im Geiste Chopins. Das mag nicht jedermanns Sache sein, wenn hier und da die gestelzte Dekadenz eines Salons durchschimmert, doch am Ende hat der Pianist das Publikum auf seiner Seite. Überraschung gelungen. Wie denn auch das Orchester staunen macht. Ein Klangkörper, der mit warmen Holzbläserfarben überzeugt, dessen Violinschmelz wohltönt, der überhaupt ungemein wach agiert auf Chaillys Dirigat. Der Chef der Mailänder ist ein Kapellmeister der alten Schule, ohne körperliche Verrenkungen und andere Marotten.

Und er ist, was nun die Aufführungspraxis angeht, ein Vollblutmusiker, der etwas wagt. Weil er, in Schumanns Ouvertüre und Sinfonie, nicht der Originalklangbewegung nachspürt, die ja längst in der Spätromantik angekommen ist, sondern vielmehr die Retuschen Gustav Mahlers verwendet. Und da geht es nicht um Kleinigkeiten, sondern um beherztes Eingreifen in die Originalpartituren. Da klingen plötzlich Blechbläser mit Dämpfer auf, die Schumann niemals verwendet hat, da tummeln sich allein 26 erste und zweite Geigen sowie neun Kontrabässe auf der Bühne. Eine großorchestrale Besetzung, als gelte es, bloß ordentlich Effekt zu machen.

Maestro Chailly, ein Dirigent, der etwas wagt in Sachen Aufführungspraxis. Foto: Petra Coddington

Maestro Chailly, ein Dirigent, der etwas wagt in Sachen Aufführungspraxis. Foto: Petra Coddington

Doch Chailly ist kein fahrlässiger Maestro am Pult, der es mal richtig knallen lassen will. Er stellt zur Diskussion. Und wenn in der „Manfred“-Ouvertüre das Klangbild hell und aufreizend funkelt, der musikalische Verlauf wie im Rausch vorüberflitzt, jede Beruhigung mehr Schein als Sein ist, wenn es schroff und wild zugeht, dann fällt es schwer, „ja, aber…“ zu rufen. Immerhin sei angemerkt, dass die Holzbläser oftmals kaum zu hören sind. Erst am Ende, wenn die Spannung nach und nach verebbt, Schumann (mit Mahler) auf Reduktion setzt, entdecken wir den balsamischen Klang von Flöten, Oboen oder Klarinetten.

Ähnlich geht es in der Sinfonie zu. Deren Hauptmotiv wird anfangs zwar noch etwas unstrukturiert vorgetragen, doch alsbald liegt alles so offen wie fiebrig und dynamisch exaltiert vor Ohren. Als Höhepunkt darf der langsame Satz gelten, dessen tristaneskes Sehnsuchtsmotiv sich ins Hymnische weitet. Da ist der Weg zu Bruckner nicht mehr fern. Dann wieder Atemlosigkeit im auftrumpfenden Finale, kraftstrotzend und roh wie bei Beethoven, teils in grenzwertiger Lautstärke. Alles vom Mailänder Orchester souverän gemeistert, präzise und mit unbedingter Leidenschaft. Überraschung erneut gelungen.

Doch damit nicht genug. Das Orchestra Filarmonica Della Scala tritt zur Zugabe an. Rasch huschen noch ein paar Musiker herbei, darunter das Personal für kleine und große Trommel sowie Becken. Sollten die Italiener als Rausschmeißer noch einen Rossini in Petto haben, serviert aus dem Mutterland der Oper? Weit gefehlt. Angekündigt wird Carlo Boccadoros „Fast Motion“. Eine vierminütige Raserei mit scharfen harmonischen Reibungen, teuflisch komplexer Rhythmik und in zumeist eminenter Lautstärke. Maschinenmusik wie von futuristischer Hand, garniert indes mit allerlei Jazzidiomatik. Ein neues Stück, wie sich herausstellt, der Komponist sitzt gerührt im Publikum, von vielen italienischen Fans frenetisch bejubelt. Überraschung gelungen: Hier, im Konzerthaus Dortmund, erklingt das Stück – eine Zugabe (!) – tatsächlich als deutsche Erstaufführung. Respekt.

 

 




„Carmen“ auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova mag’s unterhaltsam im Konzerthaus Dortmund

Flinke Finger auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova ist "Junge Wilde" im Konzerthaus Dortmund. Foto: Phil Tragen

Flinke Finger auf dem Akkordeon: Ksenija Sidorova ist „Junge Wilde“ im Konzerthaus Dortmund. Foto: Phil Tragen

Ksenija Sidorova ist eine Virtuosin auf ihrem Instrument. Die flinken Finger finden sicher ihren Weg – technisches Können paart sich mit großer Leidenschaft. Hinzu kommt ein untrügliches Gespür für eindrucksvolles Klangfarbenspiel. Die Passion der lettischen Solistin gilt dem Akkordeon.

Im Konzerthaus Dortmund hat sie nun als „Junge Wilde“ virtuos für dieses Instrument Partei ergriffen – einerseits, denn andererseits sind die „Carmen“-Arrangements, die sie mit einem fünfköpfigen Ensemble offeriert, heftig ins seichte Unterhaltungsfach abgerutscht. Zu wenig ist das für ein ernst gemeintes „Projekt“, wie sie dieses Konzert selbst beschreibt.

„Junge Wilde“: Das Format, 2006 von Intendant Benedikt Stampa ins Leben gerufen, ist längst zu Publikums Liebling gereift (450 Abos, etwa 1000 Besucher pro Konzert). Es bietet eben jungen Solisten ein Podium, die am Beginn einer internationalen Karriere stehen. Sie dürfen ungewöhnliche Programme im Gepäck haben, oder eben auch, wie Ksenija Sidorova, Instrumente, die nicht gerade zum klassischen Kanon gehören. Die Zuhörer sind allemal dankbar für Überraschungen und besondere Formate. Dass etwa die Solistin den Abend in englischer Sprache moderiert, mag ein Bruch mit den eingefahrenen Regeln des Konzertbetriebs sein. Gleichwohl werden die verbindenden Worte wohlwollend goutiert.

Alles beginnt mit der Malagueña des kubanischen Komponisten Ernesto Lecuona, ein nicht ganz unbekanntes Stück, das schon der Pianist Arcadi Volodos wirkmächtig in die Klaviertasten gegerbt hat. Sidorova setzt indes nicht auf virtuoses Muskelspiel, sondern vielmehr auf kantable wie rhythmische Gestaltung dieses spanischen Volkstanzes. Und präsentiert uns damit gewissermaßen das Rohmaterial dessen, was sich in Georges Bizets „Carmen“ in stilisierter Form wiederfindet. Gegenüberstellungen dieser Art, in stetem Wechsel, wären gewiss reizvoll gewesen. Doch das, was Sidorova und ihre Mitstreiter als Improvisationen benennen, sind überwiegend nur schlappe Potpourris.

Hinzu kommt, dass Alejandro Loguercio (Violine) keinen großen Ton ins Spiel bringen kann, während Michael Abramovich (Klavier) sich oft zu sehr in den Vordergrund musiziert und Reentko Dirks (Gitarre) im Ensemble eher untergeht. Ja selbst das Akkordeon bleibt bisweilen blass. Immerhin setzt Roberto Koch am Bass gewichtige Fundamente, schafft Itamar Doari hier und da perkussiven Klangzauber. Weit besser, authentischer als alle Bizet-Ableitungen klingen ohnehin die eingestreuten Stücke Astor Piazzollas. Sehr atmosphärisch etwa des Komponisten „Café 1920“ für Violine, Akkordeon und Bass.

Insgesamt ein eher unbefriedigender Abend, weil’s richtig wild und rhythmisch zupackend, munter und nachgerade parodistisch erst mit der Zugabe wird: Wenn das Ensemble durch das Torero-Lied aus „Carmen“ jagt, dieser aufgeblasene Opernmacho also gewissermaßen als Schaumschläger dargestellt wird, ist der brausende Beifall des Publikums wirklich verdient.




Gleißende Hysterie: George Benjamins Oper „Written on skin“ im Konzerthaus Dortmund

Konzerthaus Dortmund. Written on Skin. Von und mit George Benjamin. © Pascal Amos Rest

„Written on Skin“ – der britische Komponist George Benjamin dirigiert das fulminante Mahler Chamber Orchestra. Foto: Pascal Amos Rest

Das Beste kommt zum Schluss. Ein Musikdrama, das uns wie ein wirbelnder Strudel verschlingt. Mit erstklassigen Sängern, die vor keiner emotionalen Entäußerung zurückschrecken. „Written on skin“ – George Benjamins Oper entpuppt sich als ein Stück gleißender Hysterie, als Schwester der „Elektra“ oder des „Wozzeck“. Die Aufführung im Konzerthaus Dortmund ist eine Herausforderung fürs Publikum – und wird mit Jubel belohnt.

Der Brite Benjamin steht selbst am Pult des höchst intensiv spielenden Mahler Chamber Orchestra, dirigiert gewissermaßen mit körperlichem Understatement, gleichwohl ungeheuer präzise. Er ist charmanter Vertreter einer neuen Musik, deren stetiger Fluss uns bannt, weil nichts dahinplätschert. Zuweilen rütteln eruptive Klangballungen auf, immer fasziniert die Vielfalt instrumentaler Farben. „Written on skin“ wird so zum Höhepunkt der dreitägigen Zeitinsel, die das Konzerthaus dem Komponisten gewidmet hat.

Benjamin ist ein Musiker, der viel schreibt und ebenso viel verwirft. Seine Skizzenblätter übertreffen deutlich das gedruckte Werk. Etwa 40 Kompositionen in 40 Jahren sprechen die Sprache eines äußerst skrupulösen Künstlers. „Written on skin“ entstand 2012, sechs Jahre nach seiner ersten Oper, „Into the little hill“, eine moderne Fassung des „Rattenfängers von Hameln“; sie war ebenfalls im Konzerthaus zu erleben.

Der "Beschützer" (Christopher Purves, l.) blickt auf die Kunst des Malers (Tim Mead). Agnés (Barabara Hannigan) schaut gleichfalls interessiert. Foto:  Pascal Amos Rest

Der „Beschützer“ (Christopher Purves, l.) blickt auf die Kunst des Malers (Tim Mead). Agnés (Barabara Hannigan) schaut gleichfalls interessiert. Foto: Pascal Amos Rest

Für Benjamin gilt aber auch das akribische Bemühen um die Weiterentwicklung seiner Ausdrucksmittel. Für „Written on skin“ etwa setzt er als charakterstarke Farbe eine Kontrabassklarinette ein, mischt Harfen- und Banjoklang, verweist mit einer Glasharmonika in sphärische Weiten, blickt mit einer Viola da Gamba auf alte Zeiten.

Denn die Geschichte, die hier verhandelt wird, fußt auf einer Sage des 13. Jahrhunderts. Ein Maler soll all die Herrlichkeit eines hohen Herrn aufs Papier, damals noch „auf die Haut“, bannen. Der Künstler verführt die Frau des Hauses, der gekränkte Gatte reißt dem Nebenbuhler das Herz heraus und zwingt seine Frau es zu essen. Die stürzt sich aus dem Fenster.

Ein archaischer, blutrünstiger Stoff, den Benjamin und Librettist Martin Crimp in die Moderne überführt haben. Drei zynische Engel schaffen eine brutale Welt, der hohe Herr gilt als „Beschützer“ seiner Frau Agnés, entpuppt sich indes als fieser Sklavenhalter. Agnés‘ Zorn, Trotz, Widerstand und Betrug wird durch die Verführungskraft des Malers genährt. Benjamin hat die Rolle mit einem Counter besetzt, und wenn sich die Stimme Tim Meads mit dem Wundersopran Barbara Hannigans vereint, scheint das emotionale Zentrum der Oper erreicht. Doch erst ihr Ehebruchgeständnis ist der eigentliche Kulminationspunkt. Hannigan wächst zur Rachefurie, das Orchester schreit und überwältigt mit grausamen Schlägen.

Nicht minder ausdrucksstark singt Christopher Purves den „Beschützer“ seiner Frau, ein zynischer Machtmensch, der sich selbst am meisten gefällt, der manchmal aber nur dasitzt wie ein geprügelter Hund. Es ist nicht zuletzt diese Mimik, abgeleitet aus der emotionalen Urgewalt der Musik, die uns auf die Stuhlkante treibt. „Written on skin“ ist Beispiel dafür, dass die komponierende Avantgarde durchaus zur Darstellung des Sinnlichen fähig ist. Mag George Benjamin auch einer jener Künstler sein, die ihr Werk akribisch konstruieren, ist diese Oper alles andere als ein um sich selbst kreisendes Konstrukt. Theater wie Bonn und Detmold haben sich ihrer angenommen, andere Häuser sollten den Mut aufbringen, ihr oft eingefahrenes Repertoire zu erweitern. Es lohnt sich.

(Der Text ist zuerst in ähnlicher Form in der WAZ erschienen.)




Aus dem Geist der Stille: Maria João Pires und das London Symphony Orchestra in Dortmund

Maria João Pires versenkt sich tief in die Musik (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Maria João Pires versenkt sich tief in die Musik (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Im Largo schlägt ihre große Stunde. Mit Haut und Haar versenkt sich die portugiesische Pianistin Maria João Pires in die Sphäre äußerster Ruhe und Erhabenheit, die Ludwig van Beethoven im Mittelsatz seines 3. Klavierkonzerts erreicht. Mit der ihr eigenen Zurückgenommenheit formt sie die Introduktion zum stillen Zwiegespräch, zu einer Insel in E-Dur, allem Weltlichen weit entrückt.

Erstmals trat die 1944 in Lissabon geborene Künstlerin jetzt im Konzerthaus Dortmund auf, gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra und dem britischen Dirigenten Daniel Harding. Wofür die kleine, charismatische Pianistin verehrt wird, wurde an diesem Abend erneut deutlich: Es ist die Wahrhaftigkeit ihres Spiels, ihre künstlerische Integrität, die Hand in Hand geht mit Feinfühligkeit und Poesie. Nichts trachtet diese Künstlerin aus sich selbst zu machen, alles aber aus der Musik, der sie mit größter Bescheidenheit dient.

Wer fürchten mochte, Pires’ pianistischer Zugriff könne für Beethovens Konzert womöglich allzu verhalten sein, sah sich höchst angenehm enttäuscht. Zwar liegt dieser Künstlerin jedes Auftrumpfen fern, aber sie vermag sehr wohl energische Akzente zu setzen und Läufen Prägnanz zu geben. Das zeigt sie in den Ecksätzen, die nicht weichgespült klingen, sondern einige maßvolle Ecken und Kanten bekommen. Nachgerade symptomatisch sind ihre Triller, die nie prall oder gar knallig klingen, sondern geprägt sind von einer leuchtenden (Geistes-)Klarheit. Im abschließenden Rondo ist sie von einer beinahe verspielten Seite zu erleben. Mit flinken Fingern rauscht sie in das Finale, gibt dann noch eine Beethoven-Bagatelle als Zugabe, die – auch dies passt ins Bild – ohne große Schlussgeste verklingt.

Daniel Harding und Maria João Pires (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Daniel Harding und Maria João Pires (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Denkbar wenig auftrumpfend klingt nach der Pause auch Anton Bruckners 4. Sinfonie, die Daniel Harding in einer bemerkenswert kantablen Lesart präsentiert. Natürlich gibt es Höhepunkte, aber Harding zelebriert keine Überwältigungsmusik: Die große Apotheose ist nicht sein Ziel. Er setzt auf den Fluss der Melodie, auf das Gespräch der Instrumentengruppen, die einander möglichst nahtlos zuspielen sollen.

Das London Symphony Orchestra ist dafür ein perfektes Instrument. Streicher, Holz- und Blechbläser sind oft so dicht verblendet, dass mancher Übergang geschehen ist, bevor das Ohr es recht begriffen hat. So präsentiert sich der Orchesterklang edel gerundet. Statt mit den Muskeln zu spielen, erfreut dieser Klangkörper mit einer feinen Abstufung der Lautstärken. Selten ist ein einfaches Forte so deutlich als solches zu erkennen, mithin als Schritt zwischen Mezzoforte und Fortissimo.

Ob Waldesrauschen oder Jagdklänge: Wir erleben Bruckners „Romantische“ an diesem Abend als Wechselbad aus Licht und Schatten. Wir steigen hinab in mystische Tiefen und schreiten dann dem Licht entgegen, von einem Dur-Gipfel zum nächsten. Ein beglückend luzides Bruckner-Erlebnis, das in seiner unprätentiösen Natur überraschend gut an den ersten Teil des Abends anschließt.




Magierin am Schlagzeug – Evelyn Glennie und die Dortmunder Philharmoniker retten Alberich

Evelyn Glennie, Schlagzeugerin von Gnaden, gastierte bei den Dortmunder Philharmoniker. Foto: Jim Callaghan

Evelyn Glennie, Schlagzeugerin von Gnaden, gab sich die Ehre bei  den Dortmunder Philharmonikern. Foto: Jim Callaghan

Am Ende von Richard Wagners „Götterdämmerung“, die den vierteiligen „Ring des Nibelungen“ beschließt, ist eben jener Nibelung, Alberich, mit dem alles begann, verschwunden. „Er ist entmachtet – schlimmer: er scheint vergessen“, schreibt der Wagnerexeget Peter Wapnewski. Und in der Tat: Alberichs letzter Auftritt, eine düster somnambule Begegnung mit dem Sohn Hagen inmitten der „Götterdämmerung“, ist zugleich sein gespenstischer Abschied aus dem Zyklus.

Wagners Opernmythos im Allgemeinen, besonders aber das geheimnisvolle Abtauchen des Auslösers dieses Strudels aus Fluch, Verrat und Mord, endend erst im reinigenden Weltenbrand, inspirierte den Amerikaner Christopher Rouse zur Komposition des Stücks „Der gerettete Alberich“.

Es soll offenbar eine Art Ehrenrettung sein. Der Nibelung darf sich noch einmal austoben, in Form eines Konzerts für Schlagzeug und Orchester. Weil Rouse diesen Fiesling als Getriebenen, Ausgegrenzten sieht, dessen üble Taten als Abwehr zu verstehen sind. Der musikalische Fortgang ist indes alles andere als ein Freispruch: Das Wüten fasziniert, verschreckt zugleich und endet nicht in Wohlgefallen. Im Grunde verschwindet Alberich erneut.

Nun haben die Dortmunder Philharmoniker dieses außergewöhnliche Werk in ihr Programm genommen. Und mit der Solistin Evelyn Glennie die Grande Dame des Schlagzeugs gewonnen, eine Könnerin von Gnaden, Magierin des Rhythmus, die gleichermaßen impulsiv wie konzentriert zu Werke geht. Ja, die britische Musikerin ist ein Phänomen, hat sie doch bereits im Kindesalter den Großteil ihres Gehörs verloren.

Mario Venzago, Gastdirigent des Dortmunder Orchesters. Foto: Alberto Venzago

Mario Venzago, Gastdirigent des Dortmunder Orchesters. Foto: Alberto Venzago

Das wilde Spiel des Alberich beginnt ohne ihn – wenn das Orchester unter Leitung von Mario Venzago die letzten Takte eben der „Götterdämmerung“ intoniert, noch einmal das Liebesmotiv aufklingen lässt. Dann erst ergreift Glennie, kniend, als gelte es, eine Beschwörung einzuleiten, das hölzerne, hohle Guiro (ein lateinamerikanisches Schrapinstrument), und erzeugt durch Reibung eine krächzende Geräuschkulisse. Fast klingt es wie das hämische Lachen des Nibelungen.

Das Orchester grummelt einstweilen vor sich hin, dann aber steigt die Erregung, die Solistin hämmert auf Woodblocks und Tom Tom ein, das Tempo zieht massiv an, um sich alsbald zu beruhigen. Das Fluch-Motiv macht sich breit, Glennie nutzt es zu einer Kadenz auf dem Marimbaphon, bis sich schließlich die Musik in einem dissonanten Schrei entlädt. Höhepunkt vor dem Ausklang: das orgiastisch anmutende perkussive Duell zwischen der Solistin und den wunderbaren Schlagzeugern der Philharmoniker.

Trotzdem ist der Komponist Rouse kein Neutöner. Er nimmt Wagners Motive, teils im Original, teils verfremdet oder in Verschränkung, und webt sie ein in seine Musik, die auf die Collagetechnik Charles Ives’ verweist, mitunter auch die „Rock meets classics“-Abteilung streift. Aufregend ist das allemal, zumal die Solistin, die das Stück bereits zur Uraufführung spielte, voller Elan zu Werke geht. Da bleibt kein Auge trocken, vielleicht aber der eine oder andere Wagnerianer ratlos zurück.

Umringt wird dieser „Alberich“ von Richard Strauss’ Tondichtung „Don Juan“ und Beethovens 7. Sinfonie. Alle drei Werke dirigiert Mario Venzago mit nervöser Energie, stets nach vorn gebeugt, wenn auch ohne größere körperliche Mätzchen. Gleichwohl schafft er es kaum, wo nötig, die Musik zu beruhigen. Oft fehlt es an dynamischer Ausgewogenheit. Der berühmte rauschhafte Aufschwung des „Don Juan“ klingt nicht wie aus einem Guss, die unterschwellige, betörende Erotik kann sich selten großzügig verströmen. Die Feinheiten der Strauss’schen Instrumentationskunst gehen im fahrigen Dirigat unter. Dieser Verführer rast wie ein Gespenst an uns vorbei.

In Beethovens großer Sinfonie vom Rhythmus wiederum geht es kontrollierter zu, klingen die Aufschwünge des 1. Satzes aber ziemlich kurzatmig, wird die dynamische Sprengkraft, der eruptive Gestus dieser Musik nicht wirklich ausgereizt. Und wo die Holzbläser es verstehen, schöne, warme Linien zu formen, bleiben andererseits die Hörner ungewöhnlich blass. So pendelt dieser Konzertabend zwischen Spannung und Enttäuschung.




Jugendjahre eines Genies: Yefim Bronfman spielt das frühe Klavierwerk von Prokofjew

Yefim Bronfman (57), Grammy-Preisträger, gilt hierzulande noch immer als Geheimtipp (Foto: Dario Acosta)

Yefim Bronfman (57), Grammy-Preisträger, gilt hierzulande noch immer als Geheimtipp (Foto: Dario Acosta)

Es gibt Konzerte, die längst begonnen haben, bevor auch nur der erste Ton erklingt. Der Blick auf das angekündigte Programm lässt stutzen. Wie in aller Welt passen Werke von Sergej Prokofjew und Robert Schumann zueinander?

Was hat das russische „Enfant terrible“ mit dem zentralen Exponenten der deutschen Romantik zu tun? Was mag dabei herauskommen, wenn ein Pianist sich anschickt, Klavierwerke dieser scheinbar grundverschiedenen Komponisten miteinander zu verschränken?

Yefim Bronfman gibt uns die Antwort. Der amerikanisch-israelische Pianist, 1958 in Usbekistans Hauptstadt Taschkent geboren, beglückt uns im Konzerthaus Dortmund mit einem jener Recitals, aus denen man klüger wieder herauskommt, als man hineingegangen ist. Denn wer Prokofjew vor allem als kühnen Avantgardisten sieht, der die romantische Tonwelt von Rachmaninow und Rimski-Korsakow mit anarchischem Schwung vom Tisch fegte, erlebt an diesem Abend sein blaues Wunder.

Schon der Beginn ist beinahe ein Schock. Prokofjews 1. Klaviersonate klingt uns so verblüffend schumanesk entgegen, dass wir uns die Ohren reiben möchten. So leidenschaftlich trumpft das Werk des 16-Jährigen auf, so vollgriffig sind die Akkorde und so leuchtend die Momente der Poesie, als habe der Mann aus Zwickau Prokofjew bei der Niederschrift über die Schulter gesehen.

Wie das junge Genie sich allmählich von diesen Traditionslinien löst, wie er bis zu den mit 26 Jahren komponierten Klaviersonaten Nummer 3 und 4 zu seiner eigenen Tonsprache findet, führt Bronfman im Konzerthaus Dortmund mit einer Spielfreude vor, die ein formidables kleines Prokofjew-Feuerwerk zündet.

Wie nebenbei bestätigt Bronfman, welche Spitzenposition er in der internationalen Pianisten-Elite einnimmt. Sein kraftvoller Klang erreicht imperiales Format, ohne je künstlich aufgedonnert zu wirken.

Fingerfertigkeit ist bei diesem Pianisten reine Nebensache. Ihm geht es um die Aussage, um den Kern der Musik, mag sie nun feurig vorwärts stürmen wie im Kopfsatz der 3. Sonate (Allegro tempestoso) oder von existenzieller Einsamkeit sprechen wie der langsame Satz der 4. Sonate (Andante assai). Da steigen Klänge aus dem Konzertflügel wie fahler Dunst. Darunter liegt Grabestiefe. Düsteres Klopfen, zwielichtes Schillern, dann wieder unerwartet grelle Schlaglichter: Bronfman ist ein Magier, der uns bannt und schaudern lässt, der den chamäleongleichen Wendungen von Prokofjews Tonsprache mit größter Hingabe folgt.

In Robert Schumanns „Faschingsschwank aus Wien“ erkennen wir den stürmischen Gestus wieder, den Prokofjew später zu rhythmischem Drive, ja bohrender Motorik weiterentwickeln wird. Ein Ereignis ist auch Bronfmans Interpretation von Schumanns „Arabeske“ op. 18, die bei ihm nicht harmlos vor sich hin plaudert, sondern wie ein leises, ernstes Selbstgespräch tönt. Es muss ein Dichter sein wie aus den „Kinderszenen“, der da spricht.

Gipfelpunkt und Abschluss des Abends ist Prokofjews 2. Klaviersonate op. 14, in der die brachiale Kraft und die diabolischen Elemente anklingen, wie wir sie vom Komponisten der so genannten „Kriegssonaten“ kennen. Was wie ein harmonisch erweiterter Schumann beginnt, wühlt und bohrt sich voran, bis eine expressionistische Kantigkeit erreicht ist.

Aber bei aller wirbelnden Virtuosität ist es auch hier der langsame Satz, mit dem Yefim Bronfman nach den Sternen greift. Weltabgewandt ist diese Musik, hoffnungslos verloren, und der Künstler nimmt uns mit in diese Landschaft, die nach kahlen Tannen auf dunklem Felsengrund klingt, nach einer stillen, erstorbenen Welt im Schneegestöber. Verführerisch ist das und unvergesslich. Tosender Beifall von einem Publikum, das über weite Strecken bemerkenswert konzentriert gelauscht hat.

(Die Website des Künstlers informiert u.a. über Konzerttermine und Diskographie: http://www.yefimbronfman.com)




Klangfarbenrausch in kühler Perfektion – das Cleveland Orchestra im Konzerthaus Dortmund

Petra Coddington Fotografenmeisterin

Seid ausgebreitet, ihr Klänge! Franz Welser-Möst dirigiert das Cleveland Orchestra. Foto: Petra Coddington

Boston, New York, Philadelphia, Chicago und Cleveland – aus diesen Städten kommen, so sagen es jedenfalls ehrfurchtsvoll viele Musikfreunde, die fünf besten Orchester zumindest der Vereinigten Staaten, wenn nicht sogar der Welt. Nun sind solcherart Platzierungen, vorgenommen unter ästhetischen Gesichtspunkten, immer mit Vorsicht zu genießen. Doch ohne Zweifel sind diese „Big Five“ in Sachen technischer Präzision, Klangbild oder Musikalität ziemlich weit oben anzusiedeln.

Was nicht heißen soll, dass die Berliner oder Wiener Philharmoniker, das Concertgebouw Orkest Amsterdam oder das London Philharmonic hintenan stehen. Erstaunlich aber ist, dass sich über viele Jahrzehnte eine deutliche Differenz des Klangbilds im europäisch-amerikanischen Vergleich entwickelt und gefestigt hat. Hier die wärmeren Farben, die bessere Mischung der Valeurs, jenseits des Teiches eine hellere, sehr präsente Tönung, oft auch ein sehr strukturbewusstes Musizieren.

Punktgenaue Einsätze fürs präzise Spiel. Foto: Petra Coddington

Punktgenaue Einsätze vom Pult aus fürs präzise Orchesterspiel. Foto: Petra Coddington

Solche Beobachtungen mögen ein wenig abstrakt anmuten. Umso mehr ist das erste Gastspiel des Cleveland Orchestra im Dortmunder Konzerthaus ein Glücksfall: Denn dessen Interpretation von Olivier Messiaens „Chronochromie“ und Richard Strauss’ „Alpensinfonie“, Musik, die sich nicht zuletzt durch einen wahren Taumel an Klangfarben auszeichnet, macht klar, dass Vergleiche dieser Art ihren Sinn haben.

Besonders spannend wiederum wird die Angelegenheit dadurch, dass Franz Welser-Möst am Pult, Chef des Orchesters seit 2002 und bis 2022 vertraglich gebunden, bereits mit gehörigem Erfolg auch die Wiener Philharmoniker dirigiert hat. Europa und Amerika – nah beieinand’.

Der gebürtige Linzer Welser-Möst ist von hohem Wuchs, aristokratischem Habitus und elegantem Charme. Entsprechend stilvoll dirigiert er: ohne körperliche Entäußerung, mit Augenmaß und punktgenau. Das mag ein bisschen trocken wirken, erfüllt aber den Zweck höchster Präzision im Orchester. Und die Leidenschaft, das Aufgehen in Klangmagie, kommt nicht zu kurz.

Der Mann am Pult also, er gebietet Respekt, und ist doch nicht unnahbar. Ein paar Worte ans Publikum gelten Messiaens „Chronochomie“, Anfang der 1960er Jahre entstanden, spröde anmutende Musik, dennoch voller Reichtum, in Form stilisierter Vogelstimmen und Naturgeräuschen. Der Komponist habe das Werk einen sonnendurchfluteten Protest gegen die Zwölftöner genannt, sagt Welser-Möst mit der Empfehlung, sich diesem Licht entspannt hinzugeben.

Dann beginnt das große tönende Leuchten, sehr hell, bisweilen gleißend, weil Messiaen als bekennender Katholik stets die Himmelsmächte beschwor. Ein Leuchten, nur hier und da mit dunklen Farbtupfern grundiert (Gong, Kontrabässe), vom Cleveland Orchestra licht und rein und glasklar dahingezaubert, innerhalb der markant gezeichneten Strukturen wirkmächtig vor uns ausgebreitet. Und so fremd das Werk anmutet, mit all seinen Exotismen, Verschlingungen und Spreizklängen, so stark ist seine Zugkraft.

Foto: Petra Coddington

Höchste Konzentration und stilistische Eleganz zeichnen den Dirigenten aus. Foto: Petra Coddington

Gegen die „Alpensinfonie“ muss es freilich ins Hintertreffen gelangen, weil Strauss’ Musik eben einem klaren Programm folgt und sich dabei derart illustrativ gibt, dass Sonnenaufgang, Jagdszene, das Gleißen des Wasserfalls, Vogelgezwitscher und Gewitter für jeden offen erkennbar ist. Als liefe vor uns ein imaginärer Film ab. Doch wer sich so erwartungsvoll in den Kinosessel fallen lässt, hat die Rechnung ohne die Wirte auf dem Podium gemacht. Und ist am Ende vielleicht sogar ein wenig enttäuscht.

Denn Welser-Möst dirigiert diesen spätromantischen Brocken aus dem Geist der zuvor erklungenen Moderne. Setzt auf Strukturen statt auf alpine Folklore, kitzelt noch die kleinste Nebenstimme im großorchestralen Getümmel heraus. Sodass sich etwa im Donnerwüten eine auf- und absteigende Klarinettenfigur hervortut, als würde der Wind ein Blatt zuerst nach oben, dann abrupt zu Boden schleudern. Der Dirigent lässt zudem zügig musizieren, was einigen Spannungsbögen die Kraft kostet. Dafür wird erkennbar, dass dieses Werk im Umfeld der so neu tönenden „Elektra“ entstanden ist.

Das Cleveland Orchestra musiziert dabei so, wie man es von einem der „Big Five“ eben erwartet. Technisch höchst präzise – die Trompeten etwa geben sich selbst in höchsten Höhen keine Blöße –, im Klangbild äußerst transparent, dabei ziemlich aufgehellt. Und wenn der Österreicher Welser-Möst den Amerikanern schwungvoll satten Streicherfluss abverlangt, fehlt eben jene Wärme, die er von den Wiener Philharmonikern sofort bekommen würde. Die Differenz zwischen europäischen und US-Orchestern ist in mancher Hinsicht evident, unbelastet von Klischees.

Im Konzerthaus zählt indes am Ende nur, dass das Publikum heftigst applaudiert für ein aufregendes Konzert. Überraschung hier, Enttäuschung dort nicht ausgeschlossen. Und mancher hat vielleicht sogar Unvermutetes für sich entdeckt – Messiaen und Strauss noch im Gehör.

 




Plötzlich Chef – Dirigent Kirill Petrenko wird neuer Leiter der Berliner Philharmoniker

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Kirill Petrenko wird der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Foto: Wilfried Hoesl

Geht doch! Da haben sich die Berliner Philharmoniker still und heimlich noch einmal zusammengesetzt, angeblich nur gute zwei Stündchen beraten, und zack, einen neuen Chefdirigenten aus dem Hut gezaubert. Kirill Petrenko heißt der Glückliche, gleichermaßen Publikumsliebling in München (Staatsoper) und bei den Bayreuther Festspielen. Die Überraschung daran ist, dass sich das deutsche Vorzeigeorchester plötzlich, nach der schweren Nichtgeburt im Mai, so zügig auf ihn einigen konnte, „mit großer Mehrheit“.

Petrenko wurde 1972 im russischen Omsk geboren. In Vorarlberg, dann Wien studierte er, dort auch begann er seine Dirigentenkarriere, an der Volksoper. Das war 1997, zwei Jahre später schaffte er den Sprung als Chefdirigent ans Meininger Theater. Dort brachte er, unter Intendanz und Regie von Christine Mielitz (2002 bis 2010 Chefin der Dortmunder Oper), Richard Wagners „Ring“ heraus. Gespielt wurde das Mammutwerk an vier Abenden hintereinander – ein echter Coup.

Für Petrenko war’s der Beginn eines steilen Aufstiegs, der ihn 2002 an die Komische Oper Berlin und 2013, nach mehrjähriger freier Tätigkeit, an die Münchner Staatsoper führte. Dort läuft sein Vertrag 2018 aus, dann verlässt auch Simon Rattle die Berliner Philharmoniker. Gleichwohl muss über die Einzelheiten von Petrenkos Amtszeit an der Spree noch beraten werden. Und aus München kam prompt das Signal, man werde dem Maestro eine Verlängerung anbieten. Im Zweifel heißt das also: Der Dirigent wird wechselnd auf zwei Hochzeiten tanzen.

Zuzutrauen ist es ihm allemal. Petrenko gilt als ruhiger, konzentrierter Arbeiter, der noch an kleinsten Ausdrucksnuancen feilt, als Analytiker, aber auch als Vollblutmusiker mit Bauchgefühl. Was er in die Hand nimmt, vergoldet sich oft zu berauschendstem Klang, bleibt aber stets durchhörbar. Petrenkos Münchner Dirigate gelten als Ereignisse und seine Deutung des „Ring“ in Bayreuth hat vor allem deshalb höchstes Lob erhalten, weil er dem Orchester allerfeinste kammermusikalische Klarheit entlocken konnte. Ähnliches war übrigens bereits 2011 während der Triennale staunend zu erfahren: Petrenko interpretierte mit den Duisburger Philharmonikern Wagners „Tristan“. Ein Jahr später wiederum gestaltete er im Konzerthaus Dortmund mit der Staatskapelle Dresden eine wunderbare Rachmaninow-Zeitinsel.

Alles in Butter, so scheint’s, und die versammelte Weltpresse jubiliert. Seltsam nur, dass die Kundigen vor dem ersten Wahlversuch im Mai zuerst mit den Namen Christian Thielemann und Andris Nelsons jonglierten, Petrenko indes irgendwie aus dem Blickfeld geriet. Merkwürdig auch, dass die Berliner Philharmoniker zunächst peinlich patzten, dann aber jemanden wie Phönix aus der Asche emporzaubern. Doch offenbar ist es nun für niemanden mehr ein Problem, dass zunächst kein Kandidat, also auch Petrenko, mehr als 50 Prozent der Stimmen für sich verbuchen konnte. Die Frage, wie groß die Mehrheit diesmal war, bleibt ohne Antwort. Nun ja: Orchester sind vor allem eins, ein Sammelbecken lauter Diven.

Dennoch: Er würde es am liebsten umarmen, hat Petrenko nach seiner Wahl spontan verkündet, aber auch, dass seine Gefühlslage zwischen Euphorie, Ehrfurcht, ja Zweifel schwanke. Kein Wunder bei einem Chefposten, der mit Namen wie Furtwängler, Karajan oder Abbado behaftet ist. Hinzu kommt, dass Petrenko in erster Linie ein Mann der Oper ist. Interessant werden dürfte darüberhinaus, wie sich der medienscheue, schweigsame Maestro zu einem Orchester stellt, das die Öffentlichkeit im Internet oder mit Education-Projekten offensiv sucht. Und wie hält er’s mit der Moderne? Wir sind gespannt.




Fieberfrei in Dortmund: Skrjabin mit Joseph Moog und den Bochumer Symphonikern

Der Pianist Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Der Pianist Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Vor zehn Jahren, da war er gerade mal 17 Jahre alt, spielte Joseph Moog in einem Konzert Franz Liszts „Totentanz“ – und seine Zurückhaltung bekam Liszts abundanten Klangfantasien außerordentlich gut. Vor zwei Jahren debütierte er in Moers beim Klavier-Festival Ruhr – und überzeugte mit klug ausbalancierten Klavier-Versionen von Opernschlagern Verdis und Wagners. Nun kehrt Moog zum Tastenfeste zurück, stürzt sich im Konzerthaus Dortmund in Alexander Skrjabins mystisch-fantastisch-rauschhafte Musikwelten. Und lässt diesmal spüren, dass er an Grenzen stößt. Nicht an pianistische, aber an musikalische.

Sein Zugang zur Skrjabins fis-Moll-Klavierkonzert op. 20 ist zunächst durchaus logisch. Moog macht aus Skrjabins vermeintlich formvergessen schweifender, selbstversponnener Kunstmystik keine esoterische Meditation. Er formt seine Soli klar durch, gibt ihnen kühle Fasslichkeit, vernebelt nichts in dampfendem Klang. Auch im Andante-Satz träumt er nicht vor sich hin.

Moog vergisst nicht, dass Skrjabin einen Variationensatz und keine Fantasie konzipiert hat. In fein poliertem Porzellanton modelliert er die melodischen Motive, lyrisch gelöst reiht er Figurationen und absichtslos wirkendes Spielwerk. In der unterschiedlichen Gewichtung der Phrasen, in der Differenzierung des Anschlags macht er die Struktur des Satzes deutlich. Und die Bochumer Symphoniker lassen es unter ihrem Chef Steven Sloane nicht an Piano-Delikatesse, an lichten Streicherlinien, an einer aparten Klarinette fehlen.

Was zum glückhaften Gelingen fehlt, ist bei einem so bewussten und ästhetisch präsenten Pianisten wie Joseph Moog nicht einfach zu beschreiben. Vielleicht geht er zu ernst mit den emotionalen Schichten in Skrjabins Musik um. Vielleicht geht er in den Noten auf statt über den Noten zu fliegen. Vielleicht äußert sich eine Befangenheit, die den spontanen und durchaus einmal riskanten Zugriff hemmt.

Das dynamisch variable Spiel mit dem Orchester gelingt nicht durchgängig. Wo sich der Klavierpart mal wie eine zusätzliche Farbe in den Klang integriert, sind die Symphoniker zu dominant; wo er mal selbstbewusst und klangfroh aufleuchten soll, bleibt Moog zu diskret; wo das Piano in kostbar stillen Tönen singen sollte, lässt er die metrischen Fesseln nicht fahren.

Auch das Poème „Vers la flamme“, eines der letzten Werke Skrjabins aus dem Jahr 1914, hat zwar die Steigerungsdynamik, nicht aber das raffinierte Flair. Moog beginnt mit dem schattigen Pianissimo und intensiviert es bis zum „Forte crescendo“. Aber sein Ton bleibt kalt, das „éclatant, lumineux“ hat statt der Hitze einer Flamme die fröstelnde Grelle einer Leuchtstofflampe. Moog fast dieses Werk in den Ton der Moderne: nicht strahlend, sondern gleißend.

Das Farbenspiel, die züngelnden Nuancen einer Flamme liefern die Bochumer Symphoniker. Sloane exhibitioniert Skrjabins frei dem Rausch und dem erotisch geladenen Klang huldigende Werk von 1908 nicht; er lässt die Musik nicht schwitzen, den Klang nicht dampfen. Sondern er betont die Nähe zu den französischen Impressionisten und zu Claude Debussy. Der Duft der flirrenden Streicher, das feine Parfüm der Harfen, die sehnsuchtsvoll verklingenden Flöten: das ist eher die Ahnung „ekstatischer“ Ausbrüche als ihre klangprächtige Vergegenwärtigung. So hält Sloane die allzu direkte und schnell banal wirkende Effekt-Dramaturgie zurück. Und die Finesse ist bei den präsent und farbenfroh agierenden Philharmonikern in guten Händen. Nur in den finalen Entladungen trägt das Konzept nicht ganz: Lautstärke ist nicht Intensität, die entsteht durch Hingabe und Risiko – und da waren die Bochumer noch zu fest auf der Erde verankert.

Dass Sloanes zurückhaltender, ins Lyrische neigender Ansatz seine Probleme hat, wurde im „Tristan“-Vorspiel zu Beginn des Konzertes deutlich. Vermutlich wollte der Dirigent die Bezüge demonstrieren, die zwischen der vor 150 Jahren uraufgeführten Oper Wagners – einem Meilenstein in der historischen Entwicklung der europäischen Musik – und ihrem Echo im Werk des vor 100 Jahren gestorbenen russischen Komponisten feststellbar sind. Entsprechend legte er Wagners Musik nicht im Sinne des Drängens und Sehrens aus, das die wellenförmige Dynamik ihrer Entwicklung hin zur Ekstase der sich lösenden harmonischen Spannung bestimmt. Sondern er leuchtet die Statik der Klänge aus, lässt sie fast lyrisch verharren, nimmt ihr die innere Unruhe. Auch den „Tristan“ prägt das milde Licht Debussys statt der Fieberschübe Wagners.




Heldentenor auf Operettenkurs: Jonas Kaufmanns Debüt im Konzerthaus Dortmund

Jonas_Kaufmann. Foto: GregorHohenberg/SonyClassical

Jonas Kaufmann. Foto: GregorHohenberg/SonyClassical

Es ist sein Debüt. Doch Jonas Kaufmann kommt nicht als strahlender Wagner-Held oder schmachtender Verdi-Tenor. Vielmehr bedient er hier, im Dortmunder Konzerthaus, das Fach der Nostalgie. Mit Arien des oft totgesagten Genres Operette und mit Filmschlagern der Jahre 1905 bis 1934, allesamt bekannte Evergreens und deshalb so recht nach dem Geschmack des Publikums im prallvollen Saal.

Kaufmann braucht keine Aufwärmphase. „Freunde, das Leben ist lebenswert“ schmettert er uns gleich zu Beginn entgegen, als gelte es, nicht Lehár, sondern Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ zu interpretieren. Die kraftvollen Höhen seiner Stimme, die er gewissermaßen aus der Hüfte feuert, leuchten in allem Glanz. Das überrascht umso mehr, weil der Sänger doch ein ausgesprochen baritonal gefärbtes Timbre hat.

Doch für Kaufmann ist das kein Problem. Ohne Ansatz singt er die tenoralen Höhepunkte heraus. Andererseits weiß der Sänger die dunklen Farben weidlich für sich zu nutzen, sei es markant, etwa in Richard Taubers „Du bist die Welt für mich“, oder als balsamische Grundierung, wie in Lehárs „Gern hab ich die Frau’n geküsst“. Dass er hin und wieder kleine Schluchzer einbaut, ist eine verzeihliche Manier.

Gleichwohl bleiben Fragen. Die nach der dynamischen Balance etwa, weil das Münchner Rundfunkorchester und Dirigent Jochen Rieder es nicht nur bei Ouvertüren und Zwischenspielen ordentlich krachen lassen, sondern auch den Sänger gern zudecken. Kaufmanns schönstes Legato und gewissenhafteste Diktion garantieren deshalb nur bedingt Textverständlichkeit.

Daraus aber ergibt sich die Frage nach der  Authentizität. Denn oft fehlt diesen Operettenschmankerln Leichtigkeit, Charme, Esprit. Und wenn Kaufmann die in vielen Stücken geforderten, halblauten Höhen ausmalt, wirkt die Stimme bisweilen angeraut. Ein Heldentenor, der sich offenbar nicht ganz wohlfühlt im neu gewählten Genre.

Plötzlich aber geschieht Außerordentliches: Die Ouvertüre zu Lehárs „Land des Lächelns“ leuchtet beim Spiel des Münchner Orchesters in schönsten Farben, die Dynamik ist ausgewogen, der Klang transparent. Und wenn dann Jonas Kaufmann „Dein ist mein ganzes Herz“ zelebriert und eben mit allem Herzblut beschwörend heraussingt, ist das Publikum ganz aus dem Häuschen. Und die Operette – ja, sie lebt.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst in der WAZ erschienen.)




Von musikalischer Zerstörung: Die Dortmunder Philharmoniker deuten Mahlers 6. Symphonie

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Mahler-Karikatur aus der Wochenschrift „Die Muskete“ (1907): „Herrgott, dass ich die Hupe vergessen habe! Jetzt muss ich noch eine Sinfonie schreiben.“

„Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufzubauen“. So hat Gustav Mahler 1895 sein Credo formuliert, glaubt man den Erinnerungen seiner Freundin, der Geigerin und Bratschistin Natalie Bauer-Lechner.

Es war das Jahr, in dem des Komponisten 2. Symphonie in Berlin uraufgeführt wurde, unter seiner Leitung. Und in der Tat, er hat seine Mittel weidlich ausgenutzt: den liedhaften Tonfall, räumliche Klangwirkungen durch  Fernorchester und Echos, Naturlaute, extreme dynamische Spannweite, skurrile Wendungen.

In den Augen mancher war Mahler bereits mit seiner 1. ein fertiger Komponist. Er selbst indes sah sich eher als Suchender, der seine Werke noch während der Proben zur Uraufführung und darüber hinaus korrigierte, sei es bei der Orchestrierung oder der Satzfolge. Kunst war für ihn also einerseits Handwerk, zum anderen Trägerin metaphysischer Bedeutung. Keinesfalls aber sah er sich in der Nachfolge der Programmusiker namens Franz Liszt oder Richard Strauss.

Mahler nahm also sein Material und entwickelte es stetig fort. Die Welt, die er dabei vor Augen hatte, mochte bisweilen schön sein, doch Schönheit ist bekanntermaßen vergänglich. Für den Komponisten hieß dies, Abgründe freizulegen, Illusionen zu entlarven, Tod und Leben nebeneinander zu stellen. Dies hat er wohl nirgends so konsequent komponiert wie in der 6. Symphonie. Mehr noch: Mahler zeigt nicht nur eine schreckliche, von unerbittlichen Marschrhythmen beherrschte Welt, aus der es nur kleine Fluchten in die pastorale Idylle gibt, sondern er dekonstruiert die Musik gewissermaßen selbst. Was kernig beginnt, endet in Stammelei. Harte Paukenrhythmen und zuletzt wuchtige Hammerschläge hauen alles in Stücke. Dem Hörer, der sich diesen 90 Minuten hingibt, ja sie durchsteht, bleibt blankes Entsetzen – und Schweigen.

Gabriel Feltz 


Gabriel Feltz, Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Thomas Jauk

Nun haben die Dortmunder Philharmoniker, verstärkt durch Studierende des Orchesterzentrums NRW, sich dieses gewaltigen symphonischen Brockens angenommen. Chefdirigent Gabriel Feltz steht im Konzerthaus am Pult, führt diese Klangkörpermasse mit den allseits bekannten Fingerzeigen durch die hochpolyphone Partitur, auf dass jeder Einsatz sitzt und sich Gehör verschafft. Das sieht nach gutem Überblick aus, doch mitunter ist Feltz’ Körpersprache derart exponiert, als ringe er selbst mit der Materie.

Und das Orchester, das nicht unbedingt auf eine Mahlertradition zurückblicken kann, wie sie etwa die Bochumer Symphoniker seit zwei Jahrzehnten kontinuierlich pflegen, macht seine Sache in vielerlei Hinsicht außerordentlich gut. Koordinations- und Intonationsprobleme halten sich in engen Grenzen. Die Durchhörbarkeit ist überwiegend gewährleistet. Die Emotionalität ist hoch, wie die Wirkmacht dieser Musik.

Und doch: Feltz dirigiert das Werk stark aus dem Geist der Romantik. Weder gelingt ihm die rhythmische Unerbittlichkeit der Marschbewegungen, mit denen Mahler bereits die Maschinenmusik streift, noch klingen die Hammerschläge, um ein Detail zu benennen, wie krass naturalistische Axthiebe. Diese Welt, die zusammenfällt, soll wenigstens eine halbwegs schöne gewesen sein. Doch diese Schönheit, wie sie sich etwa im Einschub der Herdenglocken-Idylle innerhalb des ersten Satzes offenbart, ist eine allzu greifbare. Mahlers Vorstellung jedenfalls, dass diese Laute wie der letzte Ausdruck menschlicher Zivilisation sich in der Natur verlieren, ist kaum erfüllt.

Anderes gelingt famos. Der schlichte, liedhafte Beginn des langsamen Satzes ist betörend, die Fernorchesterwirkungen des Finales klingen schon immateriell, die Präsenz besonders der Holzbläser wie der Trompeten ist beachtlich, das Schlagwerk gewinnt im Finale an schauriger Präsenz. Nur schade, dass Feltz im mitunter größten Wüten der Welt das Tempo rausnimmt. Das erzeugt kaum zusätzliche Spannung, ist eher ärgerlich.

Insgesamt aber schlägt sich das Orchester tapfer. Und schafft eine überzeugende Grundlage für eine hoffentlich regelmäßige Beschäftigung mit dem Phänomen Mahler und seiner Welt.




4. Staffel der „Jungen Wilden“: Konzerthaus Dortmund will neue Klassikwege gehen

PIC PHIL TRAGEN

„Junge Wilde“ mit Akkordeon: Ksenija Sidorova. Foto: Phil Tragen

Die Musik klingt dramatisch, und das verwundert kaum, wenn im Film dazu ein Klarinettist samt Instrument von reißendem Wasser bedrängt wird, wenn ein Sänger einen meterhohen Urwaldbaum erklimmen will, oder eine Akkordeonistin, inklusive Stirnlampe, sich in kalter Höhle wiederfindet. „Klassik geht neue Wege“ ist dieses Kurzvideo überschrieben, die neueste Produktion des Konzerthauses Dortmund, ein Werbetrailer für die nunmehr vierte Staffel der „Jungen Wilden“.

Das Format, 2006 von Intendant Benedikt Stampa ins Leben gerufen, zunächst vom Publikum kritisch beäugt, alsbald aber zu Zuschauers Liebling gereift (450 Abos, etwa 1000 Besucher pro Konzert), bietet eben jungen Solisten ein Podium, die am Beginn einer internationalen Karriere stehen. Das Kriterium des Wilden darf sich dabei gern in mehrfacher Form ausdrücken. Sei es, dass eine Geigerin besonders emotional zur Sache geht, dass ein Pianist seltenes Repertoire pflegt, oder dass überhaupt jemand mit einem, im (kammermusikalischen) Konzertbetrieb eher ungewöhnlichen Instrument auftaucht.

Wie etwa die Lettin Ksenija Sidorova, die sich eben dem Akkordeonspiel verschrieben hat. Sie und ihre sechs Mitstreiter geben sich ab nächster Spielzeit für drei Jahre regelmäßig die Ehre, musizieren, gehen in Dortmunder Schulen und sind bereit für Publikumsgespräche. Die Programmgestaltung ist ihnen weitgehend freigestellt, es muss nicht ausschließlich „Klassik“ sein. Gerade das Akkordeon dürfte für Ausflüge in fremde musikalische Gefilde prädestiniert sein.

Der Klarinettist Andreas Ottensamer (Foto: © Anatol Kotte/Mercury Classics/DG)

Der Klarinettist Andreas Ottensamer (Foto: © Anatol Kotte/Mercury Classics/DG)

Sidorova ist, zumindest in unseren Breiten, ein eher unbekanntes Gesicht. Andere stehen deutlich intensiver im Fokus des Interesses, das gilt etwa für den österreichischen Klarinettisten Andreas Ottensamer, Stimmführer bei den Berliner Philharmonikern, oder für den britischen Pianisten Benjamin Grosvenor, der als jüngster Solist überhaupt 2011 bei den „BBC Proms“ auftrat. Zu ihnen gesellt sich der Usbeke Behzod Abduraimov, dessen „Wildheit“ in Dortmund bereits zu bestaunen war. Während der Prokofjew-Zeitinsel interpretierte der Pianist des Komponisten 3. Klavierkonzert.

Im Fach Violine wiederum stellt sich Nicola Benedetti vor, eine Schottin mit italienischem Namen. Sie will der Musik ihrer Heimat ebenso die Ehre erweisen wie der Bariton Andrè Schuen sich auf seine Wurzeln besinnen will, die in Südtirol liegen. Die Geigerin pflegt zudem die Barockmusik. Jüngster im Bunde der neuen „Jungen Wilden“ ist der 21jährige Cellist Edgar Moreau, geboren in Paris, bereits mehrfach ausgezeichnet, so 2011 beim renommierten Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb.

Das erste Konzert der Reihe gestaltet der Pianist Behzod Abduraimov am 18. September 2015, mit Werken von Schubert, Liszt und Mussorgsky. Abos für das Gesamtformat sind ab sofort erhältlich, Einzelkarten werden vom 15. Juni an verkauft. Der kurze Trailer ist unter https://www.youtube.com/watch?v=66nmqM-WHUs zu sehen.

Weitere Infos unter: www.konzerthaus-dortmund.de

 

 

 




Wanderers Seelennot: Franz Schuberts „Winterreise“ im Konzerthaus Dortmund

Christian Gerhaher hat im Duo mit Gerold Huber Maßstäbe in der Liedinterpretation gesetzt (Foto: Jim Rakete)

Christian Gerhaher hat im Duo mit Gerold Huber Maßstäbe in der Liedinterpretation gesetzt (Foto: Jim Rakete)

Mitten in der Nacht stapft er los. Hinaus in den Schnee, durch die schlafende Stadt, weit übers Land, unbemerkt und ohne Ziel. Der einsame Wanderer hat keinen Namen, aber alle Freunde der Musik von Franz Schubert kennen ihn aus zahllosen Liedern.

In ihnen ist der rast- und heimatlose Geselle der Hauptdarsteller: ein ewig Unbehauster, der dem Glück vergeblich nachläuft. Schon einmal ist es ihm entwischt, in dem Zyklus „Die schöne Müllerin“, in dem die Geliebte seine Hoffnungen betrog. Nunmehr ist es Winter, die Liebe quälende Erinnerung, und der Bach, der am Müllerhaus noch munter rauschte, zu Eis gefroren.

Alles, auch die Hoffnung, lässt Schuberts Wanderer bei diesem Aufbruch ins Ungewisse zurück. Wir aber dürfen mit ihm gehen, ihn ein Stück begleiten auf der „Winterreise“, die von Vereinsamung und Depression erzählt, von zunehmender Entfremdung und seelischer Erstarrung.

Wie jedes große Meisterwerk, spiegelt jedoch auch dieses nicht nur die düstere Seite des Lebens. Das haben im Konzerthaus Dortmund zwei überragende Künstler gezeigt: Der Bariton Christian Gerhaher, dessen stupende Stimmkunst die Juroren vom „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“ erstmals dazu bewog, einen Sänger mit dem Ehrenpreis der „Nachtigall“ auszuzeichnen, und sein langjähriger Klavierpartner Gerold Huber, mit dem er bereits seit Schülertagen ein festes Duo bildet.

Dieser Gerold Huber also tupft ein paar Akkorde in den Konzertflügel. Er macht äußerlich scheinbar nichts und erschafft doch eine ganze Welt. Wir hören die Schritte des Wanderers im Schnee, schwer und gedämpft. Zahllos sind die Schichten der Melancholie und die Farben der Resignation, die er und Christian Gerhaher im Folgenden vor uns ausbreiten. Es sind die köstlichsten Grautöne, mal bleiern monochrom, mal gespenstisch fahl, mal inwendig leuchtend, als schiene trotz aller Tristesse ein Licht irgendwo hinter den Wolken.

Gerold Huber zählt zu den gefragtesten Liedpianisten unserer Zeit (Foto: Albert Lindmeier)

Gerold Huber zählt zu den gefragtesten Liedpianisten unserer Zeit (Foto: Albert Lindmeier)

Immer kostbarer klingt das im Laufe dieser Reise, zugleich immer weltentrückter und todessehnsüchtiger. Christian Gerhahers lyrischer Bariton kann bei größter Textverständlichkeit schmeicheln, als sänken weiche Flocken in den Schnee. Seine warm timbrierte Stimme klingt in der Mittellage wunderbar samtig, erreicht in der Tiefe die Schwärze eines veritablen Basses und glänzt in der Höhe beinahe knabenhaft hell.

Wo des Wanderers Seelennot an die Oberfläche dringt, schafft das Duo Gerhaher/Huber einen machtvollen Gegensatz zur erstarrten Natur. Da siedet plötzlich heißer Schmerz hervor, da beginnen Begleitfiguren im Klavierpart zu brodeln, da fährt Gerhaher sein vokales Volumen eindrucksvoll aus. Seine Stimme bebt dabei wie von mühsam verhaltenem Zorn. Sie klagt eine fühllose Welt an, der unsere Nöte und Ängste gleichgültig sind.

Das Glück erscheint in diesen 24 Liedern nur als Erinnerung oder Traumvision. Aber Gerhaher und Huber widmen sich ihm mit gleicher, kompromissloser Hingabe. Es klingt nach Idylle, wenn sie die Eisblumen im „Frühlingstraum“ zärtlich nachzeichnen und das Posthorn wie aus einer fröhlicheren Zeit herüber klingt. Von Ferne erinnert dieser Ton noch an die Welt der „Schönen Müllerin“.

Aber die Träume zerfließen, und der Wanderer findet sich in einer unbarmherzigen Wirklichkeit wieder. Er passiert einen letzten Wegweiser, gelangt auf einen Totenacker, versucht sich noch ein letztes Mal Mut zuzusprechen. Gerhaher und Huber tragen das mit einem Trotz vor, der innerlich ausgehöhlt wirkt. Bald schon sieht der Wanderer drei Sonnen am Himmel stehen. In ihrem unwirklichen Licht lässt Gerhaher seine Stimme vollends erblassen. Den „Leiermann“, Symbol der Ausweglosigkeit, singt er so unbeteiligt, als sei jedes Gefühl in ihm erstorben. Gerold Huber lässt dazu eine kleine, ewig wiederkehrende Begleitfigur gespenstisch im Leerlauf drehen. Sie wird leiser, verliert sich, und wir wissen, dass danach nichts mehr kommen kann, dass nur der Tod noch steht und wartet, wartet.

Man möchte schweigen danach, hineinlauschen in die bestürzende Stille. Aber das Publikum gönnt der Musik kein Verklingen, sondern klatscht hemmungslos in den letzten verlöschenden Ton hinein. Derlei Applaus-Inkontinenz ist bei Konzerten zwar häufiger zu erleben. An diesem Abend aber wirkt das so instinktlos-brutal, als habe jemand an einem offenen Grab einen Herrenwitz gerissen.




Subversive Untertöne: Sergej Prokofjews „Die Verlobung im Kloster“ in Dortmund

Valery Gergiev ist künstlerischer Leiter und Intendant des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg (Foto: Alexander Shapunov/Konzerthaus Dortmund)

Valery Gergiev ist künstlerischer Leiter und Intendant des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg (Foto: Alexander Shapunov/Konzerthaus Dortmund)

1936 löste Sergej Prokofjew seine Wohnung in Paris auf. Just in den finsteren Jahren des stalinistischen Terrors zog er mit seiner Frau und zwei Söhnen endgültig nach Moskau zurück. Es war nicht nur Heimweh, das ihn zu diesem folgenreichen Schritt bewog.

Nachdem er im Westen darunter gelitten hatte, vor reichen Gönnern, Agenten, Verlegern und Orchesterchefs katzbuckeln zu müssen, verführte ihn Stalins Propaganda vom „Kulturarbeiter an der künstlerischen Front“, vom Künstler „als führendes Mitglied der neuen Sowjetgesellschaft.“

Die Vorteile waren zunächst erheblich. Prokofjew erhielt jährlich garantierte Aufträge, Vorschüsse, eine kostenfreie Wohnung, Studienreisen, kostenlose Schule für die Kinder, freie Krankenversicherung und Sonderprämien. Er feierte große Erfolge, aber die bittere Rechnung blieb nicht aus. In der berüchtigten „Formalismusdebatte“ ritten Kulturfunktionäre scharfe Attacken gegen sein Schaffen. Stalins immerzu schwankende Richtlinien von der wahren Sowjetkunst führten unter Künstlern und Intellektuellen zu einem Klima ständiger Angst.

Auch Prokofjews lyrisch-komische Oper „Die Verlobung im Kloster“, nur ein Jahr vor Hitlers Überfall auf Russland vollendet, wurde als „typische Erscheinung des Formalismus“ gegeißelt und erhielt Aufführungsverbot. Dabei hatte der Komponist für diese sechste seiner insgesamt acht Opern einen heiteren, volkstümlichen Stoff gewählt.

Der Vierakter handelt von Liebeswirren im Sevilla des 18. Jahrhunderts. Zwei junge Paare finden erst nach erheblichen Turbulenzen zueinander, ganz wie im „tollen Tag“ von Mozarts „Le Nozze di Figaro“. Das ist kein Zufall, denn der irische Dramatiker Richard Brinsley Sheridan, der das Theaterstück „La Dueña“ und somit die Vorlage schrieb, war ein Zeitgenosse des französischen Schriftstellers Pierre Augustin Beaumarchais – und damit auch von Mozart.

Als Rarität bereicherte „Die Verlobung im Kloster“ die aktuelle Prokofjew-Zeitinsel im Konzerthaus Dortmund. Die buffoneske Heiterkeit des rund dreistündigen Werks entpuppt sich dabei als keineswegs harmlos. Vielmehr würzte Prokofjew die Partitur mit unterschwelliger Ironie. Sein Gespür für das Lächerliche treibt dabei Blüten, die eine feine Perfidie verströmen.

Auf solch subversive Untertöne verstehen sich Chor, Orchester und Sänger des Mariisnky-Theaters St. Petersburg offenbar blendend. Kraftvolle Motoren des turbulenten Spiels sind Evgeny Akimov (Don Jeronimo) und der kurzfristig eingesprungene Sergei Aleksashkin (Mendoza): ein auf geldwerten Vorteil bedachter Vater der eine, ein ungehobelter, aber reicher Fischhändler der andere. Wie diese beiden miteinander um Don Jeronimos Tochter Luisa schachern, wie sie wüten und sich winden, ist ein köstliches und stimmstarkes Schauspiel. Mendoza, der vermeintlich Bauernschlaue, entpuppt sich dabei als Trottel, weil er sich hereinlegen und mit der alten Hauswirtin abspeisen lässt (spanisch: Dueña). Und Don Jeronimo, der unbedingt den lukrativen Kuhhandel um seine Tochter über die Bühne bringen will, ist einer jener Choleriker, deren Zorn leicht ins Lächerliche verrutscht.

Die Komik gipfelt in einer zirkusreifen Hausmusik-Szene, in der ein Trio aus Klarinette, Trompete und Basstrommel quietschfidel vor sich hin dilettiert, vom Hausherrn aber dauernd unterbrochen wird. Der findet es schließlich angesagt, die Leitung des Trios selbst zu übernehmen. Evgeny Akimov (alias Don Jeronimo) nutzt die Gelegenheit, um Chefdirigent Valery Gergiev zu imitieren: die flatternden Handbewegungen und der auf Zahnstocher-Format geschrumpfte Taktstock haben köstlichen Wiedererkennungswert. Die nächste böse Parodie lässt nicht lange auf sich warten. Im Kloster findet ein allgemeines Besäufnis statt, begleitet von scheinheiligen Chorälen. Die Mönche, die da Wein trinken und lärmen, predigen mit größter Strenge Wasser, sobald der heiratswillige Besuch eintrifft.

Das Orchester des Mariinksy-Theaters ist bei diesen komischen Eskapaden weit engagierter bei der Sache als am ersten Abend der Prokofjew-Zeitinsel. Es nimmt seinen Hang zum knalligen Forte zurück, um den Sängern den Vortritt zu lassen, Ironisches fein zu untermalen und mancher Farce die rechte Farbe zu geben. So löst sich für Prokofjews Figuren und für die Dortmunder Zuhörer alles in Wohlgefallen auf.

 (Die nächste „Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund gilt dem schwedischen Jazzposaunisten und Sänger Nils Landgren. Informationen: http://www.konzerthaus-dortmund.de/abonnements_details.html?id=253&saison=201415)




Auf den Spuren eines Modernisten: Prokofjew-Zeitinsel im Konzerthaus Dortmund

Valery Gergiev (l.) und der Pianist Behzod Abduraimov (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Valery Gergiev (l.), der Pianist Behzod Abduraimov und das Orchester des St. Petersburger Mariinsky-Theaters (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Nicht einmal Blumen gab es für seinen Sarg. Alle Floristen und Gewächshäuser in Moskau waren leer gekauft am 5. März 1953, als der Komponist Sergej Prokofjew starb: am gleichen Tag wie der Despot Josef Stalin, dessen Schatten er selbst im Tode nicht entkam.

Die sowjetischen Zeitungen nahmen vom Ableben des Komponisten keine Notiz. Es war die New York Times, die am 9. März zuerst darüber berichtete. Prokofjews erste Frau Lina Codina, zu diesem Zeitpunkt in einem sibirischen Lager inhaftiert, erfuhr die traurige Nachricht erst im Sommer.

Der da fast unbemerkt verschied, war weit mehr als der Schöpfer des weltweit beliebten musikalischen Märchens „Peter und der Wolf“. Er war ein Neuerer, der sich in der Rolle des skandalträchtigen Modernisten wohl fühlte, der die russische Romantik à la Rachmaninow, Skrjabin und Tschaikowsky mit genialischem Schwung vom Tisch fegte. An Politik im Grunde wenig interessiert, richtete er sich nach seiner Rückkehr aus dem Ausland gleichwohl in der Rolle des Staatskünstlers und Stalin-Preisträgers ein. Vor den Angriffen bornierter Kulturfunktionäre und Verfolgungen des Regimes schützte ihn das aber nicht.

Das Konzerthaus Dortmund beleuchtet Prokofjews Schaffen jetzt im Rahmen einer dreitägigen „Zeitinsel“, gestaltet von dem Dirigenten Valery Gergiev und dem Orchester des St. Petersburger Mariinsky-Theaters. Viel Interessantes gibt es dabei zu entdecken, so zum Beispiel die nur wenigen Musikfreunden bekannte komische Oper „Die Verlobung im Kloster“, die Dmitri Schostakowitsch einst mit Verdis „Falstaff“ verglich. Die Musik zu Sergej Eisensteins Monumentalfilm „Iwan der Schreckliche“ ist am dritten und letzten Abend in der Oratorienfassung von Abram Stassewitsch zu erleben. Ihr gehen Auszüge aus der Ballettmusik zu „Cinderella“ voraus.

Denis Kozhukhin, geboren 1986 in Nishni Nowgorod, ist Sohn einer Musikerfamilie (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Denis Kozhukhin, geboren 1986 in Nishni Nowgorod, ist Sohn einer Musikerfamilie (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Gewiss ist es eine sinnvolle Idee, die Prokofjew-Zeitinsel mit einer Gesamtaufführung der fünf Klavierkonzerte zu beginnen, vermitteln sie doch einen Eindruck von der Experimentierfreude des Komponisten sowie von seinen überragenden pianistischen Fähigkeiten. Valery Gergiev, der diesen Prokofjew-Marathon zuvor bereits in St. Petersburg realisierte, brachte vier Pianisten nach Dortmund mit, die dem Mariinksy-Theater besonders verbunden sind: Alexej Volodin, Denis Kozhukhin, Behzod Abduraimov und Sergei Babayan.

Der Maestro selbst ließ indes auf sich warten. Erst um 19.10 Uhr traf der von manchen überbeschäftigt genannte Arbeitswütige am Dortmunder Hauptbahnhof ein, weshalb der für 19 Uhr geplante Konzertbeginn spontan um eine halbe Stunde verschoben werden musste. Die Einstudierung in Dortmund hatte Gergiev einem Assistenten überlassen. Eine Anspielprobe fiel folglich flach. Immerhin muss der Musikzar aus St. Petersburg noch Zeit gefunden haben, auf dem Weg von der Bahnsteigkante auf die Konzerthausbühne fix in den Künstlerfrack zu hüpfen – und dies trotz erheblicher Rückenschmerzen.

Sein Dirigat wirkt an diesem Abend pauschal mit einer Neigung zur Fahrigkeit. Die Streicher fallen durch einen Hang zu uninspiriertem Mezzoforte-Brei auf, die Blechbläser mit dem zu unkultivierter Lautstärke. Nur selten sind die Holzbläser in diesem hypertroph aufgeblähten Klangballon zu vernehmen. Dass es bei manchem Tempowechsel merklich im Getriebe knirscht und fast alle Musiker so nach hinten gelehnt sitzen, als seien sie am Rückenteil ihrer Stühle festgeklebt, vervollständigt das Bild einer eher lustlosen Professionalität. Gergiev, seit 1988 Chefdirigent dieses traditionsreichen Orchesters, mag über die Köpfe und die Fingerfertigkeit der Musiker verfügen: ihre Herzen erreicht er an diesem Abend nicht.

Alexei Volodin (l.) ist in der aktuellen Konzertsaison Residenzkünstler des Mariinsky-Theaters (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Alexei Volodin (l.) ist in der aktuellen Konzertsaison Residenzkünstler des Mariinsky-Theaters (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Besonders konturlos und verschwommen klingt das Klavierkonzert Nr. 1, für das der junge Prokofjew den mit der Schenkung eines Konzertflügels verbundenen Anton-Rubinstein-Preis erhielt. Alexei Volodin bleibt trotz aller Virtuosität zu stark einem gefälligen Schönklang verhaftet, um die Neuartigkeit und die kompositorischen Kühnheiten des Werks aufleuchten zu lassen. Da geht Denis Kozhukhin schon ganz anders zur Sache: Er verdichtet den dissonanzenreichen, hochvirtuosen Satz des 2. Klavierkonzerts zu spannungsvollen Exzessen, ohne darüber das Gespür für feine Groteske und traumversunkene Lyrik zu verlieren. Mag manche Passage noch nach Rachmaninow klingen, so wischt Kozhukhine diesen Eindruck durch frenetische Steigerungen zur Seite, die ahnen lassen, warum die Uraufführung 1913 in Pawlowsk zu einem Skandal geriet.

Furios auch die Leistung von Behzod Abduraimov, unter dessen Händen das 3. Klavierkonzert sich entfaltet wie ein abwechslungsreiches Feuerwerk. Abduraimov versteht sich auf motorische Wucht ebenso wie auf kapriziös-nervöse Farben. Er kann tändeln, irisierende Klangnebel aufsteigen lassen, aber auch orgiastische Oktav-Gewitter in die Tasten donnern, ohne lärmend zu klingen oder die Trennschärfe seines Anschlags einzubüßen. Nach diesem spektakulären Husarenritt wirkt das 4. Klavierkonzert für die linke Hand, komponiert für den einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein, beinahe ein wenig lahm. Alexei Volodin bleibt als Interpret blass, das Werk entbehrt unter seinen Händen der Magie, der Atmosphäre.

Sergei Babayan, zu dessen Schülern auch Daniil Trifonov zählt, ist Amerikaner armenischer Herkunft (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Sergei Babayan, zu dessen Schülern auch Daniil Trifonov zählt, ist Amerikaner armenischer Herkunft (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Den Schlusspunkt zu setzen, bleibt dem armenischstämmigen Pianisten Sergei Babayan vorbehalten. Er meistert das 5. Klavierkonzert mit markantem Ton, verleiht ihm imperialen Glanz und hämmernde Wucht. Die Bässe reißen Abgründe auf, im Diskant herrscht gleißende, fast schmerzende Helligkeit. Und doch gönnt Babayan uns auch schillernd fragile, nachgerade zärtliche Klänge, wie wir sie aus der Ballettmusik zu „Romeo und Julia“ kennen. Prokofjew, das wandelbare Genie, war zuweilen ein rechtes Chamäleon.

Die nächste „Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund gilt dem schwedischen Jazzposaunisten und Sänger Nils Landgren. Nähere Informationen: http://www.konzerthaus-dortmund.de/abonnements_details.html?id=253&saison=201415




Schöne Stellen und irritierende Tempi – Gabriel Feltz und die Dortmunder Philharmoniker

Gabriel Fels steht seit einem Jahr als Chefdirigent am Pult der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Thomas Jauk/Stage Pictures

Gabriel Feltz steht seit einem Jahr als Chefdirigent am Pult der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Thomas Jauk/Stage Pictures

Gabriel Feltz ist nun seit einem Jahr Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker. Zu Beginn seiner Amtszeit, im Spätsommer 2013, hat er mit dem Orchester Beethovens „Pastorale“ und Richard Strauss’ „Alpensinfonie“ interpretiert. Und während die Musik des Wiener Klassikers noch eher harmlos daherkam, atmete das Werk des spätromantischen Orchestrierungsmeisters revolutionären Geist. Hier ging es nicht mehr um alpine Idylle oder Naturmystik, sondern um Leben und Tod, Himmel und Hölle. Anders gesagt: Es ging ums Ganze.

Dirigent und Philharmoniker musizierten mit offenem Visier. Auch um den Preis, dass manche Schwäche offenbar wurde, etwa seltsame Ungereimtheiten hinsichtlich Tempo und Dynamik, sowie bisweilen der Mangel an Transparenz. Schnell konstatierten kundige Beobachter im Laufe dieser ersten Saison, dass Feltz eher dem Credo der Langsamkeit diene. Dies konnte, sei es bei Wagners „Tannhäuser“ oder bei Bruckner, bis hin zur lästigen Zerfaserung ausufern.

Andererseits ist der Dirigent, mit jedem kleinsten Fingerzeig seines Bewegungsvokabulars, offenbar auf alle Schönheit einer Partitur geradezu versessen. Was dann eben seine Zeit braucht. Und nicht unterschlagen sei, dass sein Carmen-Dirigat vor Energie nur so strotzte, die Musik Charme wie Esprit ausstrahlte, so licht wie dramatisch an uns vorbei sauste. Das Orchester schien beinahe wie verwandelt.

Nach dieser durchaus gemischten Bilanz lohnt der Blick auf die neue Saison allemal. Weil Feltz und sein Orchester uns auch einen Vergleich erlauben. Denn  diesmal stehen, zum 1. Philharmonischen Konzert der Spielzeit, wiederum Beethoven (2. Leonoren-Ouvertüre) und Strauss (Ein Heldenleben) auf dem Programm. Besondere Beachtung verdient darüberhinaus Viktor Ullmanns Klavierkonzert aus dem Jahr 1939, hier gespielt von dem jungen Pianisten Moritz Ernst. Das Programm trägt im übrigen den Titel „helden_haft“, passend zu jenen wahren, Möchtegern- und verzweifelten Helden, die an diesem Abend im Konzerthaus Dortmund musikalisch verhandelt werden.

Szene aus dem 3. Akt der Oper "Fidelio" (Leonore), Théâtre Lyrique, Paris, 1860. Foto: Bibliothèque nationale de France

Szene aus dem 3. Akt der Oper „Fidelio“ (Leonore), Théâtre Lyrique, Paris, 1860. Foto: Bibliothèque nationale de France

Bei Beethoven ist der wahre Held eine Frau. Leonore, die unter dem falschen Namen Fidelio ihren Mann Florestan im Kerker vor dem Tode bewahrt. Dunkles Raunen steht in der Ouvertüre für die Verzweiflung im Verlies, Feltz zelebriert es, in schönen dynamischen Abstufungen. Doch bisweilen, im Fortgang, scheint die Musik wie eingefroren, wie im luftleeren Raum schwebend. Erst langsam steigern sich Bewegung und Dramatik, das Klangbild ist dabei nicht immer plastisch.  Die hektischen Phrasen aber, kurz vor den signalhaften Trompetentönen, zeugen von atemloser Spannung. Dann jedoch beschränken sich Orchester und Dirigent auf einen eher gezähmten Jubel über den Triumph der Freiheit.

Davon kann bei Viktor Ullmann nicht die Rede sein. Der österreichische Komponist wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Das Klavierkonzert entstand fünf Jahre zuvor in Prag, wurde aber ob der schrecklichen Umstände erst 1992 uraufgeführt. Die Musik ist zumindest teilweise ein Spiegel von Ullmanns rastlosem Lebensweg, der im Grauen endete. Verfolgung, Verzweiflung, auch bitterer Sarkasmus finden sich, andererseits lyrisch-romantische Passagen, die wie eine Reminiszenz an gute alte Zeiten wirken.

Der Pianist Moritz Ernst gilt als Experte für die Klaviermusik Viktor Ullmanns.Foto: Michael Baker

Der Pianist Moritz Ernst gilt als Experte für die Klaviermusik Viktor Ullmanns. Foto: Michael Baker

Und es ist erstaunlich, wie sehr das Orchester sowie der vorzügliche Pianist Moritz Ernst die Stimmungen in aller Klarheit nachzeichnen. Aufregend attackierend der Beginn, fein das lyrische Fortschreiten in regelmäßigem Puls, frech der skurrile, scherzohafte Teil à la Mahler, versehen mit einer Prise Jazz. Der Solist, der ganz unspektakulär zu Werke geht, entpuppt sich allerdings als unerbittlicher Rhythmiker. Bar jeden virtuosen Gehabes erschließt er uns besonders die bedrohliche Atmosphäre des Stücks. Die Dortmunder Philharmoniker wiederum sind Partner auf Augenhöhe.

Bleibt Richard Strauss’ „Heldenleben“. Feltz scheint mit seinem Dirigat an die Interpretation der „Alpensinfonie“ anzuknüpfen. Was Ironie, was Glanz – geht es doch in erster Linie um Kampf. Und dabei oft um Überzeichnung. Das Holzbläserplärren (Des Helden Widersacher) hat mehr beleidigenden denn humoristischen Charakter. Die große Schlacht ist ein wütendes Lärmen der Welt. Feltz’ athletisches Dirigieren hat etwas vom Agieren eines Dompteurs. Doch muss, um im zirzensischen Bild zu bleiben, der Tiger gleich durch drei brennende Reifen springen?

Zuviel, zuviel: Dieser Held ist ein Narziss, der es in allem übertreibt. Das schränkt, musikalisch gesehen, die Durchhörbarkeit spürbar ein. Die Strauss’sche Klangschönheit, aus der Leidenschaft heraus, kommt zu kurz. Einiges lässt immerhin aufhorchen: die Präzision der Horngruppe etwa oder der balsamisch dunkle Ton der Soloklarinette. Schön gestaltet auch das Violinsolo (Des Helden Gefährtin). Doch der Dialog mit dem Orchester kehrt sich ob breiter Tempi zu einem doppelten Monolog um.

Ein Jahr also ist Gabriel Feltz nun Leiter der Dortmunder Philharmoniker. Er hat seine eigenen Vorstellungen. Worauf das, was die Entwicklung des Orchesters angeht, hinauslaufen soll, ist bisher kaum zu erkennen. Das Potenzial des Klangkörpers jedenfalls ist enorm. Doch noch wechseln überzeugende Abende mit enttäuschenden.




Rex Lawson und das Pianola: Auftakt zur Reihe „Musik für Freaks“ im Konzerthaus Dortmund

Rex Lawson ist der Experte in Sachen Pianola. Foto: Petra Coddington

Rex Lawson, der Pianolist. Foto: Petra Coddington

Aller Anfang ist schwer. Das gilt auch fürs Konzerthaus Dortmund. Sicher, es hat sich in den 12 Jahren seines Bestehens fest etabliert im Kulturgefüge der Stadt. Doch muss dieser musikbeladene Tanker stets manövrierfähig bleiben. Will sagen: Hin und wieder ist es Aufgabe des Intendanten, Wagnisse einzugehen, Neues zu schaffen. Für Benedikt Stampa kein Problem. Er hat die Reihe „Junge Wilde“ 2006 aus der Taufe gehoben und jetzt, ganz frisch zur Saison 2014/15, „Musik für Freaks“.

Das Problem ist nun, dass das Ungewohnte, gar bisher Ungehörte in Dortmund eher skeptisch beäugt wird. Ein paar Mutige wagen sich vor, und erst, wenn sich nach und nach herumspricht, hier werde Aufregendes in gehöriger Qualität geboten, strömt das Publikum. So war es bei den „Wilden“, so hat wohl auch die Freakmusik alle Chancen, sich mit der Zeit zu etablieren. Ein Anfang jedenfalls, wenn auch ein schwerer, ist gemacht: mit dem britischen Pianola-Guru Rex Lawson.

Der Mann selbst scheint ein Freak zu sein. Mit seinem weißen Rauschebart, der ihm bis zum Bauch reicht, wirkt er wie ein Eremit, der sich aus einsamem Studierstübchen aufgemacht hat, einer interessierten Schar die Kunst des Pianolaspielens nahezubringen. Lawson entpuppt sich indes als weltgewandter, charmanter Plauderer, der uns, in deutscher Sprache, aber mit gehörigem britischen Understatement und feinem Humor, von seiner Kunst erzählt. Die hat viel mit automatisierter Mechanik zu tun, gleichwohl bedarf es des schöpferischen Interpreten. Ein Pianola ist nun mal kein reines Selbstspielklavier.

Der Abend hat etwas von einem Kolloquium. Denn das gut 70 Köpfe starke Publikum (wie gesagt: die Mutigen voran) darf sich auf der Bühne im Halbkreis um den Meister scharen, und am Ende hat sich eine kleine Menschentraube direkt am Instrument platziert – zu einer spannenden Frage-und-Antwort-Zugabe der intellektuellen Art. Dem neuen Format darf deshalb getrost der Anfangserfolg bescheinigt werden.

Hinten Flügel, vorne Technik: Blick aufs Pianola. Foto: Petra Coddington

Hinten Flügel, vorne Technik: Blick aufs Pianola. Foto: Petra Coddington

Besagtes Instrument allein sieht schon recht merkwürdig aus. Da steht nämlich ein Flügel, mit nur leicht geöffnetem Deckel, indes mit einem wulstigen hölzernen Vorsatz versehen, ja verunziert.  Dort allerdings verbirgt sich das ganze, ziemlich komplexe Geheimnis des Pianolas. In den beiden kastenförmigen Gebilden befinden sich durch Saugluft betätigte Bälge, die jeweils eine Taste in Bewegung setzen. Der Pianolist, so die fachliche Bezeichnung des Interpreten, setzt den Mechanismus mittels zweier Pedale in Gang. Den Noten entsprechen gestanzte Löcher auf Papierrollen. Lawson besitzt Tausende davon, und so kann er seine Kunst an diesem Abend mit Werken von Chopin bis Nancarrow demonstrieren.

Nun geht es beim Pianola, dessen Hoch-Zeit Ende des 19. Jahrhunderts begann und bis in die 1930er Jahre reichte, nicht unbedingt darum, mittelmäßigen Pianisten das Leben zu erleichtern. Lawson zeigt gerade am Beispiel einer Hindemith-Toccata oder einer Studie des Amerikaners Conlon Nancarrow, dass Komponisten bewusst für dieses Instrument schrieben um des rhythmischen und klanglichen Experiments willen. Werke eben, die mit zehn Fingern garantiert unspielbar sind, Stücke zudem, die sich mehr dem orchestralen Volumen annähern.

Dieses Potenzial erkannte auch Igor Strawinsky, der 1915 sein skandalumwobenes Ballett „Le sacre du printemps“ in eine Klavierrolle stanzen ließ. Das Hörerlebnis ist frappierend. In seinen besten Momenten scheint die mechanisierte Musik bestimmten Orchestereffekten überaus ähnlich. Manches verweist sogar auf den mexikanischen Komponisten George Antheil und dessen „Ballet mécanique“, der allerdings reine Selbstspielklaviere nutzte.

„Musik für Freaks“: Das erste Konzert der fünfteiligen Reihe entpuppt sich als spannend, lehrreich und bietet, Rex Lawson sei Dank, intelligente Unterhaltung. Am 13. November geht es weiter: mit dem Ictus-Ensemble und dem Bariton Lionel Peintre. Es erklingen Werke von Strawinsky und Georges Aperghis.




Kunst statt Krieg – großartiger Auftritt der Sopranistin Anna Prohaska in Dortmund

Prohaska 2_2014(c)Holger Hage_DGIm Trailer der „Junge Wilde“-Reihe des Dortmunder Konzerthauses reißt sich Anna Prohaska wutschnaubend die Perlenkette vom Hals. Als wolle sie, sagen wir, in der Gestalt der Donna Elvira dem so geliebten wie verhassten Don Giovanni den Schmuck vor die Füße werfen. Eine Episode, die voller Symbolkraft steckt: Da ist eine Sängerin der unkonventionellen Art, jung und wild eben, die sich in musikalischen Gefilden auch auf abseitigen Pfaden bewegt.

„Das Ende der klassischen Klassik“ propagiert das Konzerthaus damit, und nichts scheint dem besser zu entsprechen, als Anna Prohaskas jüngster Auftritt, ein Liederabend. Denn die Sängerin bricht mit manchen Gesetzen der Aufführungspraxis, findet den Weg heraus aus kammermusikalischer Intimität oder nach innen gerichteter Emotionalität. Sie und ihr großartiger Klavierpartner Eric Schneider beherrschen das Podium gewissermaßen mit offenem Visier und fechten einen Kampf wider den Wahnsinn des Krieges, mit den Mitteln der Kunst.

„Behind the Lines“ ist dieses Konzeptkonzert zum Jahresgedenken an den Ersten Weltkrieg überschrieben, mit ausgewählten Liedern des Barock, der Klassik, Romantik und Moderne. Dabei wird indes nicht nur das Leben und Fühlen abseits der Front (Hinter den Linien) beleuchtet, besser gesagt messerscharf analysiert, vielmehr fällt der Blick oft genug aufs Schlachtfeld selbst. Es wird jubelnd in den Kampf gezogen, herrschen Stolz und Freude wie Schmerz und allertiefster Jammer. Aus Helden werden Gefangene, Vermisste, Begrabene. Der Tod ist immer und überall.

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Der Pianist Eric Schneider, Anna Prohaskas fulminanter Mitstreiter. Foto: Peter Adamik

Und Anna Prohaska, deren Stimme stets als Koloratursopran geführt wird, schafft es, jede Nuance wirkungsvoll zu artikulieren, seien es fahle Töne in tiefer Lage, sei es leuchtend hohes Jubeln. Und wenn sie in Hanns Eislers bitterbösem Spottlied „Meine Mutter wird Soldat“ ins glasklirrende Spitzentonregister wechselt, dürfte sich mancher Gänsehauteffekt unmittelbar einstellen. Auf der anderen Seite der Ausdrucksskala steht etwa Gustav Mahlers „Wo die schönen Trompeten blasen“: komponierte Leere, ein sanfter Balladenton, der in weltverlorene Lyrik mündet. Prohaska singt mit weitem Atem und wirkt in diesem Moment wie die personifizierte Einsamkeit.

Wie sich bei dieser Sängerin sowieso alle Emotion in ihrem Gesicht und Habitus wiederfindet. Die Haare hochgesteckt, in eine Art Uniformjacke gekleidet, setzt sie gleichsam das optische Signal, wie sehr ihr diese Dinge am Herzen liegen. Es geht nicht nur um schönen Gesang, sondern um eine Botschaft. Dass sie dabei eine gewisse Androgynität ausstrahlt, changierend etwa zwischen Soldat und daheim gebliebener Geliebter, ist eine weitere, wohl bewusst gesetzte Note. Das hat, nicht zuletzt, auch etwas mit Authentizität zu tun.

Prohaska hütet sich vor Überzeichnung und findet instinktiv in die jeweils geforderte Stilistik. Von sanfter Schönheit ist etwa das Lamento „Ich irre umher wie in der Wildnis“ von Michael Cavendish, im Tonfall eines Madrigals gehalten. Franz Schuberts „Ellens Gesang I“  interpretiert die Sopranistin mit feinem Legato, in höchster Sensibilität, mit aufbrausender Kraft und zuletzt mit fahler Stimme, langsamer werdend, ersterbend. Wolfgang Rihms „Untergang“ wiederum macht deutlich, über welche Vielfalt betörender Farben die Künstlerin verfügt.

Eric Schneider ist ihr in allem ein kongenialer Klavierpartner. Einer, der mit jedem Marschrhythmus, jeder dissonanten Wendung, mit jedem Klagegesang und jeder Modulation als treuer Verbündeter Anna Prohaskas gelten kann. So wird dieses Konzert zu einem der spannendsten Beiträge des Weltkriegsgedenkens, weil hier in uns Kunstempfinden und Intellekt geweckt werden. „Das Ende der klassischen Klassik“ heißt im übrigen auch: keine Zugabe. Weil mit diesem Liederabend in dieser Form alles gesagt ist.




Begeisterndes Panorama des Ausdrucks: Evgeny Kissin beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund

Evgeny Kissin bei seinem Konzert in Dortmund. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Evgeny Kissin bei seinem Konzert in Dortmund. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Seine Auftritte sind nicht häufig, aber die Verknappung ist kein Programm zur Förderung einer Aura, sondern schlicht künstlerischer Verantwortung geschuldet: Evgheny Igorewitsch Kissin gehört zu den ganz Großen seiner Zunft, nicht weil er anderen technisch etwas vorzumachen hätte, sondern weil er in seinem Spiel den einfühlenden, gestaltenden, souveränen Geist erkennen lässt. Weil es ihm gelingt, das innere Erleben, das ihm nach eigener Aussage wichtiger ist als das äußere, in seinem Spiel zu kommunizieren. Weil er, der Distanzierte, Scheue, ein bisschen aus der Welt Gefallene, in diesen Momenten sich mit seinem Publikum tief verbindet.

Und die Menschen in den Sälen merken das: Der Beifall bei Kissins Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr im Konzerthaus Dortmund war nicht nur der Überwältigung durch ein makelloses Spiel geschuldet – das können viele andere Pianisten ja auch –, sondern drückte etwas aus von der „Begeisterung“ im wahrsten Sinn des Wortes. Wenn Kissin sich in Schubert, in Skrjabin versenkt, dann be-geistert er, dann nimmt er mit in die unergründlichen Welten, die Musik aufschließen kann. Vor wenigen Tagen wies Claus Leggewie beim Festkonzert zu zehn Jahren Philharmonie Essen auf die immense Kraftquelle hin, die Orte wie ein Konzerthaus für eine Stadt und ihre Gesellschaft bedeuten. Nach dem Kissin-Konzert möchte man mit Wotan sagen: „Heut hast Du’s erlebt“.

Man erlebt’s, selbst wenn nicht alles wie aus einem Guss gelingt: Warum Kissin in Schuberts „Gasteiner Sonate“ D 850 den einleitenden, später formal so bedeutenden rhythmischen Ruf so hastig zusammenzieht, wird nicht verständlich. Seine Artikulation wirkt unwirsch und verschwommen, sein Akkordspiel beruhigt sich erst im klar formulierten Seitenthema. Will man bei den oft strapazierten Naturbildern gerade für diese, in Schuberts Ferien in Bad Gastein entstandenen Sonate bleiben, könnte man für den ersten Satz sagen: ein Sturm im Gebirge. Allerdings einer, in dem sich mehr und mehr die Nebel lichten und im Wüten rauschender Triolen die vollgriffige Harmonik deutlich fassbar wird. Wie er das Signal des Beginns durch die harmonische Entwicklung immer wieder aufleuchten lässt, zeigt: Kissin ist ganz bei sich.

Im zweiten Satz bringt Kissin die harmonischen Wendungen zum Leuchten, sentimentalisiert sie aber nicht. Auch wenn er verzögert, mit der Agogik spielt, will er nicht verzücken, sondern vertiefen. Wie differenziert er die Wiederholungen färbt, ist ein Beispiel großer Kunst für sich. Das Scherzo lässt er aus der heftigen Bewegung und den scharfen Kontrasten Kraft gewinnen: Hier selbstbewusster Rhythmus, scharf konturiert; dort silbern filigranes melodisches Gespinst. Und im letzten Satz schaut Kissin weniger auf die humorigen Momente – die trockenen Staccatio empfand Schumann als Satire auf den „Schlafmützenstil“ von Pianisten wie Pleyer oder Vanhal –, sondern auf die einfache, unverkünstelte Poesie, mit der die Sonate endet.

Bei seinem Landsmann Alexander Skrjabin bewegt sich Kissin dann auch manuell auf Gipfeln, auf denen die Luft für andere sehr dünn wird: Das polymetrische Gewirk im zweite Satz der Sonate-Fantaisie gis-Moll (op.19) muss erst einmal jemand so präzis und souverän entflechten. Die Presto-Kaskaden muss erst einmal jemand so hindernisfrei abrauschen lassen. Und wem das nicht genug ist, dessen Blick stellt Kissin in all dem Trubel noch scharf auf die motivischen Bezüge zum Andante; denn die Sonate vergisst im Finale nicht die Ostinato-Glockenschläge des Beginns.

Auch in der Auswahl der sieben Etüden aus dem Zyklus Opus 8 von 1894 erweist sich das dramaturgische Geschick, mit dem Kissin seine Programme gestaltet. Nie verrät er die technisch anspruchsvollen Stücke an das bloß Triumphal-Zupackende. Nie umwölkt er die leisen Töne, das nachdenkliche Innehalten mit dem Parfüm, das Skrjabin noch vor dreißig Jahren in Westeuropa gerne nachgesagt wurde. Das „tempo rubato“ etwa in der Nummer acht ist kein sensualistischer Effekt, sondern unterstreicht die poetische Note des Stücks. Und das „Andante cantabile“ der Nummer elf wird herb, fast schmerzlich formuliert und endet in einem fragenden Dunkel, auf das in der abschließenden dis-Moll-Etüde Nummer 12 eine heroisch aufbegehrende Antwort gegeben wird.

Kissin entrollt ein unglaubliches Panorama pianistischer Ausdruckskunst – und seine Zugaben sind keine netten Schmankerln, um das Publikum noch einmal „Ah“ und „Oh“ rufen zu lassen, sondern erweitern den Blick um weitere Aspekte: von Skrjabin zu Chopin und von den Meistern des 19. Jahrhunderts zurück zum Meister aller Meister, Johann Sebastian Bach, gesehen durch die Bearbeiter-Brille eines der signifikanten Ausdrucksmusiker der verebbenden Romantik, Wilhelm Kempff.




Zwischen Repertoire und Experiment – Theater Dortmund stellt Spielplan 2014/2015 vor

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Die Theater-Reihe „Das goldene Zeitalter“ – hier ein Bild aus der letzten Produktion – wird fortgesetzt: „100 neue Wege dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“ kommt im Januar 2015 heraus. Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund

Spielzeit 2014/2015 – das Theater Dortmund mit den Abteilungen Oper, Ballett, Philharmoniker, Schauspiel und Kinder- und Jugendtheater hat seine Pläne vorgestellt. Ein einheitliches Bild ist nicht auszumachen, zu unterschiedlich sind die Fachabteilungen und die Menschen, die sie prägen. Hier eine erste kleine Übersicht, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit.

Den französischen Friseur Arthur hat es auf eine Insel fern ab von aller Zivilisation verschlagen. Hier, die Welt ist ja voller verrückter Zufälle, lernt er die hübsche Häuptlingstochter Atala kennen, und alles könnte richtig schön werden. Leider aber kündigt Häuptling Biberhahn, Herrscher über die Nachbarinsel Papatutu, kurz darauf seinen Staatsbesuch bei Atalas Vater Abendwind an, und das verlangt nach einem Festmahl. Die Tragik nun liegt darin, daß man in dieser Gegend der Welt dem Kannibalismus zugetan ist, und daß der französische Friseur nach einhelliger Meinung ein wunderbares Schmorgericht abgeben dürfte. Was ihm naturgemäß gar nicht schmeckt, um im Bild zu bleiben. Und wie er aus der Nummer wieder herauskommt, erfährt man ab dem 24. Januar im Dortmunder Schauspielhaus. Dann hat dort nämlich das Stück „Häuptling Abendwind und Die Kassierer: Eine Punk-Operette“ Premiere.

Der Stücktitel verlangt nach Erklärungen. Zunächst „Die Kassierer“: Sie gelten, sagt Schauspielchef Kay Voges, seit 30 Jahren als die kultigste Punk-Band aus dem Ruhrgebiet. In Sonderheit sei die Revier-Lebensweisheit „Das schlimmste ist, wenn das Bier alles ist“ ihr Leib- und Lebensmotto. Den Spruch kann man ja etwas umrubeln auf „Das schlimmste ist, wenn das Fleisch alle ist“, womit man dann sozusagen schon beim Grundmotiv des hier zur Aufführung gelangenden Kannibalen-Stoffes wäre, welcher ursprünglich ein Opernlibretto war, geschrieben von Philippe Gille und Léon Battu zur Musik Jacques Offenbachs. „Vent du soir ou l’horrible festin“ hieß das Werk auf französisch, und Johann Nestroy machte daraus eine Burleske mit dem (annähernd exakt übersetzten) Titel „Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl“. Diese Burleske nun, der Anlauf hat etwas gedauert, wird von Den Kassierern mit Offenbachs Klängen zur Punk-Operette verwurstet. Es wird absehbar schräg und laut und lustig, zumal Die Kassierer auch auf Musikfeldern wie Country oder Jazz zu Hause sind.

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Die Oper „Carmen“ wird auch in der neuen Spielzeit gegeben. Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund

Das Projekt habe sich auch deshalb geradezu angeboten, weil Punk und Operette sich doch recht ähnlich seien, merkt Kay Voges treuherzig an. Doch, doch! Der hohe Mitsingfaktor sei durchaus vergleichbar. Jedenfalls ist diese Punk-Operette des Schauspielhauses in der Spielzeit 2014/2015 und in der Abteilung Originalität unangefochtener Spitzenreiter. Regie führt übrigens Andreas Beck, den man aus dem Ensemble und bislang vor allem „vor der Kamera“ kennt. Daneben, wir bleiben beim Schauspiel, wird ein bunte, anspruchsvolle Themenmischung geboten.

Schauspiel

Kay Voges selbst inszeniert für den Spielzeitauftakt am 12. September einen „Hamlet“, bei dem ihn Video-Artist Daniel Hengst („Tannhäuser“) und Musikchef Paul Wallfisch unterstützen werden. Jetzt, so Voges, fühle er sich alt genug für diesen Shakespeare-Stoff. Und man wüßte jetzt schon gerne, wie er wohl den Hamlet-Monolog anlegen wird. Oder ob er ihn einfach weglässt?

Der notorische Wenzel Storch, der durch seinen Film „Die Reise ins Glück“ einer größeren Zahl von Menschen bekannt wurde, führt Regie bei einer „Pilgerreise in die wunderbare Welt der katholischen Aufklärungs- und Anstandsliteratur“. „Komm in meinen Wigwam“ heißt die Produktion mit Premiere am 17. Oktober. Jörg Buttgereit ist wieder da und verkündet mit breitem gesellschaftlichen Bezug, daß „Nosferatu lebt!“. „Ein Mystery-Crime-Science-Fiction-Hospital-Theater-Web-Adventure in sieben Teilen“ steht auf dem Programm, das sich Alexander Kerlin, Anne-Kathrin Schulz und Kay Voges ausgedacht haben und das so eine Art Krankenhausserie ist. „The Madhouse of Ypsilantis“ heißt es. Fans des „Goldenen Zeitalters“, von denen es etliche gibt, dürfen sich auf eine weitere Folge freuen. Der neue Theaterabend mit unvorhersagbarem Verlauf hat im Februar 2015 das Motto „100 neue Wege dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“. Das kann einen schon nachdenklich machen.

In der nicht-experimentellen Abteilung, auch das soll nicht unerwähnt bleiben, ist ebenfalls Leben: Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ (Premiere 18. Oktober) gelangt zur Aufführung, ebenso eine Adaption von Ingmar Bermans „Szenen einer Ehe“ (Premiere 28. November). Für die „Elektra“ am 7. Februar 2015 werden Sophokles, Euripides und Hugo von Hoffmannsthal als Autoren genannt, doch zuvörderst plant Regisseur Paolo Magelli eine Beschäftigung mit Deutschland und Dortmund in den Zeiten nach den Weltkriegen. Paul Wallfisch steuert seine musikalischen Interpretationen von Richard Strauß’ „Elektra“ bei.

Schließlich ein Hinweis auf „Identity“. Mit diesem „Jugendclub-Projekt der Theaterpartisanen 16+“ will das (Erwachsenen-) Schauspiel auch Schulklassen besuchen und wildert damit scheinbar im Revier von Voges’ Kollegen Andreas Gruhn, dessen Kinder- und Jugendtheater (KJT) ja eigentlich zuständig für diese Altersklasse ist. Überhaupt fällt auf, daß das Schauspielhaus – beispielsweise auch mit dem „UNRUHR Festival“ im Juni 2015 – jugendliches Publikum umwirbt. Doch das ist vermutlich mit dem KJT abgesprochen.

Kinder- und Jugendtheater

Für die Theaterleute von der Sckellstraße bleibt genug zu tun, und auch sie überschreiten Grenzen. So wendet sich Lutz Hübners Klassiker „Frau Müller muß weg“ (Premiere 13.2.2015) eher an Eltern und Erzieher als an Kinder. „Sneewitte“ von Sophie Kassies und Jens Joneleit (Premiere 19. März 2015, Regie Antje Siebers) entsteht in Zusammenarbeit mit der Jungen Oper Dortmund und will Kinder ab sieben Jahren in musikalisches Neuland führen. „Industriegebietskinder“ – ein Arbeitstitel angeblich, den sie ruhig so lassen sollten – vergleicht als Projekt dreier Theater die Lebenssituationen an drei mehr oder weniger entindustrialisierten Orten. In Dortmund hat sich das KJT in den (neuerdings noblen) Stadtteil Hörde aufgemacht, das Berliner Theater Strahl blickt auf den ehemaligen DDR-Unterhaltungselektronik-Standort Oberschönweide, das Neue Theater Halle auf die streckenweise verwaiste Neustadt. Am Anfang des Projekts steht ein Camp in Berlin, geplant sind weiterhin Recherche-, Entwicklungs- und Produktionsphasen, und am 8. Mai 2015 soll das Ding zum ersten Mal über die Bühne gehen.

Ach ja: Das Weihnachtsmärchen heißt in diesem Jahr „Peters Reise zum Mond“. Andreas Gruhn hat Bassewitz’ langjähriges Erfolgsstück „Peterchens Mondfahrt“ gründlich überarbeitet und aktualisiert und zu einem „Weltraummärchen“ für Kinder ab sechs Jahren gemacht. Erster Mondstart von Peter und Anna ist am 13. November.

Oper

Sechs Premieren kündigt Opernchef Jens-Daniel Herzog an, was formal auch zutreffend sein dürfte. Aber Richard Strauss’ „Rosenkavalier“, Mozarts „Don Giovanni“ oder Verdis „Ein Maskenball“ halten sich landauf, landab, so hartnäckig in den Repertoires, daß es geradezu unglaubwürdig wirkt, ihren Wiedereinrichtungen das Etikett „neu“ aufzukleben. Das sagt natürlich nichts über die Qualität der Dortmunder Produktionen aus, um die es so schlecht nicht bestellt sein kann. „Ein Maskenball“ zum Beispiel entsteht in Kooperation mit dem Royal Opera House Covent Garden in London.

„Jesus Christ Superstar“ von Andrew Lloyd Webber steht am 19. Oktober erstmals auf dem Programm des Opernhauses, das szenische Oratorium „Saul“ von Händel ist am 25. April 2015 die letzte Premiere der neuen Spielzeit. So weit, so gut.

Ein strahlendes Highlight hat die Oper aber doch im Programm: Die Vaudeville-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ von Paul Abraham, den die Theater seit einigen Jahren wiederentdecken. Der Plot klingt so herrlich doof, daß er fast in einem Satz erzählt werden kann: Fußball-Nationalmannschaft findet kein Quartier und wird notgedrungen im Mädchenpensionat untergebracht. Zum Finale treffen sich alle im Stadion.

Man darf gespannt sein, wie Regisseur Thomas Enzinger „Roxy und ihr Wunderteam“ umsetzen wird. Auch wenn der Stoff es nahezulegen scheint, muß die Inszenierung nicht zwangsläufig ein burlesker Schenkelklopfer werden. Die Verfilmung aus dem Jahr 1937, entstanden im damals noch nicht von den Nationalsozialisten regierten Österreich, wohin der jüdische Komponist Paul Abraham geflohen war, macht aus dem Stoff einen eleganten Tanzfilm, der an Fred Astaire, Ginger Rogers oder Gene Kelly denken läßt. 15 Termine zwischen dem 29. November 2014 und dem 15. März 2015 hat das Opernhaus schon angesetzt. Im fußballverrückten Dortmund hat man guten Grund, auf ausverkaufte Häuser zu hoffen (wenn nicht zeitgleich ein Pokalspiel läuft).

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Streifen statt Farben: Der aktuelle Ballett-Dreiteiler heißt „Drei Farben: Tanz“ (Bild). In der nächsten Spielzeit ist „Drei Streifen: Tanz“ zu sehen… Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund

Ballett

Xin Peng Wang hat Motive aus Thomas Manns Roman „Zauberberg“ zu einem Ballett verarbeitet, dessen musikalische Leitung bei Motonori Kobayashi liegt (Premiere 8. November 2014). Zweite Premiere der kommenden Spielzeit ist wieder einmal ein Dreiteiler, der diesmal „Drei Streifen: Tanz“ heißt. Das Drittel mit dem Titel „Closer“ choreographiert Benjamin Millepied zur Musik von Philip Glass, jenes mit dem Titel „The Piano“ – eine Uraufführung – Jiri Bubenicek. Und die Uraufführung von Dennis Volpi hat noch gar keinen Titel. „Schwanensee“ wird wieder zu sehen sein, ebenso „Der Traum der roten Kammer“ in der Hongkonger Fassung von 2013. Außerdem gibt es etliche „kleinere“ Ballett-Aktionen: „Internationale Ballettgala XX & XXI“, Sommerakademie, NRW Juniorballett und so fort.

Konzerte

Bleibt, von der Musik zu künden, der konzertanten zumal. Die üppigen Spielpläne liegen detailliert vor, man findet sie im soeben erschienenen Spielzeitprogramm und auf dem Internetauftritt des Theaters Dortmund. Der Eindruck hier: Viel solide Arbeit im klassischen Repertoire, wenig Starkino. Zwei prominente Namen fallen ins Auge, zum einen der der Sopranistin Edita Gruberova, die den mit 25.000 Euro dotierten Preis der Kulturstiftung Dortmund erhält und ihn sich am 5. Dezember im Konzerthaus abholen wird, zum andern der Sebastian Kochs, fernsehbekannter Schauspieler („Speer“), der, finanziert mit etwas Sponsorengeld, beim 5. Philharmonischen Konzert am 13. und 14. Januar in Beethovens Bühnenmusik zu Goethes „Egmont“ den Sprecher gibt.

Bei den Philharmonikern ist man übrigens auf die Idee gekommen, die Wörter, die die Titel der Reihen und Veranstaltungen bezeichnen, silbenweise zu zerhacken und dann mit so genannten Underlines zu verbinden. Deshalb heißt die philharmonische Reihe in diesem Jahr „helden_innen_leben“ und die Veranstaltung mit Herrn Koch im Januar „spiel_zeiten“. (Davor, nur als Fußnote, gibt es „gefühls_welten“, danach „helden_mut“.) Darf man in Blogs ungestraft das Wort Schwachsinn verwenden?

Fünf Konzerte der philharmonischen Reihe werden von Generalmusikdirektor Gabriel Feltz dirigiert, fünf von Gästen, unter denen sich in dieser Spielzeit doch tatsächlich auch eine Frau befindet: Das 9. Konzert (12. und 13. Mai 2015) leitet die Amerikanerin Karen Kamensek, Generalmusikdirektorin in Hannover. Es gibt Kissenkonzerte und Kammerkonzerte und Babykonzerte (immer ganz schnell ausverkauft!) und „Konzerte für junge Leute“, deren Titel neugierig machen: „Groove Symphony“, „Superhelden der Filmmusik“, „Romeo und Julia in New York“. Und ganz am Schluß dieses Aufsatzes das schöne Gefühl, von der darstellenden Kunst geradezu umzingelt zu sein. Zumal seit kurzem auch das Programmbuch des Konzerthauses raus ist (grauenvoller Titel: „Stell dich der Klassik.“, mit dem Punkt). Es wiegt über ein Pfund und damit sogar noch etwas mehr als das von Oper und Theater.

http://www.theaterdo.de/startseite/

www.konzerthaus-dortmund.de




Immer der Geige nach: Auf den Spuren der wunderbaren Hilary Hahn

Hilary Hahn (Foto: Michael Patrick OLeary)

Hilary Hahn (Foto: Michael Patrick OLeary)

Menschen, die ihrem Star hinterher reisen, jedes Konzert besuchen oder die Tourdaten ihres Lieblingspianisten auf Jahre im Kopf haben, sind mir bisher immer etwas seltsam vorgekommen. Die haben wohl zu viel Zeit, habe ich gedacht, wenn sie Konzertsäle in ganz Europa aufsuchten, nur um ihren angebeteten Musiker zu hören.

Bei der Geigerin Hilary Hahn könnte ich selbst fast schwach werden. Vor Jahren begleitete ich eine Freundin zu einem ihrer Auftritte und er kam mir irgendwie überirdisch vor. Ich weiß nicht mehr, was gespielt wurde, ich weiß nur noch, dass ich dachte: Diese zierliche, fast scheue Person produziert Töne, die nicht mehr von dieser Welt sind. Als nun ein Konzert von Hilary Hahn in meiner Heimatstadt Düsseldorf angekündigt wurde, wusste ich gleich: Da muss ich unbedingt hin. Dabei war mir völlig gleichgültig, welches Programm Hilary Hahn in der Tonhalle beim Konzert der Freunde und Förderer spielen wollte, eine „Sternstunde“ würde es für mich bestimmt werden.

Ich bin keine Musikkritikerin und möchte hier auch keine Rezension verfassen. Ich konnte auch gar nicht mitschreiben, weil ich bereits nach drei Takten mit den Tränen kämpfte, da Hilary die Geige so hoch und klar und sehnsüchtig singen ließ. Dabei weine ich nicht einmal bei Kitschfilmen, höchstens bei „Vom Winde verweht“.

Es sei allerdings verraten, dass Hahn das Konzert für Violine und Orchester von Johannes Brahms spielte begleitet vom HR-Sinfonieorchester unter Paavo Järvi. Das Stück dauerte 38 Minuten. Hilary Hahn und ihre Geige verschmolzen zu einem Wesen. Ihr Oberteil glitzerte und ihr Rock schwang mit der Melodie. In all ihrer musikalischen Perfektion wirkte sie unprätentiös, vergnügt und beinahe sportlich. Dort, wo Brahms „Zigeunermusik“ zitierte, hüpfte sie ein paar Schritte über die Bühne und man spürte ihr Temperament, das durch Disziplin geformt, eine zielgerichtete Kraft in den Saal verströmte. Die Geige sang, die Geige tanzte. Energie und Gefühl befanden sich genau im richtigen Mischungsverhältnis. Das Publikum war äußerst gespannt und still, es gab Momente, da blieben sogar die sonst unvermeidlichen Huster aus.

Doch plötzlich, viel zu schnell, war der Spuk wieder vorbei, die Tonhalle jubelte bravo und die Teufelsgeigerin bekam einen Blumenstrauß. Pause und Signierstunde. Im zweiten Teil brauste dann Bruckners dritte Symphonie (Ich habe nicht ganz verstanden, in welcher Fassung) über die Köpfe hinweg und die Bläser machten sich deutlich bemerkbar. Aber das übertönte nur die Leere vorne auf der Bühne, wo die Geigerin gestanden hatte. Denn Hilary war schon weg.

Aber zum Glück kann ich am 13. Mai ins Dortmunder Konzerthaus reisen: Dort gastiert Hilary Hahn, begleitet von dem Pianisten Cory Smythe, u.a. mit Werken von Schönberg, Schubert, Telemann.




Entfesselter Meister: Martin Grubinger und das Mahler Chamber Orchestra in Dortmund

Der Schlagzeuger Martin Grubinger, geboren im Mai 1983 in Salzburg, ist bekannt für seine Vielseitigkeit und Virtuosität (Foto: Felix Broede)

Der Schlagzeuger Martin Grubinger, geboren im Mai 1983 in Salzburg, ist bekannt für seine Vielseitigkeit und Virtuosität (Foto: Felix Broede)

Das Mahler Chamber Orchestra ist kein Kammerorchester. Nicht die Besetzungsgröße, die hundert oder mehr Köpfe umfassen kann, sondern das Selbstverständnis der Musiker spiegelt sich im Namen. Das genaue Zuhören, das aufeinander Lauschen, das sie von ihrem Gründervater und Spiritus Rector Claudio Abbado gelernt haben, ist zur prägenden Grundhaltung geworden. Die aus vielen Nationen Europas stammenden Musiker agieren mit einer Aufmerksamkeit, als spielten sie höchstens im Sextett.

Hier, im Konzerthaus Dortmund, finden sich noch fast kindliche Gesichter in ihren Reihen. Es sind Mitglieder der „MCO Academy“, die am Orchesterzentrum in Dortmund auf das Leben als Berufsmusiker vorbereitet werden. Claudio Abbado hätte diese Weitergabe von Tugenden und Traditionen gewiss gefallen. Ihm, der am 20. Januar in Bologna verstarb, widmet das Mahler Chamber Orchestra jetzt seine Konzerte in Essen, Dortmund und Köln.

Der Ungar Peter Eötvös steht dabei als Komponist und Dirigent im Mittelpunkt. Sein jüngstes Werk „Speaking Drums“ für Schlagwerk und Orchester wird zum überragenden, mit tobender Begeisterung gefeierten Höhepunkt des Abends. Das mag zu gleichen Teilen an der effektvollen Komposition liegen wie auch an Widmungsträger Martin Grubinger, dem Schlagzeug-Wunder aus Salzburg. Er wird vom Publikum bereits wärmstens empfangen, als er vor Beginn der Aufführung noch einmal rasch die Anordnung der Instrumente kontrolliert.

Was dann folgt ist Rausch, Spektakel, Artistik und Ekstase. Sprache vermischt sich in „Speaking Drums“ mit Musik: Der Solist rezitiert während des Spiels lustige Nonsens-Gedichte von Sándor Weöres. Vom staunenden Stammeln über rasendes Sprech-Staccato bis zum markigen Urschrei reicht die Ausdruckspalette, die Grubinger mit nachgerade anarchischer Lust auskostet.

Worauf der sportlich wirkende 30-Jährige gerade herum trommelt, ist vollkommen egal. Ob er auf Röhrenglocken hämmert, auf Klangblöcke schlägt, am Xylophon wirbelt, die Trommel rührt, das Tamtam erdröhnen lässt oder das Fell einer Kesselpauke mit bloßen Handflächen traktiert: Alles geschieht mit einer furiosen Begeisterung, einem hundertfünfzigprozentigen Einsatz, der körperlich sichtbar ist und jede Skepsis, jeden Zweifel mit Hurra über den Haufen rennt. In Dortmund kippt unter Grubingers entfesseltem Spiel sogar ein Ständer mit Hi-Hat-Becken von der Bühne. Macht nichts, die Sequenz war zum Glück gerade sowieso zu Ende. Grubinger wirbelt weiter, Virtuose, Clown und asiatischer Kampfkunst-Meister in Personalunion.

Der Ungar Peter Eötvös ist als Komponist und Dirigent einer der führenden Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit (Foto: Marco Borggreve)

Der Ungar Peter Eötvös ist als Komponist und Dirigent einer der führenden Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit (Foto: Marco Borggreve)

Beinahe wird der weitere Abend darüber zum restlichen Programm degradiert. Das ist schade, denn Eötvös und das Mahler Chamber Orchestra leisten Großes. Sie lassen in den Bläsersinfonien von Igor Strawinsky somnambule Stimmungen auf frühlingshafte Klänge treffen, die geradewegs aus dem heidnischen Russland zu kommen scheinen. Von zitternden Streicher-Tremoli durchwogt, wachsen die „Jeux“ von Claude Debussy zu raffinierter Klangpracht.

An Schmerzgrenzen führt zum Abschluss Olivier Messiaens wuchtiges Orchesterwerk „Chronochromie“. Dissonante Cluster werden in bohrender Lautstärke wiederholt. Durchaus enervierend auch das Chaos der Vogelstimmen, die von 18 Solo-Streichern intoniert werden. Aber die zugleich klare und passionierte Interpretation durch Eötvös und das Orchester machen deutlich, dass es sich bei Messiaens Werk um eine logische Fortschreibung von Debussys „Jeux“ in die Moderne handelt. Obschon vom Publikum schwächer gewürdigt, zählt auch dies zu den Wundern dieses Abends.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Kommende Höhepunkte im Konzerthaus hier )




Mätzchen eines Show-Tenors: Vittorio Grigolo in Essen und Dortmund

Ein Glück, dass er nur den obersten Hemdenknopf geöffnet hat. Wer weiß, ob die enthusiasmierten Damen beim Anblick einer behaarten Brust nicht in Ohnmacht niedergesunken wären. Vittorio Grigolo, die neue italienische Tenor-Hoffnung mit der Betonung auf dem ersten „o“, hat seinen Auftritt in der Essener Philharmonie – der zwei Tage später auch im Konzerthaus Dortmund zu erleben war – zu einer Show genutzt, die sich gar nicht mehr die Mühe macht, den Anschein zu erwecken, als ginge es um die Kunst Donizettis, Verdis oder Puccinis.

Vittorio Grigolo. Foto: Alex James

Vittorio Grigolo. Foto: Alex James

Grigolo, schwarze Locken, gute Figur, dunkle Feueraugen – ein Mann, der sich vom Äußeren her zweifellos zum Tenorstar eignet. So einen brauchen die Italiener, die seit vierzig Jahren ihr musikalisches Bildungssystem und ihr Musikleben ruinieren. Einen, der den längst hohl gewordenen Mythos vom Land des Belcanto und der feurigen Hasardeure auf den Spitzen des hohen C stützt. Tatsache ist: Aus Italien kommt schon lange kein bedeutender Sängernachwuchs mehr – und auch Vittorio Grigolo ficht eher in der Nachhut als in der Attacke.

Wo es an stimmlicher Überzeugungskraft fehlt, muss die Charme-Offensive herhalten. Also wischen wir uns vor „Una furtiva lagrima“ demonstrativ eine heimliche Träne aus dem Auge, um diese sanfte, verinnerlichte, am Rande einer verzweifelten Selbsttäuschung lavierende Arie dann zu singen, wie sie garantiert nicht gemeint ist: extrovertiert, mit mangelhafter Linie, mit hochgedrückten Tönen statt eines fein dynamisierten Legatos, mit substanzlosen Piani und dem falschen Strahlen eines ziemlich hart sitzenden – und hier noch dazu unangebrachten – Forte, wenn der schüchterne Nemorino meint, bei seiner Angebeteten Spuren von Liebe entdeckt zu haben.

Grigolo bedient das Zuschauen, nicht das Zuhören. Er verzieht die Miene wie eine antike Theatermaske, stellt Schmerz oder Wonne überaffektiert aus, statt solche Gefühle stimmlich zu beglaubigen. Er wirkt wie eine Mischung aus Cecilia Bartolis artistischer Darstellungskunst und Rolando Villazóns übertriebenem Chargieren. Doch wo man den beiden das ernsthafte Engagement für die Musik, die sie ihrem Publikum präsentieren, abnimmt, drängt sich bei Grigolo vor allem der Eindruck einer abgeschmackten Fassade auf.

Denn wie soll man es sonst nennen, wenn der Tenor zu „Che gelida manina“ aus Puccinis „La Bohème“ erst mal armereibend den Menschen im Saal klarmachen zu müssen glaubt, dass an dieser Stelle gefroren wird. Wenn er sich hinkniet und seine – nach einem dünntönigen Aufstieg – respektable Höhe auf „speranza“ einer Dame in der Saalecke  hinschmettert? Und wenn er, in komischem Widerspruch zu den Frost-Signalen vorher, das Jackett auszieht und in einer pathetisch outrierten Geste auf den Boden breitet. So stellt sich Lischen Müller die Oper vor. Oder liegt die plötzliche Hitzewallung einfach daran, dass die imaginierte Mimí nun das Feuer des „Latin Lovers“ entzündet hat?

Wie auch immer, solche Eskapaden erinnern eher an Schmuseklassik à la André Rieu oder an Grigolos eigene Crossover-Vergangenheit als an eine seriöse Auseinandersetzung mit dem, was die Komponisten in ihre Musik gelegt haben. Die erste der drei Arien des Programms – mehr hatte Grigolo nicht zu bieten – eignete sich am wenigsten für pseudoszenische Mätzchen: Donizettis bewegendes „Angelo casto e bel“ aus „Il Duca d’Alba“ war mit nervöser Spannung aufgebaut. Um Brillanz zu erreichen, drückt Grigolo den Ton in die Maske. Die Folge: Die Piani können nicht auf dem Atem gebildet werden, bleiben substanzlos wie der Falsetteinsatz in der Höhe auf dem ausklingenden „dolor“.

Die Zugabe musste ein Schlager sein: Der Auftritt des Herzogs von Mantua aus Verdis „Rigoletto“ geriet beinahe zum Mitklatschen – nebst besagter Öffnung des Hemdenknopfs zwecks emotionaler Aufreizung. Die Rechnung geht, das ist das Erschütternde, weitgehend auf: Blümchen, Küsschen, Winkewinke. Da fallen diejenigen im Publikum, die nicht auf die Show hereinfallen, nicht weiter auf.

Der Mythos der „Scala“ lebt nur noch aus dem Glanz der Vergangenheit

Die Filarmonica della Scala half mit, das abgründige Niveau des Abends zu fördern; sicher auch ein Verdienst von Andrés Orozco-Estrada, der den Temperamentsbolzen am Pult mimte und so den Eindruck eines seriösen Dirigenten gefährdete. Auch die Scala lebt vom Nachleuchten eines Mythos, der längst seinen musikalischen Realitätsbezug verloren hat – und die Mailänder Musiker bestätigen das auf umwerfende Weise: So plump und lärmend ist die Ouvertüre zum „Barbiere di Siviglia“ weder in Gelsenkirchen noch in Krefeld zu hören. Das Orchester drosch auf Rossinis filigrane Noten ein, als habe es nie eine kritische Edition mit erheblichen instrumentalen Korrekturen gegeben.

Mascagnis Intermezzo aus „Cavalleria rusticana“ – dass dieser Komponist 2013 sein 150. Geburtsjahr hat, ist auch in Italien untergegangen – geriet zum seifigen Schmachtfetzen. Und in der Ouvertüre zu Verdis „Les Vêpres Siciliennes“ scheinen die saftig drauflos spielenden Scala-Musiker bestätigen zu wollen, dass diese Vorspiele zu italienischen Opern vor allem Lärm seien, um das Publikum zum Schweigen zu bringen. Immerhin: Orozco-Estrada hat den Musikern wohl nahegebracht, dass der Kontrast zwischen dem ätherischen Flirren der Geigen und den ruppig-bösen Einwürfen der Bässe musikalische Innenspannung aufbaut und Expressivität konstituiert.

Der an das Arienkonzert angeklebte zweite Teil mit Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ in der Orchesterfassung von Maurice Ravel rettete nichts mehr – trotz guter Eindrücke über die virtuose Reaktionsschnelligkeit einiger Orchestermusiker. Doch der Anlass zur Klangüberflutung wurde nicht erst am „Großen Tor von Kiew“ wieder dankbar angenommen und umgesetzt – in einer Wucht, die sich am Ende dieses desaströsen Events längst abgenutzt hatte.




Glanz und Bravour – der Countertenor Philippe Jaroussky im Konzerthaus Dortmund

Philippe Jaroussky: Gesang nicht nur von dieser Welt. Foto: Pascal Rest

Philippe Jaroussky im Konzerthaus Dortmund: Gesang nicht nur von dieser Welt. Foto: Pascal Rest

Ein Ton wie aus dem Nichts. Stark und klar geformt, mit kristallinem Glanz den Raum füllend, balsamisch strömend, um alsbald in allerlei Farben zu schimmern. Solcherart betörender Gesang, den Philippe Jaroussky anstimmt, scheint kaum von dieser Welt zu sein. Nun, immerhin formuliert der französische Countertenor gerade den Dank des Aci an Jupiter für das Geschenk der Unsterblichkeit, in Arienform gegossen von Nicola Porpora. Da darf es schonmal engelsgleich klingen.

Der italienische Komponist gilt als Meister der barocken Opera seria, war Zeitgenosse Vivaldis, zeitweise Konkurrent Händels in London, als es darum ging, die besseren Stücke und virtuosesten Sänger dem Publikum schmackhaft zu machen. Porpora schrieb mehr als 50 Opern, errang aber vor allem als der überragende Gesangslehrer seiner Zeit eminente Bedeutung. Einer seiner berühmtesten Schüler war der Kastrat Farinelli. Ihm schrieb der Komponist – zu beider Ruhm – manche Bravourarie auf den Leib.

Jaroussky hat sich davon einige der effektvollsten, virtuosesten und koloraturreichsten musikalischen Rosinen herausgepickt. Andererseits zelebriert der Counter in Dortmunds Konzerthaus das Verströmen lyrischer Episoden. Es ist ein Abend der großen Gefühle: Überbordende Freude wechselt mit Anflügen von Mitleid, Sehnsucht, unglücklicher Liebe oder stiller Zufriedenheit. Das Schatzkästlein barocker Affekte öffnet sich zu unser aller Erstaunen aufs Schönste.

Dabei wirkt die Körperlichkeit, mit der Jaroussky seine stimmliche Kunst in Szene setzt, wie eine Illustration seelischer Befindlichkeiten. Das mag bisweilen den Manierismus berühren, wie denn auch einige der sanften Melodien das Sentiment streifen. Doch des Sängers Gestaltungskraft, zudem seine traumwandlerische Sicherheit, ohne Brüche zwischen Alt- und Sopranlage zu changieren, lassen den Hang zur Überzeichnung schnell vergessen.

Des Counters Expressivität ist übrigens nicht zu verwechseln mit Verkrampfung oder Anstrengung. Denn alles Technische scheint seiner geläufigen Gurgel kaum Mühe zu bereiten. Nur wenn er sich in die Arie „Wie ein Schiff in mächtigem Sturm“ aus Porporas Oper „Semiramide“ vehement hineinwirft, verhärtet sich die Stimme leicht in der Höhe, klingt ein wenig trocken. Überwiegend aber ist Jaroussky Garant für mitreißenden Schwung und strahlenden Glanz.

Die Ovationen sind ihm sicher, doch am Erfolg des Abends ist auch das 21 Köpfe starke Venice Baroque Orchestra stark beteiligt. Das von Andrea Marcon am Cembalo umsichtig geleitet wird und sich stets im Dienste des Gesangs zurücknimmt, ohne nur beiläufig zu wirken. Das sich andererseits in einigen Instrumentalstücken, etwa in Leonardo Leos Ouvertüre zu „L’Olimpiade“, als zupackend musizierendes Ensemble beweisen kann. Mit rhythmischer Intensität und wunderbar dynamischer Differenzierung. Nur schade, dass manche Solostellen ein wenig verunglücken, etwa in Francesco Geminianis Concerto grosso.

Philippe Jarousskys Plädoyer aber für einen Barockkomponisten, auf den zumeist nur Spezialisten ihr Augenmerk richten, eröffnet dem Publikum eine neue Welt. Und zugleich beweist der Sänger, dass eine Counterstimme nicht übermäßig künstlich wirken muss, bei allem, was sie etwa von einem klassischen Sopran trennt. Dass es vielmehr möglich ist, sie in schönster Natürlichkeit aufschimmern zu lassen. Das eben ist die große Kunst.

 

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst in der WR erschienen.)




Alpiner Kraftakt: Gabriel Feltz gibt seinen Einstand als neuer Dortmunder GMD

Die Alpen (Foto: Demirsoy)

Die Alpen (Foto: Demirsoy)

Kaum ein Dirigent habe länger als fünf Jahre in Dortmund gearbeitet: So behauptete Jörg Stüdemann, Kulturdezernent der Stadt, kurz nachdem er Generalmusikdirektor Jac van Steen in einem 15-Minuten-Gespräch hinausgeworfen hatte. Was der Politiker trotzig zur Normalität erklärte, ist freilich eher Teil eines spezifisch Dortmunder Problems. Seit den Dekaden von Rolf Agop und Wilhelm Schüchter sahen die städtischen Philharmoniker ihre Chefs in rascher Folge kommen und gehen, während die Dirigenten der Nachbarstädte kontinuierliche Aufbauarbeit leisteten.

Nunmehr sind Fakten geschaffen: Gabriel Feltz ist erwählt, an die kurzatmige Kette derer anzuknüpfen, die sich um das Musikleben der Stadt verdient machten. Sein Einstand in Dortmund steht im Zeichen von Naturgewalten. Wie schon 2004 bei seinem Antritt in Stuttgart, beginnt der 1971 in Berlin geborene Dirigent mit seinem Lieblingswerk, der Tondichtung „Eine Alpensinfonie“ von Richard Strauss. Dieser lässt er die 6. Sinfonie von Ludwig van Beethoven voran gehen, bekannt unter dem Beinamen „Pastorale“. Wir hören mithin Programm-Musik, klingende Abbilder der Natur, die uns am Bach mit lieblicher Idylle umfängt und im Sturm mit wütender Gewalt begegnet. Was bei Beethoven stets zu innerem Glücksleuchten und klassischer Ausgewogenheit zurück führt, formt Strauss zum wehmütigen Sinnbild für den Kreislauf des Lebens. Aus dem Dunkel zum Zenit aufsteigend, muss alles wieder hinunter, hinab in ewige Nacht.

Feltz wagt also den alpinen Kraftakt. Greift in die Vollen, strebt zum Gipfel. Dort kommt das Orchester unter seiner Leitung auch glücklich an. Mit imposanter Kraft halten sich die Blechbläser in der Höhenluft. Wenn die Philharmoniker beim Anstieg kurzatmig wirken, liegt das vor allem an Feltz’ Eigenart, lange Fortissimo-Strecken nicht durchzuformen. Statt das Orchester unter Spannung zu halten, lässt Dortmunds neuer GMD immer wieder die Zügel nach. Regelmäßig nimmt er die Lautstärke zurück, setzt dann zu neuem Crescendo an. Schon beim Sonnenaufgang wird es in Schüben hell. Der Berg wird in vielen kleinen und größeren Anläufen erobert.

Nur phasenweise magisch

Daneben gibt es gelungene Momente: das feine Oboensolo vor der Gipfelekstase, das finale Hinabsinken der Nacht, in der die Zeit schier zum Stillstand kommt. Das atmet eine Magie, die andernorts schmerzlich fehlt. So geht es auf der Alm trotz Kuhglocken-Geläut fast erschreckend geschäftsmäßig zu. Feltz hebt Details heraus, zeigt jeden Einsatz mit Akribie, blickt wie ein gütiger Vater lächelnd auf die Musiker herab. Aber wo Strauss’ Musik zum großen Gleitflug abhebt, bleibt vieles kleinteilig oder blockhaft, letztlich dem Handwerk verhaftet. In Beethovens „Pastorale“ deutet sich das bereits an. Vieles plätschert hier flott dahin, ohne Spannung oder größere Innerlichkeit zu erreichen. Bachgeriesel, Bauerntanz und Sturmeswut ziehen viel zu folgenlos an uns vorüber, um die „dankbaren Gefühle“ im Finalsatz zu motivieren. Ein Gewitter? War da was?

Der Zauber des Anfangs wird in Dortmund durch manche Unbeholfenheit getrübt. Dazu mag das noch nicht ausgereifte Format der öffentlichen Konzerteinführung ebenso zählen wie der Versuch einer künstlerischen Beurteilung durch Jörg Stüdemann beim Empfang. Immerhin wünschte der Kulturdezernent dem neuen GMD Glück für die kommenden Jahre. Dem wollen wir uns gerne anschließen. Gabriel Feltz wird es brauchen.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen)




Fieberträume im Opiumrausch: Auftakt zur neuen Saison im Konzerthaus Dortmund

Janine Jansen interpretierte Sergej Prokofjews 2. Violinkonzert voller Intensität (Copyright: Pascal Rest)

Janine Jansen interpretierte Sergej Prokofjews 2. Violinkonzert voller Intensität (Foto: Pascal Rest)

Jetzt fährt sie die Krallen aus. Fetzt dissonante Akkorde in die Saiten, zum scharfen Klappern der Kastagnetten. Wirft sich mit ruppigem Schwung in den derben Bauerntanz, in den Prokofjews 2. Violinkonzert mündet. Verflogen ist die grüblerische Stimmung des Beginns, vorüber sind die traumverlorenen Melodiebögen des Andante assai, in dem die Geigerin Janine Jansen ihren eleganten Violinton bis in himmlische Höhen schimmern und blühen lässt.

Hier, im Konzerthaus Dortmund, musiziert die groß gewachsene Niederländerin jetzt mit aller Vehemenz. Ihr beinahe sportives Spiel, das ihre aus dem Gesicht gebundenen Haare immer wieder nach vorne fliegen lässt, verliert selbst bei äußerstem Bogendruck auf der G-Saite nicht seine durchscheinende Qualität.

Und doch sollte auf Hut sein, wer sich von ihrem ruhig und frei schwingenden Vibrato einlullen lässt, wer den Momenten schier Mendelssohn’scher Schönheit in ihrer Interpretation glaubt. Denn die Geigerin weiß um die Dämonen, die in der Partitur lauern. Da huschen Pianissimo-Läufe vorbei wie Schatten, kalt und schauerlich rieselnd. Wenn Prokofjew seine Themen in virtuose Exzesse treibt, sie durch die tiefsten und höchsten Höhen des Instrumentes jagt, schaut der Wahnsinn um die Ecke. Janine Jansen lässt ihn aufblitzen wie eine gefährliche Klinge. An einem kammermusikalischen Zusammenspiel mit dem Orchester ist der Geigerin sichtlich gelegen: Eine Tatsache, die ihre Klasse als Solistin nur noch mehr unterstreicht.

Esa-Pekka Salonen und das Philharmonia Orchestra (Copyright: Pascal Rest)

Esa-Pekka Salonen und das Philharmonia Orchestra (Foto: Pascal Rest)

Dem Dortmund von 2010 bis 2013 eng verbundenen Dirigenten Esa-Pekka Salonen und dem in London beheimateten Philharmonia Orchestra war das Eröffnungskonzert der neuen Saison anvertraut. Sie begannen mit einer Komposition des Australiers Brett Dean. Sein Orchesterstück „Testament“, inspiriert von der Musik Ludwig van Beethovens und auf dessen „Heiligenstätter Testament“ anspielend, modelliert große symphonische Klangflächen immer wieder neu. Was zu Beginn surrt und brummt wie ein Hornissenschwarm, beruhigt sich mal zu fahlem Gemurmel, baut sich dann wieder zum tumultösen Fortissimo auf. Salonen und das Orchester formen Deans Werk, als sei es Ton auf einer Drehscheibe. Zitate aus Beethovens „Rasumowsky“-Streichquartette arbeiten sie heraus, ohne den hypnotischen Sog des Werks zu verlieren.

Von hier den Bogen zum Opiumrausch des Helden aus der „Symphonie Fantastique“ zu schlagen, scheint folgerichtig. Die rasende Liebe eines Künstlers zu einer schönen Frau, die uns der Komponist Hector Berlioz in fünf Sätzen mit größter Instrumentationskunst vor Ohren führt, rauscht unter Salonens Leitung vorbei wie ein mehrteiliger Fiebertraum. Von Beginn an gehen Dirigent und Orchester aufs Ganze: Schon der erste Auftritt der „Idee fixe“ ist von solch übersteigerter Nervosität begleitet, dass ein Happy End undenkbar erscheint. Diesen Ansatz hält Salonen gnadenlos durch, unterstützt von Musikern, die jede Tempo-Eskapade und jedes dynamische Extrem mitmachen.

Niemals kehrt Ruhe ein in dieser aufregenden Interpretation, nicht einmal im pastoralen Idyll der „Szene auf dem Land“. Das Mittagslicht gleißt zu hell, um Frieden zu finden. Das ferne Rollen des Donners geht nahtlos in die düsteren Trommeln über, die den „Gang zum Richtplatz“ begleiten. Jede gespenstischer als die vorherige, so fliegen die „Szenen aus dem Leben eines Künstlers“ an uns vorüber. Der wüste „Traum einer Sabbatnacht“ kulminiert im ordinären Röhren der Tuben und Posaunen. Das mittelalterliche „Dies irae“-Thema schwillt an zu infernalischem Lärm. Das Philharmonia Orchestra schrillt und tobt, gibt seine Klangkultur trotz in Szene gesetzter Monstrositäten aber unter keinen Umständen auf. Frenetischer Beifall.

(Am Do., 19. September, gibt der Dirigent Yannick Nézet-Séguin mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra seinen Einstand als neuer Exklusivkünstler. Ticket- Hotline: 0231 – 22 696 200, Informationen unter www.konzerthaus-dortmund.de)




Benvenuto, Claudio Abbado – die neue Konzerthaus-Saison in Dortmund

Der Dirigent Claudio Abbado kommt nach Dortmund. Foto: Harald Hoffmann/DG

Elf Jahre gibt es nun das Konzerthaus Dortmund, die Philharmonie in Essen feiert 2014 ihr Zehnjähriges. Berühmte Namen und vielversprechende Nachwuchskünstler aus Klassik, Pop, Jazz und Weltmusik haben sich in den beiden großen Musikhäusern des Ruhrgebiets bereits die Klinke in die Hand gegeben. Doch nun ist dem Dortmunder Intendanten Benedikt Stampa für die Saison 2013/14 ein beachtenswerter Coup gelungen: die Verpflichtung des italienischen Dirigenten Claudio Abbado.

Erstmals gastiert der einstige Chef der Berliner Philharmoniker im Revier. Abbado, der nur noch wenige Konzerte gibt, kommt mit dem Mahler Chamber Orchestra (MCO), dessen Gründer er ist. Der Abend soll der Höhepunkt der NRW-weiten MCO-Residenz sein, die 2009 begann. Auf dem Programm am 8. November steht neben anderen Werken Beethovens 6. Sinfonie, die „Pastorale“. Pikantes Detail: Essen, ebenfalls Residenzstätte des MCO, geht in Sachen Abbado-Auftritt leer aus.

Einmal die großen Namen im Blick, verweist Stampa auf die Dortmunder Debüts der Tenöre Rolando Villazón und Klaus Florian Vogt. Neuer Konzerthaus-Exklusivkünstler für die nächsten drei Jahre ist der junge Dirigent Yannick Nézet-Séguin, erstmals tritt die Geigerin Hilary Hahn auf. Neuer Gast im Klassikkarussell à la Westfalen ist das San Francisco Symphony Orchestra unter Michael Tilson Thomas.

Intendant Benedikt Stampa stapelt, all diese Berühmtheiten im Blick, nicht tief. Es sei vielleicht das beste Programm in der Geschichte des Konzerthauses. Darüber ließe sich trefflich streiten. Eine Zeitinsel, die sich mit überwiegend bekannten Werken Antonin Dvoráks beschäftigt, kann mit den vorherigen „Inseln“ der (klassischen) Moderne, mit Kompositionen von Bartók, Messiaen oder Berg, nur bedingt mithalten. Stampa sagt, bei Dvorák käme es auf neue interpretatorische Sichtweisen an. Doch da Deutung sich bei jedem Werk als spannend erweisen sollte, geht das Argument eher fehl.

Indirekt mag Stampa das ähnlich sehen: Schließlich hat das Konzerthaus ein neues Format ins Leben gerufen, das den Titel „Kopfhörer“ trägt. An Hand von Tonbeispielen präsentiert der Musikwissenschaftler Frank Schneider eine kleine Interpretationskunde. Dvoráks berühmteste Sinfonie, die Nr. 9 („Aus der Neuen Welt“), hat er natürlich auch im Gepäck.

Zu der Reihe gesellt sich im übrigen ein gewichtiges Geschwister in Form einer zehnteiligen Vortragsreihe des Musikprofessors Michael Stegemann. „Von Waterloo bis Sarajewo – ein europäisches Jahrhundert im Spiegel der Musik“ wird dann einmal pro Monat aufgeblättert. Solcherart kernige Geisteskost – Ähnliches serviert, wie berichtet, das Essener Aalto-Theater seinem Publikum – ist Teil einer Vermittlungsoffensive, die Benedikt Stampa offenbar besonders am Herzen liegt.

Für ihn bedeutet der kernige Leitsatz „Musik für alle“ nämlich nicht weniger, als das Publikum generationenübergreifend ans Haus zu binden. Besondere Zielgruppe der neuen Education-Reihen seien dabei die Menschen zwischen 35 und 50 Jahren. Stampa ist offenbar überzeugt davon, dass ein alter Werbespruch, hier leicht abgewandelt, noch immer Gültigkeit besitzt: „Man hört nur, was man weiß“.

Nun, das Anliegen ist hehr, und es wird sich zeigen, wieviel Nachfrage besteht in Sachen musikalischer Weiterbildung. Guten Zulauf hat das Konzerthaus indes schon jetzt. Für diese, noch nicht ganz beendete Saison, rechnet Stampa mit einer Auslastung nahe 72 Prozent – eine Quote, die andere Kulturanbieter in Dortmund gerne hätten.

Alle Informationen zum neuen Programm unter www.konzerthaus-dortmund.de

 

 




Kühle Noblesse, inneres Glühen: Julia Fischer spielt Dvořák im Konzerthaus Dortmund

Julia Fischers neue CD mit Violinkonzerten von Antonín Dvořák und Max Bruch erscheint am 15. März (Copyright: DECCA/Uwe Arens)

Julia Fischers neue CD mit Violinkonzerten von Antonín Dvořák und Max Bruch erscheint am 15. März 2013 (Copyright: DECCA/Uwe Arens)

„Wollen Sie mir ein Violinkonzert schreiben? Recht originell, kantilenenreich und für gute Geiger? Bitte ein Wort!“, schrieb der deutsche Musikverleger Fritz Simrock 1879 an den tschechischen Komponisten Antonín Dvořák. Dieser Auftrag wurde prompt übererfüllt. Dvořák schuf ein weithin leuchtendes Meisterwerk der Gattung: kraftvoll symphonisch, sehnsuchtsvoll lyrisch, spieltechnisch brillant und überströmend reich an Melodien.

Verzichtet hat der Komponist auf eine Solo-Kadenz und die damit verbundene Zurschaustellung von Virtuosität. Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum sein Werk im Konzertsaal ungleich seltener zu erleben ist als die Violinkonzerte von Beethoven, Brahms, Mendelssohn, Sibelius und Tschaikowsky.

Eine Geigerin wie Julia Fischer kann ihre Brillanz freilich auch ohne solistische Ehrenrunde ausspielen. Im Konzerthaus Dortmund erfüllt sie Dvořáks Romantik mit einer zurückhaltenden Noblesse, aus der es gleichwohl glühend leuchtet. Begleitet vom Tonhalle-Orchester Zürich, mit dem sie das Werk auch auf ihrer jüngsten CD eingespielt hat, geht sie im straffen Tempo vor, erlaubt sich selbst keine Schwärmereien. Wo andere Interpreten förmlich im Violinklang baden, bleibt Julia Fischers Ton gläsern klar, ihre Linienführung bei aller Eleganz beinahe streng.

Der Hauch von Kühle, der da herüber weht, wird indes köstlich gemildert. Julia Fischer kann Farben abdunkeln, bis sie samtig, ja sphinxhaft unergründlich klingen. Sie kann ihrer Violine feinste Verschattungen abgewinnen, im Virtuosen aber auch blitzend auftrumpfen. Den Kopfsatz spielt sie mit kraftvoller Grandezza, im Finale steigert sie sich mit sichtbarer Freude in jubelnde Höhen hinein. Stets hält sie dabei den Kontakt zum Orchester, das die klangliche Balance trefflich hält. Julia Fischer sucht den Dialog, bettet den Solo-Part mit großer Stilsicherheit in die Gesamtpartitur ein. Absolut umwerfend, vielleicht sogar ohne Gleichen ist die Intonationsreinheit ihres Spiels. Frenetischer Beifall für eine der interessantesten Geigerinnen unserer Zeit.

Für den erkrankten Chefdirigenten David Zinman hatte Michael Sanderling die Leitung der kleinen Konzertreihe übernommen, die von Zürich aus in vier deutsche Städte führte. In Dortmund stürmt das Tonhalle-Orchester Zürich zunächst mit einigen Präzisionsverlusten in die Konzertouvertüre „Le Corsaire“ von Hector Berlioz hinein, zeigt sich in Tschaikowskys 4. Sinfonie dann aber in glänzender Verfassung. Dabei scheint Michael Sanderlings Lesart jedem Knalleffekt ängstlich aus dem Weg gehen zu wollen: Der Dirigent schlägt im Kopfsatz ein sehr gemessenes Tempo an, nimmt den Fanfaren des „Fatum“ genannten Schicksalsthemas jedes Schmettern, rundet alles Zackige durch Überbindungen. Das mag zunächst irritieren, aber Sanderling entwickelt das Werk aus einer skeptisch-zögerlichen Grundhaltung heraus. Das führt schließlich doch zu flammender Dramatik. Die Streicher entwickeln einen bohrenden Unisono-Klang, die Blechbläser demonstrieren ihre Kraft, ohne je grob zu werden. Erlesen auch die Soli der Holzbläser, deren Arabesken im zweiten Satz nahezu exotisch schillern. Im Tutti fügt sich der Klang der Instrumentengruppen nahtlos ineinander. Die nahezu perfekte Verblendung der Register führt zu großer Wucht, die stets wunderbar kultiviert bleibt.

(Informationen zum Programm des Konzerthauses: www.konzerthaus-dortmund.de)




Die Stradivari als Flachbrett: Ray Chen im Konzerthaus Dortmund

Ray Chen 3(c)Chris Dunlop

Ray Chen (24) wurde in Taiwan geboren, wuchs in Australien auf und lebt heute in Amerika (Foto: Chris Dunlop)

Achtung, bitte anschnallen, gleich geht es los. Der zweite Satz von César Francks Violinsonate A-Dur steht bevor. Wild wird es im Konzertflügel brodeln, bevor die Violinstimme hinzu tritt: überstürzt lospreschend wie jemand, der immer gleich zwei oder drei Stufen auf einmal nimmt. Vor Leidenschaft schier taumelnd, wird sich ihr Thema vehement in die dunkelsten Farben der G-Saite wühlen.

Für den Geiger Ray Chen ist damit die Gelegenheit gekommen, als der „Junge Wilde“ hervor zu treten, als den das Konzerthaus Dortmund ihn jetzt präsentiert. Der gleichnamigen Nachwuchsreihe, der er drei Spielzeiten lang verbunden bleiben wird, kann er nun seine Reverenz erweisen.

Erwartungsgemäß geht Chen zur Attacke über. Er versetzt der vor Erregung kurzatmig abgerissenen Melodie scharfe Akzente, versucht seiner Stradivari alles Feuer zu entlocken. Was dabei heraus kommt, klingt hart und überraschend dünn. Der Violinton ist laut, aber ohne Tragkraft, forciert und in der Tiefe farbarm. Die kostbare „Lord Newlands“-Stradivari aus dem Jahr 1702, deren Strahlkraft und Durchsetzungsvermögen Isaac Stern einst rühmte, klingt unter Chens Händen nach einem enttäuschend flachen Stück Fichte. Auf die dramatischen Beleuchtungswechsel in Francks Sonate, auf ihre grüblerischen Abgründe versteht der 24-Jährige Sunnyboy sich nicht. Ihre existenziell gefährdete Fragilität, ihre schillernden Bruchstellen sind bei ihm wie mit einer Teflon-Schicht überzogen. Da bleiben alle Emotionen leicht abwaschbar. Wo Franck uns von der morbiden Schönheit fast verblühter Rosen erzählt, reicht Ray Chen uns einen Strauß mit Plastikblumen.

Auf der heiteren Seite der Musik fühlt sich der in Taiwan geborenen Australier, der am Curtis Institute of Music in Philadelphia ausgebildet wurde, weitaus wohler. In den salonhaft-eleganten Violinstücken von Saint-Saëns kann er seinen jungenhaften Charme spielen lassen, dem Violinton in der Höhe Süße geben und mit fixen Fingern ein Feuerwerk der Virtuosität zünden. Da gibt es fliegende Aufstrich-Staccati zu bestaunen, feine Flageolett-Töne und rasante Läufe, die sich mit größter Beweglichkeit in höchste Höhen schrauben. In zackiger Rhythmik lässt Ray Chen Saint-Saëns‘ „Introduktion und Rondo capriccioso“ tänzeln, zeigt dabei auch Freude an seinem technischen Können. Die effektvollen Piècen kommen geigerisch nahezu blitzsauber daher: Dass Chen als Musiker nicht weit unter die Oberfläche dringt, fällt bei diesen Stücken weniger ins Gewicht.

Nach gründlichem Exerzitium klingt Johann Sebastian Bachs E-Dur-Partita für Violine solo, mit der er den Abend eröffnet. Chen geigt das eröffnende Preludio schlank und klar, mit einem wie aus dem Handgelenk geschüttelten Detaché-Strich in der oberen Bogenhälfte. Er akzentuiert die silberhellen Farben der Tonart und unterstützt diese Tongebung in den Folgesätzen mit sparsamen Vibrato. Sein Timing und sein Rhythmusgefühl sind treffsicher, was besonders der Bourrée zu Gute kommt.

Warum sein Bach-Spiel trotzdem unter einer gewissen Farblosigkeit krankt, wird erst in der Reflexion dieses Werks durch den belgischen Geiger und Komponisten Eugène Ysaye ganz deutlich. Chens Ausdrucksmöglichkeiten sind viel zu begrenzt, um den Dämonen beizukommen, die bei Ysayes zweiter Solo-Sonate mit dem Beinamen „Obsession“ hinter jedem Takt lauern. Die zwanghaft anmutende Verschränkung von Bachs Solo-Partita mit dem mittelalterlichen „Dies irae“-Motiv aus der lateinischen Totenmesse nimmt bei ihm keine überzeugende Form an. Vielmehr ist seine Interpretation unentschlossen und geprägt von willkürlich zerdehnten Tönen, die bedeutungsvoll den Zeigefinger erheben, ohne etwas zu sagen zu haben. An die Stelle einer eigenen Handschrift treten Manierismen. Die Stimmführung zersplittert, der „Tanz der Schatten“ (Danse des ombres) wird zu einer seltsamen Pizzicato-Polka. Vom Kern der Musik ist Ray Chen hier einmal mehr weit entfernt.

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Weitere Informationen zur Nachwuchsreihe „Junge Wilde“ im Konzerthaus Dortmund gibt es hier.




Wagner als Schenkelklopfer: „Mnozil Brass“ im Konzerthaus Dortmund

Kinderüberraschung: "Mnozil Brass" feiert den 200. Geburtstag von Richard Wagner mit dem humoristischen Programm "Hojotoho!" (Foto: Mnozil Brass/Cartsten Bunnemann)

Kinder Überraschung: „Mnozil Brass“ feiert den 200. Geburtstag von Richard Wagner mit dem humoristischen Programm „Hojotoho!“ (Foto: Mnozil Brass/Carsten Bunnemann)

Wagalaweia, wer schnappt sich die Wurst? Das Waldvögelein wird flugs zur diebischen Elster. Auch andere Tiere entwickeln mächtig Appetit ob der Leckerbissen, die Siegfried aus seinem Wanderrucksack kramt. Zum Glück braucht es nicht viel, um den tumben Trottel abzulenken.

So wild Siegfried auch mit dem Holzschwert fuchtelt: Eine Wurst nach der anderen wird ihm gemopst. Viermal staunt er hierüber Bauklötze, dann kratzt er sich vor Verlegenheit mit dem Schwert den Rücken. Aber ach, er gerät dabei an das Eichenblatt, das Wotan ihm zuvor aufs Schulterblatt gepappt hat. Da liegt er denn tot, der traute Tor. Und das Publikum johlt vor Vergnügen, während die Musiker des Blechbläser-Ensembles „Mnozil Brass“ einen Trauermarsch anstimmen.

Der humoristische Beitrag zum 200. Geburtstag von Richard Wagner, den die sieben Österreicher nach der Uraufführung in Bayreuth nun auch im Konzerthaus Dortmund vorstellten, bietet zwei Stunden lang Nonsens zum Schenkelklopfen. Unter dem Titel „Hojotoho!“, bekannt als Schlachtruf der Walküre, ist Wagner zum Totlachen angesagt. Um Leitmotive effektvoll durch den Stilmixer zu jagen, hampeln sich die Gralsritter des virtuosen Blechs durch eine dramaturgisch sinnfreie Abfolge von Szenen, die fern an die Hanswurstiaden des Alt-Wiener Volkstheaters aus dem 18. Jahrhundert erinnert. Dem Oberhanswurst Thomas Gansch (Trompete), mit Backenbart und Baskenmütze unschwer als Widergänger des Meisters zu erkennen, machen freilich sechs Nebenhanswürste Konkurrenz, die auch alle zeigen wollen, was sie drauf haben.

Das führt zu Clownerien wie aus der Roncalli-Manege. Regisseur Philippe Arlaud, der in Bayreuth einst einen quietschbunten „Tannhäuser“ inszenierte, macht aus dem tollen Treiben einen musikalischen Kindergeburtstag. Gefeiert wird mit Partytröten und spitzen Papier-Hütchen. König Ludwig streut Schwanenfedern (Roman Rindberger, Trompete), Siegfried träumt unter dem „holden Abendstern“ von Amerika (Robert Rother, Trompete), Wotan versucht mit dem Dirigentenstab einen Teddybären mit Augenklappe zu erstechen (Leonhard Paul, Posaune). Das Spiel mit solchen Symbolen bleibt indes oft unverständlich. Im Publikum, das sich ansonsten wie Bolle amüsiert, ist immer wieder auch Verunsicherung zu spüren. War das jetzt eine Pointe? Dürfen wir lachen? Dass die äußerst aufwändige Licht-Regie von Philippe Arlaud an diesem Abend nicht ohne Patzer funktioniert, trägt mit zur Verwirrung bei.

In der virtuosen Beherrschung ihrer Instrumente zeigen sich „Mnozil Brass“ aber über jeden Zweifel erhaben. Kein Ton ist den Musikern zu hoch, kein Arrangement zu schwer. Mühelos gleiten sie vom deutschen Leitmotiv-Dschungel in den Big-Band-Sound amerikanischer Großstädte, vom Meistersinger-Vorspiel in eine Tschaikowsky-Sinfonie und vom Tannhäuser zum Tango. Ihr komisches Talent und ihre Entertainer-Qualitäten verjuxen sie indes auf niederem Niveau. Es braucht einfach mehr als Blödelei und Stepptanz-Einlagen, um einem Genie wie Richard Wagner mit Humor beizukommen. Vicco von Bülow alias Loriot hat das gewusst, als er mit wenigen Worten den gesamten „Ring des Nibelungen“ aufspießte. Wo er auf feingeistigen Spott und Hintersinn setzte, macht sich heute breit, was als „Comedy“ über TV-Kanäle flimmert. Lustig? Billig? Ach, egal. Es ist eh’ alles Wurst.

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Informationen zu Mnozil Brass: www.mnozilbrass.at

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen).




Wagner-Jahr 2013: „Parsifal“ im Dortmunder Konzerthaus – zurück zur Mystifizierung?

Angela Denoke und Simon O'Neill in "Parsifal" im Dortmunder Konzerthaus. Foto: Petra Coddington

Angela Denoke und Simon O’Neill in „Parsifal“ im Dortmunder Konzerthaus. Foto: Petra Coddington

Wagner und die Religion: In keinem anderen Werk kristallisiert sich dieses Verhältnis so heraus wie im „Parsifal“, der die „Weihe“ schon in seiner Bezeichnung trägt.

Spätestens seit der tempophilen Aufnahme mit Pierre Boulez gehört es zum gängigen ideologischen Repertoire moderner Deutungen, vom „Bühnenweihfestspiel“ den Weihrauch wegzublasen. Schluss mit der Mystifizierung, weg mit den erhabenen Tempi vergangener Tage – und das mit Unterstützung durch Wagner-Zitate, etwa der Klage, seine Musik werde doch stets viel zu langsam gespielt.

Nun ist die Frage nach dem Religiösen in Wagners Philosophie – die sich ja nicht auf die Musik beschränkt – ein Irrgarten mit vielen Ausgängen. Und Inszenierungen der letzten Jahre (von Schlingensief in Bayreuth bis Bieito in Stuttgart) haben sich dem Thema sehr unterschiedlich genähert. Einig waren sie nur in einem: Mit der „Kunstreligion“ alter Prägung wollten sie nichts mehr zu tun haben.

Genau jene holt nun Thomas Hengelbrock wieder in den Konzertsaal. So sehr er musikalisch für den Weg zurück zu den Klangvorstellungen der Zeit Wagners als Schritt vorwärts wirbt, so konservativ wünscht er historisch gewordenes Verhalten: Bei der Aufführung des „Parsifal“ auf Instrumenten der Wagner-Zeit im Konzerthaus in Dortmund fordert er auf, nach dem ersten Aufzug nicht zu applaudieren, bringt erste Klatscher mit einer Geste zum Schweigen. Sind wir wieder in der Kunstkirche Richards des Allergrößten? Was soll die Retro-Mystifizierung der Grals-Enthüllung zum Pseudo-Gottesdienst?

Dass Hengelbrock ansonsten musikalisch nichts „heilig“ ist, steht dazu in einem auffälligen Gegensatz: Denn der Dirigent, der seit Jahren für frischen Wind in der Szene der „historisch informierten“ Aufführungspraxis gesorgt hat, hinterfragt auch im Falle Wagners konsequent die bisherigen Gepflogenheiten. Bach, Händel, Mendelssohn auf Darmsaiten? Keine Frage! Aber Wagner auf organischem Material? Das war für viele Musiker, obwohl historisch unhinterfragbar, bisher kein Thema. Kritisch sieht Hengelbrock auch den Klang moderner Holzblasinstrumente. Flöte, Oboe, Englischhorn: In seinem Balthasar-Neumann-Ensemble, mit dem er in Dortmund – und bald in Essen und Madrid – den „Parsifal“ konzertant aufführt, spielen nicht moderne Weiterentwicklungen, sondern sorgfältig durch Quellen und Studien abgesicherte Instrumente, wie sie sich Wagner wohl gewünscht oder wie er sie gehört hat.

Das Ergebnis ist in vielerlei Hinsicht erhellend: Ein schlanker, lichter Streicherklang, der durchaus die Substanz für das überwältigende Crescendo mitbringt; flexible, farbenreiche Holzbläser, die eigenständig neben die Streicher treten, statt wie in „konventionellen“ Aufführungen oft lediglich als Farbakzent im Mischklang wahrnehmbar zu sein. Auch das markante Blech bringt ein Spiel voller Nuancen und koloristischer Finessen mit ein. Selten waren die Bläser zu Beginn des Klingsor-Aktes so rau zu hören wie in Dortmund: Das Böse grinst aus ihrem Spiel.

Kein Zweifel: Das Erlebnis des Klangs wird vielfältiger, detailreicher. Schwerer herzustellen sind freilich jene geheimnisvollen, unverortbaren, sensualistischen Mischungen, die – auch ohne Plädoyer für den Weihrauch in der Musik – die Faszination des „Parsifal“-Klangbilds ausmachen. Wagner war, glaubt man seinen eigenen Beschreibungen, von diesem mystisch angehauchten, aus weiter, weiter Ferne schwebenden Ton fasziniert und berührt. Und er steht für viele „Parsifal“-Anhänger ja auch für jene zeitlose Mystik, die dem Werk innewohnt. Um ihn zu schätzen, muss man keine mystische Vernebelung betreiben; aber vielleicht gilt es anzuerkennen, dass ein „Parsifal“ ohne Transzendenz, wie er einer materialistischen Deutung vorschwebt, dem Werk und den Intentionen seines Schöpfers nicht gerecht wird.

Die Problematik der Hengelbrock’schen Deutung sehe ich eher im Tempo und in der Phrasierung. Schon im Vorspiel lässt er keine Zeit, den Ton ausschwingen zu lassen, schneidet die Phrasen allzu korrekt zurecht. Sein Karfreitag mutet eher an wie die Prozession einer preußischen Militärmusik. Hengelbrock meidet vor allem in rein instrumentalen Teilen eine atmende, organische Phrasierung – die er den Sängern ohne weiteres zugesteht. Das macht die „Parsifal“-Musik manchmal steif und im schlimmsten Falle belanglos: ein Manko, das seinem Bayreuther „Tannhäuser“ 2011 in Teilen des Feuilletons und des Publikums zu Recht viel Kritik eintrug.

So fehlt dann auch die Zeit für den Klang, sich einzuschwingen – ein Phänomen, das durch den historisch fragwürdigen Verzicht auf jegliches durchgehendes Vibrato noch verstärkt wird. Dennoch: Hengelbrocks Experiment wirft auf den „Parsifal“ und auf das Mühen um einen historisch verantworteten und musikalisch tragfähigen Klang für Wagner ein aufschlussreiches Licht. Er hat mit seinem „Parsifal“ nicht der Weisheit letzten Schluss vorgelegt, aber einen Meilenstein gesetzt. Anderen ist es aufgegeben, diesen Weg weiterzugehen.

Frank van Hove als Gurnemanz in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Frank van Hove als Gurnemanz in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Unter den Sängern der Dortmunder Aufführung darf Angela Denoke an erster Stelle genannt werden: Ihre Kundry war beglückend entspannt, geistig durchreflektiert und mit stimmlichen Mitteln bewegend gestaltet. Die Sängerin hat einen langen und bisweilen dornigen Weg der stimmlichen Entwicklung hinter sich; das Ergebnis ist rundum überzeugend. Auch Johannes Martin KränzlesKlingsor erschöpft sich nicht in einer schönen, wohlgeformten Stimme, sondern bringt mit Hilfe einer reifen Technik zum Ausdruck, was in dieser komplexen Figur steckt: Die aus Verletzungen und Traumata erwachsende Bosheit hat selten ein Sänger so überzeugend in vokale Farben getaucht.

Der Gurnemanz wurde erst kurzfristig mit dem Bass Frank van Hove besetzt: eine klare, nicht sehr große, geradlinige Stimme, ausgezeichnet artikulierend und sorgfältig den Text ausdeutend, freilich auch ohne die Sonorität und Fülle einer klassischen Wagner-Stimme. Diesem Ideal kommt eher Victor von Halem als Titurel entgegen; allerdings muss man bei ihm auch die kehlige Färbung der Töne in Kauf nehmen. Simon O’Neills Parsifal war trotz seines gestalterischen Engagements keine Offenbarung: zu klein, beengt in der Emission, knödelig quäkend im Ton. Nur im zweiten Aufzug gelang es ihm, sich zu befreien, seinen Tenor hin und wieder strömen zu lassen statt ihm eine grelle Tonproduktion aufzudrängen.

Mit großen Erwartungen befrachtet, enttäuschte Matthias Goernes Auftritt als Amfortas. Es ist vor allem das gedeckte, unfreie Timbre, das den Klang eindimensional werden lässt, dazu kommen guttural klingende Vokale und begrenzte Expansionsfähigkeit. Seine Textausdeutung dagegen ist tadellos und verrät die Erfahrung des Liedsängers. Der Balthasar-Neumann-Chor und die Knaben der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund beschworen eher Palestrina – mit dem sich Wagner eingehend befasst hatte – als den füllig-sensiblen Klang, der aus den mystischen Höhen Bayreuths herabströmt. Am 26. Januar ist der Hengelbrock’sche „Parsifal“ in der Philharmonie Essen zu erleben.




Ein Mensch zerbricht: Alban Bergs „Wozzeck“ im Konzerthaus Dortmund

Johan Reuter als "Wozzeck" (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Mit versteinertem Gesicht steht er da: Ein Bär von einem Mann, bebend, die Hände an der Hosennaht. Sichtlich gequält, aber wehrlos. Ein gefesselter Gigant, ein Vulkan kurz vor der Eruption.

Das ist Johann Christian Woyzeck, in der Oper von Alban Berg schlicht „Wozzeck“ genannt. Ein armer Soldat, der sich für ein wenig Geld krumm macht, der von seinen Vorgesetzten schikaniert und von seinen Mitmenschen mitleidlos ausgenutzt wird. Eine Kreatur wie ein geprügelter Hund.

Es hat ihn um 1800 wirklich gegeben, den Sohn eines Leipziger Perückenmachers, der aus Eifersucht zum Mörder wurde. Sein Schicksal befeuerte Georg Büchner zu seinem berühmten Dramenfragment und Alban Berg zu seiner bahnbrechenden Oper. Die Alban Berg gewidmete „Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund erreichte durch einen exzellent besetzten „Wozzeck“ jetzt erschütternd intensive Stunden.

Vom Bariton Johan Reuter kann dabei kaum die Rede sein, denn der ist eigentlich gar nicht da. Der in Kopenhagen geborene Sänger muss sein wahres Ich wohl in der Garderobe abgelegt haben, um sich ganz und gar in Wozzeck zu verwandeln. Und so hetzt er über die Bühne als ein Getriebener, der Stimmen hört und die Erde unter seinen Füßen wanken fühlt. Wie mit Überdruck bricht die Titelfigur aus diesem großartigen Sängerdarsteller heraus. Seine Stimme gibt uns den Rest: vibrierend vor Erregung, steigert sie sich schubweise zu Ausbrüchen einer Verzweiflung, deren Wucht uns fortreißt wie eine Naturgewalt. Wozzeck stammelt, er stöhnt, er brüllt auf. Da gibt es kein Entrinnen: Seine Verstörung springt uns förmlich auf den Schoß, seine Qual wird die unsere.

Die wunderbare Angela Denoke ist als Marie eine herrlich vielseitige Partnerin. Aus ihrem klaren, reifen Sopran klingt die Einsamkeit der vernachlässigten Frau, die Rat- und Trostlosigkeit angesichts eines Mannes, dessen Zustände sie immer weniger versteht. Zugleich ist sie zärtlich als liebende Mutter, giftig als zänkische Nachbarin, buhlerisch schmeichelnd im Flirt mit dem Tambourmajor. Auch die Denoke kann sich bis zum stöhnenden Aufschrei steigern. Ins schier Uferlose aber wächst Maries Jammer, wenn sie in stiller Verzweiflung um Vergebung ihrer Sünden betet.

Die Nebenrollen sind erwartungsgemäß stark besetzt: der Hauptmann (mit leichter Tendenz zur Überzeichnung: Peter Hoare), der Doktor (zu Beginn etwas steif: Tijl Faveyts) und der Tambourmajor (mit auftrumpfender Macho-Attitüde: Hubert Francis) sind ein treffliches Trio infernale, das Wozzeck das Leben zur Hölle macht. Zum Erlebnis wird der Abend auch deshalb, weil das Philharmonia Orchestra und die Sänger der Dortmunder Chorakademie immer wieder punktgenaue Schlaglichter auf das Geschehen werfen. Bergs bestechend dichte, psychologisch aufgeladene Partitur wird so zum Kommentar, der mehr sagt als tausend Worte. Zuweilen greift Esa-Pekka Salonen am Dirigentenpult so beherzt in die Fortissimo-Skala, dass die Gesangssolisten nur mehr als Farbe in der Klangorgie wahrzunehmen sind. Rauschhaftem Musikgenuss steht das aber nicht unbedingt entgegen. Es war diesmal nicht die Lautstärke, die das Publikum zum Jubeln brachte.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Sternstunde des Strauss-Gesangs: Anja Harteros im Konzerthaus Dortmund

Anja Harteros erntete als Strauss-Interpretin Ovationen (Foto: Pascal Amos Rest/Konzerthaus Dortmund)

Manch gefeierte Gesangsstimme unserer Tage gleicht ja einem Stück Haute Couture: Das Material ist luxuriös, die Verarbeitung aufwändig und der Zuschnitt perfekt. Es gibt aber auch Stimmen, die trotz aller Gesangstechnik im Kern natürlich geblieben sind. Stets gefährdet und gerade dadurch kostbar, lassen sie den durchgestylten Gala-Glanz mühelos erblassen.

Eine solche Stimme besitzt Anja Harteros, die jüngst im Konzerthaus Dortmund mit Liedern von Richard Strauss zu erleben war. Begleitet wurde die Sopranistin vom Concertgebouw-Orchester Amsterdam, das aufgrund einer Erkrankung seines Chefdirigenten Mariss Jansons unter der Leitung des 27-jährigen Franzosen Alexandre Bloch spielte.

Für die Tournee mit den „Königlichen“ hat die Sängerin sechs Lieder mit melancholischem Grundton ausgewählt. So beschwören „Waldseligkeit“ und „Zueignung“ die Einsamkeit des Liebenden, „Allerseelen“ und „Morgen!“ gar die Wiedervereinigung im Jenseits. Die Harteros taucht das in flammende, üppig changierende Farben der Wehmut. Weit und mühelos greift ihr Sopran ins Mezzo-, ja sogar ins Alt-Register aus. Ihre langen Legato-Bögen, die selbst im Mezzopiano unangestrengt über das Orchester hinweg schweben, erreichen im „Wiegenlied“ eine delikate, silbrige Zärtlichkeit. So sehr sie „Morgen!“ in fahle Transzendenz taucht, so glühend lässt sie die Emotionen in der „Zueignung“ überströmen. Jedes Wort kann sich aus dem Munde dieser Sängerin unversehens zum Himmel weiten, jede harmonische Rückung kann neue Welten eröffnen. Anja Harteros begegnet der hohen Liedkunst von Richard Strauss mit Bescheidenheit und Größe, mithin als überragende Interpretin.

Vor großen Herausforderungen stand der junge Einspringer Alexandre Bloch. Nach der brillanten, schwungvoll musizierten Ouvertüre „Der Widerspenstigen Zähmung“ aus der Feder des Niederländers Johan Wagenaar hatte der Dirigent zwei Schwergewichte der Orchesterliteratur zu bewältigen: Jörg Widmanns „Teufel Amor“, inspiriert von einem Gedichtfragment von Friedrich Schiller, sowie die Tondichtung „Tod und Verklärung“ von Richard Strauss. Beide Mammut-Partituren zeugen von rauschhafter Instrumentierungskunst und behandeln das Orchester äußerst virtuos.

Beherzt schöpft Bloch aus den Klangmöglichkeiten, die ihm das Amsterdamer Spitzenensemble bietet. In Jörg Widmanns 2011 entstandenen Sinfonischen Hymnos spielt er mit Registern, als habe er eine große Orgel vor sich. Bloch arbeitet sich vom grüblerisch-bedrohlichen Dröhnen der Blechbläser vor, steigert das Werk zu Apotheosen, die wiederum ins Geisterhafte abgleiten. Selbst im robusten Dauer-Forte legt er viele spannende Schichten frei. Im Herzen bleibt er dabei ein Romantiker, der uns Widmanns Werk als Fortschreibung von Traditionslinien zeigt, die von Richard Strauss und Gustav Mahler in die Zukunft weisen. In „Tod und Verklärung“ setzt er der schleppenden, nachtschwarzen Einleitung ein leidenschaftliches Aufbegehren entgegen, das immer neu auflodert. Die Verklärungsmusik klingt indes überraschend diesseitig. Den letzten Perspektivwechsel, der alles zuvor Erklungene wie von oben herab betrachtet, enthält Alexandre Bloch uns an diesem Abend vor.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Vom Fluch frühen Ruhms: Der Pianist Jan Lisiecki im Konzerthaus Dortmund

Jan Lisiecki (17) gab im Konzerthaus Dortmund seinen Einstand in der Nachwuchsreihe "Junge Wilde" (Copyright: DG/Mathias Bothor)

Scheu vor seinem Publikum kennt Jan Lisiecki offenbar nicht. Mit volltönender Stimme, die im Konzerthaus Dortmund auch ohne Mikrofon bis in die letzten Reihen dringt, erläutert der 17-jährige Pianist kurz sein Programm, bevor er sich an den Flügel setzt. Das wirkt souverän und weckt Sympathien, die der Blondschopf als neuer Nachwuchskünstler in der Reihe „Junge Wilde“ ohnehin auf seiner Seite haben dürfte.

Ein Kinderspiel ist Lisieckis Auftritt deshalb noch lange nicht. Denn er stellt sich im gleichen Moment übergroßen Erwartungen, geweckt von der künstlich aufgeregten Werbekampagne einer Plattenindustrie, die den im kanadischen Calgary geborenen Sohn polnischer Eltern so hartnäckig wie bedenkenlos als „Wunderkind“ vermarktet. Da wird das „ausgereifte und poetische Spiel“ des Kanadiers bejubelt, da wird ohne nähere Begründung der Name einer Jahrhundertkünstlerin wie Martha Argerich in den Raum geworfen, als dränge sich dieser abstruse Vergleich auf. Welche Hypothek dies für die Zukunft eines jungen Musikers bedeutet, interessiert wohl sekundär.

Auf der Konzerthaus-Bühne wirkt Lisiecki erfrischend unbefangen. Nicht belehrend, sondern locker und charmant wendet er sich an sein Publikum. Als er am Flügel Platz nimmt, verwandelt er sich vom Moderator in einen Träumer. Mit feinen Fingern und viel Poesie versucht er sich an einige Préludes des Franzosen Olivier Messiaen heran zu tasten. Diese Clarté weist stark zurück in Richtung eines Claude Debussy. Der von Glaubensgewissheit erhellten Musik Messiaens, von manchen zu Unrecht der Nähe zum Kitsch verdächtigt, tut dieser Zugriff nur bedingt gut.

Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 1 B-Dur sei das Schlüsselwerk für die Konzeption der ersten Programmhälfte gewesen, hatte Lisiecki im Vorfeld erklärt. Um Klarheit der Stimmen und tänzerischen Schwung bemüht, leidet seine Interpretation unter schwankendem Zeitmaß. Ludwig van Beethovens 24. Klaviersonate, lyrisch und zurückhaltend im Tonfall, kommt Lisiecki mit seinem zarten Zugriff nicht bei. Die Themen gewinnen keinen eigenen Charakter, keine glaubhafte Entwicklung. Hoffen lassen die „Variations sérieuses“ von Felix Mendelssohn Bartholdy: Da der Variationssatz hier den Weg vorgibt, kann Lisiecki ihm mit Hingabe folgen und einiges an Feuer entwickeln.

Frédéric Chopins Études op. 25 verdeutlichen noch einmal Lisieckis Schwierigkeiten, sinnstiftende musikalische Bezüge zu schaffen. Die Mittelteile der überwiegend in ABA-Form komponierten Etüden klingen bei Lisiecki wie herausgeschnitten, stehen isoliert neben dem Rest des Werks. Beachtliche Fingerfertigkeit kann der junge Pianist jedoch demonstrieren, was ihm den herzlichen Applaus seiner Zuhörer sichert.

In den Tagen nach seinem Dortmunder Einstand tourt Lisiecki durch Japan, tritt dann in Deutschland, Italien, Kanada und New York auf. Sein Terminkalender ist zum Bersten gefüllt. So geht es wohl zu in der Welt des frühen Ruhms und der gut gefüllten Kassen. Wen kümmert es da schon, wer am Ende die Zeche zahlt.