Klangsammler mit feiner Feder: Das Konzerthaus Dortmund würdigte Beat Furrer zum 70. Geburtstag mit einer „Zeitinsel“

Der Komponist Beat Furrer deutet auf die schroffen Kalkgipfel im Gesäuse, einer Gebirgsgruppe in der Steiermark, die größtenteils zum Nationalpark erklärt wurde. (Foto: Konzerthaus Dortmund)

Er wehrt sich gegen das Bild des versponnenen Elfenbeinturm-Bewohners. Obwohl der Komponist Beat Furrer, gebürtiger Schweizer, in einem abgeschiedenen Forsthaus in den österreichischen Bergen arbeitet, beteuert er im Podiumsgespräch mit dem Konzerthaus-Intendanten Raphael von Hoensbroech: „Ich möchte mich nicht zurückziehen. Ich lebe in dieser Welt und nehme Anteil an ihr.“ Das Konzerthaus Dortmund würdigte Beat Furrer aus Anlass seines 70. Geburtstags mit einem fünftägigen „Zeitinsel“-Festival.

Nachdem die „Zeitinseln“ der vergangenen Jahre Sofia Gubaidulina und Arvo Pärt porträtierten, entwickelte das Konzerthaus-Team die aktuelle Ausgabe in enger, persönlicher Zusammenarbeit mit dem Komponisten. Wie hoch die Musikwelt Furrers Werke schätzt, lässt sich an seiner Vita ablesen: Er ist Träger des Ernst von Siemens Musikpreises, des großen österreichischen Staatspreises für Musik und des goldenen Löwen der Biennale von Venedig, zudem Gründer des Klangforum Wien. In diesem Sommer war er Residenzkünstler beim Lucerne Festival.

Beat Furrer wurde am 6. Dezember 1954 in Schaffhausen geboren. (Foto: Manu Theobald)

Furrer ist ein Künstler, der seine Worte abwägt. Der gründlich nachdenkt, bevor er sich über sein Werk äußert. Statt ihm ungeduldig ins Wort zu fallen, gesteht der Konzerthaus-Intendant ihm im Podiumsgespräch die Zeit zu, seine Gedanken zu sortieren. So erfahren die Besucher Interessantes über diesen Klangsammler, der im steirischen Nationalpark, dem so genannten Gesäuse, oft den leisen Stimmen der Natur nachlauscht: dem Glucksen von Wasser, dem Flüstern des Windes, den nachts aus dem Wald tretenden Tieren. Er bezeichnet das nicht als Idylle, sondern als Ort der Konzentration.

Als „Komponist des Leisen“ ist er schon bezeichnet worden, aber in derlei Schubladen mag er nicht gesteckt werden. Furrer mag keine Verkürzungen, keine Klischees. Tatsächlich spielt das Laute, der Schrei, in seiner Musik eine nicht minder wichtige Rolle. Wenn er in Wien sei, verschließe der Lärm der Stadt ihm aber die Ohren: „Das sind Geräusche ohne Raum.“ Auch die Sprache spielt in Furrers Schaffen eine wesentliche Rolle, weil die Musik sich immer nah an der Stimme entwickelt hat.

Vergleiche sind heikel, aber womöglich sind Salvatore Sciarrino und Helmut Lachenmann zumindest Geistesverwandte dieses Komponisten, weil auch sie stille, oft geräuschhafte „Hörmusiken“ schaffen, die die Wahrnehmung schärfen. Luigi Nono hat ihn in jungen Jahren stark beeinflusst. Das Hören, sagt Furrer, sei „ein Weg zum anderen“. Er findet es bedenklich, wie sehr es in unserer Zeit abhandenzukommen droht.

Dirigent Zoltán Pad und das Chorwerk Ruhr gestalteten den ersten Abend der Furrer-„Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Oliver Hitzegrad)

Blickt man auf die feine Notenschrift in Furrers Partituren, bekommt man eine Ahnung davon, wie dieser Klangsammler sein Material sortiert und strukturiert. Qualität und Schlüssigkeit sind ihm wichtig, kein Ton darf zu viel sein. Das zeigt sich deutlich in seinem siebenteiligen „Enigma“-Zyklus. Es handelt sich dabei um A-cappella-Chorwerke auf Texte von Leonardo da Vinci, die das Chorwerk Ruhr zum Auftakt der Zeitinsel mit Gesängen aus der Renaissance verschränkt.

Furrers tönende Rätsel nehmen das Ohr sofort gefangen. In „Enigma I“ säuseln und sirren die Frauenstimmen, wogen hin und her wie ein fortwährendes Echo. Die Männerstimmen treten geheimnisvoll und leise hinzu, bis sich die Musik zum Aufschrei steigert. Viel Mysteriöses ist auch im weiteren Verlauf zu hören: Von Atemgeräuschen erfüllte Pianissimogefilde, isolierte Vokale, raunender Sprechgesang. Zu den Worten „Aus dunklen Höhlen wird etwas hervorkommen“ pirscht sich in „Enigma VI“ ein düster-diffuser Klang heran, leise und bedrohlich.

Das Chorwerk Ruhr versteht sich glänzend auf Furrers klangliche Aggregatzustände, auf seinen komplexen Reichtum von Klanglichkeiten. Unter der Leitung von Dirigent Zoltán Pad kontrastieren sie seinen Zyklus mit liturgischen Gesängen von Orlando di Lasso, Giovanni Gabrieli und Antonio Lotti. Da tritt dem Dunklen und Geheimnisvollen strahlende Glaubensgewissheit gegenüber.

(www.konzerthaus-dortmund.de)




Langer Abschied vom Generalmusikdirektor: Gabriel Feltz wechselt bald von Dortmund nach Kiel

Hat bald einen neuen Arbeitgeber: Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz. (Foto: Andy Spyra/Dortmunder-Philharmoniker)

Einmal noch – dann ist es vorbei: Das (gut bemessene) Jahrzehnt, in dem Generalmusikdirektor (GMD) Gabriel Feltz ausschließlich in Dortmund – und als Chefdirigent in Belgrad – den Taktstock hob. Er geht nach Kiel. In der kommenden Spielzeit werden Dortmund und Kiel sich, wenn man einmal so sagen darf, den Generalmusikdirektor Feltz teilen, und dann ist er weg. Somit ist es wohl ein Abschied auf Raten, der eigentlich in dieser Spielzeit schon begonnen hat – mit einer Art Ruhrgebiets-Programm als dankbarer Verbeugung vor einem alles in allem doch sehr treuen Konzerthauspublikum.

Nun ging das achte philharmonische Konzert der laufenden Spielzeit, umjubelt natürlich, über die Bühne; Nummer neun wird ein Gast (Howard Griffith) leiten, Nummer 10 schließlich, „Wunschkonzert“ betitelt und in der Tat als ein solches konzipiert, wird dann der letzte philharmonische Auftritt von GMD Gabriel Feltz in dieser Saison sein. Und man hat das Gefühl, daß da etwas zu Ende geht, was nicht zwingend eine gleichwertige Fortsetzung erfahren wird.

So gut haben die Dortmunder noch nie gespielt

Fraglos nämlich muß man konzedieren, daß diese zehn Jahre Feltz das Dortmunder Orchester in qualitative Höhen brachten, die ihm vorher eher fremd waren. Er hatte gute Vorgänger, gewiß, stammten sie nun aus Holland oder den USA. Aber die Präzision des gebürtigen Berliners erreichten sie nicht. Über seinen Führungsstil gab es wenig Gerede, sein Auftreten wirkte – aber das ist nur aus dem Parkett heraus gesprochen – eher kollegial. Dieser (unterstellte) Führungsstil mag ausschlaggebend dafür gewesen sein, daß Feltz schließlich zum neuen GMD in Kiel gewählt wurde, auch mit den Stimmen der dortigen Orchestermusiker. Wie ein großer Karrieresprung kommt einem der Wechsel nach Kiel eigentlich nicht vor. Na gut, Landeshauptstadt; der Mann wird seine Gründe haben.

Revierthemen

Das Programm der nun bald endenden letzten Spielzeit trug nicht wenig dazu bei, der Sympathiekurve des Dirigenten noch mal einen kräftigen Schub nach oben zu geben. Jedes Mal ging es um Revierthemen oder doch wenigstens um reviernahe Themen – mit Überschriften wie „Stahlkocher“, „Taubenzüchter“ oder „Im Schrebergarten“. Naturgemäß blieb die Musikauswahl manchmal etwas bemüht. Dvorak etwa erklang am Taubenzüchter-Abend, weil Dvorak selbst ein leidenschaftlicher Taubenzüchter gewesen sein soll. Das mußte als Begründung reichen, denn seine Neunte „Aus der Neuen Welt“, die zur Aufführung gelangte,  hat ja eher wenig mit dem Revier zu tun.

Grandiose Koloratursopranistin

Am letzten 8. Abend nun, „Mensch und Maschine“ überschrieben, blieb die Schere zwischen Motto und Stücke-Auswahl, aber auch zwischen den einzelnen Stücken, erstaunlich eng geschlossen – erstaunlich, weil eine Abfolge von Johann Strauß (Sohn), Gershwin, Ligeti und Beethoven nicht unbedingt auf klangliche oder emotionale Verwandtschaft schließen läßt. Doch gerade György Ligetis „Mysteries of the Macabre“, ein aufgewühltes Gesangsstück, hervorgegangen aus der einzigen Oper des Komponisten „Le Grand Macabre“ und vorgetragen, gesungen, geschrieen von der Koloratursopranistin Gloria Rehm, zeigte unerwartete Kongenialität; einen gewissen Beitrag zur Wirkmächtigkeit des Vortrags leisteten sicherlich auch der hautenge, mit Elektronikplatinenmuster bedruckte Body der Sängerin und ihre absichtsvoll sicherlich prolligen silbernen Stiefel. Einen ganzen Abend lang möchte man das vielleicht nicht hören, das würde zu anstrengend; aber die neun Minuten (die Dortmunder Programmhefte nennen seit einiger Zeit die Dauer der Stücke), die nun zur Aufführung gelangten, waren grandios und rissen das Publikum am Schluß zu spontanen Stehovationen aus den Sesseln. Gern akzeptierte man dabei die Humoranwandlung des Dirigenten, der irgendwann zwischendurch mal fragte, ob die Sängerin denn nichts auf Deutsch zu singen habe. Wäre nicht nötig gewesen, aber egal.

Spaß muß sein

Strauß’ „Perpetuum mobile“, vom Komponisten selber schon als „musikalischer Scherz für Orchester“ bezeichnet, ist ein Endlos-Stück, das einen Dirigenten gar nicht braucht. Die Musiker schaffen das alleine. Wie aber bringt man sie dazu aufzuhören? Feltz, bald schon nicht mehr dirigierend, bat die Kapelle händeringend, bot Geld, suchte schließlich einen Menschen im Publikum, der es mit Hilfe eines Megafons irgendwie schaffte, für Ruhe zu sorgen. Na gut, Spaß muß sein.

A propos Spaß: Den angstschweißtreibenden Spaß einer Probefahrt in einem „sehr schicken italienischen Sportwagen“ setzte der Komponist John Adams (geb. 1947) „noch nicht vollständig erholt“ 1986 in ein bombastisches Klanggemälde mit dem Titel „Short Ride in a Fast Machine“ um. Diese vier Minuten standen am Beginn des Abends, und selten waren zur Geräuschentfaltung mehr Musiker auf engem Bühnenraum zusammengepfercht als bei diesem Vortrag.

Der unvergeßliche Borussia-Abend

A propos Spaß, die zweite: Einer der stärksten Abende der nun bald endenden Spielzeit war sicherlich „Faszination Stadion“, Mitte Januar. Als das fußballerischste (man entschuldige den ungelenken Superlativ) Stück des Abends erklang „You’ll Never Walk Alone“ (Richard Rodgers/Oscar Hammerstein), samt Aufforderung an die zahlreich schwarz-gelb gewandeten Besucher, mitzusingen. Dortmunds Homeboy Nobby Dickel erzählte noch einmal von seinen berühmten Toren, Dr. Michael Stille, Orchesterdirektor seines Zeichens, moderierte gut gelaunt und kenntnisreich. (Allerdings dirigierte an diesem Abend nicht Feltz, sondern Martijn Dendievel.) Die Frau jedenfalls auf dem Nachbarplatz, die schon oft im Stadion, aber noch nie im Konzerthaus gewesen war, fand das alles toll. Auch die Musik von Schostakowitsch. Und man konnte durchaus den Eindruck haben, daß viele weitere Borussen das Konzerthaus einfach gut fanden, und viel weniger elitär als befürchtet.

Das Konzerthaus ist voll

Unter Feltz’ Leitung haben die Philharmoniker die Corona-Jahre gut überstanden, die Hütte war in dieser Spielzeit wieder ziemlich voll, man sieht erfreulich viele jüngere Gesichter im Saal. Die Dortmunder Oper, so der Eindruck, tut sich deutlich schwerer, ihr Publikum zu finden. Produktionen wie (zuletzt) „Der schwarze Berg“ von der französischen Komponistin Augusta Holmès finden eher Beachtung in den überregionalen Feuilletons als beim heimischen Publikum, scheint es. Doch sei nicht dieses unser Thema.

Ein Nachfolger für Gabriel Feltz ist ausgeguckt und engagiert: Jordan de Souza, Kanadier, 1988 in Toronto geboren, heißt ab 2025 der neue Dortmunder GMD.

www.theaterdo.de




Eleganz und Feuer: Stipendiaten brillieren bei der Matinee der Mozart Gesellschaft im Konzerthaus Dortmund

Der niederländisch-amerikanische Geiger Stephen Waarts muss sich für die Blumenübergabe klein machen. (Foto: Stephan Lucka)

Das kleine Blumenmädchen reicht ihm kaum bis zum Knie. Es wirkt beinahe skurril, wie tief sich der nahezu zwei Meter große Geiger Stephen Waarts bücken muss, um den Strauß entgegenzunehmen, den das Kind ihm zum Dank für seinen Auftritt im Konzerthaus Dortmund reicht.

Die Bratschistin Emma Wernig, die mit ihm gemeinsam das Doppelkonzert e-Moll op. 88 von Max Bruch aufgeführt hat, erhält ebenfalls Blumen. Sie ist aktuell Stipendiatin der traditionsreichen Mozart Gesellschaft Dortmund, die auch Stephen Waarts über Jahre gefördert hat. Mehr als 150 junge Musikerinnen und Musiker hat der gemeinnützige Verein seit 1961 auf dem harten Weg in den Musikbetrieb unterstützt.

Bei der jüngsten Mozart Matinee, die sechsmal pro Saison im Konzerthaus stattfindet, gelingt es Waarts und Wernig, selbst verwöhnte Vielhörer für sich einzunehmen. Technik und Tongebung verraten schon nach wenigen Takten, zu welcher Meisterschaft sie es auf ihren Instrumenten gebracht haben.

Mit Blick auf die Wettbewerbserfolge des niederländisch-amerikanischen Geigers, Absolvent des berühmten Curtis Institute of Music in Philadelphia, und auf die Auszeichnungen der deutsch-österreichischen Bratschistin, die seit 2021 bei Tabea Zimmermann an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin studiert, kann das nicht überraschen. Gleichwohl nimmt die Verblüffung über das Spiel der beiden zu, wenn sie sich vom rhapsodischen Beginn des Bruch-Doppelkonzerts immer weiter freispielen. Ihr Ton ist reich und intensiv, ihr Legato wunderbar dicht, die Intonation treffsicher. Beider Musikalität steht völlig außer Frage.

Sich gegen das Orchester zu behaupten, gelingt ihnen ohne zu forcieren. Vorzüglich, wie filigran und quecksilbrig sie Läufe und Aufschwünge vor der Folie spätromantischer Opulenz zum Leuchten bringen. Dazu trägt auch die Begleitung durch das Württembergische Philharmonie Reutlingen bei, die die Solisten unter der Leitung von Ariane Matiakh einfühlsam unterstützt.

Stephen Waarts und Emma Wernig spielten bei der Mozart-Matinee das Doppelkonzert für Violine und Viola e-Moll op. 88 von Max Bruch. (Foto: Stephan Lucka)

Dass Waarts Violinton lange im Ohr bleibt, liegt an einer fabelhaften Mischung aus Feuer und luftiger, atmender Eleganz, die Vergleiche mit den berühmtesten Geigern unserer Zeit heraufbeschwört. Nach dem zupackenden Finale erhalten er und Emma Wernig Riesenbeifall.

Die Württembergische Philharmonie Reutlingen, bereits zum dritten Mal bei einer Matinee der Mozart Gesellschaft Dortmund zu Gast, hatte ihr Programm ganz auf den Anlass zugeschnitten. Sie legt mit der „Symphonie classique“ von Sergej Prokofjew los – und beweist in dieser respektlos-genialen Jonglage mit klassischen Formen erstaunliches Geschick.

Ariane Matiakh wählt für den Kopfsatz ein moderates Tempo, setzt mit klarer, unprätentiöser Zeichengebung Impulse, die das Orchester aufmerksam umsetzt. Alles ist delikat und luzide, silbrig im Klang. Im Finale (Molto vivace) gibt Matiakh dann Vollgas: Nun fliegen die Funken, die Geigen schlagen schier Kapriolen, die Holzbläser jagen im Affentempo durch Tonwiederholungen. Das schnurrt ab wie der geölte Blitz.

Jacques Ibers originelle „Hommage à Mozart“, ein 1955 komponiertes kurzes Stück in Rondo-Form, bereitet nach der Pause Hörvergnügen. Einerseits feierlich, andererseits verspielt, droht dieser Balanceakt auf dem Drahtseil der Wiener Klassik immer wieder aus der Tonart zu kippen. Das Orchester macht das fürs Ohr transparent und nachvollziehbar.

Die französische Dirigentin Ariane Matiakh (Foto: Stephan Lucka)

Den Schlusspunkt bildet Mozarts „Jupiter“-Sinfonie. Deren Beginn lässt Ariane Matiakh weniger demonstrativ aufstampfen, als man es sonst oft hört. Sie setzt auf einen eher sanglichen Tonfall, auf feine Triller in den Geigen, auf die delikate Zurücknahme des Klangs ins Pianissimo. Das „Andante cantabile“ strömt in jenen himmlischen Dur-Gefilden dahin, wie sie nur Mozart zu öffnen verstand. Dass das Tempo im anschließenden Menuett nicht sofort steht, bleibt eine Randnotiz.

Durch den Finalsatz fegt die Württembergische Philharmonie Reutlingen noch einmal mit hoher Konzentration und Spielfreude. Die Motivsplitter, die in der äußerst kühnen Durchführung umeinander wirbeln, und die sprühende Freude, die Mozart in strahlendem C-Dur durch Raum und Zeit schickt, wurden wohl erst durch Beethovens Götterfunken abermals übertroffen.




Violinspiel wie von einem anderen Stern: Eine Woche mit der Geigerin Hilary Hahn im Konzerthaus Dortmund

Hilary Hahn durfte als „Curating Artist“ ihr eigenes Festival im Konzerthaus Dortmund gestalten. Eine Woche lang trat sie dort täglich auf, mit wechselndem Programm. (Foto: Petra Coddington)

Sie ist zweifache Mutter, dreifache Grammy-Preisträgerin, 43 Jahre alt und fraglos eine der besten Geigerinnen unserer Zeit. Die Amerikanerin Hilary Hahn erreicht in ihrem Violinspiel eine Perfektion wie von einem anderen Stern. Zugleich ist sie das Gegenteil einer hochglanzpolierten Künstlerin: Sie präsentiert sich nahbar und erstaunlich ungeschminkt. So auch im Konzerthaus Dortmund, wo sie als „Curating artist“ ihr eigenes Festival gestalten durfte: „Hilary Hahn & friends“.

Den Freibrief, den das Konzerthaus ihr für diese Woche ausstellte, nimmt sie als Gelegenheit, um mit Freunden zu musizieren und Neues auszuprobieren. Auch eine öffentliche Meisterklasse ist Teil des Programms. Bezeichnend, dass sie dafür nicht die besten Studierenden der umliegenden Musikhochschulen herausgepickt hat, sondern ganz normale Geigenschülerinnen- und -schüler aus Dortmund und Umgebung unterrichtet.

Der Weg ist das Ziel, sagt Hilary Hahn, und Wahrhaftigkeit wichtiger als Makellosigkeit. Mit voller Absicht präsentiert sie Stücke auf Instagram in unfertigem Zustand, zeigt sich selbst beim Üben, manchmal unfrisiert oder gar im Schlafanzug. Gerade Frauen sollten sich öfter trauen, weniger perfekt in der Öffentlichkeit aufzutreten, sagt sie beim eröffnenden Podiumsgespräch mit Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech – und erntet dafür spontanen Beifall.

Den eigentlichen Auftakt gestaltet sie einen Tag später, gemeinsam mit dem hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Andrés Orozco-Estrada. Tschaikowskys Violinkonzert wirkt unter ihren Händen wie mit klarem Wasser gereinigt. Wie nebenbei befreit Hilary Hahn das nahezu totgespielte Repertoirestück von angeberischen Gebärden, von süßlicher Gefühlsseligkeit und all den Schlieren des schlechten Geschmacks, mit denen man es häufig hört. Bei ihr erhält das Werk einen tänzerisch-biegsamen Charakter, grüßt zu Tschaikowskys großen Ballettmusiken hinüber.

Ihr Violinton ist nie aufgedonnert, suhlt sich nie in der Saite. Er bleibt stets fein, kann bestürzend verletzlich klingen, aber auch durchdringend kristallin. Das ist keinesfalls mädchenhaft, denn Hahn ist zugleich eine überragende Virtuosin, die Höchstschwierigkeiten mit voller Attacke in die Saiten meißelt. Die große Solo-Kadenz im Kopfsatz steht exemplarisch für ihre Deutung. Statt eine Bravourshow abzuziehen, wandelt sie auf dem schmalen Grat zwischen Verlorenheit und Rebellion.

Hilary Hahn bedankt sich beim hr-Sinfonieorchester. (Foto: Petra Coddington)

Auf die Beifallsstürme antwortet Hilary Hahn mit zwei Solo-Stücken von Bach. Das Andante aus der a-Moll-Sonate wird zu einer Sternstunde: in dieser Ruhe, in dieser Reinheit, in dieser Überlegenheit macht ihr das niemand nach.

Die seltene, aber klanglich reizvolle Kombination von Geige und Orgel probiert sie gemeinsam mit Iveta Apkalna aus. Grundpfeiler dieses Programms ist die berühmte Ciaconna aus der d-Moll-Partita für Solovioline von Johann Johann Sebastian Bach. Das Stück dreht sich um Tod und Auferstehung: Es besteht aus freien Variationen über einem Thema in der Bass-Stimme, das ununterbrochen wiederholt wird. Ein ständig um sich selbst kreisender Gedanke, den Bach 32 Mal variiert. Hilary Hahn durchmisst dieses Planetensystem zunächst allein, im traumwandlerischen Gleitflug. Danach lässt Iveta Apkalna die Majestät der mehr als 3565 Pfeifen der Konzerthausorgel aus dem Hause Klais erstrahlen.

Er war der „Joker“ von Hilary Hahn: Abel Selaocoe und das Bantu Ensemble. (Foto: Petra Coddington)

Wie unerschrocken Hilary Hahn über den Tellerrand schaut, zeigt das „Joker“-Konzert mit dem südafrikanischen Cellisten Abel Selaocoe und dem Bantu Ensemble als Überraschungsgästen. Sie wagt es, ein paar Töne zum Spiel dieser experimentell angehauchten Improvisationskünstler beizutragen, überlässt ihnen schließlich aber doch die Bühne.

Was folgt, gleicht einer Klangreise nach Afrika. Abel Selaocoe ist ein Künstler mit riesiger Bandbreite: Sprache, Gesang, Cellospiel, Schnalz- und Zungenlaute gehen bei ihm nahtlos ineinander über. Mit überbordender Energie animiert er das Publikum zum Mitmachen, heizt die Temperatur im Saal so lange an, bis alle stehen, tanzen, feiern. Schlagzeuger Dudù Kouaté zaubert mit afrikanischen Instrumenten die schönsten Stimmungen in den Saal.

Mit dem Kaleidoscope Chamber Collective, das der Londoner Wigmore Hall eng verbunden ist, unternimmt Hilary Hahn einen Streifzug durch die amerikanische Musik des 20. Jahrhunderts. Der Abend wird vom Publikum zu Recht gefeiert: Zu erleben ist spannende Kammermusik auf allerhöchstem Niveau. Jennifer Higdons „Dark Wood“ für Fagott, Violine, Violoncello und Klavier enthält köstlich groteske Elemente. Samuel Barbers Streichquartett op. 11, von dem fast alle nur den 2. Satz als „Adagio for strings“ kennen, erfährt endlich einmal eine Gesamtaufführung. Aaron Coplands „Appalachian spring“ Suite gleicht einem faszinierenden Kaleidoskop: Farben und Formen gruppieren sich immer neu, mit leuchtender Transparenz.

Das Kaleidoscope Chamber Collective und Hilary Hahn. (Foto: Petra Coddington)

Auch vor Live-Elektronik scheut Hilary Hahn nicht zurück. In Dortmund tritt sie als „Special Guest“ mit dem Cellisten Seth Parker Woods auf, der sein multimediales, halb-biographisches Programm „Difficult Grace“ hier in einer Variation präsentiert. Verschränkt mit einigen Solostücken von Bach kommt hier das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert zum Klingen: Werke von Coleridge-Taylor Perkinson, Giacinto Scelsi, Nathalie Joachim, Monty Adkins, Conrad Beck, Carlos Simon und Chinary Ung, natürlich auch das titelgebende Stück von Fredrick Gifford, in dem der Cellist zugleich Erzähler, Schauspieler und Sänger ist.

Zum Abschluss fegt ein Wirbelsturm aus Kolumbien durchs Haus. Dirigent Andrés Orozco-Estrada, mit dem Hilary Hahn besonders gerne musiziert, kehrt mit der Jungen Philharmonie seines Heimatlandes zurück, die Musikerinnen und Musiker zwischen 16 und 24 Jahren vereint. Gefördert von einer Stiftung, ist sie nicht nur ein wichtiges Bildungs- und Sozialprojekt, sondern ein künstlerisches Kollektiv, das durch Können und Kreativität besticht.

Das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy, das unter Hilary Hahns Händen funkelt und blitzt, kommt ihrem kristallinen Ton ganz besonders entgegen. Aber was die jungen Kolumbianer in Igor Strawinskys Musik zum Ballett „Petruschka“ treiben, ist abenteuerlich. Der Handlung des Balletts entsprechend, machen sie die Bühne zum Jahrmarkt: treten in fröhlich lärmenden Gruppen auf, spielen die Szenen nach wie Schauspieler, oft gleichzeitig musizierend.

Halbszenische Aufführung: Die Musikerinnen und Musiker der Jungen Philharmonie Kolumbiens spielen die Ballettmusik „Petruschka“ mit Masken und agieren wie Schauspieler. (Foto: Petra Coddington)

Es bekommt der Kunst bekanntlich nicht immer gut, wenn der Konzertsaal zum Zirkus wird. Aber diese Performance ist von Martin Buczko auf den Punkt genau durchchoreographiert. Sie wird musikalisch und darstellerisch so überzeugend präsentiert, dass jede Skepsis dem Hör- und Sehvergnügen weicht.

Da werden Geiger zu Marionetten und Hornisten zu Hanswursten, die sich den Trichter ihrer Instrumente auf den Kopf setzen, als seien es komische Hüte. Die Posaunisten heben ihre Instrumente in die Höhe, als wollten sie Ausrufezeichen setzen, und die Geiger schwenken ihre Bögen durch die Luft, als wollten sie nach etwas angeln. Am Kontrafagottisten ist glatt ein Pantomime verloren gegangen. Bunte Masken erheben die farbenreiche Musik vollends zum Fest.

Nach dem Schlusston herrscht Partystimmung, auf der Bühne und abseits davon. Sie setzt sich im Foyer fort: Einige Blechbläser und Schlagzeuger des Orchesters finden kein Ende, feiern zu den Klängen und Rhythmen Kolumbiens weiter. Und während einige noch an der Garderobe anstehen, tanzen andere schon ausgelassen mit.




Leidensweg eines unschuldigen Menschen: Bachs „Matthäuspassion“ in Dortmund und Essen

Das Freiburger Barockorchester spielte im Konzerthaus Dortmund. (Foto von 2019: Freiburger Barockorchester)

Auf ihre je eigene Weise haben zwei Aufführungen von Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ in Dortmund und in Essen ihren Beitrag zur „Recreation des Gemüths“ geleistet. Was sagen die geistlichen Werke heute einem weitgehend säkularisierten Publikum?

Ob Buß‘ und Reu‘ noch das Sündenherz entzwei knirschen? Was hat die protestantische Schuld- und Sühnetheologie noch mit uns zu tun, die sich in den Texten zu Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ äußert? Jener Christian Friedrich Henrici, Picander genannt, hat ja nicht nur den Bibeltext zusammengestellt, sondern in den Arien reflektierende Einschübe geschaffen, in denen sich ein gläubiges Individuum dem heilsgeschichtlichen Ereignis stellt: Christus, das Lamm Gottes, leidet „auf unsre Schuld“, trägt unsere Sünden und versöhnt uns mit Gott. Aber mit welchem Gott heute, da nicht einmal mehr die Hälfte der deutschen Bevölkerung Mitglied einer der großen christlichen Kirchen sind? Geht das noch: „Sünde“ als eine bewusste Entscheidung gegen Gott und seinen Heilsplan?

Vielleicht sind die traditionellen Kontexte geschwunden, aber das Thema selbst ist nicht passé. Ein allzu allgemeiner Begriff von „Liebe“, wie er im Programmheft der Dortmunder Aufführung der Bach’schen Passion an Gründonnerstag benannt wird, dürfte kaum die Lösung sein. Aber auch jenseits bloßer musikalischer Faszination, die beide Matthäuspassionen in Dortmund und an Karfreitag in der Philharmonie Essen wirkkräftig ins Bewusstsein riefen, bleibt aus allen barocken Wortziselierungen doch ein Destillat: der Mensch, der sich existenziell verfehlen kann, der sich seiner Unvollkommenheit bewusst wird.

Nicht allein große europäische Kunstmusik

Schuldig fühlen sich Menschen heute vor der zerstörten Natur, vor der Schreckensgeschichte von Kolonialismus oder Rassismus, vor dem eigenen Anspruch auf Selbstoptimierung. Der Gott des Gerichts ist ersetzt durch ein inneres Gericht. Und was von Bach jenseits christlicher Glaubensinhalte bleibt, ist die ergreifende Schilderung des Leidenswegs eines unschuldigen Menschen, ausgelöst durch persönliche Missgunst, politische Verstrickung und ein Schicksal, das den „Kelch des Leidens“ nicht vorübergehen lässt. Die Transformation historisch bedingter Formen des Glaubensausdrucks in einen gegenwärtigen Verstehenshorizont ist unabdingbar, will man eine Matthäuspassion nicht lediglich als ein Dokument großer europäischer Kunstmusik goutieren. Wenn Gott dabei außen vor bleibt, ist das nicht im Sinne Bachs, macht die Passionen aber nicht von vorneherein bedeutungslos.

So bleiben also immerhin die Zerknirschung und die Sehnsucht nach einer „angenehmen Spezerey“ für den leidenden Jesus. Und in dieser kunstvoll ausgeformten Arie zeigt sich in Dortmund ein Manko: Die Solistenrollen besetzt das 2004 gegründete Vokalensemble Vox Luminis aus sich selbst. Die beiden Altus-Sänger Alexander Chance und William Shelton treten jeweils aus dem Chor heraus. Wer es ist, der gerade solistisch agiert, ist nicht klar, denn das Programmheft gibt darüber keine Auskunft. Wer auch immer Buß‘ und Reu‘ besingt: Die Stimme bleibt flach, vom konsonantenreichen Knirschen ist wenig zu hören, der subtile Wandel von den Staccato-Zährentropfen zum kantablen Bogen des angenehm lindernden Tröstens ist ebenso wenig zu hören. Musikalische Rhetorik ist dieser Solisten Sache nicht.

Dortmund: Weicher Chorklang, verhaltene Impulse

So bauten sich in Dortmund ziemliche Gegensätze auf, denn der von dem Bassisten Lionel Meunier geleitete Chor ist tadellos aufgestellt. Er kleidet die Eröffnung „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ in einen weichen, mit verhaltenen Impulsen durchsetzten Klang, in dem die Knaben der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund mit leuchtender Präsenz punkten. In den dramatischen Chorstellen lässt Vox Luminis  – bei abgerundetem, aber kernigem Klang – die dramatische Temperatur deutlich steigen. Die Choräle allerdings sind kantenlos poliert und die individuelle Harmonisierung verliert sich im milden Mischklang.

Zudem zeigt sich als Nachteil, dass Meunier lediglich aus dem Ensemble heraus einzelne Impulse gibt. So gepflegt das Freiburger Barockorchester auch spielt, so geschmeidig die Flöten intonieren, so fein definiert die „Tropfen meiner Zähren“ auch fallen, so luftig und rhythmisch entschieden die Streichersolisten auftreten: Der Orchesterklang, gestimmt auf 415 Hertz, hätte so manchen rhythmischen oder Artikulationsimpuls vertragen. Auch mit den Solisten gibt es Abstimmungsprobleme im Tempo, die eine wache, ordnende Hand rasch im Griff hätte.

Die beiden Soprane Zsuzsi Tóth und Gwendoline Blondeel zeigen die angeblich „historisch informierte“ anämische Stimmfarbe und einen flach gebildeten, durch strikten Verzicht auf natürlich schwingendes Vibrato ausgebleichten, in der Höhe spitzigen Ton. Dem bemüht sich der Tenor Raffaele Giordani zu entgehen – seine Tongebung ist runder und körperlicher. Raphael Höhn nimmt als feinstimmiger Evangelist für sich ein, Sebastian Myrus ist ein Jesus, der die Worte behutsam expressiv gestalten kann.

Essen: Reaktionsschnelles und vitales Musizieren

Justin Doyle in voller Aktion, hier 2018 in der Hamburger Elbphilharmonie. (Foto: Matthias Heyde)

In Essen steht in der Philharmonie mit Justin Doyle ein kundiger Dirigent von der Akademie für Alte Musik und dem RIAS Kammerchor aus Berlin. Und das spürt man sofort: Die Koordination der Ensembles ist flexibel und reaktionsschnell, der Klang sorgsam austariert, Rhythmus und Artikulation vital zupackend. Nicht zuletzt die Choräle sind plastisch ausgeleuchtet und lassen ihre harmonische Raffinesse erkennen. Die Akademie für Alte Musik spielt konturenreich und detailfreudig, Doyle wählt organische, nicht übertriebene Tempi und hält sich – etwa in dem in Dortmund überdramatisierten Chor „Sind Blitze, sind Donner …“ – mit rhetorischen Akzenten zurück, ohne das Drama zu unterkühlen. Dafür treten Bläserstimmen reizvoll hervor, und wenn die Akademie für Alte Musik ihre Instrumenten-Vielfalt, etwa die Doppelrohrblattinstrumente auspackt, sind Farbe und Ausdruck garantiert.

Der RIAS Kammerchor (Foto: Matthias Heyde)

Wechselhaft auch die Eindrücke von den Solisten in Essen: Patrick Grahl ist ein wohlklingender Evangelist, der eher nüchtern als melodramatisch berichtet und auf vokale wie sprachliche Intensität gleichermaßen setzt. Dominic Barberi gestaltet die Sätze Jesu enorm textaffin, gibt jedem Wort eigenes Gewicht, achtet aber ebenfalls darauf, den Klang der Stimme nicht deklamierend zu beeinträchtigen. Aoife Miskelly bringt den üblichen, also kopfig-silbrigen „Barock“-Sopran mit beengt gebildeten Tönen mit, Benjamin Glaubitz ist ein zuverlässiger, manchmal nicht ganz kontrollierter Tenor.

Mit Konstantin Krimmel werden Rezitativ und Arie „Am Abend, da es kühle war“ zum spirituellen wie ästhetischen Ereignis. Der Altus Benno Schachtner hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Beherrschte und entspannt ausgeglichen gesungene Episoden wechseln ab mit solchen, in denen die Stimme ihre Position nicht findet und der Ton seine Substanz verliert – eine Art, die man von diesem Sänger, der zur Zeit an der Oper Bonn als Ottone in Händels „Agrippina“ auftritt, sonst nicht kennt.

Auf ihre je eigene Weise haben die beiden Aufführungen ihren Beitrag zur „Recreation des Gemüths“ geleistet; wenn sie darüber hinaus ihre Zuhörer zum Nachdenken über die Grenzen der menschlichen Existenz und die große, unbeantwortete Frage nach dem Sinn des Leidens – des Gottessohnes und zahlloser Menschen auf diesem Planeten – gebracht haben, hat alles künstlerische Bemühen seinen Sinn erfüllt.




Sonnengesang: Das Konzerthaus Dortmund ehrt die Komponistin Sofia Gubaidulina mit einem „Zeitinsel“-Festival

Gütig, offen, neugierig und engagiert: So wird die Komponistin Sofia Gubaidulina von denen beschrieben, die sie kennen. (Foto: Jan Northoff)

Für einen Moment kommen ihr fast die Tränen. „Sie müsste doch jetzt hier sein!“, sagt Elsbeth Moser mit zittriger Stimme, als sie auf der Bühne im Konzerthaus Dortmund über ihre langjährige Freundin spricht: über die 91-jährige Komponistin Sofia Gubaidulina, die hier eine große Ehrung erfährt, inzwischen aber zu krank ist, um das ihr gewidmete „Zeitinsel“-Festival mitzuerleben.

Vier Tage lang traten in Dortmund Menschen auf, die der im tatarischen Tschistopol geborenen Russin und ihrem Werk besonders nahestehen. Musikerinnen wie Elsbeth Moser, eine Virtuosin auf dem „Bajan“ genannten Knopfakkordeon aus Osteuropa, für die Gubaidulina viele Werke geschrieben hat. Wegbegleiter wie Hans-Ulrich Duffek, ehemals Direktor des Hamburger Musikverlags Sikorski, der ihre Werke im Westen verbreitet hat. Künstler wie der Bratschist Antoine Tamestit, der ihr half, die Solostimme ihres Bratschenkonzerts noch einmal zu überarbeiten, und der Cellist Narek Hakhnazaryan, Zögling des von ihr verehrten Mstislaw Rostropowitsch.

Sofia Gubaidulina im Gespräch mit dem Konzerthaus-Intendanten Raphael von Hoensbroech. (Foto: Jan Northoff)

So gewinnt das Porträt einer außergewöhnlichen Frau Konturen, die in der Sowjetunion staatliche Repression erlitt und sich trotzdem nicht beugte. Die von Dmitri Schostakowitsch auf ihrem Weg bestärkt wurde. Deren Violinkonzerte durch die Widmungsträger Gidon Kremer und Anne-Sophie Mutter in aller Welt erklangen. Die seit 1992 in der Nähe von Hamburg lebt und es wie kaum eine andere schafft, das Publikum mit zeitgenössischer Musik zu berühren. Es gibt einen sehr persönlichen Ton in ihren Werken, einen intensiven und sinnlichen Ausdruckswillen.

Der nimmt in ihrem Bratschenkonzert nahezu gestische Qualität an. Antoine Tamestit schickt die ersten Töne in den Raum wie einen Hauch, führt auf seinem Instrument ein einsames Selbstgespräch, das sich verdichtet. Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien setzt unter Dirigent Duncan Ward erst spät ein, als gewollt düsterer, schwerfällig seufzender Gegenspieler. Wie Tamestit dagegen ackert und wühlt, wie Orchester und Solist dann zueinander finden, um sich erneut in der Isolation zu verlieren, ist ein Erlebnis.

Für die spirituelle Dimension der tief gläubigen, russisch-orthodoxen Komponistin steht ihr „Sonnengesang“ nach dem gleichnamigen Gebet des Franz von Assisi. Es ist eine Musik am Rande der Stille, erfüllt von Klosteratmosphäre, vom mystischen Sprechgesang tiefer Männerstimmen. Im Dauerklingen von Wassergläsern gerät manches silbrig ins Schweben.

Elbeth Moser spielt das „Bajan“ genannte osteuropäische Knopfakkordeon, Gewicht: 13 Kilogramm. (Foto: Petra Coddington)

Das ist bei Gubaidulina kein Anbiedern an esoterische Moden, sondern ähnelt eher den Klanggespinsten eines Anton Webern. Dieser asketische Ernst wird von den Interpreten unterstrichen. Das Chorwerk Ruhr, der Cellist Narek Hakhnazaryan und zwei Schlagzeuger entfalten unter Dirigent Michael Alber großartige Kompetenz. Die Uraufführung des für die gleiche Besetzung geschriebenen Auftragswerks „Lo frate sole“ von Martin Wistinghausen wird so ebenfalls zum Erfolg.

Querverbindungen zu Johann Sebastian Bach dürfen bei diesem Festival nicht fehlen. Elsbeth Moser (Bajan), Kathrin Rabus (Violine) und Narek Hakhnazaryan (Cello) verschränken die Werke „Silenzio“, „In croce“ und „De profundis“ mit Auszügen aus Bachs Suiten für Violoncello solo. Sie alle ruhen auf einem unsichtbaren Gerüst von Zahlen, schaffen innere Ordnung, sprechen von nicht erklärbaren Gewissheiten. Auch dies vielleicht ein Grund für die Anziehungskraft von Gubaidulinas Musik: Sie gibt Halt in den Wirren der Zeit, einen festen Punkt außerhalb der Erde, der es vermag, die Welt aus den Angeln zu heben.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Im Dunstkreis russischer Propaganda: Teodor Currentzis dirigiert Verdis „Messa da Requiem“ im Konzerthaus Dortmund

Teodor Currentzis nimmt im Konzerthaus Dortmund den Beifall entgegen. Rechts ist der Sänger Matthias Goerne zu sehen. (Foto: Holger Jacoby)

Darüber lässt sich keine übliche Konzertkritik schreiben: In Dortmund tritt ein Dirigent auf, der sich bisher erfolgreich um eine eindeutige Distanzierung von Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine gedrückt hat, sich mit seinem Ensemble aber nach wie vor von Sponsoren mit Putin-Nähe fördern lässt.

Teodor Currentzis bringt ins Konzerthaus  statt der angekündigten konzertanten „Tristan und Isolde“-Aufführung Giuseppe Verdis „Messe da Requiem“ mit. Ein Statement gegen den Krieg? Der Abend in Dortmund sieht nicht so aus: Die bürgerliche Kunstreligionsfeier geht ungebrochen vor sich; im Programmheft ist kein Wörtchen zu lesen, das der Aufführung irgendeine über den Event selbst hinausgehende Bedeutung geben würde. Das Publikum im nicht ganz vollbesetzten Saal begrüßt Chor und Orchester von MusicAeterna mit verhaltenem, aber langem Beifall. Als Currentzis mit viertelstündiger Verspätung aufs Podium springt, gibt es bereits einzelne Bravos. Der Schlussbeifall ist ebenfalls durchmischt mit – künstlerisch verdienten – Anerkennungsrufen. Gilt’s also nur der Kunst?

Auf Gazprom-Tournee

Wenn es so einfach wäre, hätte sich die Kunst tatsächlich aus der gesellschaftlichen Relevanz verabschiedet. Denn im Falle von Currentzis und MusicAeterna geht es nicht um moralische Bewertung privater Meinungen oder um idealistischen, von den Niederungen der Politik elfenbeinern abgeschiedenen Musik-Enthusiasmus, sondern es geht um ein Ensemble und einen Dirigenten, die auf Gazprom-Konzerttour gegangen sind, als die sogenannte Spezialoperation längst im Gange war. Das Verdi-Requiem, das nun in Dortmund zu hören war, gab es kurz zuvor in Sankt Petersburg – und das etwa ohne Förderung von Gazprom oder der sanktionierten VTB-Bank, deren Sponsoring schon vor dem Krieg auf Kritik stieß?

Currentzis hat sich medial wahrnehmbar nicht einmal mit einer allgemein gehaltenen Aussage gegen Krieg und Gewalt von dem distanziert, was da seit Monaten in Europa an Grausamkeiten verübt wird. Er schweigt und entzieht sich den Fragen von Medien – und die machen, wie der Musikjournalist Axel Brüggemann dokumentiert hat, problemlos mit. Wo sonst um jede Straßenumbenennung eine Debatte geführt wird, ist die Haltung eines Nutznießers des Putin-Systems offenbar nicht der hartnäckigen Nachfrage wert. Dabei ist es naiv anzunehmen, man könne in der gegenwärtigen politischen Situation einfach nur Kunst um der Kunst willen genießen: Currentzis wird, ob er will oder nicht, Bestandteil der russischen Propaganda; ein Teil eines kulturellen Krieges, der nicht nur auf den Schlachtfeldern in der Ukraine ausgefochten wird.

Problematische Finanzierung

Die Kölner Philharmonie hat klare Kante gezeigt und ein Konzert mit Currentzis und dem SWR Sinfonieorchester abgesagt. So weit gingen weder der Ex-Dortmunder Benedikt Stampa in Baden-Baden noch Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech. Dem Bayerischen Rundfunk sagte er über die Finanzierung, er halte sie für kritisch, wisse aber, dass das nicht so schnell änderbar sei. Das mag so sein, aber wenn ein Ensemble keinerlei Indizien erkennen lässt, dass es seine Finanzierung von problematischen Sponsoren unabhängig gestalten könnte, ist das auch ein Statement. Und ob ein Klangkörper mit einem Sony Classical Exklusivvertrag und Hochglanz-Auftritten in ganz Europa – einem umstrittenen Event bei den Salzburger Festspielen dieses Jahres eingeschlossen – beim Abschied von problematischen Sponsoren gleich an den Rand seiner Existenz geraten würde, ist fraglich: Vielleicht hätte sich nach einer Distanzierung ein neuer Sponsor gefunden, der solchen Mut gewürdigt hätte?

Immerhin schließt von Hoensbroech weitere Auftritte von MusicAeterna im Konzerthaus Dortmund vorerst aus. Einige Musiker, die sich in sozialen Medien für den Krieg positioniert hatten, wurden suspendiert – ob nur für den Auftritt in Dortmund oder auf Dauer, ist unklar. Dazu zählt auch der Geiger, der in einem Video-Post angekündigt hatte, er zerstöre Deutschlands Wirtschaft, und dazu ein Heizkörperventil aufgedreht hat. Den Witz muss man nicht verstehen. Aber er könnte wohl auch als Indiz für die Haltung in Teilen der Orchesters verstanden werden und damit mehr als nur eine individuelle Entgleisung darstellen.

Die Kunst muss sich nicht verstecken

Um die Kunst soll es nun aber auch gehen – und in dieser Hinsicht braucht sich MusicAeterna nicht zu verstecken. Schon im „Te decet hymnus“ gibt der Chor eine erste Probe seiner Präzision, die sich im Verlauf des „Dies irae“ und in der „Sanctus“-Doppelfuge atemberaubend bestätigt. Selten ist diese oft als musikalisches Schlachtengemälde missverstandene Sequenz so durchhörbar und genau gestaltet zu erleben. Currentzis wägt sorgfältig ab, welche Gruppen im Orchester gerade dominieren und welche zurücktreten sollen, erzeugt so einen tief gestaffelten, bei aller Wucht variablen Klang, lässt hören, dass Verdi hier keine bloße Überwältigungsstrategie fährt und die differenziert ausgearbeitete Partitur nicht als Lektürevergnügen, sondern als blutvoll ausmusizierte Vorlage dienen soll.

Dass Currentzis mit seinen Manierismen nicht bricht, ist jedoch auch hörbar. Die Celli zu Beginn sind in ihrer absteigenden Dreiklangfigur kaum wahrnehmbar: Ein solch übertriebenes Pianissimo ist nicht im Sinne Verdis, der von den Instrumenten einen leisen, aber sonoren Klang verlangt. Der Chor singt das erste „Requiem“ nicht, sondern murmelt es vor sich hin, so wie er in „Quantus tremor“ das Zittern vor dem Weltenrichter flüsternd skandiert. Die Piano-Abstufungen gestaltet er jedoch meisterlich, auch wenn ihm dann die süße Wendung zum „lux perpetua“ nicht so recht gelingen will. Das „Te decet“ setzt nicht nur einen entschiedenen Kontrast, sondern platzt heraus: Da wäre weniger mehr gewesen. Zum „Dies irae“ bringt sich Currentzis in Stellung, aber er verzichtet tatsächlich auf Effekthascherei, schafft es stattdessen, den Sinn des Textes ausdeuten zu lassen, schafft es auch, „teste David cum Sibylla“ entspannt zurückzunehmen, damit sich die Kräfte der Dynamik wieder ballen und erneut losbrechen können.

Teodor Currentzis mit seinen Solisten. (Foto: Holger Jacoby)

Die Auswahl der Solisten hängt wohl mit dem ursprünglich geplanten „Tristan“ zusammen: Weder Andreas Schager – einer der führenden Tristan-Sänger heutiger Tage –, noch der Liedsänger Matthias Goerne passen in Verdis vokales Profil. Und sie harmonieren nicht mit dem Sopran Zarina Abaeva und dem Mezzo Eve-Maud Hubeaux, was vor allem im nur leise harmonisch gestützten Quartett („fac eas de morte transire ad vitam“) durch zerrissenen Klang Schmerz bereitet. Andreas Schager müht sich bewundernswert darum, seine Soli textsinnig und klangschön zu gestalten, aber schon das „Kyrie“ ist nicht leuchtend, sondern nur laut. Ein schönes Legato fällt ihm schwer. Im „Ingemisco“ sucht er den bittenden Ton, aber die Stimme ist nicht geschmeidig genug, auch nicht, um das „Inter oves“ in seinem fast kindlichen Flehen in einen schwerelosen Klang zu kleiden. Zarina Abaeva erweist sich dagegen als stilgewandte Verdi-Sängerin, die sich nicht zu vibratosatter Tongewalt hinreißen lässt und die Höhe auch im Piano sicher ans Zentrum anzubinden weiß. Ihr „Libera me“ erfleht sie sich von der Chorempore herab; vielleicht bleibt seine innere Bewegung deshalb etwas blass.

Eve-Maud Hubeaux und Andreas Schager. Foto: Holger Jacoby)

Nichts bleibt ungesühnt

Bei Matthias Goerne spürt man die Qualität des Liedgestalters: Kaum einer singt das dreimalige „mors“ jedes Mal anders aufgeladen – erschüttert, bitter, resigniert; kaum einer gestaltet die rhythmische Feinheit des „Hostias“-Beginns so klug wie Goerne. Aber schon im Kyrie befremdet der gewohnte, weit hinten gebildete, kehlige Klang der Stimme, der sich zu gurgelnder Intensität steigert und einen sinistren Gegensatz zum schlank-samtigen Timbre von Eve-Maud Hubeaux aufbaut. Die Schweizer Mezzosopranistin – die Amneris der Salzburger Festspiele 2022 und Eboli der Wiener Staatsoper 2020 – ist kein breiter italienischer „Contralto“, sondern eine präsent artikulierende Sängerin mit einer definierten Emission, die nur im Wechsel in die Bruststimme („latet apparebit“) ihren ästhetischen Ton nicht mitnehmen kann.

Hubeaux singt in der mittelalterlichen „Dies irae“-Sequenz den einen Satz, der sich in der gebannten Stille nach dem Verklingen des letzten „Libera me“ (und eines prompt einsetzenden Handy-Gebimmels) aufdrängt: „Nil inultum remanebit“. Nichts bleibt – glaubt man denn an einen Gott und ein Weltgericht – ungesühnt. Dieser Satz sollte den Mächtigen in den Ohren gellen, die heute ihre Gewaltorgien in der Ukraine und in vielen Teilen der Welt toben lassen. Der gerechte Gott ist die Hoffnung der Opfer. Das wäre das Statement dieses Requiems.




20 Jahre Konzerthaus Dortmund (I): Symbol für den Wandel im Ruhrgebiet

Drei Intendanten prägten bisher die Erfolgsgeschichte des Dortmunder Konzerthauses (von links): Benedikt Stampa, Raphael von Hoensbroech und Ulrich Andreas Vogt. (Foto: Björn Woll)

Am 8. September 2002 wurde das Konzerthaus Dortmund förmlich überrannt: 40.000 Menschen wollten am „Tag der offenen Tür“ das neue Gebäude besichtigen. Die stolze Bilanz nach 20 Jahren: Dreieinhalb Millionen Besucher in rund 4.000 Veranstaltungen.

Doch Intendant Raphael von Hoensbroech will darob nicht die Hände in den Schoß legen: Die Aufgabe, neue Publikumsschichten in den Bau im Dortmunder Brückstraßenviertel zu locken, sieht er noch nicht als erfüllt an. Zufrieden zeigt er sich bei der Pressekonferenz anlässlich der Eröffnung der 21. Spielzeit mit dem Ticketverkauf: Schon jetzt sei der Umsatz des Jahres 2019 erreicht – allerdings bei leicht sinkenden Abo-Zahlen. Den von vielen beklagten und gefürchteten Publikumsschwund bemerkt das Dortmunder Konzerthaus bisher nicht.

Intendant Raphael von Hoensbroech. (Foto: Pascal Amos Rest)

Vor 20 Jahren, am 14. September 2002, eröffnete Kent Nagano mit Beethovens Neunter den neuen Bau mitten in dem problematischen Areal in Bahnhofsnähe. Er war das Ergebnis eines „großen gesellschaftlichen Projekts“ – so Gründungsintendant Ulrich Andreas Vogt beim Jubiläums-Pressegespräch –, entstanden aus einer Bürgerbewegung, der es gelang, die Politik zu überzeugen. Das Interesse an dem neuen Bau an der Stelle des 1922 eröffneten Universum-Kinos war überwältigend: „Wir hatten schon 1.600 Abos verkauft, bevor nur ein Stein stand“, erinnert sich Vogt.

Den wesentlichen Auftrag des Konzerthauses formuliert Vogt so: Musik zugänglich machen, Brücken bauen, Musik für Alle bieten. Von Anfang an setzte er auf große Namen: Internationale Künstler sollten den Saal und seine oft gelobte Akustik kennenlernen und seinen Ruf in der Welt verbreiten. Dass diese Rechnung aufgegangen ist, zeigen die zwanzig Jahre stetiger Entwicklung, nach Vogts Weggang fortgeführt von Benedikt Stampa – heute Intendant des Festspielhauses Baden-Baden – und vom amtierenden Konzerthauschef Raphael von Hoensbroech.

Stampa etablierte Formate wie die „Jungen Wilden“ oder den „Exklusivkünstler“, der sich für längere Zeit ans Haus bindet. Die „Zeitinseln“ bieten einen konzentrierten Blick auf eine bestimmte Epoche oder eine Werkschau eines Komponisten wie in dieser Saison von Sofia Gubaidulina. „Von Anfang an wollten wir in der Champions League der europäischen Konzerthäuser spielen“, sagt Vogt. Das ist gelungen: Dortmund gehört seit 2012 zur European Concert Hall Organisation (ECHO), einem Netzwerk von 22 führenden europäischen Konzerthäusern.

Ein Symbol, das in die Stadt hinein wirkt – das geflügelte Nashorn des Konzerthauses. (Foto: Werner Häußner)

Das neue Haus steht aber auch für den Wandel im Ruhrgebiet, betont Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann: Er lobt die Kontinuität und die „hoch ambitionierten Programme“. Das geflügelte Nashorn – das Symbol des Konzerthauses – stehe als „Signum einer neuen Zeit“ für ein Ruhrgebiet, das nicht länger mit Kohle, Stahl und Bier zu identifizieren sei. Die Impulse für die Kultur der Stadt seien unübersehbar: Chorakademie, Festival Klangvokal, Orchesterzentrum seien ohne das Konzerthaus nicht denkbar. „Das Konzerthaus hat der Stadt unheimlich viel gebracht“.

Entsprechend festlich sollte es auch beim ausverkauften Eröffnungskonzert der Spielzeit 2022/23 zugehen: Eines der Top-Orchester der Welt, das Leipziger Gewandhausorchester unter seinem Chef Andris Nelsons, der dem Haus schon lange verbunden ist, bestritt den Abend (Kritik hier). Mit „Höhepunkten reihenweise“ will die Werbung das Publikum zu einem Abo überzeugen – und Hoensbroech hat mit seinem Team ein wirklich anziehendes Programm vorbereitet: So dirigiert der Exklusivkünstler der nächsten drei Jahre, Lahav Shani, das Orchestre de Paris mit Martha Argerich als Solistin (17.12.), Mirga Gražinytė-Tyla kommt zurück mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France und Daniil Trifonov als Solisten (28.01.23), Barbara Hannigan dirigiert das London Symphony Orchestra (04.03.23).

Eröffnungskonzert mit dem Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons, Mao Fujita (Klavier) und Gábor Richter (Trompete). (Foto: Björn Woll)

Lahav Shani ist noch einmal am 13. Mai 2023 mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Gustav Mahlers Zweiter Sinfonie zu Gast; Herbert Blomstedt kommt mit dem Chamber Orchestra of Europe am 25. Mai. Eine der großen Klavier-Poetinnen, Mitsuko Uchida, leitet am 25. Januar 2023 das Mahler Chamber Orchestra und spielt die beiden Klavierkonzerte KV 503 und KV 595 von Wolfgang Amadé Mozart. Und im Rahmen der Sofia Gubaidulina gewidmeten „Zeitinsel“ im Februar 2023 präsentiert das ORF-Radio-Symphonieorchester Wien unter Duncan Ward mit dem Bratscher Antoine Tamestit das Violakonzert und „Der Zorn Gottes“ der 1931 geborenen Komponistin.

Die Namen der Künstler der nächsten Wochen lassen musikalische Erlebnisse auf höchstem Niveau erwarten: die Geigerin Hilary Hahn musiziert mit Lahav Shani und dem Orchester aus Rotterdam, Thomas Hengelbrock und der Counter-Star Jakub Józef Orliński sind in Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ zu erleben, Julian Prégardien singt Lieder und Balladen Franz Schuberts, Dirigier-Aufsteigerin Joana Mallwitz bringt mit dem Mahler Chamber Orchestra Schuberts „Unvollendete“, und Sheku Kanneh-Mason streift in der Reihe der „Jungen Wilden“ durch die Gefilde von Klassik, Jazz und Improvisation. Die Reihe lässt sich von der Cellistin Sol Gabetta über die Dirigentin Marie Jacquot bis zu Sir Simon Rattle und dem London Symphony Orchestra beliebig fortschreiben. Sie zeigt: Dortmund spielt auch nach 20 Jahren hochkarätiger Kultur mit nicht nachlassender Energie in der Spitzenliga der Konzerthäuser.

Das Konzerthaus bietet auch ein neues Pop-Abo, Informationen gibt es unter www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/pop-abo

Weitere Infos: www.konzerthaus-dortmund.de




20 Jahre Konzerthaus Dortmund (II): Beethovens „Apotheose des Tanzes“ fehlt der scharfe Blick auf den Rhythmus

Wenn schon die spritzige Eingangsfloskel zwischen Klavier und Trompete so nadelspitz akkurat gelingt, kann eigentlich nichts mehr schief gehen in Dmitri Schostakowitschs Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester op.35.

Andris Nelsons dirigiert das Gewandhausorchester Leipzig. (Foto: Björn Woll)

Der junge japanische Pianist Mao Fujita – eingesprungen für die erkrankte Yuja Wang – und der Trompeter Gábor Richter sticheln dieses ironische Zitat aus Beethovens „Appassionata“ so gekonnt in den Raum, dass für die folgenden drei Sätze kein Zweifel an ihrer Klasse aufkommt.

Der 23-Jährige am Flügel beginnt sein Eingangssolo eher lebensfroh beschwingt als im beiläufigen Improvvisando, steigert sich dann fulminant in die typischen atemlosen Repetitionen und schrägen Gassenhauer-Melodien, verliert sich im Lento – Moderato zu den delikat abgestimmten Streichern des Gewandhausorchesters in traumtrunkener Meditation, bevor er sich im Finalsatz in einen befeuerten Wettstreit mit der Trompete begibt, der auch einmal durch einen knallig dissonanten Akkord unwirsch beendet wird.

Mao Fujita beim Eröffnungskonzert der Saison im Komzerthaus Dortmund. (Foto: Björn Woll)

Fujita zeigt sich in all diesen so unterschiedlichen Ausdrucksmomenten voll bei der Sache, allenfalls die verträumte Gelassenheit des zweiten und der satirische Biss des vierten Satzes könnten noch pointierter formuliert sein. Gábor Richter ist in seinen Signalen punktgenau und in den wenigen Momenten, in denen die Trompete sogar einmal „singen“ darf, voll Poesie mit von der Partie. Am Pult geht Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons mit den Solisten mit; das Orchester verströmt eher seinen herrlich samtigen Klang als die herben und grellen Momente Schostakowitschs mit Humor zu zelebrieren. So bleiben die Bratschen zu weich und die rhythmische Finalknallerei eher wuchtig als messerscharf.

In Schostakowitschs Kammersinfonie op. 110a, einer mit Zustimmung des Komponisten von Rudolf Barschai erstellte Bearbeitung des Achten Streichquartetts, ist dieser Klang eher angebracht. Das melancholisch gestimmte Werk nimmt Nelsons in seinen drei Largo-Sätzen verhalten und breit, lässt die Streicher ihre vorzügliche Qualität im Legato ausspielen und den Ton nach einem ätherischen Violinsolo im Pianissimo verwehen. Der Allegro-Ausbruch im zweiten Satz, die explosiven Tutti-Schläge und der sardonische Walzer vertrügen eine spitzere Artikulation, um nicht allzu befriedet zu klingen.

„… in trunkenem Zustand komponiert“

Mit dieser Ästhetik nähert sich Andris Nelsons der Siebten Sinfonie Ludwig van Beethovens und liefert eine problematische Interpretation. Was dieser – nach Wagner – „Apotheose des Tanzes“ fehlt, ist eben jener scharfe Blick auf den Rhythmus, der im ersten Satz als konstitutiv entwickelt wird, und der sich in wechselnder Form durch die vier Teile zieht – als Marsch im zweiten, als impulsiver Drive im Scherzo und als grimmige Ausgelassenheit im Finale, von dem Friedrick Wieck argwöhnte, es könne nur in trunkenem Zustand komponiert sein.

Das Sostenuto des Anfangs wird zwar ausgekostet und die warm strömenden Holzbläser dürfen funkeln und schimmern. Aber das breite Tempo ermöglicht keinen Spannungsaufbau, das Pulsieren des Rhythmus bleibt gebremst. Der Sog der rhythmischen Struktur will sich nicht einstellen – und dann lässt Nelsons die Pauken losdonnern, als sei er bereits im Finale angelangt. So sind späteren dynamischen Gipfeln schon die Spitzen abgeschlagen, ehe sie erklommen werden. Der Mangel an rhythmischem Pep nimmt der Musik ihre Beredsamkeit; Nelsons agiert von Stelle zu Stelle statt Zusammenhänge herzustellen. Auch das Vivace gewinnt keine frühlingshafte Frische, keine spritzige Eleganz.

Dem Orchester ist das nicht anzulasten: Bis auf ein paar Artikulationsflüchtigkeiten im zweiten Satz sind die Violinen entwaffnend schön; die Bläsersoli makellos; das Orchesterpiano von selten gehörter Delikatesse. Die dröhnende Selbstbestätigung im Scherzo müsste nicht sein; das Finale bräuchte Brio und Exzess – aber der hat ja bereits im ersten Satz stattgefunden. Dennoch Jubel. Beethoven geht halt immer.




Künstliche Intelligenz gibt es nicht – Ausstellung im Dortmunder „U“ geißelt grenzenlose Computergläubigkeit

Wenn Biometrie die Menschen bewertet, kann auch Unsinn dabei herauskommen. „Decisive Mirror“ von Sebastian Schmieg, 2019 (Bild: Franz Warnhof/HMKV)

Die „Künstliche Intelligenz“, abgekürzt KI, über die Computer neuester Bauart angeblich verfügen sollen, gibt es nicht. Der Begriff ist schlicht falsch. Computer sind genauso intelligent wie, sagen wir mal, ein Gurkenhobel.

Eigentlich haben wir das ja immer gewußt, obwohl die elektronische Datenverarbeitung, bleiben wir für einen Moment bei diesem altehrwürdigen Begriff, heute in Gestalt attraktiver junger Damen wie Alexa daherkommt, die uns richtig gut zu kennen scheinen und ohne bösen Hintersinn bemüht sind, uns jeden Wunsch zu erfüllen. Da kann man natürlich schon ins Grübeln kommen, ob nicht vielleicht doch mehr dahintersteckt als die systematische Anwendung zugegebenermaßen hochkomplexer Algorithmen. Oder?

Vermessenes aus „Hypernormalisation“ von Aram Bartholl von 2021 (Bild: HMKV)

Neue Perspektive

Erstaunlicher als die (eben nicht) erstaunliche Einsicht, daß Computer dumm wie Brot, jedoch keineswegs harmlos sind, ist vielleicht noch der Ort, an dem Erkenntnis dem Publikum zuteil wird. Der Dortmunder Hartware Medienkunstverein, der mit seiner Ausstellungsfläche im dritten Stock des Dortmunder „U“ residiert, ausgerechnet der, hat sich die computerkritische Perspektive zu eigen gemacht und präsentiert nun „künstliche Intelligenz als Phantasma“ in seiner neuen Ausstellung „House of Mirrors“, was sinnvoll mit „Spiegelkabinett“ übersetzt werden kann. Daß die Ausstellung ausgerechnet hier stattfindet ist deshalb erstaunlich, weil der Medienkunstverein bisher doch ein eher positives Verhältnis zur Computerei zu haben schien, zu den Ergänzungen und Weitungen, die der Einsatz elektronisch betriebener Medien letztlich eben auch der Kunst bringen könnte. Ein wirklich Widerspruch ist dies indes nicht, wir wollen fair bleiben. Eher könnte man vielleicht von einem Perspektivwechsel sprechen, der im ganzen großen Themenkontext sicherlich Sinn macht. Außerdem scheint auch ein wenig „Wokeness“ im Spiel zu sein.

Ein Gestell, viele Smartphones: die Arbeit „– human-driven condition“ von Conrad Weise thematisiert die Situation der vielen (menschlichen) Mikroarbeiter, die in stark fragmentierten Arbeitsprozessen für das Funktionieren der „KI“ sorgen (Foto: HMKV)

Alte Datenmuster

Große Spiegel strukturieren den Raum in dieser hübsch aufgebauten Ausstellung; die meisten werfen lediglich das Bild zurück, manche sind aber auch von einer Seite zu durchschauen, wieder andere sind Teile von Kunstobjekten. Warum die Spiegel? Inke Arns, seit etlichen Jahren die rührige Chefin des Medienkunstvereins, erläutert es. Der Prozeß der Spiegelung, wir formulieren frei, verdeutliche den beschränkten Nutzen des Computereinsatzes in vielen Anwendungsbereichen, bei der Erkennung von Personen zum Beispiel (Zollkontrollen, Fahndung) oder von Situationen („autonomes Fahren“ etc.). Gespiegelt wird, was man dem Spiegel zeigt, algorithmische Raster, biometrische Daten, situative Schemata, Statistik.

Was man nicht zeigt, kann auch nicht gespiegelt werden, heißt für den Computerbetrieb: er reagiert nur beim Wiedererkennen hinterlegter Datensätze. Erkennt er das Geschehen nicht, reagiert er nicht oder falsch. Auch mit allergrößten Datenmengen ist die Computerintelligenz also ein menschengemachtes Bewertungskonstrukt, dem ein gerüttelt Maß Subjektivität eigen sein dürfte und das zwangsläufig „computeraufbereitete Realität mit vergangenen Datenmustern erkennen“ (Arns) soll. Wenn aber heutiges Geschehen an den Mustern von gestern abgeglichen wird, hat das normierenden, mitunter gar disziplinierenden Charakter. Von „automatisierter Statistik“ spricht in diesem Zusammenhang Francis Hunger, der die Ausstellung zusammen mit Marie Lechner kuratiert hat.

Hier geht es um die Wahrnehmungen „autonomer“ Fahrzeuge: „VO“ von Nicolas Gourault (2022) (Bild: Courtesy of Le Fresnoy, Studio national des arts contemporains/HMKV)

Viele Bildschirme, viele Projektionsflächen

So viel zunächst einmal zum Ansatz dieser Schau. Wie aber nun macht man aus technischen, soziologischen, politischen, psychologischen Einsichten Kunst? So ganz einfach ist das nicht, denn anders als alles Mechanische ist Elektronisches zunächst einmal sehr unsinnlich. Letztlich, und so auch hier, läuft es darauf hinaus, daß viel Botschaft über Bildschirme und Projektionsflächen läuft, denen (so gut es eben ging) ein paar Requisiten beigegeben wurden. Einige schöne Raumsituationen gibt es gleichwohl, wie das von einem gemütlichen Sofa beherrschte Zimmer Lauren Lee McCarthys, in dem diese eine Woche lang die Funktion von Amazons virtueller Assistentin Alexa übernahm. Das war 2017 und streckenweise recht lustig, wie die Dokumentation zeigt, die auf dem Bildschirm läuft.

Sinnfrei

Ein Großteil der Arbeiten thematisiert Teilaspekte der „KI“. Gleich am Eingang scannt Sebastian Schmiegs „Decisive Mirror“ (2019) Gesichter der Besucher und berechnet dann Sinnfreies: „Zu 42 Prozent noch am Leben“, „zu 65 Prozent imaginär“, „zu 17 Prozent einer von ihnen“ und so weiter. Projiziert werden die Daten auf einen Spiegel, und schon in dieser ersten Installation erahnt man die Respektlosigkeit dessen, was folgen wird.

Neues Gesicht aus dem Computer: „The Zizi Show, Deepfake drag Artist close up“ (2020) von Jake Elwes (Bild: Courtesy of the artist, VG Bild-Kunst/HMKV)

Wunsch und Wirklichkeit

Doch wir beginnen nachdenklich. In der zentral gelegenen Rotunde vergleichen Pierre Cassou-Noguès, Stéphane Degoutin und Gwenola Wagon in ihrer üppigen Videoarbeit „Welcome to Erewhon“ (2019) Wunsch und Wirklichkeit des technischen Fortschritts über Jahrhunderte hinweg. Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen ist das Buch „Erewhon; Or, Over the Range“, das ein gewisser Samuel Butler 1872 veröffentlichte und das die Übernahme der Macht durch die Maschinen thematisierte, die sich schneller und effektiver weiterentwickelt hatten als die Menschen. Schließlich zerstörten die Menschen die Maschinen und bauten keine neuen mehr. „Erewhon“ ist übrigens ein Anagramm von nowhere, nirgendwo. Weiterhin gibt es hier auf den Bildschirmen computergesteuerte Haushaltsmaschinen des 21. Jahrhunderts zu sehen, Saug- und Wischroboter etwa, von denen noch keine große Bedrohung auszugehen scheint. Auch eine Performance ist hier dokumentiert, die zeigt, zu welchen Albernheiten eine Bürogemeinschaft fähig ist, wenn die Computer all ihre Arbeit übernommen haben. Es gibt der Aspekte etliche mehr. Eingestimmt und neugierig wandern wir weiter.

Kuh oder Sofa

Simone C Niquilles raumgreifend angelegte Videoinstallation „Sorting Song“ (2021) führt auf großer Leinwand bildmächtig das Dilemma eines überforderten Erkennungsprogramms vor, das den zu bestimmenden Gegenstand mal als Kuh, mal als Sofa identifiziert und abbildet. Anna Ridlers „Laws Of Ordered Form“ (seit 2020) befaßt sich mit elektronischem Bilderkennen und –benennen in enzyklopädischen Dimensionen und vergleicht dies mit traditionellen, nach Stichworten strukturierten Formen der Archivierung. Die „Mikroarbeiter“, Männer wie Frauen natürlich, haben ihren Platz in der Ausstellung, jene vielen tausend Menschen, die isoliert zu Hause und unter oft miserablen Konditionen in der ganzen Welt als „Datenreiniger“ oder „Klickarbeiter“ händisch all das machen, was die „KI“ nicht hinbekommt. Die Italienerin Elisa Giardina Papa, die selber als Datenreinigerin für Unternehmen arbeitete, und der Kölner Conrad Weise erinnern in ihren Arbeiten an sie.

Kein Alter Meister, sondern ein Bild aus der Arbeit „Laws of Ordered Form“ von Anna Ridler (2020), in der es um Bilderkennung geht. (Bild: HMKV)

Diskriminierung

Überhaupt: die Zukurzgekommenen, die Diskriminierten, die rassistisch Ausgegrenzten. Etliche Arbeiten beleuchten diskriminierende Aspekte der Algorithmen – die Diskriminierung dunkler Hautfarbe beispielsweise in Gesichtserkennungs-programmen, die Diskriminierung von ausländischen Akzenten oder „Unterschichtsprache“ in Spracherkennungsprogrammen. „KI“ ist nicht woke, im Gegenteil. Unübersehbar ist es das Anliegen wenn schon nicht dieser Ausstellung, so doch sicherlich etlicher Arbeiten, die diskriminierenden Eigenschaften von „KI“ vor allen im Überwachungswesen herauszuarbeiten. Und dagegen ist auch nichts zu sagen.

Ein weit gefaßter Kunstbegriff

Eher schon könnte man in Nachdenklichkeit verfallen über den hier doch sehr, sehr weit gefaßten Kunstbegriff. In vielen Arbeiten ist schwerlich mehr zu erkennen als das Zitat eines „KI“-typischen Problemfelds. Ein gewisses Unwohlsein hinsichtlich der künstlerischen Valeurs scheinen auch etliche der 21 Teilnehmer zu empfinden, die als Berufsbezeichnung in ihre Biographien zusätzlich „Forscher“ hineingeschrieben haben. Auf jeden Fall jedoch funktioniert diese insgesamt sehr schöne, kompakte, schlüssige Ausstellung durch die Summe der Exponate. Anders ausgedrückt: Wer sich für das Themenfeld interessiert, sollte hingehen. Gut geeignet auch für technikaffine Besucher.

    • „House of Mirrors: Künstliche Intelligenz als Phantasma“
    • HMKV Hartware Medienkunstverein
    • im Dortmunder U, Ebene 3
    • Leonie-Reygers-Terrasse
    • Bis 31 Juli.
    • Geöffnet Di-Mi 11-18 Uhr, Do-Fr 11-20 Uhr, Sa-So 11-18 Uhr
    • Eintritt frei
    • www.hmkv.de

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Eine teilweise ähnlich gelagerte Ausstellung zur „KI“ läuft seit November 2021 und noch bis zum 9. August 2022 in der Dortmunder DASA (Deutsche Arbeitswelt Ausstellung). Hier ein Link zu unserem DASA-Bericht.

 




Schluss mit dem Sinn! Helge Schneider im Dortmunder Konzerthaus

Helge Schneider am Flügel. (Foto: Bernd Berke)

Diese Eintrittskarten haben so ihre Geschichte: Ursprünglich hätte der Auftritt von Helge Schneider im Dortmunder Konzerthaus im März 2020 sein sollen. Wegen Corona wurde der Termin mehrfach verschoben – und nun, zwei Jahre später, war es endlich so weit. Ausgerechnet jetzt, wo Putin in der Ukraine einen schmutzigen Krieg angezettelt hat. Wie können Komiker, wie kann ein Spaßmacher wie Helge Schneider damit umgehen?

Eigentlich ganz einfach. Indem er das furchtbare Kriegsgeschehen völlig beiseite lässt und sich „Anspielungen“ erspart, die ohnehin nichts fruchten könnten. Auch wohlfeile Solidaritätsbekundungen bleiben aus. Helge bleibt Helge bleibt Helge. Und das ist gut so.

„Ein Mann und seine Gitarre“ heißt das Programm lakonisch. Weit untertrieben! Helge Schneider brilliert am Flügel, am Keyboard, an der Trompete, am Schlagzeug, an der E-Gitarre, am Xylophon und am Kontrabass. Er beherrscht etliche Jazz-Spielarten und Swing in ziemlicher Vollendung, parodiert den Blues wie nur je einer. Begleitet wird er vom gleichfalls virtuosen Akustik-Gitarristen Sandro Giampietro. Zwischendurch bringt der „Teekoch Bodo“ (in schmucker Livree) immer mal wieder servil ein Tässchen herbei. Eine Welt für sich.

Die Sketche (oder wie will man das bei Helge Schneider nennen?) sind wirklich allem Tagesgeschehen weit enthoben. Ob er nun fernöstliche Esoterik oder das ungeahnte Privatleben des Papstes in Nonsens auflöst, ob er mit einer primitiven Nebelmaschine die Lüftung des Konzerthauses testet, ob er die Erfindung des Pfefferminztees oder die Wurstverkäuferin bespricht und besingt – stets verwirklicht er das Motto, das einst auch die „Talking Heads“ sich gaben: „Stop making sense!“ Endlich aufhören mit der herkömmlichen Sinnproduktion. Das walte sein gegen Schluss servierter Allzeit-Smashhit vom „Katzeklo“ und als Zugabe die herrliche Parodie auf den maulenden Udo Lindenberg.

Und was soll man sagen: So wie Helge Schneider nicht schwitzend am, sondern immer souverän über dem musikalischen Material zu sitzen scheint, so ahnt man, dass derlei Kunstausübung letztlich hoch erhaben ist über alles Gewaltsame. Auch in diesem Sinne danke für zwei Stunden kultivierten Blödsinns.

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Hier die weiteren Tourneedaten.

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P. S.: Demnächst tritt Olli Dittrich („Dittsche“) im Dortmunder Konzerthaus auf. Man darf sehr gespannt sein, wie er mit der Situation umgehen wird.




Neustart nach der Zwangspause: Das Konzerthaus Dortmund stellt das Programm der Spielzeit 2021/22 vor

Die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla verabschiedet sich am 2. Juli 2022 in Dortmund mit einem Mitsing-Konzert. (Foto: Ben Ealovega)

Vom Glauben, es ließe sich alles im Leben zu einem späteren Zeitpunkt nachholen, hat mancher im langen Lockdown schmerzlich Abschied nehmen müssen. Großem Engagement zum Trotz konnte auch das Team vom Konzerthaus Dortmund nicht verhindern, dass die Pandemie ein ganzes Jahr von der sorgsam geplanten Residenz der Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla gestohlen hat.

Die quirlige Maestra aus Litauen ist international derart gefragt, ihr Terminplan auf Jahre hinaus so gefüllt, dass viele der mit Herzblut geplanten Projekte unwiederbringlich verloren sind. So heißt es beim Mitsingkonzert am 2. Juli 2022 Abschied nehmen von der energiegeladenen Exklusivkünstlerin, die in ihrem dritten und letzten Jahr in Dortmund – wenn das Coronavirus es zulässt – eine konzertante Aufführung von Leoš Janáčeks Oper „Das schlaue Füchslein“ dirigieren wird (21. November 2021). Im März steht außerdem ihr Lieblingskomponist Komponist Mieczysław Weinberg im Fokus, dessen 3. und 4. Sinfonie die Dirigentin am 26. und 27. März mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra aufführt.

Der Pianist András Schiff wird als „Curating Artist“ sein eigenes kleinen Festival innerhalb der neuen Saison konzipieren. (Foto: Priska Ketterer)

Wer das gewohnt umfang- und inhaltsreiche Saisonbuch durchblättert, wird unschwer selbst seine Favoriten herauspicken oder auch Entdeckungen machen. Die bewährten Reihen wurden beibehalten: die Zeitinsel (sie gilt diesmal dem 1979 in Prag geborenen Ondřej Adámek), Musik für Freaks, Neuland, das Pop-Abo, die Meisterkonzerte mit internationalen Spitzenorchestern, die Orgelkonzerte, Lieder- und Chansonabende. Zudem gibt es eine Meisterklasse mit dem Pianisten András Schiff, der als „Curating Artist“ Freunde einladen und sein eigenes kleines Festival innerhalb der Saison gestalten darf.

Zur festlichen Saisoneröffnung im Herbst (4. September) spielt das Orchestre Philharmonique de Radio France unter der Leitung seines Chefdirigenten Mikko Franck. Auf dem Programm stehen Tschaikowskys berühmte 6. Sinfonie (Pathétique) und das 2. Cellokonzert von Dmitri Schostakowitsch, gespielt von der Argentinierin Sol Gabetta.

Sol Gabetta spielt im Eröffnungskonzert das 2. Cellokonzert von Dmitri Schostakowitsch mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France. (Foto: Julia Wesely)

Sein Versprechen, Musiker mit Ausfall-Zahlungen zu unterstützen, hat Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech gehalten: Das bestätigt er auf Nachfrage. Die November- und Dezemberhilfen der Ministerien hätten dem Konzerthaus geholfen, die finanzielle Lücke durch den Wegfall der Ticketverkäufe auszugleichen. „In der nächsten Saison hängt viel davon ab, ob es einen Wirtschaftlichkeits-Fond geben wird oder nicht“, sagt der Intendant, der sich bei der Pressekonferenz nicht nur für die ungebrochene Treue der Sponsoren und Förderer bedankt, sondern auch beim Publikum, das bereits gekaufte Tickets großzügig in Spenden umgewandelt hat. Dieser Verzicht auf Rückerstattungen hat dem Haus rund 250.000 Euro eingebracht.

Die Nachwuchs-Reihe „Junge Wilde“ hebt von Hoensbroech auch deshalb so hervor, weil sie das Pech hatte, gleich dreimal von den zahlreichen Konzertabsagen betroffen zu sein. Vom 1. Oktober 2021 an sollen sie die Nachwuchs-Musikerinnen und -Musiker endlich wieder an den Start dürfen: Christina Gansch (Sopran), Jean Rondeau (Hammerklavier), Isata Kanneh-Mason (Klavier), Christina Gómez Godoy (Oboe), Noa Wildschut (Violine) und Vivi Vassileva (Percussion) stehen für eine neue Generation auf ihrem Weg ins internationale Konzertgeschehen.

Erwähnt sei ein Konzerthaus-Debüt, das die Fans großer Gesangsstimmen aufhorchen lassen dürfte: Die Sopranistin Marlis Petersen wird am 12. November 2021 einen Liederabend mit Werken von Johannes Brahms, Franz Liszt, Gabriel Fauré, Hugo Wolf und anderen geben. Ob die konzertante Aufführung von Richard Wagners „Rheingold“ (28. April 2022) an den überragenden Abend im Mai 2017 unter dem Dirigat von Marek Janowski herankommt, wird sich noch erweisen müssen. Die Voraussetzungen stehen keinesfalls schlecht: Das Rotterdam Philharmonic Orchestra und Dirigent Yannick Nézet-Séguin reisen mit prominenter Sänger-Riege an, darunter abermals Michael Volle (Wotan), Samuel Youn (Alberich), Gerhard Siegel (Loge) und Christiane Karg (Freia).

Sir Simon Rattle wird mit dem London Symphony Orchestra Mahlers 10. und Bruckners 4. Sinfonie aufführen. Auch François-Xavier Roth wird das Orchester am 4. April 2022 dirigieren. (Foto: Pascal Amos Rest)

Ein Wort noch zur Dortmunder Residenz des London Symphony Orchestra, die wegen der Pandemie ohne Auftakt ins zweite Jahr gehen muss. Am 24. und 25. September 2021 sind die Londoner mit ihrem Chefdirigenten Sir Simon Rattle zu erleben – noch, muss man hinzufügen. Denn der Maestro mit dem silbernen Lockenschopf wird in der Saison 2023/24 Nachfolger von Mariss Jansons beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Der Brexit, so heißt es, habe den Briten ebenso nach München getrieben wie die schwindende Aussicht auf einen neuen Konzertsaal, der einer Metropole wie London angemessen wäre.

(Das neue Saisonbuch kann hier heruntergeladen werden: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/erleben/publikationen/. Ticket-Hotline 0231 – 22 696 200. Die Tageskasse im Foyer ist bis auf Weiteres geschlossen.)




Ovationen vor dem Verstummen: Das Konzerthaus Dortmund ging mit einem Beethoven-Marathon in den erneuten Lockdown

Die Musiker des Belcea Quartetts: Krzysztof Chorzelski (Viola), Axel Schacher (Violine), Antoine Lederlin (Cello) und Corina Belcea (v.l. Foto: Marco Borggreve)

Beethoven hat das letzte Wort. Am Tag vor dem erneuten Lockdown, der auch die Kultur- und Veranstaltungsbranche zum Erliegen bringt, zeigen zwei führende Streichquartette unserer Zeit im Konzerthaus Dortmund, welchen Gipfel- und Endpunkt die Gattung durch den Jahresjubilar erreichte.

Das Belcea Quartet und das französische Quatuor Ébène wechseln sich bei einem musikalischen Marathon ab, der durch acht der insgesamt 16 Werke führt, die Beethoven zu dieser Königsdisziplin der Komponisten beitrug.

Gleichwohl mag Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech die Schließung des Betriebs nicht unkommentiert lassen. Er greift vor Beginn zum Mikrophon, um sich gegen das „undifferenzierte Vorgehen“ der Politik zu wehren: „Wir werden die Pandemie nicht durch die Schließung der Kultur in den Griff bekommen. Die Theater und Philharmonien sind keine Infektionsorte!“ Dass er Eigeninteressen vertritt, verhehlt er keineswegs („Ich bin vom Intendanten zum Lobbyisten geworden“). Stimmungsmache kann man ihm indessen nicht vorwerfen. Er erinnert an die Not der Solo-Selbständigen und verkündet, den Musikern Ausfall-Zahlungen leisten zu wollen.

Damit sind wir entlassen in den Kosmos der Beethoven-Streichquartette, der die Widrigkeiten dieser Welt auf Zwergenmaß schrumpfen lässt. Das Programm umfasst drei Beispiele aus der frühen Werkgruppe Opus 18, drei Stücke aus der mittleren Schaffensperiode und zwei Spätwerke. So lässt sich nachverfolgen, wie Beethoven sich mit zunehmend kühner Experimentierlust über alles hinaus schrieb, was seinen Zeitgenossen verständlich war.

Wie souverän er sich schon früh vom Vorbild Haydns und Mozarts absetzt, zeigt das Belcea Quartet zu Beginn mit Opus 18 Nr. 3 (aus dem Jahr 1799). Die helle, freundliche Grazie des Tonfalls findet eine wunderbare Entsprechung in den silbrig schimmernden Höhen von Corina Belceas Violinklang. Aber in den Ecksätzen künden Akzente bereits von einer typischen, robusten Energie. Auch das zunächst friedvolle Andante con moto hat es in sich: Es erreicht mit seinen Einzeltönen und Pausen einen erstaunlich modern wirkenden Minimalismus.

Im 1808 komponierten Opus 59 Nr. 1 hat diese Handschrift deutlich an Ausdruckskraft gewonnen. Mit einer Mischung aus Disziplin und Spielfreude fächert das Belcea Quartet eine Palette auf, die vom nahezu rhapsodischen Anfangsthema im Cello zu Tonwiederholungen führt, die mal ruppig klopfen, mal elfengleich trippeln wie in Mendelssohns Sommernachtstraum. Die langen Bögen des Adagio geraten seidig fein ins Schweben, wie von milder Melancholie durchleuchtet.

Das Quatuor Ébène: von links Raphaël Merlin (Cello), Pierre Colombet (Violine), Gabriel Le Magadure (Violine), Marie Chilemme (Bratsche. Foto: Julien Mignot)

Es erscheint nahezu unwirklich, wie locker das Quatuor Ébène diese hohe Interpretationskunst noch übertrifft. Die Franzosen musizieren mit entwaffnender Natürlichkeit und einem bezwingenden Willen zum Wesentlichen. Wie sehr sie sich auf Beethovens Rhetorik verstehen, zeigen nicht allein die raffinierten Gegenakzente im Trio von Opus 18 Nr. 5. Bestechend synchron artikulierend, rücken sie das Andante in die Nähe der „Szene am Bach“ aus der 6. Sinfonie („Pastorale“), erreichen gar einen rustikalen Vorgriff auf Schubert’sche Forellen-Munterkeit. Sie beherrschen ein Pianissimo mit Fernklang-Effekt, leuchten Abgründiges mit dunklem Feuer aus, bevor sie weiche, schneehelle Gefilde vor uns entfalten.

Das späte Streichquartett op. 131 aus Beethovens vorletztem Lebensjahr spielen die Franzosen vollends aus Zeit und Raum heraus. Was hier zusammentrifft, gleicht einer Quadratur des Kreises: abgeklärt und überhastet, grüblerisch und übermütig, bizarr und wild und witzig in einem. Wenn das Cello das letzte Adagio mit einer grimmigen Floskel beiseite fegt, ist der Gipfel der Kompromisslosigkeit erreicht. Das Quatuor Ébène feuert uns Pizzicati um die Ohren und spielt mit dem Bogen so nahe am Steg, dass sich ein eisiger Schauer in die Raserei mischt. Das Publikum spendet Ovationen, bevor es sich in den November des Verstummens zerstreut. Das letzte Wort aber hat Beethoven.




Minizyklus ohne Mundschutz: Krystian Zimerman spielt in Dortmund die Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven

Krystian Zimerman gibt nicht mehr als 50 Konzerte im Jahr. Er reist fast immer mit seinem eigenen Instrument an und führt auf Tourneen mehrere Klaviaturen mit. (Foto: Bartek-Barczyk)

Als ungebetener Gast hat das Corona-Virus die Feierlichkeiten zu Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag arg durcheinandergebracht. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2020 musste das Bonner Beethovenfest auf das nächste Jahr verschoben werden: Es soll nun vom 20. August bis 10.September 2021 über die Bühne gehen.

Weil ein Großteil der geplanten Veranstaltungen vorerst nicht stattfinden kann, verlängert die eigens gegründete Beethoven Jubiläums GmbH (BTHVN2020) ihr Programm ebenfalls bis September 2021. An Aufführungen des größten Chorwerks des Komponisten, der wuchtigen „Missa solemnis“, ist wegen der nicht ausreichend geklärten Gefahr durch Aerosole kaum zu denken.

Vor der Sommerpause nahezu komplett ins Internet gezwungen, nimmt das öffentliche Konzertleben nun allmählich wieder Fahrt auf: Wenn auch mit angezogener Handbremse. Viele Veranstalter haben ihre Programme gekürzt, bieten 70-minütige Konzerte ohne Pause und ohne gastronomisches Angebot an. Die Säle sind lückenhaft gefüllt, weil die Besucher, die bis zum Konzertbeginn Masken tragen und Hygieneregeln beachten müssen, nur mit entsprechenden Abständen Platz nehmen dürfen. An den Anblick von Dirigenten und Solisten, die das Podium mit Maske betreten und sich per Ellenbogen begrüßen, wird man sich womöglich gewöhnen müssen.

Der Pianist Krystian Zimerman indessen trägt bei seinem jüngsten Auftritt im Konzerthaus Dortmund keinen Mund-Nasen-Schutz. Gemeinsam mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg und dem Dirigenten Gustavo Gimeno zollt er dem Beethovenjahr mit einer Gesamtaufführung der Klavierkonzerte Tribut, verteilt auf drei Termine und verknüpft mit Schlüsselwerken der Zweiten Wiener Schule. Für diese sind jeweils die Streicher des Orchesters zuständig.

Beim Auftakt spielen sie die Fünf Sätze op. 5 von Anton Webern: flüchtige Miniaturen von insgesamt kaum mehr als zwölf Minuten Länge, im Jahr 1909 ursprünglich für Streichquartett komponiert. Die Musiker aus Luxemburg entfalten die fragilen Tonschöpfungen mit viel Fingerspitzengefühl, sind in den schnellen Sätzen aber durchaus fähig zu ruppigen Fortissimo-Ausbrüchen. Trotz der Kürze der Sätze beweisen sie einen ausgeprägten Sinn für deren jeweilige Atmosphäre. Grüblerisch grundiert klingt der zweite Satz, wolkig und diffus der vierte, beide mit der Tempobezeichnung „Sehr langsam“. Der lebhafte dritte Satz endet mit einer nachgerade hektisch auffahrenden Unisono-Floskel. Diffus und dünn, sogar morbide dann der Schluss, in dem die Töne wie kraftlos niedersinken, bevor sie sich ins Nichts verlieren.

Krystian Zimerman tritt zuweilen auch als Dirigent auf. Zu Chopins 150. Todestag gründete er 1999 das Polish Festival Orchestra (Foto: Bartek-Barczyk)

Der weitaus größere Teil des Abends aber gehört Beethovens Klavierkonzerten Nr. 2 (B-Dur) und Nr. 1 (C-Dur), in denen Krystian Zimerman sich als der Grandseigneur am Flügel erweist, als den ihn die Musikwelt kennt und schätzt. Einen Hauch von Exzentrik erlaubt er sich, wenn er im B-Dur-Konzert nachgerade säuselnd einsetzt, wenn er dessen Mozart’schen Figurationen und Verspieltheiten zuweilen mehr Nebel als Prägnanz verleiht. Dabei wirkt die Klangbalance mit dem Orchester nicht immer glücklich. Mancher Lauf im Klavier geht beinahe unter, und manches Tutti trumpft arg mit Lautstärke auf.

Indessen ist Zimerman keiner, der unbedingt brillieren muss. Er kann sich mit der Gelassenheit des Meisters zurücknehmen, mit dem Orchester dialogisieren, im Adagio ein paar hingetupften Tönen edle Ausdruckstiefe und marmorgleiche Schönheit verleihen. Robuster greift er im abschließenden Rondo zu, das dann auch gleich mehr nach Beethoven als nach Mozart klingt. Obschon Zimerman die Moll-Wendungen weit weniger vehement spielt als andere, spricht aus den Vorschlägen sprühende Spielfreude, ebenso wie aus den leuchtenden Trillern im Diskant.

Diese Eindrücke bestätigen sich nach der Pause im C-Dur-Konzert. Vieles klingt kernig, manches aber auch unerklärlich verwaschen. Ein Hauch von Exzentrik fehlt ebenfalls nicht: den Abwärtslauf vor der Reprise spielt Zimerman als Glissando. Hernach blickt er nachdenklich auf seine strapazierten Fingerkuppen. Aber wie er im Adagio kaum mehr Klavier spielt, sondern tönende Gedanken schweifen lässt, wie er auf der friedvollen Klangfläche inwendig singende Schnörkel zieht, ist einfach und groß. Mitreißend im Rondo seine Freude am rhythmischen Drive, am brillanten Furor dieses Finales. Mehrfach lockt ihn das Publikum nach den Schlusstakten durch begeisterten Applaus hervor. Beim letzten Mal hat Zimerman schließlich doch eine Maske in der Hand.

Die Künstler setzen die Gesamtaufführung der Klavierkonzerte am 3. Oktober (Nr. 3) und am 25. Oktober (Nr. 4 und 5) fort. Tickets und Informationen:

https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/287/?saison=202021




Märchenhaft und phantastisch: Eine konzertante Aufführung der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ in Dortmund

Der Frankokanadier Yannick Nézét-Séguin und das Rotterdam Philharmonic Orchestra sind einander durch zehn Jahre der Zusammenarbeit verbunden. (Foto: Petra Coddington)

Ein grässlicher Schrei entringt sich der Kehle der Amme. Ihr tückisches Spiel ist aus: Von der Kaiserin verstoßen, vom Boten des Geisterkönigs Keikobad verbannt, muss sie die Bühne verlassen, auf der an diesem Abend die Oper „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss gegeben wird. Mit ihrem Abgang ist im Konzerthaus Dortmund der Weg frei für das große Happy End, für den ekstatischen Schlussjubel, der vom Publikum mit tobender Begeisterung erwidert wird.

Über das gewöhnliche Maß gehen diese Bravostürme weit hinaus. Sie sind einerseits Reaktion auf die kolossalen Klangeruptionen dieses Zaubermärchens, das von der Menschwerdung der aus dem Geisterreich stammenden Kaiserin erzählt. Durch den selbstlosen Verzicht auf eigene Kinder – symbolisiert durch den Schatten – wächst diese Frau zu unerwarteter Größe. Andererseits zollt das Publikum einer Interpretenriege Dank, die diese konzertante Opernaufführung zu einem überwältigenden Strauss-Fest erhebt.

Wo anfangen bei so viel Exzellenz? Bleiben wir zunächst bei der Amme, deren mephistophelische Natur durch Michaela Schuster packende Präsenz annimmt. Die Mezzosopranistin, als Sängerdarstellerin ein regelrechtes Bühnentier, gibt diesem Zwischenwesen die lauernde Gespanntheit einer Elektra, die auffahrende Herrschsucht einer Klytämnestra und die schmeichlerischen Zwischentöne einer Schlange.

Die aus Südafrika stammende Sopranistin Elza van den Heever sang die Partie der Kaiserin. An ihrer Seite war der Amerikaner Stephan Gould als Kaiser zu erleben. (Foto: Petra Coddington)

Ihr Gegenpol ist die feenhafte Kaiserin, die Dank Elza van den Heever tatsächlich einer anderen Welt entstiegen scheint. Ihr gläsern leuchtender Sopran bringt es auch nach kraftvollen Flügen durch stratosphärische Höhen fertig, in ein mädchenhaft-zartes Piano zurückzufinden. An ihrer Seite ist Stephan Gould ein Kaiser mit heldischem Tenor, der sich unbedingt Bahn bricht, sei es zuweilen auch mit Überdruck.

Bombenstark bei Stimme ist auch das Menschenpaar. Michael Volle singt den herzensguten Färber Barak, dem die abweisende Kälte seiner Frau arg zusetzt, mit einer vollklingend-sonoren Wärme zum Dahinschmelzen. Lise Lindstrom erhebt die Färberin zur heimlichen Hauptfigur. Unfassbar, mit welchem Volumen sie sich in immer neue Spitzen trotzigen Zorns hineinsteigert, mit welch glühender, zuweilen auch schneidender Leidenschaft sie noch im äußersten Fortissimo-Getümmel triumphiert. Zugleich lässt sie uns die Verzweiflung einer Frau spüren, die sich nicht gesehen und nicht verstanden fühlt.

Eine Ehe voller Spannungen führen der Färber Barak (Michael Volle) und seine Frau (Lise Lindstrom. Foto: Petra Coddington)

Die Nebenfiguren, der Rotterdam Symphony Chorus und der von Zeljo Davutović einstudierte WDR Kinderchor Dortmund tragen sämtlich ihren Teil zum Ausnahmerang dieses Abends bei.

Indessen muss nun endlich vom Rotterdam Philharmonic Orchestra die Rede sein, das unter seinem ehemaligen Chefdirigenten Yannick Nézét-Séguin die überbordende Phantastik und die raffinierte Instrumentationskunst der Partitur auskostet, dass einem schier die Ohren übergehen. Das Orchester nimmt uns mit auf eine Reise, die im rasenden Galopp durch drei Welten führt, die uns durch finsterste Abgründe bis in silberhelle Sphären der Verklärung begleitet. Es ist ein Rausch, eine prunkvolle, exotisch gefärbte Orgie des Klangs, transparent gehalten bis in die kammermusikalischen Details. Die Musik ist aus, aber ihr ätherisches Glücksleuchten bleibt.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Trauer und Hoffnung sind gegenwärtig: Mitten im Karneval erklingt in Dortmund Giuseppe Verdis Totenmesse

Aus dem Nichts heraus lässt Gabriel Feltz den Ton der gedämpften Celli entstehen, bevor die Männerstimmen des Chors fast unhörbar ihr „Requiem“ in die Weite des Konzerthauses entlassen. Der Dortmunder GMD hat, das muss man ihm lassen, die mit Anweisungen gespickte Partitur von Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ genau gelesen.

Dirigent Gabriel Feltz. (Foto: Thomas Jauk/Stage Pictures)

So leise wie möglich möchte Verdi an dieser Stelle die „ewige Ruhe“ ausgesungen haben, gleichzeitig verlangt er aber „con espressione“, wenn Violinen und Celli, kontrapunktiert von den Bratschen, ihre großen Bogen aufspannen. Kaum zu bewältigende Gegensätze, wenn man zum Beispiel das Verdi’sche „pppp“ – der Maestro notiert häufig Extreme – als tonlos gehauchte Minimal-Lautstärke versteht und ihm die aus der Interpretations-Tradition erklärbare Sonorität nimmt. Gabriel Feltz nimmt das in Kauf, denn er möchte den schlagenden Kontrast zum folgenden, nicht ganz präzis eingesetzten „Te decet hymnus“ herausarbeiten, das im Forte die letzten beiden Achtel der vom Licht der Ewigkeit singenden Chorsoprane übertönt. Ein Effekt, der unter die Haut geht, aber inhaltlich wenig bringt.

Mitten im Karneval erklingt also im 5. Philharmonischen Konzert Verdis Totenmesse, eine düster drohende, aber auch schmerzlich flehende und von Trost durchzogene Vision jenes Endpunkts der Geschichte, an dem es „carne vale“ heißt – also Abschied zu nehmen von der Existenz „im Fleische“. Mit geschärftem Interpretations-Ehrgeiz animiert Feltz die Dortmunder Philharmoniker und den von Petr Fiala einstudierten Tschechischen Philharmonischen Chor aus der Janáček-Stadt Brno zu einer jederzeit bewusst gestaltenden Tour durch Verdis Ausdruckswelten. Dass sich bei aller suggestiven Macht des Klangs, bei allen filigranen Abstufungen der Dynamik das vollendete Verdi-Glück nicht einstellen wollte, liegt an Momenten, in denen Feltz‘ Begehren nach Effekt mit ihm durchgeht, aber auch an der Gestaltung seiner Tempi.

Balsamisches Verharren

Feltz lässt sich zum Glück nicht darauf ein, das „agitato“ im „Dies Irae“ als Anweisung zu beschleunigtem Galopp durch die musikalisch ausgemalte kosmische Umwälzung misszuverstehen. Er fasst auch das „mosso“ im Andante des Offertoriums zutreffend als Hinweis für Ausdruck, nicht für Tempo auf. Aber in den langsamen Teilen des Requiems frönt er dem balsamischen Verharren: Schon wenn er den Chor im „lux perpetua“ breit und bedeutungsschwer intonieren lässt, stellt sich der Eindruck des Manierierten ein.

In „Judex ergo“ fürchtet man dann um den Atem der versierten, im Klang ihres Mezzosoprans oft sehr metallischen Adriana Bastidas-Gamboa. Feltz lässt das Kölner Ensemblemitglied im Terzett des „Quid sum miser“ beinahe „verhungern“. Adagio hin oder her: Wenn auch der Tenor Sungmin Song verzagt und seine Stütze mit letzter Kraft retten muss, ist das „col canto“, das Verdi ausdrücklich vorschreibt, nicht erfüllt. Auch „Recordare Jesu pie“ und „Quaerens me“ wirken zäh und larmoyant, weil bei Feltz das „animando“ Verdis, jenes seelenvolle Intensivieren von Ton und Tempo, außen vor bleibt. Die belcantistische Flexibilität, die keine Frage der Dynamik, nicht einmal des Tempos ist, sondern innerhalb von Phrasen als Spannungsaufbau und Entspannung gestaltet werden will, bleibt ein Desiderat.

Streichersüße und Bläserattacken

Die Dortmunder Philharmoniker lassen keine Wünsche offen: Die Holzbläser widmen sich schon den differenzierten Begleitfiguren des „Kyrie“ mit Hingabe; bei den Streichern kommt die kantable Süße ebenso zur Geltung wie die brutale Markanz im „Dies irae“, die schwebende Leichtigkeit von Staccato-Ketten ebenso wie Momente höchster Aufmerksamkeit im Wechsel der Dynamik. Allenfalls ließen sich die weiten Bögen, die Verdi geschlagen haben will, hin und wieder intensiver füllen. Das Blech attackiert leuchtend seine Fanfaren, füllt machtvoll die Bläser-Batterie des „Sanctus“. Die „Gran Cassa“ bringt ihr „contrattempo“ in den Pausen der Paukenschläge trocken und kräftig, wie von Verdi gewünscht. Der Chor aus Brünn besteht seine Fugenprobe im „Libera me“, zeigt im „Te decet hymnus“ kernige Männerstimmen, übersteuert das „Dies irae“ nicht, wird aber auch nicht zum Aufbau von Spannung ermuntert.

Den letzten Teil der Totenmesse leitet der Sopran ein: Die Bitte um Befreiung vom ewigen Tod artikuliert Susanne Bernhard mit ihrer abgerundeten, dunkel getönten Stimme in gebremstem Pathos, eher als Gesangsphrase denn als erschüttert ausbrechendes Stoßgebet. Bernhard verfügt über einen gepflegten Verdi-Sopran, der auch in den Ensembles mit kontrolliertem Ton überzeugt. Sungmin Songs sicher gestützter, klangstarker Tenor hat seine Stärken, wo er einen strahlend-kraftvollen Ton projizieren kann. Für die ätherische Lyrik der Piani in „Ingemisco“ oder „Inter oves“ ist er nicht flexibel genug zurückzunehmen. Ante Jerkunica von der Deutschen Oper Berlin singt die Basspartie nicht vordergründig prunkend, aber auch ohne den samtenen Wohllaut eines „basso cantante“.

Beim Publikum blieb der Eindruck, den der Komponist Ildebrando Pizzetti beschrieben hat: Die Musik, so formuliert er, sei „mehr als rein lyrischer Ausdruck; sie ist Vergegenwärtigung von Trauer und Hoffnung.“ Der Beifall war entsprechend: respektvoll und herzlich.

Das 6. Philharmonische Konzert am 3. und 4. März 2020 bringt unter dem Titel „Paris“ George Gershwins „An American in Paris“, Igor Strawinskys „Petruschka“ und Alexander Glasunows Konzert für Alt-Saxophon und Streichorchester Es-Dur op. 109. Info: https://www.theaterdo.de/detail/event/20556/




Formstrenge hüben wie drüben: Pierre-Laurent Aimard verschränkt in Dortmund Musik von Kurtág und Bach

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard hat mit vielen Komponisten unserer Zeit eng zusammengearbeitet. (Foto: Marco Borggreve)

Pierre-Laurent Aimard ist ein großer Meister darin, bekannte Musik in neuem Licht erscheinen zu lassen. Unvergessen ist sein Klavierabend im Liszt-Jahr 2011, bei dem er eine frische Sicht auf die grandiose h-Moll-Sonate des Komponisten ermöglichte.

Indem er sie in den Kontext der „Schwarzen Messe“ von Alexander Skrjabin und der Klaviersonate Opus 1 von Alban Berg stellte, schenkte er dem viel geschundenen Stück seine eminente Bedeutung auf dem Weg zur musikalischen Moderne zurück.

Wie viel Gedankenarbeit der Franzose in seine Programme steckt, war jetzt auch bei der Kurtág-Zeitinsel im Konzerthaus Dortmund zu erleben. Kurze Klavierstücke des Ungarn, entnommen der noch immer anwachsenden Sammlung „Játékok“ (Spiele), verschränkte er mit Musik von Johann Sebastian Bach, vornehmlich mit den Präludien und Fugen aus dem „Wohltemperierten Klavier“.

Pierre-Laurent Aimard wurde 2007 mit dem renommierten Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet. (Foto: Marco Borggreve)

Diese Idee ist zwar nicht gänzlich neu: Bereits auf einer 1997 erschienen CD kombinierten Kurtág und seine Frau Márta vierhändige „Játékok“-Stücke mit Bach-Transkriptionen. Gleichwohl verrät die von Aimard getroffene Werkauswahl unendlich viel Sorgfalt. Denn wie sich Spielfreude und Formstrenge bei beiden Komponisten vereinen, zeigt sich oftmals in den Übergängen. Kurtágs Klavierstück für Dóra Antals Geburtstag schließt so passgenau an Bachs leuchtende Fuge Nr. 17 As-Dur (BWV 862) an, als handle es sich um ein zeitgenössisches Echo.

Bei Aimard reiht sich ein erhellender Augenblick an den nächsten. Wenn Bach in Präludium und Fuge Nr. 16 g-moll (BWV 861) mit allmählich schneller werdenden Trillern experimentiert, folgt gleich darauf eine Kurtág-Miniatur, die vom Wechselspiel zwischen zwei Noten lebt. Die gläsernen Spieluhr-Klänge des Präludiums Nr. 23 H-Dur (BWV 868) finden in Kurtágs „Spiel mit dem Unendlichen“ eine direkte Entsprechung.

Wer den Konzeptkonzerten von Pierre-Laurent Aimard folgt, gerät unweigerlich ins Nachdenken. Warum sind die meisten von uns bereit, einer mit mathematischer Akribie konstruierten Bach-Fuge zu folgen, während wir gegen zeitgenössische Musik nur allzu leicht den Vorwurf erheben, sie klinge verkopft und wie auf dem Reißbrett entworfen? Weckt ein komplizierter Kontrapunkt aus Bachs „Kunst der Fuge“ wirklich mehr Emotionen als Kurtágs vielfarbig oszillierendes Stück „In memoriam András Myhály“?

Der Höhepunkt ist erreicht, wenn Aimard das Stück „In memoriam György Szoltsányi“ beinahe ohne Pause in die Fuge Nr. 12 f-moll (BWV 857) übergehen lässt. Man möchte sich die Ohren reiben: Haben die Töne, die der Pianist mit der linken Hand spielt, überhaupt noch einen harmonischen Bezug? Ist das jetzt noch Kurtág oder doch schon Bach? Erst als die Nebenstimmen hinzukommen, erkennen wir den Thomaskantor wieder.

Von Aimards unbedingtem Ausdruckswillen, der zuweilen auch heftiges Schnaufen und Brummen zur Folge hat, von seiner Konzentrationsfähigkeit und vom wunderbaren Farbenreichtum seines Spiels war bis hierher noch nicht einmal die Rede. Indessen ist dies auch als Kompliment zu verstehen. Aimards sensationell kluge Programme lassen alles pianistische Handwerk in den Hintergrund treten.




Herzstück mit Hölderlin: Der Bariton Benjamin Appl bereichert die Kurtág-Zeitinsel in Dortmund mit zwei Uraufführungen

Der Bariton Benjamin Appl reiste nach Budapest, um mit dem Komponisten György Kurtág dessen Hölderlin-Lieder einzustudieren. (Foto: Petra Coddington)

Drei Stunden Probe für einen einzigen Takt Musik. Sechs Tage Arbeit an einem Liedzyklus von lediglich zwölf Minuten Dauer. Wie viel Beharrlichkeit und Einsatzbereitschaft mag der Bariton Benjamin Appl wohl in seinen Koffer gepackt haben, bevor er nach Budapest reiste, um dem legendären Komponisten György Kurtág zu begegnen? Im Vorfeld des aktuellen Zeitinsel-Festivals im Konzerthaus Dortmund hatte er sich darum beworben, die Hölderlin-Lieder des nunmehr 93-Jährigen einzustudieren.

Von einem Filmteam und vom Intendanten Raphael von Hoensbroech begleitet, ließ Benjamin Appl sich auf das Wagnis ein. Kollegen hatten ihn gewarnt vor der minutiösen Genauigkeit des Komponisten, vor seiner zuweilen unerbittlichen Jagd nach feinsten Nuancen des Ausdrucks. Aber der junge Interpret und der hoch betagte Tonschöpfer fanden zu intensiver künstlerischer Verständigung. Das zeigte ein Werkstatt-Abend, der vom Konzerthaus als das Herzstück des Festivals angekündigt wurde.

Im dritten der Hölderlin-Lieder erhält der Sänger Unterstützung durch einen Posaunisten und einen Tubisten. (Foto: Petra Coddington)

Für einen kleinen Kreis von Hörern, die auf der Bühne Platz nehmen durften, sang Appl die aphoristisch kurzen Hölderlin-Lieder gleich zweimal: zu Beginn und zum Abschluss des Konzerts. Er gestaltete seine bezwingend intensive Interpretation beinahe im Alleingang, lediglich im dritten Lied dezent unterstützt von einem Tubisten (Thomas Kerstner) und einem Posaunisten (Berndt Hufnagl). Seinen samtig wohlklingenden Bariton führte der Sänger dabei vom inwendigen Summen über einen gehetzten Sprechgesang bis zu nachgerade heraus gebellten Fortissimo-Ausbrüchen.

Die Kompetenz, die Benjamin Appl von Kurtág persönlich erworben hat, wird ihm so rasch niemand streitig machen. Zwei weitere Hölderlin-Vertonungen des Komponisten brachte er in Dortmund gar zur Uraufführung: „Das Angenehme dieser Welt“ und „Brief an die Mutter“. Die Chance, den Abend als kleinen, aber feinen Beitrag zum Hölderlin-Jahr 2020 zu begreifen, ließ das Konzerthaus Dortmund freilich links liegen. Das Programmheft erwähnt den 250. Geburtstag des Dichters mit keinem Wort.

Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech (l.) und der Bariton Benjamin Appl im Gespräch. (Foto: Petra Coddington)

Der musikvermittlerische Gewinn des Abends ergab sich aus dem Mittelteil. In einem Podiumsgespräch tauschten sich der Sänger und der Intendant lebhaft über ihre Begegnung mit György Kurtág und seiner Frau Márta aus. Die Filmausschnitte von der Probenarbeit zeigten die nachgerade symbiotische Verbindung dieses Paars, das der Tod im Oktober 2019 auseinanderriss – nach mehr als 70 Jahren Ehe.

Seit seiner Gründung im Jahr 1974 wurden dem Arditti Quartet mehrere hundert Kompositionen gewidmet. (Foto: Petra Coddington)

Auf die Frage nach seinem Fazit der Tage in Budapest reagierte der Sänger, zuvor durchaus zu ironischen Kommentaren aufgelegt, auffallend nachdenklich. Kurtág habe etwas zu sagen, das man im auf Äußerlichkeiten und Hochglanzfotos fixierten Musikbetrieb kaum noch finde. „Er trägt ganze Welten in sich, einen unglaublichen inneren Reichtum. Es geht ihm stets um Wahrhaftigkeit.“

Zur Eröffnung des Festivals hatte das Arditti Quartet am Vortag gezeigt, wie Kurtágs Streichquartette sich von den zögerlich-spärlichen Klangereignissen seines Opus 1 bis zu den „Six moments musicaux“ op. 44 immer stärker verdichten. Höchst reizvolle Kontrapunkte auf diesem Weg waren der noch spätromantisch geprägte „Langsame Satz Es-Dur“ für Streichquartett von Anton Webern und das unglaublich farbenreiche, von Humor und tänzelndem Walzercharme durchwehte Streichquartett Nr. 1 von Kurtágs Landsmann und Kollegen György Ligeti.

(Die Kurtág-Zeitinsel setzt sich noch bis 6. Februar fort. Informationen: https://www.konzerthaus-dortmund.de/kurtag/ )




Uneitle Spielfreude: Mitsuko Uchida und das Mahler Chamber Orchestra begeistern im Konzerthaus Dortmund mit Mozart

Die Pianistin Mitsuko Uchida, Trägerin der „Goldenen Mozart-Medaille“ und des „Praemium Imperiale“, ist seit 2016 Artistic Partner des Mahler Chamber Orchestra (Foto: Justin Pumfrey)

Was hat dieser Wolfgang Amadeus Mozart nicht alles in seine Klavierkonzerte gesteckt! Verschiedenste Welten sind darin enthalten, Biotope eigener Natur, über deren Vielfalt sich nur fassungslos staunen lässt.

In ihnen begegnet uns der Opernkomponist, der Kammermusiker, der Lebemann und der Tragiker, der Konzertpianist und der Sinfoniker. Mit leichter Hand zieht Mozart einen überraschenden Joker nach dem anderen aus dem Ärmel.

Wie schwer das scheinbar Mühelose zu erreichen ist, lassen die Pianistin Mitsuko Uchida und das Mahler Chamber Orchestra im Konzerthaus Dortmund völlig vergessen. Die britische Pianistin japanischer Herkunft, die an diesem Abend zwei Mozart-Konzerte vom Flügel aus dirigiert, steckt alle im Saal mit ihrer überströmenden, gänzlich uneitlen Spielfreude an. Sie befeuert das Orchester, das ihr hellwach folgt: mit schlankem Klang, wenig Vibrato und beredter Agogik. Sie spürt Mozarts Partituren bis in die feinsten Verästelungen nach, meist quirlig vital, in den langsamen Sätzen aber auch mit stiller Wahrhaftigkeit.

Das mit zahllosen Charakteren jonglierende Konzert Nr. 17 G-Dur (KV 453) im Innersten zusammen zu halten ist ein Kunststück, das Uchida mit Leichtigkeit gelingt. Von der entwaffnenden Klarheit und Natürlichkeit ihres Spiels fordert die Position des dirigierenden Solisten aber doch einen kleinen Preis. Der Klang des Flügels, mittig und ohne Deckel im Orchester aufgestellt, büßt etwas an Kontur ein und hat im Dialog mit dem Orchester ein paar Probleme mit der Balance zur Folge.

Am hohen Niveau der Interpretationen kommt gleichwohl kein Zweifel auf. Das Konzert Nr. 22 Es-Dur (KV 482) entzückt mit dem imperialen Ton von Pauke und Trompeten, mit wunderbar empfindsamen Dialogen der Holzbläser und mit der trüb gefärbten, milden Klage im Andante. Uchida steigert sich immer weiter in Mozarts virtuose Läufe hinein: Hier brilliert eine Künstlerin, der es völlig fern liegt, glänzen zu wollen.

Die Deutsche Erstaufführung von Jörg Widmanns Choralquartett in der Fassung für Kammerorchester wirkt zwischen den beiden Klavierkonzerten keinesfalls wie ein Einschnitt. Widmann bezieht sich ausdrücklich auf alte musikalische Traditionen, hier insbesondere auf die „Sieben letzten Worte“ von Joseph Haydn. Das Werk beginnt stockend, mit leisen Einzeltönen und vielen Pausen. Das Mahler Chamber Orchestra zaubert auf der nun dämmrig abgedunkelten Bühne eine dichte, wie vom Nebel umflorte Atmosphäre, die von gelegentlich aufzuckenden Klangeruptionen nicht durchbrochen wird. Flöte, Oboe und Fagott steuern vom ersten Rang herab wunderbare Klangfarben bei.

Vermutlich hat Mitsuko Uchida hinter der Bühne interessiert gelauscht. Mit einem kurzen Stück von Arnold Schönberg zeigt sie in einer Zugabe, dass ihre Sympathien nicht nur Mozart, Beethoven und Schubert, sondern auch der musikalischen Moderne gelten.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Kurz, kürzer, Kurtág: Das Konzerthaus Dortmund ehrt Ungarns großen Komponisten mit einem fünftägigen „Zeitinsel“-Festival

György Kurtág und seine Frau Márta bei der Probenarbeit mit dem Bariton Benjamin Appl. (Foto: Konzerthaus Dortmund)

Wie der Zoom einer leistungsstarken Kamera wirken die „Zeitinseln“ im Konzerthaus Dortmund. Wenn das mehrtägige Minifestival Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts in den Fokus nimmt, erscheinen diese plötzlich verblüffend nahe. Ob Alban Berg oder Olivier Messiaen, Béla Bartók oder György Ligeti, George Benjamin oder Bernd Alois Zimmermann: Sie alle nehmen durch diese Konzertreihe faszinierend lebendige Gestalt an.

Daran haben die jeweils eingeladenen Interpreten einen großen Anteil, wie sich auch in der kommenden Zeitinsel zeigen wird. Vom 2. bis 6. Februar ehrt das Konzerthaus Dortmund den Ungarn György Kurtág, einen der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit. Er gilt als Meister der musikalischen Miniatur, als einer, der einen extrem verknappten, nachgerade aphoristischen Stil pflegt, der gleichwohl maximalen Ausdruck erreicht.

Dortmunds Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech zeigt sich von dieser strengen Konzentration auf das Wesentliche äußerst fasziniert: „Es ist unglaublich, wie er mit ein paar Tönen ganze Welten öffnet.“ Mehr als ein Jahr Vorbereitungszeit und mehrere Reisen nach Budapest haben er und sein Team in diese Zeitinsel investiert. Kurtágs Vorstellungen in die nächste Generation zu tragen, sei dabei das Hauptanliegen, sagt der Intendant.

György und Márta Kurtág (Foto: Judith Marjai)

Folgerichtig bildet ein Gesprächskonzert mit dem jungen Bariton Benjamin Appl (3. Februar) das Herzstück der kommenden Hommage. Er wurde von Kurtág ausgewählt, um unter seiner Anleitung die „Hölderlin-Gesänge“ für Bariton, Posaune und Tuba einzustudieren. An den Proben im Budapester Music Center nahm auch Kurtágs Frau Márta teil, die im Oktober 2019 verstarb – nach mehr als 70 Jahren Ehe.

Wie bereichernd diese exklusive, aber auch anstrengende Arbeit letztlich für alle Seiten war, hat das Konzerthaus per Film festgehalten. Wenn Appl die Hölderlin-Gesänge am 3. Februar aufführt, werden Teile dieser Dokumentation im Anschluss zu sehen sein. Ein Podiumsgespräch mit dem Sänger wird weitere Einsichten eröffnen, bevor er das Werk ein zweites Mal interpretiert. Dieser nachgerade musikvermittlerische Abend wird durch die Uraufführung von Kurtágs Hölderlin-Vertonungen „Das Angenehme dieser Welt“ und „Brief an die Mutter“ gekrönt.

Den Startschuss am 2. Februar gibt indessen das Arditti Quartett mit György Kurtágs Streichquartett op. 1, mit dem der Komponist sich aus einer fundamentalen Schaffenskrise befreite. Die vier Streicher, deren Erfahrung auf dem Gebiet der musikalischen Moderne kaum überboten werden kann, lassen diesem wichtigen Meilenstein Quartette von Anton Webern und György Ligeti sowie zwei weitere Kurtág-Werke folgen.

Der Franzose Pierre-Laurent Aimard bereichert die Kurtág-Zeitinsel am 4. Februar durch einen Klavierabend. (Foto: Marco Borggreve)

Péter Halász, Kurtágs Lektor bei der Edition Musica Budapest, wird am 4. Februar die Einführung zu einem Klavierabend von Pierre-Laurent Aimard geben. Der Franzose, der eng mit vielen Komponisten unserer Zeit zusammenarbeitete, wird Kurtágs „Játékok“-Miniaturen im Wechsel mit den Präludien und Fugen aus Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ spielen, um das Spiel mit Proportionen und Formprinzipien aus der Perspektive zweier Epochen zu beleuchten.

Ähnlich aphoristisch wie Kurtágs Tonsprache sind die Verse der russischen Dichterin Rimma Dalos, die den Komponisten zu seinem Liedzyklus „Szenen aus einem Roman“ inspirierte. Er bildet am 5. Februar den Schluss- und Höhepunkt eines Konzerts der Reihe „Musik für Freaks“. Caroline Melzer (Sopran), Nurit Stark (Violine), Luigi Gaggero (Cymbal) und Uli Fussenegger (Kontrabass) umrahmen den Zyklus mit Musik von Claudio Monteverdi bis Béla Bartók.

Ein moderiertes „Happy Hour“-Konzert gibt das WDR-Sinfonieorchester Köln am 6. Februar. Unter der Leitung des Rumänen Cristian Macelaru erklingen Kurtágs „Grabstein für Stephan“ für Gitarre und Orchester und sein Werk „Stele“ op. 33. Hinzu treten Béla Bartóks Rhapsodie für Violine und Orchester op. 15c sowie „Levante für Orchester“ des 52-jährigen Rumänen Dan Dediu. Bereits ausverkauft ist der Abschluss der Zeitinsel: Die „Kafka Fragmente“ op. 24 für Sopran und Violine werden am 6. Februar im „domicil“ an der Hansastraße aufgeführt, unterstützt von filmischen Installationen. Caroline Melzer (Sopran) und Nurit Stark (Violine) unternehmen diesen musikalischen Streifzug durch die Lebenswelt des berühmten Schriftstellers.

Obwohl der legendäre Komponist seine Wohnung im Budapester Music Center aufgrund seines hohen Alters nicht mehr verlässt, kommt man ihm durch dieses Festival denkbar nahe. Im Konzerthaus-Foyer rundet eine Ausstellung mit Zitaten, Zeichnungen und Manuskripten von Kurtág die Zeitinsel ab. Die Hommage verdankt sich auch der engagierten künstlerischen Planung der Konzerthaus-Mitarbeiterin Marie-Sünje Schade und der Unterstützung durch die Kunststiftung NRW.

(Informationen/Karten: https://www.konzerthaus-dortmund.de/kurtag/ )




Spiel mit barocken Formen: Der Pianist Igor Levit trat mit einem ausgeklügelten Programm im Konzerthaus Dortmund auf

Igor Levit wurde 1987 in Nishni Nowgorod geboren und kam im Alter von acht Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. (Foto: Felix Broede)

Manche Pianisten weichen selten von ihrem kleinen, im Konzertsaal erprobten Repertoire ab. Andere setzen auf Fingerakrobatik, auf den Virtuosenrausch Liszt’scher Prägung, um ihr Publikum zu überwältigen. Wieder andere verwenden viel Mühe auf die Werkauswahl, weil sie einem Konzept folgen: einem gedanklichen Faden, der die Stücke zu einem größeren Ganzen bindet und im Idealfall neue Perspektiven auf bekannte Stücke eröffnet.

Igor Levit, der stets repertoirehungrige Notenverschlinger, stellte bei seinem ersten Auftritt im Konzerthaus Dortmund jetzt hohe Ansprüche an seine Zuhörer. Wer mit barocken Formen wie der Ciaconna und der Passacaglia, mit Kompositionstechniken wie der Fuge und dem Kontrapunkt wenig vertraut ist, dürfte schwer Zugang zu diesem Abend finden. Die Raritäten aus alter und neuer Zeit, die Levit zusammengestellt hat, sind ernsten Charakters und erlauben dem Zuhörer kein wohliges Zurücksinken in den Sitz.

Die Chaconne aus Johann Sebastian Bachs d-Moll Partita für Violine Solo gibt den Grundton vor. In ihr sind Choräle versteckt, die um das Thema Tod und Auferstehung kreisen. Levit spielt sie in der Fassung von Johannes Brahms für die linke Hand allein, gibt ihr Wärme und zugleich stille, eindringliche Askese. Als wolle er sich selbst befeuern für die immer neuen, immer prachtvolleren Variationen, lässt Levit die rechte Hand zuweilen gestisch mitgehen, obwohl er sie für dieses Stück nicht benötigt.

Etwas spröde Kost sind die 2014 entstandenen Klavierstücke „Dreams II“ des Amerikaners Frederic Rzewski, der von einem Film von Akira Kurosawa zu diesem Werk inspiriert wurde. Aber Levit, der sich nachhaltig für die Musik von Rzewski einsetzt und dieses Werk 2015 zur Uraufführung brachte, macht die fünf Episoden zu einer sinnlichen Erfahrung. Er spürt den Klängen intensiv nach, scheint nachzulauschen, wie Rzewskis Impressionen ihre Wirkung im Raum entfalten: mal zart wogend, mal impressionistisch verwischt, dann wieder mit der Strenge alter Formen.

Ein Fest barocker Variationslust ist die um 1670 entstandene Passacaglia von Johann Kaspar Kerll, mit der es nach der Pause weitergeht. In knappen sieben Minuten erklingen darin nicht weniger als 40 Abwandlungen auf einer immer gleichen Bassfigur. Levit lässt sie mit überquellender Spielfreude aufrauschen, mit einer leuchtenden Klarheit des Tons.

Zum Abschluss konfrontiert uns der Pianist mit einem Werk des exzentrischen Italieners Ferruccio Busoni. Aus dessen Arbeit an Johann Sebastian Bachs unvollendeter „Kunst der Fuge“ entstand eine Hommage, die als „Fantasia contrappuntistica“ Eingang in Busonis Werksverzeichnis finden sollte. Ihr Oktavgedonner, das sich bis in expressionistisch zugespitzte Klanggewitter steigert, verlangt das technische Rüstzeug eines Liszt-Interpreten und die Fähigkeit, einen kontrapunktisch komplexen Satz transparent darzustellen. Levit besitzt beides. Vehement schraubt er sich in die Steigerungen hinein, ohne verstörende harmonische Reibungen zu glätten. Dann wieder lässt er die Musik in ein fahles Pianissimo zurücksinken, in dem er sich gleichsam suchend und tastend vorwärtsbewegt.

Die Begeisterungsstürme, die Levit für diesen Abend erntet, sind mit seinem Bekanntheitsgrad allein nicht zu erklären. Er scheint ein Publikum anzuziehen, das für Anspruch und Qualität dankbar ist.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen)




Dortmunder Sirenengesänge: Das Konzerthaus installiert mit der Reihe „Curating Artist“ ein kleines Festival im Spielplan

Sergei Babayan war der erste „Curating artist“ im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Petra Coddington)

Diese Einladung dürfte in den Ohren von Musikern wie Sirenengesang klingen: „Komm zu uns, bring deine Freunde mit und spiele, was immer dir gefällt!“ Auf solche Weise versucht Dortmunds Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech, Künstler für seine neue Reihe „Curating artists“ zu gewinnen.

Als Mini-Intendant dieses kleinen Festivals darf der gestaltende Künstler selbst bestimmen, was er wann spielt – und mit wem. Das ist durchaus eine Verlockung im internationalen Konzertbetrieb, der sich eher selten durch Freiräume und Experimentierfreude auszeichnet.

Wenn einer so berühmte Freunde hat wie Sergei Babayan, ist der Festivalcharakter von vorneherein garantiert. Der gebürtige Armenier gilt als einer der größten Pianisten unserer Zeit, was aufgrund seiner Biographie aber eher in den USA bekannt ist als in Europa. Weggefährten wie Martha Argerich, Mischa Maisky, Valery Gergiev und sein Schüler Daniil Trifonov halten indessen große Stücke auf ihn. Sie alle folgten dem Ruf nach Dortmund, um mit Babayan zu konzertieren.

Die gestaffelte Aufstellung der Konzertflügel gestattete den beiden Pianisten räumliche Nähe (Foto: Petra Coddington)

Dem Auftakt mit Martha Argerich folgte ein Abend mit Babayans einstigem Schüler Daniil Trifonov, der längst weltweit große Konzertsäle füllt. Musik für zwei Klaviere stand folglich auf dem Programm, zum Teil mit exzellenter Begleitung durch das Mahler Chamber Orchestra. Die gestaffelte Bühnenaufstellung der Flügel, die gewissermaßen eine Riesen-Klaviatur mit 176 Tasten schafft, hat auch den Effekt, dass Trifonov und Babayan beinahe nebeneinander sitzen statt weit voneinander entfernt.

Das erleichtert das Zusammenspiel, das bei diesen beiden Pianisten ohne einen einzigen Blickkontakt funktioniert. Mag Robert Schumanns Andante und Variationen für zwei Klaviere B-Dur op. 46 zuweilen für den Hausgebrauch komponiert scheinen, so rücken die beiden Interpreten das Stück mit glücklicher Hand in die Nähe der anspruchsvollen Symphonischen Etüden.

Daniil Trifonov, einst Schüler von Sergei Babayan, zählt heute zu den gefragtesten Pianisten der Welt (Foto: Petra Coddington)

Ihre technische Überlegenheit steht auch in den folgenden Konzerten mit Orchester nicht zur Debatte, die Dank einiger Handzeichen der Pianisten gut ohne Dirigenten auskommen. Bestenfalls gäbe es in Mozarts Konzert Nr. 10 Es-Dur KV 365 Stilfragen zu erörtern, denn Trifonov und Babayan setzen mehr auf ihre ungeheuer ästhetisierte Anschlagskultur als auf Prägnanz, wie man sie aus der historischen Aufführungspraxis kennt. Gleichwohl ergibt sich im Dialog mit dem Mahler Chamber Orchestra ein höchst lebendiges Musizieren, das in Johann Sebastian Bachs Konzert c-Moll BWV 1062 bei aller barocken Strenge zu einem regelrechten Groove führt.

Den wahren Zenit erreicht der Abend aber nach der Pause. Es dürfte derzeit extrem schwer fallen, ja vielleicht schier unmöglich sein, bessere Rachmaninow-Interpreten zu finden als Sergei Babayan und Daniil Trifonov. Sie steigern die Suiten Nr. 1 g-moll op. 5 und Nr. 2 C-Dur op. 17 zu einem pianistischen Rausch der Extraklasse. Diese ist keineswegs durch wirbelnde Finger, glitzernde Tonkaskaden und nachgerade frenetische Steigerungen definiert, sondern durch den Grundton einer Schwermut und Leidenschaft, der sich auch in den stürmischsten Akkordgewittern nie verliert. Stets bleibt ein Element des Sanglichen: eine Innerlichkeit, die Virtuosität zur Nebensache macht.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Überraschungsei: Das Konzerthaus Dortmund verkauft einen geheim gehaltenen Kammermusikabend als „Joker“

Antoine Tamestit, 1979 in Paris geboren, arbeitet schon lange intensiv mit dem in Den Haag geborenen Masato Suzuki zusammen. (Foto: Petra Coddington)

Wer weiß, wie gut dieses kleine Kammerkonzert besucht gewesen wäre, hätte es nicht die große Geheimniskrämerei im Vorfeld gegeben. So gut wie nichts gab das Konzerthaus Dortmund über diesen Abend der Reihe „Musik für Freaks“ bekannt: nicht die Interpreten, nicht die Werkfolge, nicht einmal das musikalische Genre.

Ob Intendant Raphael von Hoensbroech mit diesem „Joker“-Format tatsächlich das Vertrauen der Besucher testen will, das er an diesem Abend wiederholt lobte, oder ob die Marketingabteilung auf die menschliche Neugier als verkaufsfördernden Faktor setzt, sei dahingestellt.

Konzerthausintendant Raphael von Hoensbroech (rechts) lüftet das „Geheimnis“ um die Interpreten und das Programm. (Foto: Petra Coddington)

Auf Unwägbarkeiten mussten Veranstalter und Publikum sich immerhin einlassen. Wie sich zeigte, war auf beiden Seiten Mut vorhanden. Rund 700 Menschen kauften dem Konzerthaus Dortmund die Katze im Sack ab, wie immer in dieser Konzertreihe bei freier Platzwahl und zum Einheitspreis von 20 Euro.

Der Inhalt des werbeträchtig aufgeblasenen Überraschungseis entpuppte sich als klein, aber fein: Der dem Dortmunder Publikum bestens bekannte Bratschist Antoine Tamestit und der japanische Cembalist Masato Suzuki spielten Werke von Johann Sebastian Bach. Die Künstler gestalteten einen ruhigen, kontemplativen Konzertabend, der zu dem vorausgehenden Rummel wohltuend quer stand.

Drei Sonaten für Viola da Gamba hatten die Künstler im Gepäck, durchbrochen von der Französischen Suite Nr. 5 G-Dur für Clavecin und der eigentlich für Violoncello Solo komponierten Suite Nr. 2 d-Moll. Wie unerschöpflich reich Bachs Komponieren war, rückten Tamestit und Suzuki mit großer Musizierlust in den Vordergrund. Obschon die drei Gambensonaten alle um 1720 entstanden, unterscheiden sie sich deutlich im Charakter. Welten liegen zwischen der mit Fugenkunst gespickten Sonate G-Dur Nr. 1 BWV 1027 und der Sonate Nr. 3 g-Moll BWV 1029, in der die Instrumente ganz ähnlich miteinander wetteifern wie im 3. Brandenburgischen Konzert.

Das Bach-Programm, das Tamestit und Suzuki in Dortmund spielten, haben sie im August 2019 bei Harmonia Mundi aufgenommen (Foto: Petra Coddington)

Tamestit und Suzuki harmonieren als Duo nachgerade perfekt. Ihr intensiver musikalischer Dialog funktioniert oft ohne Blickkontakt, sprüht aber besonders helle Funken, wenn er gelegentlich doch zustande kommt. Tamestit weiß den edlen Ton seiner Stradivari-Viola immer stärker zu entfalten, kann sich klanglich aber auch dezent zurücknehmen, um das Cembalo in den Vordergrund treten zu lassen. Das ist ein Geschenk, denn Masato Suzuki, als Bach-Interpret von den Niederlanden bis nach Japan enorm renommiert, spielt auf seinem zweimanualigen, mit Chinoiserien verzierten Cembalo mit höchster Finger- und Kunstfertigkeit. Da funkeln die Praller und Triller, da fliegen die Sechzehntelketten dahin, da malen Auszierungen zärtliche Schnörkel in den Raum.

Vom tänzerischen Impuls der Musik lassen Tamestit und Suzuki sich immer aufs Neue befeuern. Aber in den langsamen Sätzen, den Sarabanden und Adagios, regieren Ernst und Tiefe: eine Beschaulichkeit, die man einst Muße nannte.

Auch solo können die beiden Musiker vollkommen überzeugen. Die Französische Suite Nr. 5 gestaltet Masato Suzuki mit der spielerischen Freiheit des technisch und intellektuell überlegenen Interpreten. Tamestit lässt nach der Pause keinen Zweifel, wie sehr ihm daran gelegen war, die für Cello geschriebene Solosonate Nr. 2 d-Moll auf der Bratsche zu interpretieren. Unter dem Strich seines Barockbogens entfaltet sich der Klang seines Instruments immer voller und vielfältiger. Eine Überraschung ist das nicht. Ein Genuss fürs Ohr aber unbedingt.

(Informationen zur Konzertreihe „Musik für Freaks“: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/255/)




Neue Exklusiv-Künstlerin am Konzerthaus Dortmund: „Maestra Mirga“ mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra

Das City of Birmingham Symphony Orchestra, geleitet von Mirga Gražinytė-Tyla, im Dortmunder Konzerthaus. © Pascal Amos Rest

Das City of Birmingham Symphony Orchestra, geleitet von Mirga Gražinytė-Tyla, im Dortmunder Konzerthaus. © Pascal Amos Rest

Am Konzerthaus Dortmund ist eine neue Exklusivkünstlerin angetreten: Die aus Litauen stammende, erst 32jährige Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla begann diese drei Jahre währende Partnerschaft mit einem erfreulich ungewöhnlichen Programm.

Mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra und Chor stellte die seit 2016 amtierende Chefin des renommierten britischen Klangkörpers zwei Werke vor, die Leiden an dem Terror, der vor 80 Jahren Europa und wenig später die Welt überzog, mit den Mitteln der Kunst formulieren: Benjamin Brittens Sinfonia da Requiem op. 20 und Michael Tippetts „A child of our time“, beide in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs entstanden.

Mirga Gražinytė-Tyla. Foto: Ben Ealovega

Mirga Gražinytė-Tyla. Foto: Ben Ealovega

Obwohl ihr Name komplizierter zu schreiben als auszusprechen ist, wird Gražinytė-Tyla ein wenig anbiedernd als „Maestra Mirga“ vorgestellt und ein Nähe zum Publikum suggeriert, die sie – anders als ihr mit „Andris“ beworbene Vorgänger beim Birmingham Orchestra und jetzige Gewandhauskapellmeister Nelsons – in Dortmund mit Charme und in einwandfreiem Deutsch einlöst: In Michael Tippetts Oratorium sind fünf Spirituals eingearbeitet; bei zweien war das Publikum zum Mitsingen eingeladen und „Mirga“ dirigierte mit dem Rücken zum Orchester mit sichtlichem Vergnügen das durchaus animierte Publikum in „Steal away“ und „Deep river“.

Das war’s mit dem – in diesem Fall recht sympathischen – Populismus. Denn weder Brittens kurioserweise zum 2600. Jubiläum des japanischen Kaiserhauses in Auftrag gegebene Trauermusik noch Tippetts zwischen Zeitbezügen, Jung’schen Archetypen und christlicher Erlösungshoffnung changierendes Oratorium finden sich häufig auf Konzertprogrammen. Eine willkommene Begegnung mit zwei eher den Eingeweihten – wenigstens dem Namen nach – bekannten Werken.

Komponisten im Schatten Benjamin Brittens

In der direkten Konfrontation wird deutlich, warum Benjamin Britten allen anderen britischen Komponisten des 20. Jahrhunderts den Rang abläuft: Er schreibt die individuellere, ingeniösere Musik mit dem gewissen Etwas, das unschwer zu hören, aber unendlich schwer zu beschreiben ist. In seinem rein instrumentalen Requiem ist das an der Klangfarbendramaturgie der großen „Lacrymosa“-Steigerung zu erleben, an der emotionalen Wirkung des hartnäckig wiederholten, gedämpften Trompetensignals, an der überwältigenden Wirkung des Klangs des Saxophons, an den die Form abrundenden Paukenschlägen, die den schweren Gang eines Trauerkondukts vorgeben. Schließlich auch an den rhythmisch atemlosen Streichern, am Absterben jeder Melodik im „Dies irae“-Satz und an der leuchtenden Transparenz des kammermusikalisch verfeinerten „Requiem aeternam“-Epilogs. Mirga Gražinytė-Tyla und das Orchester verstehen sich glänzend, gestützt durch die nicht gerade sparsame, aber stets auf den Punkt zielende Zeichengebung der Litauerin. Nein, die Dirigenten-Show zieht die Maestra wirklich nicht ab.

Nun gibt es aber neben diesem komponierenden Jupiter noch andere Sterne am britischen Musikhimmel. Dass sie in seinem Glanz gefährdet sind, dass sie beim ersten Blick als blass erscheinen, ist ein ungnädiges, unverdientes Schicksal. Tippett teilt es mit Zeitgenossen wie William Walton, aber auch mit der Generation vor ihm, zu der etwa Arnold Bax mit seinen farbenschillernden Orchesterpoems oder der gerne als allzu distinguiert eingeschätzte Ralph Vaughan Williams gehören, dem wenigstens seine Fantasie auf ein Thema von Thomas Tallis und seine „Greensleeves“-Bearbeitung einen dauerhaften Platz im Repertoire sichern.

Spirituals statt Bachischer Choräle

„A child of our time“ ist nach einer Aufführungswelle in den neunziger Jahren heute wieder eine Rarität. Tippett stellt sich mit der dreiteiligen Form und mit der Funktion von Soli und Chören bewusst in die Oratorientradition von Bach und Händel, reizt die Tonalität aus, ohne sie in fernere Gefilde zu überreizen, bleibt im Chorklang dem treu, was etwa ein Edward Elgar vorgeformt hatte. Die „Turba“-Chöre Bachs sind vernehmbar, nicht aber dessen Choräle: Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Form gemeindlichen Bekenntnisses stieß Tippett – wie er selbst berichtet – durch Zufall im Rundfunk auf ein Spiritual und entschied sich, die afro-amerikanische Form religiöser Musik, eine Musik ausgebeuteter und geschundener Sklaven, in sein Oratorium einzubauen.

Tippett behandelt die traditionellen Melodien dabei nicht wie folkloristische Einschübe. Er verknüpft sie höchst kunstvoll mit seiner originären Musik, gibt ihnen eine je eigene Farbe: „Steal away“ als breit angelegten Chorsatz mit Solisten, „Nobody knows the trouble I see“ beschleunigt und rhythmisch geschärft, „Go down, Moses“ mit großbogigem Pathos, „Oh, by and by“ in der Form des „call and response“ in schwarzen Gemeinden mit der idiomatisch versierten Sopranistin Talise Trevigne, und als kompositorisch ausgefeilten Finalchor dann „Deep river“ – ein Gesang der Hoffnung, ein Hinweis auf das „gelobte Land“ jenseits des Jordans.

Reizvoll zu beobachten, wie sich bei Tippett musikalische Gestaltungselemente finden, die uns ein paar Jahre später etwa auch in Brittens „Peter Grimes“ wieder begegnen, etwa das feine Flirren der Geigen, wenn Joshua Stewart mit kraftvollem, sensibel abfärbendem Tenor von seinen an der grauenvollen Wirklichkeit zerbrochenen Träumen singt. Oder der ostinate Paukenrhythmus zum weit gespannten Quartett der Solisten, zu denen noch Felicity Palmer mit vibratoreichem, gesättigtem Alt und Brindley Sherratt mit klar fokussiertem Bass gehören.

Sympathie für Menschen auf der dunklen Seite des Lebens

"A child of our time" liegt in einer Aufnahme des City of Birmingham Orchestras vor, dirigiert vom Komponisten selbst. Naxos 8557570. Cover: Naxos Records

„A child of our time“ liegt in einer Aufnahme des City of Birmingham Orchestras vor, dirigiert vom Komponisten selbst. Naxos 8557570. Cover: Naxos Records

Die Sympathien des politisch engagierten Komponisten gehörten den Menschen auf der dunklen Seite des Lebens, den Verfolgten, Ausgebeuteten, Chancenlosen. Ödön von Horváths Roman „Ein Kind unserer Zeit“ gibt dem Werk den Titel, die tödlichen Schüsse des 17jährigen Herschel Grynszpan auf einem deutschen Diplomaten in Paris – für die Nazis willkommener Anlass zu den Pogromen der „Reichskristallnacht“ – stoßen die Reflektion über die gesellschaftliche Repression an, die einen verzweifelten Jungen zum Mörder werden lassen: das „child of our time“.

Dass Tippett kein Doku-Oratorium schreibt, ist ein Vorteil: Die Thematik des Sündenbocks, die gewalttätigen Reaktionen der Masse, aber auch die christlichen Assoziationen öffnen das Stück für die Gegenwart. Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert mit flammendem Engagement, führt den Chor, der sich durch einen klaren Klang fern jeden „romantischen“ Murmelns auszeichnet, mit deutlichen, großen Bewegungen. Das Orchester, das 2005 unter Tippetts Leitung eine Einspielung aufnahm, demonstriert tadellose Qualität. Ein Einstand, der gespannt auf die nächsten Konzerte blicken lässt.

Mirga Gražinytė-Tyla und ihr Orchester sind am 12. März 2020 wieder im Konzerthaus Dortmund zu Gast, dann mit Anton Bruckners Sechster Symphonie und dem Dritten Klavierkonzert Béla Bartóks, gespielt von Piotr Anderszewski. Am 29. November 2019 präsentiert sich die Dirigentin als Sängerin, wenn sie (begleitet von Violine, Flöte und der orientalischen Laute Oud) Vertonungen ägyptischer Lyrik zum Thema Liebe vorträgt.

Infos und Tickets: (0231) 22 696 200, www.konzerthaus-dortmund.de/maestra-mirga




Feuervogel spreizt farbenfrohe Federn: Das Konzerthaus Dortmund heißt „Maestra Mirga“ willkommen

Mirga Gražinytė-Tyla wurde bereits mit 29 Jahren Chefin des CBSO. (Foto: Pascal Amos Rest)

Ihre Füße stecken in schwarzen Ballerina-Schühchen. Klein, zierlich und mädchenhaft jung wirkt die Frau, die jetzt im Konzerthaus Dortmund aufs Dirigentenpodest steigt und sich verbeugt. Beinahe möchte man um sie fürchten angesichts der schieren Masse von Orchestermusikern, der sie sich an diesem Abend gegenüber sieht: verlangen doch zwei der drei aufgeführten Werke eine ausgesprochen üppige Besetzung. Aber derlei Gedanken verpuffen, sobald die Künstlerin den Taktstock hebt.

Als „Maestra Mirga“ begrüßt das Konzerthaus Dortmund seine neue Exklusivkünstlerin aus Litauen, deren komplizierter Nachname so manchen bei der Aussprache ins Schwitzen bringt. Mirga Gražinyté-Tyla (sprich: Mirga Graschiniiiite-Tilá) kehrt mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra zurück, das sie seit September 2016 als Chefin leitet. Die 32-Jährige tritt am Pult des CBSO in große Fußstapfen: vor ihr formte Andris Nelsons diesen Klangkörper, den Simon Rattle ab 1980 von eher provinziellem Niveau zu internationaler Klasse führte.

Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech heißt die neue Exklusivkünstlerin mit Blumen willkommen. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nicht zufällig eröffnet sie diesen Konzertabend mit Musik von Mieczysław Weinberg. Die Litauerin setzt sich stark für das Werk des polnisch-jüdischen Komponisten ein, das sie für nicht minder bedeutend als das Schaffen von Bach oder Beethoven hält. Weinbergs „Rhapsodie über Moldawische Themen“ gleicht unter ihrer Leitung einem temperamentvollen Ausrufezeichen voller folkloristischer Klänge. Die Dirigentin scheut sich nicht vor ausladenden Gesten, kann aber auch so knapp und präzise sein, dass kein Zweifel aufkommen kann, wie sehr sie den großen Orchesterapparat im Griff hat.

Einer spannungsreichen Einleitung, in der Kontrabässe, Celli und Bratschen im Pianissimo raunen, folgen feurig wirbelnde Tänze, die sich nahe an der Welt von Zoltán Kodály und Béla Bartók bewegen. Hinreißend verführerisch geraten die ruhigeren Passagen, in denen das Tambourin effektvolle Akzente setzt. Das CBSO breitet eine luxuriöse Klangpracht aus, als gelte es, die Salome von Richard Strauss im Tanz der sieben Schleier zu begleiten.

Für die erkrankte Yuja Wang sprang kurzfristig der Pianist Kit Armstrong ein: freilich nicht mit dem 5. Klavierkonzert von Sergej Prokofjew, sondern mit dem Klavierkonzert von Robert Schumann. Der von Alfred Brendel stark geförderte Künstler, der selbst komponiert und neben Musik auch Physik, Mathematik, Chemie und Biologie studierte, bevorzugt in seiner Interpretation kristalline Klarheit statt romantische Emotionalität. Unter seinen Fingern klingt Robert Schumann, als sei er ein direkter Nachfahre von Johann Sebastian Bach.

Kit Armstrong sprang mit Robert Schumanns Klavierkonzert für die erkrankte Yuja Wang ein. (Foto: Pascal Amos Rest)

Das führt zu gläserner Transparenz und introvertiert-leisem Spiel, das sich von Gefühlen bewusst fern zu halten scheint. Der langsame Satz (Intermezzo) klingt eher weltabgewandt als verträumt. Nicht immer wirkt Armstrongs Fingerfertigkeit in den vollgriffigen Akkordfolgen souverän. Aber er hat sein Ohr stets nahe am Orchester, sucht wach und aufmerksam den kammermusikalischen Dialog. Das kommt dem rhythmisch vertrackten Schluss-Satz zugute, der das auch dynamisch sehr ausgewogene Zusammenspiel mit dem Orchester noch einmal unterstreicht.

Zum Abschluss spreizt Igor Strawinskys „Feuervogel“ seine Federn. Es ist ein wahres Prachtvieh, das hier vor unseren Ohren zu tanzen beginnt. Wir hören flirrende Delikatesse, zauberische Leichtigkeit, irisierende Farben. Mirga Gražinyté-Tyla begnügt sich nicht mit der verkürzten Fassung der allseits bekannten Suiten, sondern spielt die Ballettmusik in voller Länge. Daraus wird ein packendes Abenteuer, das über quirlige Holzbläser-Arabesken, ferne Hornsignale und märchenhafte Idylle in den Höllentanz des bösen Zauberers Kaschtschei führt. Frenetischer Beifall.

Informationen zu weiteren Konzerten mit Mirga Gražinyté-Tyla: 

https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/276/?gclid=EAIaIQobChMIjpPYgZei4gIVBeN3Ch2uMQrJEAAYASABEgLv-_D_BwE)

(Der Text ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen).




Auf der Suche nach Neuland: Raphael von Hoensbroech stellt seine erste Saison im Konzerthaus Dortmund vor

Raphael von Hoensbroech hat nun vollends die Führung im Konzerthaus Dortmund übernommen (Foto: Pascal Amos Rest)

Er geht die Dinge behutsam an. Fügt Neues hinzu, ohne Bestehendes abzuschaffen. Zugleich steckt Dortmunds Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech, der jetzt sein erstes eigenverantwortlich verfertigtes Programm im Rahmen einer Pressekonferenz vorstellte, in einem luxuriösen Dilemma.

Der aus einer alten Adelsfamilie stammende Musikwissenschaftler und Kulturmanager hat von seinem Vorgänger Benedikt Stampa einen derart gut funktionierenden Betrieb übernommen, dass dieses Privileg beinahe zur Bürde wird. Was anders anpacken, wenn alles nahezu optimal läuft? Wie ein eigenes Profil entwickeln, wo alle noch auf die mammutgroßen Fußspuren des nach Baden-Baden Entschwundenen starren?

Die litauische Dirigentin Mirga Gražinyté-Tyla kommt als Exklusivkünstlerin nach Dortmund (Foto: Ben Ealovega)

Doch Kontinuität ist von Hoensbroech wichtiger. Er setzt alle etablierten Formate und Konzertreihen fort, mithin die erfolgreiche „Dortmunder Dramaturgie“, die unter anderem einen Residenzkünstler für jeweils drei intensiv gestaltete Spielzeiten an das Haus bindet. Ein erster Coup gelang ihm, als er dafür die junge litauische Dirigentin Mirga Gražinyté-Tyla verpflichtete, die derzeit wie ein Wirbelwind durch Europas Orchester- und Festivallandschaft fegt. Mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dessen Chefdirigentin sie seit September 2016 ist, wird „Maestra Mirga“ dreimal in Dortmund gastieren. In der ungewohnten Rolle als Sängerin tritt sie in der Reihe „Musik for Freaks“ auf, während sie im unterhaltsamen „Salon“ öffentlich Rede und Antwort steht.

In den Orchesterzyklen finden sich viele bekannte Konzerthausgäste wieder: vom Mahler Chamber Orchestra, Rotterdam Philharmonic, Budapest Festival Orchestra, Mariinsky-Orchester bis zum London Philharmonic und dem London Symphony Orchestra. Die Wiener und Berliner Philharmoniker sind nicht dabei, auch keines der „Big Five“ genannten Spitzenensembles aus den USA, die einzuladen freilich ein eminent teures Unterfangen wäre. Ein gemeinschaftliches Projekt wie die Ruhr-Residenz der Berliner Philharmoniker, das nur durch die Zusammenarbeit mit der Philharmonie Essen Wirklichkeit werden konnte, ist laut von Hoensbroech erneut denkbar, aber derzeit nicht in Sicht.

Der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard wirkt im Februar 2020 an der fünftägigen Zeitinsel zum Werk von György Kurtág mit (Foto: Marco Borggreve)

Auf die „Zeitinsel“ müssen die Besucher indes nicht verzichten: Herausragende Interpreten wie der Pianist Pierre-Laurent Aimard, das Arditti Quartet, der Bariton Benjamin Appl und viele andere widmen sich an fünf Tagen ganz dem Schaffen des ungarischen Komponisten György Kurtág. Neu hinzugekommen ist die Reihe „Curating Artist“, in der ein ausgewählter Künstler mehrere Konzerte mit seinen musikalischen Freunden kuratieren und gestalten darf. In der neuen Saison wird der in Armenien geborene, US-amerikanische Pianist Sergej Babayan im Verbund mit Martha Argerich, Daniil Trifonov, Mischa Maisky und dem Mariinsky-Orchester unter Valery Gergiev auftreten.

Vom Willen zur Innovation kündet insbesondere die Reihe „Neuland“, die konventionelle Aufführungsformen klassischer Musik durchbrechen und zu einem anderen Musikerleben führen soll. Eröffnet wird sie am 19. November 2019 durch den finnischen Geiger Pekka Kuusisto und das Mahler Chamber Orchestra, die sich in einem inszenierten Konzert mit Live-Elektronik musizierend durch den Saal bewegen. Ähnlich hält es das Stegreif.orchester aus Berlin, das Beethovens 9. Sinfonie mit Klängen aus anderen Kulturen verweben wird. Die Sopranistin Caroline Melzer singt György Kurtás „Kafka-Fragemente“, die samt filmischer Installation im Jazzclub Domicil zu erleben sind.

Das Stegreif.orchester aus Berlin sprengt die herkömmliche Aufführungssituation klassischer Musik (Foto: Roman Novitzky)

Am Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 kommt auch das Dortmunder Konzerthaus nicht vorbei. Daher findet sich das Sonderprojekt „B250hoven“ im Programm, das sich nicht mit den Abspulen der „Greatest Hits“ begnügt, sondern eine möglichst tiefe Auseinandersetzung mit dem Werk und der Persönlichkeit des Komponisten anstrebt. Zu diesem Zweck rekonstruiert Dirigent Thomas Hengelbrock mit seinem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble Beethovens legendäres, knapp vierstündiges Akademiekonzert von 1808. Das Mahler Chamber Orchestra bringt unter der Leitung von Gustavo Dudamel eine konzertante Aufführung der Oper „Fidelio“ auf die Bühne.

Nach welchen Regeln und Gesetzmäßigkeiten Beethoven komponiert hat, macht das Performance-Ensemble „Nico and the Navigators“ auf großer Leinwand sichtbar, wenn das Kuss-Quartett die Große Fuge B-Dur op. 133 und das späte Streichquartett F-Dur op. 135 spielt. Welch wichtiges Experimentierfeld die Gattung des Streichquartetts für den Komponisten war, zeigen das Quatuor Ébène und das Belcea Quartet im Rahmen eines durch Pausen unterbrochenen Konzertmarathons.

Yannick Nézet-Séguin dirigiert am 20. Februar 2020 „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss (Foto: Hans van der Woerd)

Als Großtat im Bereich der Oper sei noch die konzertante Aufführung der „Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss durch das Rotterdam Philharmonic Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin erwähnt. An die Stelle der Weltmusik tritt die Reihe „Soundtrack Europa“ mit fünf Künstlern bzw. Bands aus Bosnien, Österreich, Polen, der Türkei und von den Färöer Inseln.

Vom reichhaltigen Musikangebot der Jazz-Nights, Orgelkonzerte, Liederabende, des Pop-Abos, der Meisterpianisten und der Jungen Wilden möge sich jeder selbst ein Bild machen – ebenso wie vom veränderten Erscheinungsbild des Programmhefts. Eher fliegt wohl ein Nashorn durch ein Türkis umrahmtes Rechteck, als dass ein neues Design auf ungeteilte Zustimmung träfe.

(Informationen: https://www.konzerthaus-dortmund.de/saison-2019-20/)




Steinbruch und Hölle: Yannick Nézet-Séguin dirigiert in Dortmund Werke von Mahler und Schostakowitsch

Gern gesehener Gast im Dortmunder Konzerthaus: Der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin am Pult des Rotterdam Philharmonic Orchestra. Foto: Hans van der Woerd

Am Beginn stand der fast manische Tatendrang, die hemdsärmelige Attitüde, eine Leidenschaft zudem, die sich in gewaltiger Körperlichkeit ausdrückte. Das war im Jahr 2008, als der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin erstmalig im Dortmunder Konzerthaus gastierte und wirkte, als sei das Agieren am Pult Schwerstarbeit, um eine wuchtige Orchestermaschinerie in Gang zu setzen und unter Dampf zu halten.

Schnell, in seiner unverwechselbaren Mischung aus Dynamik und Charme, wurde der Musiker zu Publikums Liebling. Unter den Fittichen von Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa hat Yannick, wie er im Stile der Dortmunder Kumpelmentalität gern genannt wird, indes eine ziemlich spannende Entwicklung vollzogen: vom jungenhaften musikalischen Bilderstürmer zu einem ernsteren, ja abgeklärteren Orchestermotivator. Natürlich lodert da noch das alte Feuer, gleichzeitig jedoch hat sich sein Blick für Details geschärft, setzt er mehr auf Transparenz denn auf vordergründige Knalleffekte.

Nézet-Séguin kam 2008 mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra, dessen Chef er damals gerade geworden war. Im Gepäck hatte er Musik von Händel, Beethoven, Ravel und Strawinsky – eine über drei Jahrhunderte gespannte Mixtur ohne strengen dramaturgischen Überbau. Nun aber sind Dirigent und Orchester nach Dortmund zurückgekehrt, um die sinfonischen, spätromantischen Muskeln spielen zu lassen. Mit Gustav Mahlers „Totenfeier“ und Dmitri Schostakowitschs 13. Sinfonie („Babi Yar“) zieht das Düstere, Melancholische, Sarkastische ins Konzerthaus ein, zudem eine gewisse monströse Übersteigerung. Mahler, der große Weltenzimmerer, trifft auf Schostakowitsch, den politisch verstrickten Meister des Kommentierens aus dem Geiste der Musik.

Gleichwohl fehlt bei diesem Programm die klare Verklammerung. Richtig ist zwar, dass der Russe den tönenden Kosmos des aus Böhmen stammenden Österreichers überaus schätzte, doch zu verschieden sind eigentlich beider Sprachen. Mahlers Naturlaute, Durchbrüche, Raumklänge, derbe Folklore und seine Hinwendung zum Transzendenten sind etwas anderes als Schostakowitschs rhythmische Bruitismen, gefahrvolle dunkle Streicherlinien oder die markigen Schreie in gleißend hoher Lage. Darüberhinaus ist mit „Totenfeier“ nichts anderes gemeint als eine Frühfassung des ersten Satzes der „Auferstehungssinfonie“.

Großer Applaus für eine tolle Interpretation von Schostakowitschs groß besetzter 13. Sinfonie. Foto: Konzerthaus Dortmund

Wir befinden uns also in Mahlers Steinbruch, etwa 20 Minuten lang, um dann in die Konzertpause entlassen zu werden. Was folgt, umschreiben wir mutig mit dem Begriff Schostakowitschs Hölle: „Babi Yar“ erzählt von (russischem) Antisemitismus, vom Witz, der den Mächtigen ein Dorn im Auge ist, von Armut und (Kriegs)-Angst, schließlich von unfähigen Karrieristen. Jewgeni Jewtuschenko, kritischer und von der Obrigkeit drangsalierter Kopf zu Sowjetzeiten, verfasste die lyrischen Texte. Der Komponist schrieb dazu ein massiges Werk in fünf Sätzen, für Bass-Männerchor, solistischem Bass und Orchester. „Babi Yar“, der Kopfsatz, reflektiert das Massaker in der gleichnamigen Schlucht nahe Kiew, bei dem 1941 etwa 34 000 jüdische Menschen von der Gestapo und ukrainischen Kollaborateuren ermordet wurden.

Schostakowitsch wusste, was er hier komponiert hatte. Vor allem sein Leben unter Stalins Herrschaft war geprägt von Ängsten, materieller Not, vom Zwang, sich zumindest in gewissem Umfang anzupassen. In der „Babi Yar“-Sinfonie spiegeln sich diese Nöte, mithin Schostakowitschs Hölle, beinahe exemplarisch wieder. Entsprechend emotional aufgeladen gerät die Interpretation des Werks im Konzerthaus, mit dem fulminanten (Männer)-Chor des Bayerischen Rundfunks und dem Bassisten Mikhail Petrenko. Schnell finden sie den richtigen Ton, in markiger, wuchtiger, äußerst plastischer Artikulation, pendelnd zwischen Grabesstimmung, Melancholie und beißendem Spott (in teils idyllischer Tarnung).

Mikhail Petrenko, ein markiger Bass von Format. Foto: Alexandra Bodrova

Das Rotterdamer Orchester wiederum lässt das Schlagwerk nach russischer Revolution klingen, unterfüttert vom Furcht transportierenden, nervösen Raunen der (tiefen) Streicher, lässt die Bläser schreien oder elegisch klagen, findet dabei dennoch zu einem ziemlich transparenten Klangbild. Yannick Nézet-Séguin hält alle Fäden des musikalischen Verlaufs gut zusammen, mit Übersicht und Energie. Mikhail Petrenkos Stimme ist in der Tiefe so schwarz wie in hoher Lage geschmeidig. Und der Chor singt mit großer Kraft und feinem rhythmischen Gespür. Die Aufführung ist ein beeindruckendes Erlebnis, hinter dem Mahlers „Totenfeier“ klar zurückfällt. Sperrig und etwas spröde in seiner Formsprache, fehlt in diesem Sinfoniesatz-Vorläufer zudem die Farbe der tiefen Harfen, die perkussive Wucht und die räumliche Dimension der Klangexplosionen. Vielleicht wäre die Verzahnung beider Komponisten besser gelungen mit den unsagbar traurigen Kindertotenliedern zu Beginn.

 




Die Flöte als „Faden im Webstoff“: Thomas Hengelbrock und das Royal Concertgebouw Orchestra in Dortmund

Thomas Hengelbrock zählt zu den Stammgästen im Konzerthaus Dortmund (Foto: Pascal Amos Rest)

Thomas Hengelbrock zählt zu den Stammgästen im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Pascal Amos Rest)

Als Opernkomponist fand Franz Schubert zeitlebens nicht die ersehnte Anerkennung. Acht vollendete Bühnenwerke und acht Fragmente hinterließ er der Nachwelt, darunter die Oper „Alfonso und Estrella“, die es zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung nicht aus dem Schatten von Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ herausschaffte. Erst 26 Jahre nach Schuberts Tod verhalf Franz Liszt „Alfonso und Estrella“ zur Uraufführung.

Mit der Ouvertüre zu diesem selten gespielten Werk eröffnete der Dirigent Thomas Hengelbrock jetzt einen Abend im Konzerthaus Dortmund, zu dessen Stammgästen er bereits seit 2003 zählt. Er hat sich hier ein treues Publikum erobert, nahezu eine Fangemeinde: Das ist bei seiner erneuten Rückkehr mit dem Royal Concertgebouw Orchestra deutlich zu spüren. Der Dirigent seinerseits schwärmt von der Frische, der Neugier und der aktiven Musizierlust der Musiker aus Amsterdam, wie einem Interview auf der Internetseite des Konzerthauses zu entnehmen ist.

Tatsächlich ist diese Musizierlust sofort präsent, wenn auch in auffallend starker Besetzung. 13 erste Geigen und sechs Kontrabässe bietet Hengelbrock für Schuberts Ouvertüre auf, die ganz konventionell mit langsamer Einleitung und schnellem Hauptteil daherkommt. Alles tönt sprühend vital, strahlend hell, aber mit recht knalligem Forte. Während manch stürmische Passage überraschend nach Felix Mendelssohn klingt, scheint der Schluss nahezu unverblümt Mozarts „Zauberflöte“ zu kopieren. Wer Schuberts Genie kennt und verehrt, registriert es mit leiser Enttäuschung.

Der deutsche Flötist Kersten McCall wuchs als Sohn des Komponisten Brent McCall in Donaueschingen auf. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nach verschiedenen Stoffarten sind die drei Sätze des Flötenkonzerts „Soie“ („Seide“) von Lotta Wennäkoski benannt. Fasziniert von der Analogie zwischen gewebten und komponierten Meisterwerken, hat die 1970 in Helsinki geborene Finnin ein hoch virtuoses Konzert geschrieben, das zu einem Höhepunkt des Abends wird. Atmosphärische Dichte, raffinierte Instrumentation, reiche Detailarbeit und das souveräne Spiel mit den klanglichen Möglichkeiten eines Orchesters sind so staunenswert und packend, dass das Ohr nicht eine Sekunde von den akustischen Ereignissen auf der Bühne loskommt.

Einen mit allen Wassern gewaschenen Solisten benötigt dieses Konzert natürlich auch. Kersten McCall, erster Soloflötist des Royal Concertgebouw, beherrscht Instrument und Partitur, dass es jeder Beschreibung spottet: von rasend schnellen Figurationen bis zu intensiv ausgehaltenen Tönen, vom seidenweichen Piano bis zum schrillen Pfiff, von der heftig überblasenen Attacke bis zu Effekten wie der Flatterzunge. Mal intensiv mit dem Orchesterklang verwoben, mal solistisch hervortretend, stellt er seine überragende Kompetenz kompromisslos in den Dienst des Werks. Das ist große Kunst, frei von Star-Allüren.

Aus dem Off lässt Thomas Hengelbrock das eröffnende Hornmotiv von Schuberts 8. Sinfonie C-Dur („Die Große“) spielen. Ein Vorgriff auf die Fernklänge von Gustav Mahler mag dies sein, denn Hengelbrocks Interpretation macht auch in der Folge musikhistorische Bezüge deutlich. Diese sprechen von der Vergangenheit, wenn sich im Andante plötzlich ein Abgrund à la Don Giovanni öffnet, oder wenn Beethovenscher Ingrimm durch das Scherzo zittert. In die Zukunft weisen von Wehmut vergiftete Holzbläsersoli (Mahler) und blockhafte Tempowechsel (Bruckner). Hengelbrock hält alles wunderbar leicht und tänzerisch in Schwung. Silbern wirbeln und flirren die Triolenketten der Geigen im Finale dahin. Großer Beifall.

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Botschaften aus Theresienstadt: Der Bariton Benjamin Appl und Liedpianist James Baillieu zu Gast im Konzerthaus Dortmund

Der Bariton Benjamin Appl stammt aus Regensburg und lebt in London (Foto: Uwe Arens)

Wer Benjamin Appl unbedingt in eine Schublade stecken möchte, wird damit Schwierigkeiten bekommen. Zwar gilt der 37-jährige Bariton aus Regensburg als exzellenter Liedsänger, aber er tritt auch in der Oper und im Konzert auf.

Das Etikett vom „hoffnungsfrohen Lied-Talent“ bleibt gleichfalls nicht recht haften an einem, der in den großen Konzertsälen Europas singt, bereits an der renommierten Guildhall School of Music & Drama in London lehrt und seit 2016 bei einem großen Plattenlabel unter Vertrag steht.

Sein Debüt im Konzerthaus Dortmund gab der letzte Privatschüler von Dietrich Fischer-Dieskau im Februar 2016 in der Reihe „Junge Wilde“. Jetzt kehrte er mit dem Pianisten James Baillieu zurück: Im Gepäck ein Programm, das wagemutig zwischen Kunstlied, Operette und Chanson balanciert. Orientalische Lyrik des persischen Dichters Hafis, vertont von den Komponisten Victor Ullmann und Johannes Brahms, trifft darin auf die opulente und todessehnsüchtige Romantik von Erich Wolfgang Korngold, auf einige „Wunderhorn“-Vertonungen von Gustav Mahler und auf Lagerlieder aus dem KZ Theresienstadt.

Für Victor Ullmanns „Liederbuch des Hafis“ stimmt Appl zunächst einen ironischen Tonfall an. Herrlich heuchlerisch klingt das, wenn er den Dichter über die Größe Allahs räsonieren lässt: Dessen vorausbestimmende Allmacht mache es ihm ja ganz unmöglich, nicht durch Wein und Weib zu sündigen. Das Zeugnis, das der Poet sich im Lied „Betrunken“ selbst ausstellt, fällt gleichwohl miserabel aus. Wut und Scham über die eigene Schwäche brechen sich Bahn. Appl findet für sie ingrimmig bebende, ja gallig gefärbte Töne.

Danach wird die Stimmung weicher, träumerischer. Frauenschönheit, Liebe und Güte klingen an, bei Victor Ullmann frei zwischen Dur und Moll schwebend, bei Johannes Brahms mit inniger, gleichwohl verhaltener Glut. Dank der Kunst des vorzüglichen Pianisten James Baillieu dringt Appl hier bis zu jenem abgeklärten Tonfall vor, wie man ihn aus den Intermezzi von Johannes Brahms kennt. Baillieu gehört zu jenen Zauberern, die ganze Seelenlandschaften entstehen lassen, sobald sie nur die Tasten berühren. Er ist einer jener wundersam diskreten Kulissenschieber, die jedem Kunstlied nahezu unbemerkt, aber äußerst wirkungsvoll die Szene bereiten.

Benjamin Appl war 2014 „New Generation Artist“ der BBC und erhielt 2016 den „Gramophone Award“ als „Artist of the Year“.(Foto: Uwe Arens)

Ein Lied von Hans Gál, einem Enkelschüler von Johannes Brahms, leitet über zur üppigen Romantik des nach Amerika emigrierten Österreichers Erich Wolfgang Korngold. Nun wird der Abend beinahe zu samtpfötig. Appls Bariton klingt schmeichlerisch sonor, aber zuweilen auch gleichförmig glatt. Der Dialog in „Der Knabe und das Veilchen“ erschließt sich dem Programmheftleser, aber nicht dem Hörer, weil Appl kaum die Stimmfarbe wechselt. Da fehlt es (noch) an charakteristischer Ausformung und Gestaltung.

Weit wirkungsvoller rühren Sänger und Pianist in Gustav Mahlers „Wunderhorn-Liedern“ die Kriegstrommel. Tieftraurig ist das Licht, das sie auf den einfachen Soldaten werfen, der Abschied nehmen muss von Heimat und Liebe. Das scheinbar fröhliche „Trallalei“, mit dem er dem Tod entgegen marschiert, schwillt bei Appl und Baillieu zu einem bitterbösen Schreckensgesang. Ferne Hornsignale, Verzweiflung, Trauermarsch. Erstaunlich, wie Appl es danach schafft, in den beinahe operettenhaften Plauderton des „Terezin Song“ zu wechseln.

Einen Stimmungswechsel bringt diese anonyme Komposition aber nicht: Sie leitet vielmehr über zu den erschütternden Theresienstadtliedern von Ilse Weber und Adolf Strauss. Mit diesen sentimentalen, zuweilen der Schnulze nahen Petitessen geht das Duo Appl/Baillieu bewundernswert feinfühlig und rücksichtsvoll um. So ist es nicht die Banalität mancher Melodie, die im Gedächtnis bleibt, sondern die Botschaft vom unermesslichen menschlichen Leid, das im Konzentrationslager Alltag war. Der Überlieferung nach soll Ilse Weber ihr berührendes Wiegenlied „Wiegala“ für die Kinder angestimmt haben, die gemeinsam mit ihr in die Gaskammer gingen.

Man wagt danach kaum weiter zu atmen. Indessen hält das Duo noch zwei Trostpflaster für sein Publikum bereit: Das „Urlicht“ von Gustav Mahler und, als Zugabe, „Morgen“ von Richard Strauss.

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Der nächste Liederabend im Konzerthaus Dortmund gilt der ungewöhnlichen Konstellation von Stimme und Harfe: Gemeinsam mit Xavier de Maistre interpretiert die Sopranistin Diana Damrau am 14. Mai 2019 unter anderem Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy und Sergej Rachmaninow.

(Informationen: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/14-05-2019-diana-damrau-xavier-de-maistre-221783/)




Der Weg zur Synthese: Yuja Wang und Leonidas Kavakos mit einem Duoabend im Konzerthaus Dortmund

Im „Allegro brusco“ fallen die Fesseln. Brusco, das bedeutet auf deutsch barsch oder grob. Und so hämmert Yuja Wang dreimal den Ton C in den Konzertflügel, stanzt ihn kraftvoll ins Bassregister des Instruments. Leonidas Kavakos antwortet auf seiner Stradivari mit der gleichen, lustvoll aggressiven Energie. Schrubbt Akkorde in die Saiten, deren grelle Dissonanz einer Attacke auf Ohren und Nerven gleicht.

Sergej Prokofjews 1. Violinsonate, gewidmet dem legendären Geiger David Oistrach, scheint den beiden berühmten Interpreten Befreiung zu bringen. Die radikale, ja anarchische Kraft, mit der sich das Genie des Komponisten hier Bahn bricht, führt ihr Spiel im Konzerthaus Dortmund auf einen ersten Gipfel.

Kavakos dreht sich für das heroische Seitenthema stärker dem Publikum zu, die brennende Intensität seines Violintons zu voller Glut steigernd. Dieser Klang wirkt umso stärker, als der Geiger das einleitende Andante assai nur wenige Minuten zuvor mit eiskalt rieselnden Läufen beendet hatte: mit gespenstisch fahlen Tonleitern, die dem Willen des Komponisten nach einem Wind gleichen sollten, der über einen Friedhof streicht.

Grabesdunkel also, abgelöst von unirdisch weißem Licht. Träumerisch zarte Melodien und wild tobende Motorik. Derlei Kontraste fegen die vornehme Eleganz davon, mit der Wang und Kavakos zu Beginn die Sonate B-Dur 454 von Wolfgang Amadeus Mozart interpretieren. Gleichwohl kündet ihre Lesart nicht allein von heiter-verspieltem Rokoko, sondern auch von Abgründen, wie Mozart sie zum Beispiel in seinem „Don Giovanni“ aufriss. Als wollten die Künstler der beseelten Idylle des Andante nicht recht glauben, treiben sie die Musik mit unterschwelliger Nervosität voran. Der Violinton klingt zuweilen gläsern. So leichtfüßig Läufe und Triller auch dahin perlen mögen, streifen zuweilen doch Schatten vorüber.

Seit ihrer 2013 aufgenommenen Brahms-CD (siehe Cover-Abbildung) treten Leonidas Kavakos und Yuja Wang immer wieder zusammen auf. Sie deswegen ein Duo zu nennen, scheint gleichwohl gewagt ob des weltweiten Ruhms, den beide als Solisten genießen – und angesichts der Tatsache, dass Enrico Pace als Kavakos‘ langjähriger musikalischer Partner gilt.

Gleichwohl finden die glamouröse Chinesin und der stets mit einem Schuss reservierter Strenge auftretende Grieche nach der Pause zu bemerkenswerter musikalischer Einheit. In Béla Bartóks Rhapsodie für Violine und Klavier Nr. 1 steigern sie tänzerische Rhythmik und feurigen Volksliedton, bis alles nur noch wirbelnde, rauschhafte Virtuosität ist. Darf Kavakos hier nachgerade zigeunerisches Temperament ausspielen, so kommen die viel gerühmten „fliegenden Finger“ der Yuja Wang in der Violinsonate von Richard Strauss zum Zuge. Was der 23-jährige Komponist der Pianistin abverlangt, gleicht einem halben Klavierkonzert: rauschhafte Tonkaskaden und Arpeggien, kapriziöse Einsprengsel und plötzliche Beleuchtungswechsel in voller Fahrt.

Aber eine Yuja Wang hat dergleichen souverän im Griff. Wie im Gleitflug segelt sie durch den vertrackt schweren Part, trumpft grandios auf, ohne die Violine zu übertönen. Im Gegenteil blüht der Ton von Leonidas Kavakos noch einmal auf, dass es zum Staunen ist. Süffig und schwelgerisch tönt uns das Jugendwerk entgegen, dem Vorbild von Johannes Brahms noch nahe. Beide Künstler wirken nun vollkommen gelöst, finden in dieser Freiheit aber zur packenden, über jeden Zweifel erhabenen Synthese.




Im Konfettiregen: Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa verabschiedet sich nach 13 Jahren in Dortmund

Adieu Dortmund: Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa zieht gen Baden-Baden (Foto: Pascal Amos Rest)

Die Schulterblätter von Intendanten sind offenbar besonders robuster Natur. Innerhalb weniger Stunden stecken sie hundertfach Schläge mit der flachen Hand weg, kräftige Klapse männlich anerkennender Art, ausgeführt von Sponsoren, Künstlern, Kollegen, Politikern, Wegbegleitern, Freunden und Förderern.

Das muss echte Liebe sein, und mit solcher hat Dortmunds scheidender Konzerthausintendant und BVB-Fan Benedikt Stampa selbstredend Erfahrung. 13 Jahre als Chef der Philharmonie für Westfalen endeten jetzt mit einem Abschiedskonzert, das sich zum finalen Belastungstest für die Dreiecksknochen auswuchs, aber auch zu einem künstlerisch glanzvollen Ereignis mit dem Chamber Orchestra of Europe unter Dirigent Yannick Nézet-Séguin.

Konfetti zum großen Finale im Konzerthaus (Foto: Pascal Amos Rest)

Lob, Dank und Konfetti mit seinem eigenen Konterfei regnen an diesem Abend auf Stampa nieder, der nun zum Festspielhaus nach Baden-Baden wechselt.

Seinem Nachfolger Raphael von Hoensbroech, der nicht anwesend sein konnte, hinterlässt Benedikt Stampa eine Spielstätte in hervorragender Verfassung: mit unverwechselbarem Profil, mit guten Auslastungszahlen, einem trefflich eingespielten Team und hoher Wertschätzung in internationalen Musikerkreisen.

Oberbürgermeister Ullrich Sierau (l.) und Benedikt Stampa (Foto: Pascal Amos Rest)

Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau trägt dazu viele schöne Worte vor. Indessen scheint niemand an die vielleicht größte Leistung des Kulturmanagers erinnern zu wollen, der das Steuer 2005 zu einer Zeit ergriff, als das Zerwürfnis zwischen der Stadtspitze und Gründungsintendant Ulrich Andreas Vogt den Erfolg des Konzerthauses zu gefährden drohte. Eine gehörige Portion Skepsis schlug Vogts Nachfolger damals entgegen. Stampa jedoch gelang es, Vertrauen neu aufzubauen und den ins Schlingern geratenen Musiktanker mit ruhiger Hand und klarer Linie wieder auf Kurs zu bringen.

Yannick Nézet-Séguin ist dem Konzerthaus und Benedikt Stampa freundschaftlich verbunden (Foto: Pascal Amos Rest)

Yannick Nézet-Séguin gehört zu den Künstlern, die er bereits zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Karriere zu gewinnen verstand – ganz im Sinne der „Dortmunder Dramaturgie“, die auf eine langfristige Zusammenarbeit setzt. Mit sportlichem Überschwang dirigiert der neue Chef der New Yorker Met zunächst die Ouvertüre zu BedřichSmetanas Oper „Die verkaufte Braut“. Rasant flirren und wirbeln die Sechzehntelketten der Streicher, aber die Fortissimo-Passagen geraten unter seinem befeuernden Dirigat zu lärmig. Im Violinkonzert von Antonín Dovřák stellen sich Dirigent und Orchester dann besser auf die Konzerthaus-Akustik ein.

Veronika Ederle spielte das Violinkonzert von Antonin Dvorak (Foto: Pascal Amos Rest)

Das kommt dem feinen Violinspiel von Veronika Eberle zugute, die zu bemerkenswerter Souveränität gereift ist. Mit untadeliger Intonation und energisch akzentuiertem Portato-Strich gibt sie dem Kopfsatz Ernst und Tiefe, steigert virtuose Doppelgriffe und Kadenzen zu feierlicher Grandezza. Ein süffig-romantischer Klang auf der G-Saite mag ihre Sache nicht sein, aber die Künstlerin bleibt sich und ihren Fähigkeiten wunderbar treu. Ihr klarer Violinton ist von einer Energie erfüllt, die berührend fragil klingt und die weit gespannten Melodiebögen des Adagio zum Leuchten bringt. Nachgerade perfekt liegt ihr das tänzerische Finale, in dem sie alle virtuosen Trümpfe ausspielen kann: wendig, blitzschnell und mit dem hellen Klang jubelnder Lebensfreude.

Das Chamber Orchestra of Europe, das die die Solistin mit edlen Holzbläser-Soli, sonorem Blech und rhythmischer Präzision unterstützt, läuft in der 3. Sinfonie von Johannes Brahms endgültig zu großer Form auf. So episch strömt das Werk dahin, so bruchlos und ohne Pausen, dass man als Hörer von Takt 1 an gepackt und nicht wieder losgelassen wird. Denn wir erleben mitnichten eine rund geschliffene, glatt gebügelte Brahms-Deutung, sondern höchst spannende Modulationen eines Orchesterklangs, der keinen Vergleich zu scheuen braucht. Yannick Nézet-Séguin formt ihn wie eine Skulptur, fordert mal sonore Erhabenheit, mal samtige Transparenz, mal massige Schwere, die wie ein Vorausgriff auf Anton Bruckner klingt. Nichts klingt ruppig, gleichwohl können sich unversehens gewaltige Abgründe öffnen. Die Wehmut des Poco Allegretto entfaltet sich so diskret und verhalten, so fern jeder Sentimentalität, dass einen schiere Dankbarkeit erfüllt.

Dem Guten, Wahren und Schönen, nach dem zu suchen Benedikt Stampa sich verpflichtet fühlt, konnte er nach 1300 Konzerten in der Brückstraße noch einen letzten Mosaikstein hinzufügen. Es sind fürwahr keine kleinen Fußstapfen, in die Raphael von Hoensbroech nunmehr tritt. Wir sind gespannt.

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.
Informationen zum Konzerthaus Dortmund: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/)




Alles andere als Mainstream: Die Dortmunder Philharmoniker und Andreas Boyde stellen Clara Schumanns Klavierkonzert vor

Am 13. September 2019 wird die musikalische Welt ein markantes Datum feiern können, den 200. Geburtstag von Clara Schumann, geborene Wieck. Als Klaviervirtuosin wie als Komponistin kann sie eine unübersehbare Größe in der Musik des 19. Jahrhunderts für sich beanspruchen.

Clara Wieck im Alter von 15 Jahren. Vor Clara aufgeschlagen ist der Solopart mit dem Beginn des 3. Satzes aus ihrem Klavierkonzert a-moll op. 7. Abbildung von Julius Giere.

Clara Wieck im Alter von 15 Jahren. Vor Clara aufgeschlagen ist der Solopart mit dem Beginn des 3. Satzes aus ihrem Klavierkonzert a-moll op. 7. (Abbildung von Julius Giere)

Clara Schumann ist eine Frau, die durch ihr Lebensschicksal, durch ihre Ehe mit Robert Schumann, durch die vielfältigen Konflikte zwischen herkömmlichem Rollenbild und moderner Emanzipation, in der Spannung zwischen liebender Gattin und arrivierter Künstlerin auch für die Gesellschaftsgeschichte bedeutsam ist.

Die Dortmunder Philharmoniker nahmen das Jubiläum schon vorweg und setzten das einzige Klavierkonzert Clara Schumanns, ihr Opus 7 in a-Moll, ins Zentrum ihres siebten Sinfoniekonzerts.

„weit_sicht“, so das typographisch etwas künstlich aufgepeppte Motto, ist nicht nur im Blick auf 2019 berechtigt, sondern auch in Bezug auf die Musik Schumanns. Das Konzert wirkt alles andere als bloß im damaligen Musik-Mainstream mitschwimmend: Die gerade mal 16jährige Clara Wieck zeigt sich auf Augenhöhe mit Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Dirigenten der Leipziger Uraufführung, mit ihrem künftigen Gatten Robert Schumann oder mit komponierenden Klaviervirtuosen wie John Field. Weitsichtige Musik also, die erahnen lässt, wohin es Clara hätte bringen können, wenn sie nicht „eine Dame“ gewesen wäre und ihr Robert Schumann nicht das Komponieren ziemlich radikal ausgetrieben hätte.

Distanz von sehnsuchtsvoller Romantik

Der Pianist Andreas Boyde öffnet also im Konzerthaus eine musikalische Welt, die geschickt zwischen brillantem Virtuosentum, klassischer kompositorischer Dichte und bewegenden romantischen Anflügen pendelt. Boyde sieht das Stück offenbar weniger in die Farbe sehnsuchtsvoller Romantik getaucht. Die kraftvollen Triolen-Akkorde des Beginns werden nicht durch das glitzernde Leggiero der in die Virtuosenhand geschriebenen Zweiunddreißigstel kontrastiert. Auch die weit ausschwingenden Melodien stellt Boyde eher sachlich fest als sich ihrem schwärmerischen Sog zu überlassen. Aber das „risoluto“ im ersten Satz nimmt er beim Wort, auch den geforderten markanten Anschlag setzt er um.

Andreas Boyde. Foto: Thomas Malik

Pianist Andreas Boyde. Foto: Thomas Malik

Die Crescendo-Decrescendo-Angaben, die scheinbares bloßes Spielwerk beleben sollen, gehen oft unter. Das liegt wohl auch am Dirigenten Cristian Mandeal, den das „Maestoso“ des ersten Satzes zu satt-fülligem Orchesterklang verleitet, der auch ein zähes Tempo wählt, das keine Innenspannung aufkommen lässt. Dem Mittelsatz fehlt die Innerlichkeit, da ist der distanzierende Zugriff zu weit getrieben. Leider fehlt eine Angabe zu der sensiblen Solo-Cellistin – war es Franziska Batzdorf? Und die „Polacca“ im Schlusssatz hätte rhythmischen Biss durchaus vertragen. Man wird, so ist zu hoffen, das Klavierkonzert Clara Schumanns in ihrem Jubiläumsjahr öfter hören und dann vergleichen können.

Verhaltene Delikatesse – öliges Tempo

Passend eröffneten die Philharmoniker ihr Konzert mit Carl Maria von Webers nicht eben häufig gespieltem Konzertstück f-Moll op. 79, ein Werk, das sich eher dem erzählend-variativen Fortspinnen als einer materialorientiert-thematischen Ausarbeitung widmet und das damit für 1821 „modern“ war. Wieder fällt auf, dass die Philharmoniker ihren Klang kaum plastisch staffeln und das ölige Tempo die Wellen spannungsfördernder Agogik glättet.

Der Dirigent Cristian Mandeal war kurzfristig eingesprungen. Foto: Virgil Oprina

Der Dirigent Cristian Mandeal war kurzfristig eingesprungen. Foto: Virgil Oprina

Boyde realisiert am Flügel die verhaltene Delikatesse, die an den irischen Virtuosen John Field erinnert, auch die innere Dynamik seines Parts, vernachlässigt aber das Cantabile und scheut sich davor, auch mal leuchtende Brillanz um ihrer selbst willen zu zeigen. Ein schönes Fagott-Solo und die weich rhythmisierenden Streicher sprechen für die Philharmoniker und ihre Sensibilität für den klanglichen Hintergrund von Webers Musik.

Die Erste Symphonie Johannes Brahms‘ war ebenfalls eine sinnige Wahl, war der gebürtige Hamburger doch offenbar sehr verliebt in Clara Schumann, lebte zeitweise in einer Wohnung mit ihr und ihrer Familie und verkehrte mit ihr, wie viele Briefe bezeugen, als intimer Seelenfreund fördernd, stützend und wohl auch tröstend.

Cristian Mandeal, kurzfristig für den erkrankten Leo McFall eingesprungen, hatte wohl kaum Zeit, das komplexe Werk auszuarbeiten: So blieb es bei einem soliden Dirigat eines erfahrenen Routiniers, ohne persönlich Note, wenn man das ungestaltete Tempo nicht als solche nehmen möchte. Fülliger, pastoser Klang, saftig ausgebreitet, ohne innere Differenzierung, orientiert an den vordergründigen Melodiestimmen, wenig Tiefenstruktur und Trennschärfe: Ein Brahms, der auch in der Behandlung etwa von Bläserstellen im dritten Satz oder den breit ausgekosteten Hörner – die Philharmoniker sind voll bei der Sache – ein wenig „old fashioned“ wirkt. Immerhin gibt’s eine grandiose Steigerung im Finale – der Beifall war gesichert!

Das nächste Philharmonische Konzert in Dortmund am 8. und 9. Mai 2018 bringt unter dem Stab von Gastdirigent Marc Piollet eine weitere Rarität, das Tubakonzert von Ralph Vaughan Williams, dazu Leonard Bernsteins Divertimento für Orchester und die die große Tondichtung „Die Planeten“ von Gustav Holst. Info: https://www.theaterdo.de/detail/event/8-philharmonisches-konzert-sphaeren-reigen/




Verlöschensklänge: Das Orchestre de Paris kombiniert in Dortmund Werke von Jörg Widmann und Gustav Mahler

Solist Antoine Tamestit war von Beginn an eng in den Entstehungsprozess des Bratschenkonzerts von Jörg Widmann eingebunden. (Foto: Pascal Amos Rest)

Daniel Harding und Antoine Tamestit waren sich einig. Wenn überhaupt ein Werk vor der 9. Sinfonie von Gustav Mahler gespielt werden könne, dann das Konzert für Viola und Orchester von Jörg Widmann, meinten der Dirigent und der Bratschist.

Im schmerzlich-innigen Ausklang des Stücks, das 2015 im Auftrag des Orchestre de Paris entstand, sehen beide den perfekten Brückenschlag zu Mahlers letzter vollendeter Sinfonie. Wenn Widmann in den letzten Takten die Spätromantik samt ihrer Brüchigkeit, Fragmentierung und Überdehnung beschwört, dann scheint Mahlers Neunte um die Ecke zu lugen: eine Sinfonie, die sich auflöst in ihre Bestandteile, die nach rund 80 Minuten zögernd und langsam erstirbt. Eine Musik des Verlöschens.

Wie angemessen, ja nachgerade natürlich diese Werkfolge klingen kann, bewiesen Harding, Tamestit und das Orchestre de Paris jetzt im Konzerthaus Dortmund. Widmanns Bratschenkonzert gleicht einer klanglich reizvollen Reise, in der Chinesisches, Arabisches und Jüdisches mitschwingt. Zu Beginn schlägt Widmungsträger Antoine Tamestit viele Minuten lang Pizzicato-Kaskaden aus seinem Instrument, als habe er das Ziel, berühmten spanischen Gitarristen Konkurrenz zu machen. Dann beginnt er, zwischen den Orchestergruppen umher zu wandern: sucht Anschluss an die Bassflöte, erschrickt vor den rülpsenden Einwürfen der Tuba, wirft sich in einen virtuosen Wettstreit mit der Pauke und animiert die Streicher zu flirrenden Glissandi.

Antoine Tamestit wandert während des Spiels zwischen den Instrumentengruppen des Orchesters umher (Foto: Pascal Amos Rest).

Aber es sind weder musiktheatralische Effekte à la Kagel noch Geräuschhaftigkeiten à la Lachenmann, die uns packen und nicht mehr loslassen. Vielmehr wird hier mit höchster Überzeugung und bestechendem Können musiziert. Wer Neue Musik für spröde und verkopft hält, erlebt bei diesem sinnlichen Klangpanorama sein blaues Wunder. Den Ausklang gestalten Tamestit und das Orchester als intensive Klage.

Was für Teufelsmusiker es sind, die Daniel Harding nur noch bis Sommer dieses Jahres als Chefdirigent leiten wird, zeigt sich dann auch in Mahlers 9. Sinfonie. Nicht genug damit, dass sich Bläsereinsätze wie aus dem absoluten Nichts im Raum kristallisieren. Sie sind so subtil, dass es fassungslose Sekunden braucht, um die Klangquelle überhaupt benennen zu können. Oboe und Flöte, Klarinetten und Hörner, Piccoloflöte und erste Geigen verschmelzen in perfekter Intonation zu unvergleichlichen Farben. Daniel Harding gestaltet das „Andante comodo“ zu einer riesigen Sehnsuchtsmusik. Alles ist Drängen in diesem ersten Satz: Aber das Schlachtgetümmel der früheren Sinfonien, die triumphalen Apotheosen hat diese Neunte weit hinter sich gelassen.

Daniel Harding und das Orchestre de Paris (Foto: Pascal Amos Rest)

Harding versteht sich bestens auf die Elemente von Mahlers Tonsprache: auf das bauernhaft Grobe, das Einfältige und Banale, das höhnisch Meckernde, das Feierliche und das Schönheitstrunkene. Er hält das Orchester unter Spannung, dabei übergroße Lautstärken vermeidend. Noch einmal beschwört er im letzten Satz „die allmächtige Liebe“, wie sie der Pater Profundus in Mahlers 8. Sinfonie besingt. Schließlich erblasst das abschließende Adagio, wird jenseitig fahl, ja brüchig. Harding hält diese morbide Textur mit feinem Fingerspitzengefühl, scheint zuzusehen, wie die Fäden sich auflösen, lauscht voraus in die Stille, in die diese Musik unweigerlich einmünden muss. Das versteht auch das Konzerthaus-Publikum, das die Sinfonie zuvor schon zweimal durch Applaus unterbrechen wollte. Lange rührt sich nach dem letzten Ton keine Hand. Dann bricht der Jubel los.

Antoine Tamestit wird am 19. und 20. April erneut im Konzerthaus Dortmund zu erleben sein: mit einem öffentlichen Meisterkurs sowie einem Liederabend mit Christiane Karg.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: http://www.konzerthaus-dortmund.de, Ticket-Hotline 0231/ 696 200.)




Wenn der Mensch neben dir nicht Duke Ellington ist – Helge Schneiders Auftritt im Dortmunder Konzerthaus

Warum nicht mal wieder zu Helge Schneider pilgern? Das letzte Mal ist ja schon wieder ein paar Jährchen her (es war seinerzeit im erzkatholischen Paderborn), und der Mann ist und bleibt doch wohl schließlich Kult. Bei ihm trifft diese Bezeichnung unumwunden zu, auch wenn man sie sonst nur ungern verwendet.

Cello kann er auch: Helge Schneider in Aktion. (Foto: www.helge-schneider.de)

Cello kann er auch: Helge Schneider in Aktion. (Foto: www.helge-schneider.de)

Also auf ins ausverkaufte Dortmunder Konzerthaus. 1500 Plätze bietet die Kulturstätte. Helge Schneider begehrt vom Publikum zu wissen, wie viele Einwohner Dortmund eigentlich habe. Soso, aha, rund 600.000. Und warum bitteschön seien die heute Abend nicht alle hier? Wahrlich eine bittere Enttäuschung!

Aber gut. Er lässt sich nicht lumpen und tritt trotzdem über zwei Stunden auf, auch wenn der Schelm gleich anfangs, nach den ersten paar Takten von „Lady Be Good“, gesagt hat: „So, das war’s für heute…“ Nur gut, dass er den Steinway nicht wirklich zugeklappt hat.

Ich will nicht behaupten, Helge Schneider (Jahrgang 1955) sei etwa altersmilde oder „verträglicher“ geworden, was immer das bei einem wie ihm heißen könnte. Aber er lässt doch nicht mehr so riesige Sinn- und Unsinnslücken klaffen wie ehedem. Zuweilen plaudert er wie nur je ein charmanter Conférencier. Und wahrlich: Schon nach wenigen Sekunden hat er das eh schon außerordentlich lachbereite Publikum da, wo er es haben möchte. Ein Phänomen, diese Präsenz.

Ein klein wenig wie ein großväterlicher Freak sieht er jetzt aus, dieser geborene „Ruhri“; aus Mülheim, nach Dortmunder Lesart beinahe schon exotisches Ausland. Aber verdammt noch eins, die Art seines Humors weckt in den hiesigen Breiten tatsächlich auch eine Art Heimatgefühl. Jawoll.

Klar, er ist ein begnadeter Komiker der unverwechselbaren Art. Er ist ein Entertainer sondergleichen, der bei aller Sprachspielerei auch dem Nonverbalen Raum lässt. Einmal legt er einen Stepptanz aufs Parkett, nachdem er auf den sauglatten Klacker-Schuhen wie übers Eis geglitten ist, panisch mit den Armen rudernd. Für einen Moment vollführt er plötzlich die Bewegung eines Eisschnellläufers. Eine quasi-olympische Sekunde: kaum geschehen, schon verweht. Anhaltendes Kichern im Saale.

Vor allem aber ist Helge Schneider ein reich begabter Musiker, der sich offenbar jedes, aber auch jedes Instrument schnell erschließt. Wenn er solo oder mit seinen beiden – in Ehren ergrauten – musikalischen Begleitern Rudi Olbrich (Kontrabass) und Peter Thoms (Schlagzeug) klassischen Jazz spielt, dann swingt es wie bei den Größen der Zunft. Vor allem der „geile Rudi“ (O-Ton Schneider) lässt sich manchen Scherz auf seine Kosten gefallen. Übrigens: Olbrich und Thoms seien alte Freunde, und das sei – wie Schneider verrät – auch besonders kostengünstig. Hähähä.

Helge Schneider (li.) und seine musikalischen Mitstreiter Rudi Olbrich (Mi.) und Peter Thoms. (Foto: www.helge-schneider.de)

Helge Schneider (li.) und seine musikalischen Mitstreiter Rudi Olbrich (Mi.) und Peter Thoms. (Foto: www.helge-schneider.de)

Auch wenn Helge Schneider zur Gitarre greift und dazu stilsicher übertriebene Essenzen französischen, spanischen oder auch chinesischen Liedguts knödelt, wenn er dann herzzerreißend simultan Klavier und Panflöte spielt („As Time Goes By“) oder das Letzte aus einem Cello herausholt (pickende Vögel etc.), so erweist sich jeweils aufs Köstlichste, wie erzmusikalisch er ist. Solche Parodien kann man nur liefern, wenn man ein Instrument wirklich beherrscht.

Apropos Jazzgrößen. Ein Bringer und Brüller des Abends ist jene windungsreiche Erzählung von anno 1974, als er mit 19 Jahren erstmals in Berlin war und beim Jazzfest Duke Ellington sehen wollte. Immer wieder schweift Helge Schneider zu seiner „Omma in Düüsburch“ ab. Schließlich führen die Erzählpfade doch wieder nach Berlin, genauer: oben auf den Doppeldecker-Bus zum Sightseeing. Und jetzt aber: Steigt doch unten ein Mann zu, der… Duke Ellington ist. Und setzt sich auch noch neben ihn. Wahnsinn. Man denke. Der große Duke Ellington. Schließlich nimmt der junge Helge allen Mut zusammen und knufft den Nachbarn in die Seite – und da ist es gar nicht Duke. Unglaublich! Unverschämtheit! Diese impertinente Person ist nicht nur nicht Duke Ellington, sondern sogar eine Frau, die Gemüse gekauft hat. Die Porreestange guckt aus ihrer Tasche… Aber bitte: Das alles kann man eigentlich gar nicht nachbeten, das muss man vom Meister selbst hören.

Das laufende Tourneeprogramm heißt derzeit „Ene mene mopel“, hebt aber nirgendwo auf den alten, bekanntlich etwas ekligen Kinderreim ab. Wie aus Bausteinchen, so setzt Helge Schneider seine Abende immer wieder neu und anders zusammen. Damals in Paderborn hat er beispielsweise eine herrlich ausgiebige Parodie auf Udo Lindenberg hingelegt, diesmal lässt er nur aufblitzen, dass er halt auch den Udo perfekt imitieren kann. Und überhaupt.

Ein paar seiner Nonsens-Klassiker stimmt er gleichfalls an, beispielsweise den Song von der „Wurstfachverkäuferin“ oder das ebenso wahnwitzige „Es gibt Reis, Baby“. Das über die Maßen strapazierte „Katzeklo“ lässt er hingegen nur ganz kurz anklingen, um daraus eine aber nun wirklich ganz und gar rührselige Geschichte von einer armen alten Frau und ihrer Katze fortzuspinnen. Da kommen einem die Tränen zwischen Lachen und Weinen. Aber echt jetzt.

Weitere Tournee-Termine/Karten:
http://www.helge-schneider.de/termine/all




Nur der Putz hält noch die Wand: Das vierte Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow in Dortmund

Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk.

Dortmunds Orchesterchef Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk

Nicht jedes Gespräch muss inhaltsschwer sein. Manchmal macht es Spaß, nur zu reden und zu hören, dem Klang der Worte und Stimmen zu lauschen, mit Nichtigkeiten Sympathie, Witz und Ironie oder die pure Freude am Zusammensein auszudrücken. Oder, um es platt und treffend zu sagen, einfach vor sich hinzuquatschen. Wer in eine solche Unterhaltung verwickelt ist, mag Freude daran haben, wer außen steht, wundert sich vielleicht, oder fragt sich, was das soll.

So ähnlich geht es dem Hörer von Sergej Rachmaninows Viertem Klavierkonzert. Orchester und Solist quatschen munter drauflos, tauschen Allgemeinplätze aus, versteigen sich manchmal in eine abgelegene Modulation, in eine spitz-würzige Pointe der Instrumentation, setzen zu einer Melodie an, die sie bald wieder vergessen, spielen mit Bausteinen, aus denen andere Komponisten Wunderwerke errichten. Rachmaninow nicht: Sein letztes Klavierkonzert von 1927 ist, möglicherweise aufgrund des Kürzens und Überarbeitens im Schaffensprozess, nicht viel mehr als ein buntes, die Farben und Formen ständig weiterklickendes Kaleidoskop.

Dass dieses Konzert im Programm der Dortmunder Philharmoniker auftauchen musste, ist klar: Ihr Chef Gabriel Feltz hat eine tiefe Verbindung zu dem oft unterschätzten Komponisten, dokumentiert durch mehrere Konzerte und CD-Aufnahmen: Gerade ist die neue Platte mit der Dritten Sinfonie erschienen; Feltz hat sie nach dem Konzert eifrig beworben und im Foyer des Konzerthauses signiert.

Der Pianist Alexander Krichel. Foto: Uwe Arens/Sony Classical

Der Pianist Alexander Krichel. Foto: Uwe Arens/Sony Classical

Aber das g-Moll-Klavierkonzert wird kein Ruhmesblatt in dieser Liebesbeziehung bleiben: Schon zu Beginn deckt das Orchester die eigentlich kraftvollen Akkorde des Pianisten zu; von musikalischer Feinarbeit kann auch im weiteren Verlauf nicht die Rede sein. Die wenigen interessanten Momente des Stücks, etwa die sehnsuchtsvollen, an Dvořák gemahnenden Holzbläserstellen, ein paar harmonisch aparte Überleitungen oder rhythmischer Pep sind zugetüncht von sämiger Klangfarbe, als wolle Feltz zeigen, dass es nur der Putz ist, der die Wand noch aufrecht hält.

Solist Alexander Krichel stand von vornherein auf verlorenem Posten. Mit nobel hanseatischem, etwas unterkühltem Ton kommt er den Orchesterwogen ebenso wenig bei wie den virtuosen Leerstellen des Konzerts. Mal auf, mal ab, mal quirlig fingerfertig, dann wieder mit anfliegendem Pathos – und das alles melodisch reizlos: Krichel gewinnt dem Werk nichts ab, steht aber damit nicht allein. Schon andere Pianisten haben sich damit ohne Erfolg das Elfenbein von den Tasten geschubbert. In einigen Details – mir blieben wunderschöne Arpeggi oder glanzvoll und fein durchleuchtete Piani im Gedächtnis – lässt Krichel seine Klasse aufblitzen. Wenn er am 9. März in der Stadthalle in Mülheim/Ruhr das Fünfte Klavierkonzert Ludwig van Beethovens spielt, kann er sicher mehr zeigen.

Soeben erschienen: Rachmaninows Dritte vervollständigt den Zyklus der Symphonien des Komponisten, aufgenommen von den Dortmunder Philharmonikern unter Gabriel Feltz. Cover: Dortmunder Philharmoniker

Soeben erschienen: Rachmaninows Dritte vervollständigt den Zyklus der Symphonien des Komponisten, aufgenommen von den Dortmunder Philharmonikern unter Gabriel Feltz. Cover: Dortmunder Philharmoniker

Viel wohler fühlen sich beide Seiten des Saales offenbar bei Rachmaninows „Sinfonischen Tänzen“ op.45. Auf einmal klart sich der Klang der Dortmunder Philharmoniker auf, werden im sich lichtenden Nebel Konturen deutlich, zeichnet sich die Musik plastisch durch. Die Holzbläser haben bis in die tiefsten Schründe von Bassklarinette und Kontrafagott luzide Momente, die Violinen phrasieren frei und süffig glühend, das Saxophon schmeichelt, aus dem Schlagzeug sprühen Triangelschaum, Tamburinglitter, die zischenden Fontänen der Becken und das finale Dröhnen des Tamtam.

Feltz bezieht dieses Spektrum der Klänge sinnig aufeinander, lässt die Dynamik elastisch und frei atmen wie das Aufrauschen von Wellen am Strand, die sich türmen und verebben. Zu Beginn, in Rachmaninows „Toteninsel“, will ihm das noch nicht gelingen: Da hat er eher den Bogen der Dramaturgie als die Klangdetails im Orchester im Blick.

Im Sechsten Philharmonischen Konzert am 13. und 14. März 2018 im Konzerthaus Dortmund dirigiert Gabriel Feltz Anton Bruckners Achte Symphonie.




Das nahezu Unmögliche wagen mit Girl Crazy und Lulu – Barbara Hannigan dirigiert in Dortmund und singt dazu

Barbara Hannigan dirigiert stets ohne Taktstock. Foto: Pascal Amos Rest

Sie dirigiert ohne Taktstock, ihre Arme reichen weit in den Raum hinein, in ständiger, oft rotierender Bewegung, als drehe sie an einem großen, imaginären Klangrad. Ein wenig hemdsärmelig wirkt das bisweilen, doch überwiegt der Eindruck des steten Fließens im Fortgang der Musik, gespeist aus tänzerischer Körpersprache.

Wenn Barbara Hannigan, exzellente Sopranistin und seit 2010 auch Dirigentin, sich der tönenden Emotionalität hingibt, wird ihre Zeichengebung entsprechend ausladender. Gezielte Einsätze für bestimmte Instrumentengruppen müssen dann der Wirkmacht des Ganzen weichen. Der Sinn für Details ist gleichwohl ausgeprägt, wie auch Hannigan bei stark rhythmisierten Passagen verbindlicher führt, mit kleinteiligerer Gestik.

Im Konzerthaus Dortmund hat nun die kanadische Künstlerin mit der Wunderstimme fürs moderne Fach, mit Sinn fürs Wagnis, ohne klassische Dirigierausbildung für sich das Pult zu erobern, das große Staunen entfacht. Weil Barbara Hannigan den Takt vorgibt und gleichzeitig singt, und dies mit einer kessen Selbstverständlichkeit, die an Chuzpe grenzt. Und weil sie, im Falle von George Gershwins „Girl Crazy“-Suite, reichlich Showtalent beweist, um das Publikum von den Stühlen zu holen. Wobei dringend hinzugefügt werden muss, dass das niederländische Orchester namens Ludwig, ein Klangkörper von gehöriger Qualität, daran beherzt mitwirkt.

„Ludwig”, erst 2012 gegründet, hat in seinem Bestreben, mit außergewöhnlichen Programmen, ja ausgefeilten Konzepten den konzertanten Routinebetrieb aufzubrechen, in Hannigan eine risikofreudige Mitstreiterin gefunden. Und so erklingt in Dortmund zunächst „Syrinx“ für Flöte solo von Claude Debussy, Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ in der Streichorchesterfassung sowie die „Lulu“-Suite Alban Bergs, ehe Gershwins vertraute Songs aufblitzen. Freilich: Alle Werke blicken auf Frauengestalten und deren Geschichten in verschiedenster Couleur, wobei es nicht um Nacherzählung, sondern um die Darstellung emotionaler Befindlichkeiten geht. Und am Ende wissen wir, „Girl Crazy“ ist eines von Hannigans markanten Markenzeichen. Ja, ein wenig verrückt wirkt dieser Abend.

Dabei beginnt alles sehr sanft, geschmeidig, wohltuend ruhig. Ingrid Geerlings gestaltet wunderschön, mit langem Atem und in feiner Differenzierung Debussys Flötenstück um die Nymphe Syrinx, die vor den Nachstellungen Pans flieht, sich in ein Schilfrohr verwandeln lässt, das Pan wiederum zur Flöte formt. Die Musik fließt frei, gewinnt an Dringlichkeit, um sich allmählich zu verlieren. Ganz dunkel ist der Saal, um die mythische Wirkung des Klangs zu verstärken. Magisch, bei aufkeimender Helligkeit, gelingt sodann der nahtlose Übergang zu Schönbergs „Verklärter Nacht“.

Singen und dirigieren zugleich: Barbara Hannigan gibt alles. Foto: Pascal Amos Rest

Auch hier sanfter Beginn, mit einer absteigenden Figur, die indes ziemlich finster wirkt. Abrupte dynamische Wechsel, zunehmendes Tempo, bisweilen aggressiv flirrende Tremoli und harsche Klänge geben dem Stück enorme Dramatik. Dann plötzlich lichtet sich die Szenerie, feine Silberfäden ertönen, eine zunehmend (ungebremste) emphatische Stimmung gewinnt die Oberhand.

Schönberg komponierte pure Emotion, noch weit entfernt von seinen 12-Ton-Konstrukten, im Sinne des Dichters Richard Dehmel. Dessen Versvorlage schildert die Beichte einer Frau, die ihrem Geliebten gesteht, von einem Fremden schwanger zu sein. Ihre Angst schwindet indes, als der Geliebte versichert, das Kind wie sein eigenes aufziehen zu wollen. Das Orchester wiederum kann diesen Schwebezustand zwischen Bangen und Hoffen stark umsetzen, wenn auch mit kleinen rhythmischen Schwächen. „Ludwig” schwelgt in satten und fahlen Streicherfarben, der letzte Zauber der Verklärung aber bleibt uns das Ensemble schuldig.

Umso wuchtiger, von elementarer Kraft, tritt es uns, erweitert um Bläser, Harfe und Schlagwerk, mit Bergs „Lulu“-Suite entgegen. Das fünfteilige Extrakt aus der gleichnamigen Oper atmet sowohl hymnische, dekadente Sinnlichkeit als auch die Düsternis des katastrophischen Finales (Lulu wird von Jack the Ripper erstochen). Inmitten das Lied der Lulu, von Barbara Hannigan mit elastischer, höhensicherer Stimme gesungen.

Doch sogleich wird evident, dass singen und dirigieren eine nahezu unmögliche Kombination ist. Die Bewegungen der Frau am Pult wirken unschlüssig in ihrer Mischung aus Orchesterleitung und Rollencharakterisierung. Mit zumindest einer gravierenden Folge: „Ludwig” ist zu laut, die dynamische Balance stimmt nicht. Das gilt auch für die Gershwins-Songs, obwohl Hannigan sich inzwischen mit Mikroport verstärkt hat. Das Ensemble ist einfach zu pompös besetzt. Bergs Suite kommt im übrigen etwas pauschal daher, manche motivische Facette bleibt unterbelichtet, die Eruptionen überwältigen nicht, sind vielmehr demonstrativ wuchtig.

Aber letzthin läuft sowieso alles auf die Gershwin-Show hinaus, mit dem finalen Hit „I got rhythm“. Dann stilisiert sich die singende Dirigentin zur triumphierenden Hollywood-Ikone, die Hand zum Himmel gestreckt. Fixe Rhythmik, Lautstärke und Pose – das hat noch immer gereicht, das Publikum aus der Reserve zu locken.

Ungeachtet dessen ist Barbara Hannigan eine nicht unbedeutende Symbolfigur für die stärker als zuvor ins Bewusstsein rückende Tatsache, dass viele Frauen entschlossen und mit Erfolg Kurs nehmen auf das Pult vor dem Orchester. In Wuppertal ist Julia Jones Chefin, Joana Mallwitz wird Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg, Mirga Grazinyté-Tyla hat jüngst im Konzerthaus Dortmund mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra eine außergewöhnliche „Pastorale“ dirigiert. Um nur eine klitzekleine Auswahl zu nennen.




Musik aus den Nachkriegsjahren: Sir Simon Rattle und das London Symphony Orchestra im Konzerthaus Dortmund

Sir Simon Rattle ist seit der Saison 2017/18 Music Director des London Symphonic Orchestra (Foto: Pascal Amos Rest)

Tiefer Zweifel und innere Heimatlosigkeit klingen aus mancher Musik, die kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand. Richard Strauss, verstrickt mit dem nationalsozialistischen Regime, komponierte seine „Metamorphosen“ 1945 in der Schweiz. Seine Heimatstadt München, sein geliebtes Wien, sein verehrtes Dresden lagen da bereits in Schutt und Asche.

Im Sommer 1947 las Leonard Bernstein ein Gedicht von Wystan Hugh Auden, das seiner 2. Sinfonie Inhalt und Titel gab: „The Age of Anxiety“, das Zeitalter der Angst, nahm Gestalt an.

Im Konzerthaus Dortmund spielt das London Symphony Orchestra unter seinem neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle zudem Auszüge aus Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“. Brennende, aber unerlöste Sehnsucht, umrahmt vom grüblerischen Pessimismus der beiden Nachkriegswerke: So rundet sich ein intelligent durchdachtes Programm, das der inflationären Flut weihnachtlicher Barock-Konzerte einen wuchtigen Akzent entgegen setzt.

Wehmut ohne jede Süße

Im Stehen spielen die Geiger und Bratscher der Londoner Symphoniker die Strauss-Metamorphosen. Sir Simon dirigiert inmitten der 23 Solo-Streicher, ohne Podest und ohne Taktstock, formt die Musik mit bloßen Händen. Mit den ersten, weltabgewandten Takten der Celli beginnt die Musik zu strömen, transparent und fragil bis zur Brüchigkeit. Uns tönt eine morbide Textur entgegen, eine Wehmut ohne jede Süße, denn die verweigern Simon Rattle und seine Musiker mit bitterer Konsequenz. Aus ist es mit dem Arabella-Schmelz, vorbei jede Rosenkavaliers-Süße. Das alles hat diese Musik weit hinter sich gelassen.

Sir Simon Rattle bei seinem Auftritt im Konzerthaus Dortmund (Foto: Pascal Amos Rest)

Dann leuchtet der Tristan-Akkord auf, schwebt rätselhaft und unerlöst im Raum, jede Bindung an die Tonalität abweisend. Das Orchester, jetzt in großer Besetzung, erfüllt Wagners mystische Nachtmusik mit dunklem, sattem Streicherklang, den die Holzbläser zuweilen durch ein silbernes Leuchten krönen.

Nicht alle Musiker scheinen sofort mitzukommen, als Simon Rattle dieses Drängen und Schmachten mit furios angezogenem Tempo zum nachgerade manischen Höhepunkt treibt. Aber wen kümmert das angesichts dieser schier endlosen Brandung, die schließlich in eine harfenumrauschte Verklärungsmusik mündet, in den Liebestod der Isolde.

Glückssuche in Krisenzeiten

Indes hört die Menschheit auch in Krisenzeiten nicht auf, nach ein wenig Glück und Glaubensgewissheit zu suchen. Davon erzählt Leonard Bernstein in seiner 2. Sinfonie, die sich an diesem Abend als unterschätztes, viel zu selten gespieltes Meisterwerk entpuppt.

Krystian Zimerman spielte im Konzerthaus Dortmund den Klavierpart in Leonard Bernsteins 2. Sinfonie mit dem Titel „The Age of Anxiety“ (Foto: Felix Broede/DG)

Punktgenau und intensiv zeichnet das London Symphony Orchestra ein Psychogramm von vier Personen, die sich während des Krieges in einer New Yorker Bar kennen lernen und versuchen, den miserablen Zeiten zu trotzen. Mäuschenstill wird es im Saal, wenn die Musik in die Abgründe der Seele steigt, wenn wenige Töne genügen für einen großen Trauergesang. Aber es gibt auch kraftvolle Ausbrüche mit Pauken und Blech und Tamtam, eine faszinierende Palette von Klangfarben, die von den Musikern virtuos bedient wird.

Krystian Zimerman, der an diesem Abend den Klavierpart übernimmt, will erkennbar nicht als Solist glänzen. Der polnische Pianist, der das Werk bereits 1986 unter der Leitung von Leonard Bernstein spielte, hat die Partitur ohne Zweifel vollkommen verinnerlicht. Bestechend die tiefe Wahrhaftigkeit seines Ausdrucks, Ehrfurcht gebietend die Grandezza, mit der er Akkorde aufrauschen lässt, hinreißend die fingerfertige Nonchalance, mit dem er durch das jazzige Finale tänzelt. Zimerman, der Purist, der Perfektionist, der Klangfarbenzauberer, sucht den Dialog mit dem Orchester, stellt sich ganz in den Dienst der Sache. Mit einer Zugabe lächelnd an Leonard Bernstein erinnernd, verneigt er sich als Großer vor einem Künstler, der unvergessen bleiben wird.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen).

Informationen zum Programm des Konzerthauses Dortmund unter https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/konzertkalender/




Er kann’s noch! – Gerhard Polt und die Well-Brüder in Dortmund

Er kann’s noch. Und wie! Wenn er – scheinbar leutselig – von seinem Nachbarn (mit leicht verächtlichem Tonfall: „ein Künstler“) erzählt, der sich nicht an die im Viertel geltende Grillverordnung hält, dann muss man zwar lachen, aber es könnte einem auch kalt den Rücken herunterlaufen, so gemütlich-gefährlich wirkt dieser überwachwütige Mann.

Weisheit und Witz: Gerhard Polt. (Foto: Mario Riener)

Weisheit und Witz: Gerhard Polt. (Foto: Mario Riener)

Ja, wir reden von Gerhard Polt, der jetzt im feinen Rahmen des Dortmunder Konzerthauses mit famoser musikalischer Begleitung auftrat. Die drei „Well-Brüder aus’m Biermoos“ beherrschen nicht nur alle möglichen Instrumente von der Querflöte bis zum Alphorn, sie überschreiten auch spielerisch manche Gattungsgrenzen zwischen gehobener Folklore, Jazz und Klassik. So dargeboten, ist das bajuwarische Musikidiom durchaus satisfaktionsfähig – auch international, etwa im ebenbürtigen Dialog mit schottischem Folk.

Wie soll man Polt eigentlich nennen? Einen Comedian? Ist er nicht. Einen Satiriker? Naja, vielleicht auch. Einen Volkskünstler im besten Sinne? Das schon eher. Polt ist eben Polt und sucht Seinesgleichen. An der eigentlich müßigen Benennungsfrage beißt man sich eh die Zähne aus.

Solche Sätze über finstere Gepflogenheiten muss man jedenfalls erst einmal hinbekommen: „Das Köpfen ist doch ein alter Hut…“ Oha!

Wie scheinbar arglos er dann von der Leber und gleichsam vom Leberkäs weg redet. Wie er den gütigen Großvater gibt, der seinem Enkel („Bubi“) die rechte „Demokratie“ beibringen will, die selbstredend von strikter Leitkultur und Schlimmerem geprägt ist. Die möglichen Folgen sind am Ende sogar dem Opa nicht mehr ganz geheuer: Was bastelt der Bub da drüben eigentlich mit seinem Freunden? Es wird doch nichts Brennbares oder Explosives sein?

Gerhard Polt (2. v. li.) und die hochmusikalischen Well-Brüder. (Foto: HP Hösl)

Gerhard Polt (2. v. li.) und die hochmusikalischen Well-Brüder. (Foto: HP Hösl)

In all dem erweist sich Polt als Meister der haarfein unterschiedenen Tonfälle, auch wenn diese selbst schon mal grob ausfallen. Der ins Groteske ausgreifende Duktus eines indischen Bischofs, der in der bayerischen Diaspora den fast schon verschwundenen Katholizismus wiederbeleben soll, steht ihm ebenso zu Gebote wie ein afrikanischer Wechselgesang, der ihn zum überraschend grazilen Tanz animiert. Fast scheint es so, als ob er frohen Sinnes schwebe.

Ist Gerhard Polt (Jahrgang 1942) etwa milder, gelassener und toleranter geworden? Manchmal könnte es einem so vorkommen. Zwar gibt’s im Programm ein paar „Spitzen“ gegen die Herren Seehofer und Söder, doch die muten relativ harmlos an. Man muss ja auch nicht allweil „draufhauen“, das Subtilere geht wahrscheinlich mehr unter die Haut und ins Hirn. Beispielsweise mit der Nummer, in der Polt als – mh, nun ja – irgendwie ein bisschen arg korrupter Landrat vorstellig wird.

Um das Publikum eingangs einzustimmen, haben sich Polt und die Well-Brüder (via Google?) mit ein paar Dortmunder Gegebenheiten vertraut gemacht. Sie wollen halt der „Perle am Ufer des Phoenixsees“ gerecht werden, streuen ein paar fußballerische Bemerkungen ein und versichern aber so was von glaubhaft, dass das Dortmunder Publikum deutlich besser sei als jenes in Gelsenkirchen.

Später haben wir dann – mindestens ebenso glaubhaft – gelernt, dass der ruhmreiche Händel einst durchs vielfach angepriesene oberbayerische Örtchen Hausen (Heimat der Well-Brüder) gereist sei und daselbst flugs eine „Feuerwehrmusik“ komponiert habe, die nun zum 125jährigen Jubiläum der Freiwilligen Feuerwehr zu Gehör gebracht wird. Ein Schlawiner, dieser Händel. Oder hat jemand Einwände?

Langer und herzlicher Beifall.

Und wohin kommen sie noch auf ihrer Tournee? Hier kann man nachschauen: https://polt.de/termine/




Erstmals Intendant: Raphael von Hoensbroech wechselt im September 2018 vom Berliner Konzerthaus nach Dortmund

Dr. Raphael von Hoensbroech (Mitte) mit Kulturdezernent Jörg Stüdemann und Bürgermeisterin Birgit Jörder, Vorsitzende des Aufsichtsrats des Konzerthauses Dortmund. (Foto: Anja Kador/Dortmund Agentur)

Ein Schächtelchen Schokolade gab es als Willkommensgeschenk. „Das BVB-Trikot haben wir ihm ersparen wollen“, witzelte Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann, als er im Hanse-Saal des Rathauses den Mann begrüßte, der vom 15. September 2018 an neuer Intendant und Geschäftsführer des Konzerthaus’ Dortmund wird: Dr. Raphael von Hoensbroech, 40 Jahre alt, promovierter Musikwissenschaftler, Unternehmensberater und derzeit noch Geschäftsführender Direktor des imposanten, von Karl Friedrich Schinkel gebauten Berliner Konzerthauses am Gendarmenmarkt. Vor versammelter Presse unterzeichnete der Musik-Enthusiast mit den zwei Dehnungsvokalen im Namen einen Sechs-Jahres-Vertrag, der ihm erstmals die Position eines Intendanten sichert.

Warm, aber inhaltlich wolkig blieben die Worte, mit denen Dr. von Hoensbroech seinen Blick auf Dortmund und seine kommende Tätigkeit richtete. Noch ist es zu früh für Konzepte, für eine eigene Handschrift gar, zumal die Spielzeit 2018/19 noch komplett von seinem Vorgänger Benedikt Stampa geplant wurde, der als Intendant an das Festspielhaus Baden-Baden wechselt.

So viel immerhin wird deutlich: Der 1977 in Tokio geborene, in Köln und Arnsberg aufgewachsene Kulturmanager ist keiner, der das Rad mit Gewalt neu erfinden will. Er formuliert den (wenig überraschenden) Anspruch, das Publikum emotional bewegen zu wollen, das Haus gut zu vermarkten, es mit allen Partnern, Sponsoren und Kooperationspartnern gut zu vernetzen und stets kreativ nach vorne zu denken. Am eingespielten Team der Mitarbeiter will er festhalten.

Konkrete Aussagen zu Inhalten und Konzertformaten trifft der Neue vorerst nicht. Immerhin bejaht er auf Nachfrage, am bisher gepflegten Geist der Kooperation mit der Philharmonie Essen festhalten zu wollen, der im Februar dieses Jahres mit der „Ruhr Residenz“ der Berliner Philharmoniker einen glanzvollen Höhepunkt erreichte. Auch möchte er weiterhin konzertante Opernaufführungen im Konzerthaus realisieren.

Raphael Graf von und zu Hoensbroech, Spross einer alten limburgischen und später niederrheinischen Adelsfamilie, spricht verhalten im Ton und in der Sache. Er wirkt wie einer, der lieber zu wenig sagt als zu viel. Erst, als er über Musik spricht, beleben sich Gestik und Tonfall. Er, der bereits mit drei Jahren Geige lernte und auf dem besten Wege war, professioneller Dirigent zu werden, entschied auch aus familiären Gründen, in die Welt der Wirtschaft abzubiegen. Vier Söhne und eine Tochter hat er mit Ehefrau Christina, die an diesem Tag der Vertragsunterzeichnung ebenfalls nach Dortmund gekommen ist. Der Umzug von Berlin nach Dortmund ist bereits beschlossene Sache.

Das Konzerthaus Berlin hat mit 1.420 Plätzen im großen Saal eine ähnliche Größe wie das Dortmund Konzerthaus mit seinen rund 1.500 Plätzen. Ein eigenes Orchester wie in Berlin besitzt die Philharmonie für Westfalen freilich nicht. Von Hoensbroech wirkt am lebhaftesten, wenn er von magischen Momenten im Konzertsaal spricht: von knisternder Live-Atmosphäre, von der Spannung nach dem letzten Ton, in die niemand hinein applaudieren sollte. Solche Momente will er ermöglichen, will dafür die richtigen Künstler und die richtige Programmatik auswählen. Wir sind gespannt.




In Wagners Welt: Marek Janowski dirigiert eine sensationelle „Rheingold“-Aufführung im Konzerthaus Dortmund

Götter unter sich: Loge (Daniel Behle), Donner (Markus Eiche), Froh (Lothar Odinius) und Wotan (Michael Volle, v.l.. Foto: Pascal Amos Rest)

So ist es wohl häufig im Leben: Große Momente pflegen sich nicht lautstark anzukündigen. Längst war bekannt, dass Dirigent Thomas Hengelbrock die Leitung der konzertanten Aufführung von Richard Wagners „Rheingold“ mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester aus Krankheitsgründen abgeben musste.

Im Voraus konnten sich womöglich enttäuschte Hengelbrock-Fans damit trösten, dass statt seiner Marek Janowski am Pult stehen würde, ein Opernmann durch und durch, in Sachen Richard Wagner so erfahren wie gefeiert. Auch hatte der Blick auf die Sängerbesetzung verraten, dass mit Michael Volle als Wotan und mit Johannes Martin Kränzle als Alberich Exzellentes zu erwarten sei.

Was sich dann aber abspielt im Konzerthaus Dortmund, der zweiten Station der bald in Baden-Baden endenden Aufführungsserie, gleicht einem Märchen. Denn in den folgenden zweieinhalb Stunden hören wir nicht einfach Musik. Vielmehr baden wir in goldgrünen Fluten, fliegen hinauf zu den Göttern, rasen in höllischer Fahrt hinab in Unterwelten und werden Teil eines phantastischen Spiels, in dem es um Alles geht, um Untergang oder Fortbestand der Welt. Wir sind nicht dabei, wir sind mittendrin.

Ein Opernmann durch und durch: Marek Janowski übernahm die Aufführungsserie für Thomas Henbelbrock. (Foto: Pascal Amos Rest)

Marek Janowski, das Elbphilharmonie Orchester und ein unglaublich stark besetztes Sänger-Ensemble haben uns komplett im Griff. So bestechend dicht ist diese Aufführung, so über die Maßen plastisch und bildhaft im Klang, dass sie filmische Qualitäten erreicht. Da wogen die Wellen, da lodern die Flammen, und 18 Ambosse auf der Chorempore hämmern uns – live! – den Sound von Nibelheim ins Ohr. Das Orchester klingt unter Janowskis Leitung wie ein Naturereignis: wogend und sausend, flirrend und brausend, gleichwohl niemals lärmend.

Johannes Martin Kränzle sorgt als Alberich für Gänsehaut-Momente. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nicht von dieser Welt scheint auch, was Michael Volle als Wotan und Johannes Martin Kränzle als Alberich vollbringen. Einen Göttervater mit solch überragender stimmlicher Autorität findet man kaum noch einmal. Das Volumen dieses Sängers lehrt das Staunen: Sein Wort, seine Stimme sind Gesetz. Johannes Martin Kränzle scheint als Alberich in die Fußstapfen des legendären Gustav Neidlinger treten zu wollen. So dämonische Züge er dem Schwarzalben einerseits gibt, so zeigt er ihn andererseits auch als bedauernswerten, stets verachteten Tropf. Seine warme, höchst facettenreiche Interpretation ist ein Lehrstück, wie aus Verbitterung allmählich Bosheit wird.

Triumph für ein großartiges Sänger-Ensemble (Foto: Pascal Amos Rest)

Welcher Hörgenuss auch vom Rest des Ensembles! Zum Beispiel von einer Fricka, die lyrisch-dramatisch singt statt hysterisch zu keifen (Katarina Karnéus), von einer Erda, die Wotan mit herrlich warm timbrierter Altstimme warnt (Nadine Weissmann), von zwei wunderbar stimmstarken Riesen (Christof Fischesser und Lars Woldt) und von drei Rheintöchtern, die Jubel und Übermut trefflich in Angstgeschrei und Klage umschlagen lassen (Mirella Hagen, Julia Rutigliano, Simone Schröder). Niemand stemmt, niemand forciert, niemand verfällt ins Deklamieren, auch nicht Donner und Froh, die ihre Kraft stets hell und leuchtend ins Spiel bringen (Markus Eiche und Lothar Odinius). Was macht es da schon, dass Elmar Gilbertsson als Mime ein wenig zur Überzeichnung neigt. Das letzte Wort behält Loge, der unstete Halbgott des Feuers. Daniel Behle gibt ihm wendige Eleganz, herrlich zwielichtigen Charme und die leisen Untertöne eines Zynikers, der sich stets ein Hintertürchen offen hält.

Ein laut jaulender Aufschrei der Begeisterung zerreißt die Stille nach dem Schlussakkord. Eine Männerstimme? Oder eine Frau? Wer weiß. Einen Wimpernschlag später toben auch die anderen los. Marek Janowski, in den Jahren 1975 bis 1979 GMD am Theater Dortmund, kehrt im größtmöglichen Triumph zurück.