Langes Ringen um Stückepreis: Knapper Mülheimer Jury-Entscheid für Tankred Dorst mit Pfuirufen quittiert

Von Bernd Berke

Mülheim. Abgekämpft betraten die acht Herren der Jury gegen 0.15 Uhr die Mülheimer Stadthallen-Gaststätte und ließen ihr Urteil hören: Nach sechsstündiger, kontroverser Diskussion hatten sie Tankred Dorst für sein Stück „Korbes“ den Mülheimer Dramatikerpreis 1989 verliehen.

Die unter Zeitdruck unglücklich formulierte Begründung (Dorst behaupte in seinen „holzschnittartigen“ Szenen „das Böse als unveränderbare Macht“) ging beinahe in Pfiffen und „Pfui“-Rufen unter. Fünf zu vier lautete das denkbar knappe Abstimmungsergebnis; die neunte Stimme kam vom Publikum und ging (einmal mehr) an Botho Strauß, für dessen Stück „Besucher“.

Es war eine wirklich schwere Entscheidung. Keines der sechs vorgeführten Stücke drängte sich ohne weiteres auf, wie auch Jury-Mitglied Guido Huonder (Dortmunds Schauspielchef) betonte. Doch mit dem Votum für Dorst kann man, wie ich finde, einverstanden sein. Wie an dieser Stelle bereits beschrieben, ist „Korbes“ ein Passionsstück von irritierender Kraft.

Ästhetizisten mögen Gisela von Wysockis Theater-Analyse „Schauspieler, Tänzer, Sängerin“ vorziehen, doch hier klaffen essayistischer Text und sinnliche Aufführung dermaßen auseinander, daß man den Stückepreis geradezu neu hätte definieren müssen. Dann aber könnte er künftig z. B. auch für Choreographien von Pina Bausch vergeben werden. Gänzlich indiskutabel erschien mir Rainald Goetz‘ spätpubertäres Gezeter namens „Kolik“, ein Pfusch nach Art mancher „Neuer Wilder“ in der Malerei. „Besucher“ von Botho Strauß, den manche ja gern als „unseren besten Boulevard-Autor“ bezeichnen, ist gewiß das unterhaltsamste Stück, verliert sich aber passagenweise allzu sehr in raunender Bedeutsamkeit.

Der kleinste gemeinsame Nenner für Jury und Publikum wäre vielleicht Peter Turrinis Stahlkocher-Stück „Die Minderleister“ gewesen. Dieser Text geht am entschiedensten auf die uns umgebende Wirklichkeit – die nicht unbedingt Wahrheit bedeuten muß – ein. Freilich steigert Turrini die Realität bis ins Kabarettistische oder überblendet sie mit Schockbildern aus dem Trivialbereich. Alfred Kirchners Burgtheater-Inszenierung und den Darstellern ist es zu danken, daß Turrinis Einläßlichkeit auf Sichtweisen von Horror- und Porno-Videos nicht in bloße Pein abgleitet. Überdies hat der Text einige Längen und – mit dem Werksbibliothekar „Shakespeare“ – eine im Grunde verzichtbare Figur, die das Ganze offenbar doch noch künstlich in literarische Höhen hieven sollte.

Mit einer Entscheidung für Thomas Braschs „Frauen — Krieg — Lustspiel“, das bis zuletzt in der Jury-Diskussion war, hätte man auch leben können. Der pazifistische, aber keineswegs flach-propagandistische Text, in Mülheim am Schlußtag von „stücke ’89“ in George Taboris Wiener Inszenierung (wunderbar in den Hauptrollen: Angelica Domröse, Ursula Höpfner) gezeigt, ist schon von der Struktur her friedlich. Er steuert weder linear auf sein Thema zu noch ist er von einem beherrschenden Sinnzentrum aus organisiert, sondern sammelt Bruchstücke über die Opferrolle von Frauen im Krieg, über die Dialektik von Liebe im Krieg und Krieg in der Liebe, gleichsam spielerisch „am Wegesrand“ ein. Brasch ist vielleicht unterwegs zu einer zukunftsweisenden Dramaturgie, löst dieses Versprechen aber noch nicht ein. Ein Endlos-Monolog im zweiten Teil grenzt an Schauspieler-Quälerei.

Insgesamt fiel bei „stücke ’89“ ein Übergewicht an stationenartig gereihten Passionen und an Texten auf, die auf das Theater selbst bezogen sind. Und: Keines der Stücke wirkt so robust und widerständig, daß es auch nur mittelmäßige Inszenierungen ertrüge.




Das Theater zertrümmert sich selbst – Drei Stücke beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb

Von Bernd Berke

Mülheim. Da kann man nicht hadern: Die bisherigen vier Inszenierungen beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb waren durchweg hochklassig. Doch die Texte , um die es hier ja geht, sind von recht unterschiedlicher Qualität. Nach dem Auftakt mit Botho Strauß‘ „Besucher“ (die WR berichtete) waren jetzt Stücke von Tankred Dorst, Rainald Goetz und Gisela von Wysocki zu sehen.

Passionsspiel zwischen Bibel, Kroetz und Beckett: Tankred Dorsts „Korbes“ ragt wie ein einsamer Findling in die Stücke-Landschaft. Der Text überspringt kühn die Zeiten: Ein zylindrisches Halbrund, mit kargem Stubenmobiliar schief in ein steinzeithaftes (und apokalyptisches) Bühnen-Universum gestellt, ist passender Spielort der Aufführung des Münchner Residenztheaters (Regie: Jaroslav Chundela).

„Korbes“ (großartig: Wolfgang Hinze) ist ein gottloser Hiob in einer gottverlassenen Welt. Das Stationenstück seiner Leiden wird – Kontrast wie von einem anderen Stern – immer wieder unterbrochen durch Passagen aus Händels „Brockes-Passion“. Doch der „Kreuzweg“ ist alles andere als fromm. Seine soeben gestorbene Frau liegt noch schauerlich verrenkt auf dem Bett, da bespringt Korbes schon die Nachbarin. Erschütternd dann die Szene, in der er merkt, daß er über Nacht erblindet ist. Fortan wird er verlacht und bestohlen, und am Ende kehrt seine als Kind von ihm gequälte Tochter zurück, um eine innige Symbiose aus Pflegedienst und Rache mit ihm einzugehen. Leiden zufügen und selbst leiden werden eins, ballen sich höllisch zusammen. Händels Passion. Trostversuch der Kunst und der Religion zugleich, verhallt da ungehört.

Irritierend, wie das Böse in diesem Stück „einfach da“ ist, ohne jede Erklärung – ganz wie im titelgebenden, rätselhaften Grimm-Märchen über den Herrn Korbes, der von Gegenständen und Tieren zu Tode gepiesackt wird. Dorsts Stück entfaltet in theaterwirksamen Szenen beinahe alttestamentarische Kraft.

Kraftvoll gebärdet sich auch Rainald Goetz mit seinem Einpersonenstück „Kolik“. Doch hier ist es eher kraftgenialisehe Attitüde, die sich in einen Wortschwall sondergleichen ergießt. Die gleichwohl achtbare Bonner Inszenierung (Regie: Peter Eschberg) beginnt mit einem Countdown, dann zischt die Sprachrakete ab. Geleitet von einer Art Wahn- und Zwangssysstem, das er mit siebzehn auf die Tafei geschriebenen Worten markiert, legt der „Mann“ (Giovanni Früh) los, vom Geburtsschrei bis zum Todesröcheln: Er doziert vom Katheder herunter, salbadert, sondert allgemeinsten, zuweilen pubertären Weltschmerz ab und (einzige Regieanweisung) „trinkt“ wie ein Loch. Seine Sätze schwellen an und krampfen sich zusammen: Kolik der Sprache und des Hirns. Ein sehr „deutsches“ Stück, unerbittlich-expressives Trümmerfeld aus Worten. Goetz schlägt wahllos um sich – und trifft doch selten. Wie vermißt man da den Strudel von Thomas Bernhards langsam, aber stetig anbrandenden Haß-Tiraden.

In Gisela von Wysockis „Schauspieler, Tänzer, Sängerin“ (gezeigt vom Schauspiel Frankfurt) zerschmettert das Theater seine Mittel nicht, sondern seziert Techniken und Obsessionen der genannten Bühnenberufe gleichsam bei lebendigem Leibe; ein höchst artifizieller und intellektueller Vorgang. Die Textvorlage enthält essayistische Einsprengsel und einen Fußnoten-Apparat. Regisseur Axel Manthey setzt sich darüber hinweg und macht faszinierend sinnliches, subtile Kraftlinien nachzeichnendes Bilder- und Körpertheater. Frappant die Körperbeherrschung des Tänzers (Stephen Galloway), von genialer „Naivität“ Ulrich Wildgruber als tapsiger Schauspieler. Dieser König der Nuschler, der die Theatermittel eben nicht wie aus dem Bilderbuch beherrscht, kann sie desto befremdlicher ausstellen. Ein interessantes Experiment, doch wohl kein „Stück des Jahres“.