Griechischer Finanz-Krimi: Weiße Rosen waren gestern

Faule Kredite
In die Zeit, in der um die Verabschiedung des zweiten Griechenland-Hilfspaketes gerungen wird, Finanzmärkte stündlich die Farbe wechseln, Anleihen keine Option mehr sind, genau in diese Zeit fällt die deutschsprachige Veröffentlichung von Petros Markaris sechstem „Kostas Charitos“-Roman. In „Faule Kredite“ schickt der Autor seinen Kommissar mitten in die Athener Bankenwelt.

Die griechische Finanzwelt steckt in einer der schlimmsten denkbaren Krisen. Die Stimmung in Athen ist aufgeheizt. Täglich wird auf den großen Plätzen demonstriert, Aufrufe zum Bankenboykott werden in der ganzen Stadt plakatiert. Als ob das nicht Bewährungsprobe genug wäre, erschüttert eine Mordserie an Bankern und Finanziers die Stadt. Vier ranghohe Manager, allesamt Symbolfiguren für Korruption und Mißwirtschaft, werden nacheinander mit einem Säbel enthauptet. Charitos glaubt an einen persönlichen Rachefeldzug. Der Tod in Athen kommt heutzutage auf Kredit und bringt keine mythologisch verklärten Märtyrer mehr hervor. Mit dieser Meinung steht der Herr Kommissar zunächst einmal recht alleine da. So darf er sich zu allem Überfluss auch noch mit der Terrorabwehr mehrerer Staaten, diversen Ministerien und Botschaften herumschlagen. Darüberhinaus ist auch sein Privatleben nicht gerade von Spannungen frei. Die Krise hinterlässt auch hier ihre Spuren.

„Nur die ersten 80 Jahre sind hart. Ab dann hast Du für immer Deine Ruhe“ – sagt Charitos‘ lebenskluge Gattin Adriani. Sein Kollege greift zu noch drastischerem Trost “ ….wir zählen doch zu den PIIGS Staaten. Aber im Schweinestall lebt es sich immer noch besser als im Haifischbecken. Bislang haben wir versucht, dort mitzuschwimmen, aber wir sind kläglich abgesoffen. Schweine können eben nicht schwimmen.“ So kann man die aktuelle griechische Tragödie natürlich auch kurzfassen. Mit diesen und ähnlich schicken Wortbildern läßt Markaris seine Protagonisten über die aktuelle Krise diskutieren und an ihr leiden.

Markaris – intellektueller Weltbürger, einer der wichtigsten Autoren zeitgenössischer griechischer Literatur, als Übersetzer von Goethe und Brecht der deutschen Sprache fließend mächtig – ist durch seine Kostas-Charitos-Krimis europaweit bekannt geworden. Wie kein anderer ist er gerade hierzulande als Interviewpartner gefragt, wenn es darum geht, den Deutschen zu erläutern, wie die Griechen ticken. Nur folgerichtig, dass der Diogenes Verlag die deutschsprachige Veröffentlichung dieses allerersten Romans überhaupt zur Krise auf Anfang Juli vorgezogen hat. Die Zeit, die deutsche Fassung höchstpersönlich gemeinsam mit der sorgsamen Übersetzerin Michaela Prinzinger durchzusehen, hat der Autor sich dennoch genommen. Faule Kredite ist erst der Auftakt. Wie Markaris in mehreren Interviews ankündigte, arbeitet er an einer Trilogie der Krise, welche diese als Alltagsphänomen betrachtet wissen will. Da passt es gut, dass bereits in Teil eins das Renteneintrittsalter für hellenische Polizisten um fünf Jahre heraufgesetzt wurde. Nun hat er also noch genug Zeit, der Brunetti Griechenlands, für die Herkules-Aufgabe, die Krise zu beschreiben und zu reflektieren.

Der Roman ist im Präsens geschrieben. Somit ist klar – an eine Reflexion wagt Markaris sich (noch) nicht. Vielmehr serviert er dem Leser eine kriminaltechnisch aufbereitete Bestandsaufnahme neugriechischer Befindlichkeiten. Markaris erzählt unaufgeregt lakonisch, ohne larmoyant zu sein. Mit einem leichten Augenzwinkern blickt er auf sein Land. Der Zeigefinger ist manchmal mahnend, aber immer charmant erhoben. Sein Resümee ist eher humorvoll satirisch als zynisch resigniert. „Ob Krise oder nicht, die Griechen konsumieren gerne im Voraus, leben gerne von Vorschüssen und Vorauszahlungen. Ein Kredit ist nichts als eine übliche Einnahmequelle.“

Die kriminelle Rahmenhandlung jedoch ist ihm eher Mittel zum Zweck. Die eigentliche Handlung ist streckenweise hölzern konstruiert, Ausflüge in die Halbwelten dopingverdächtiger Leistungssportler und illegaler Migranten erzeugen Längen und erschweren die Abrundung des Plots. Der entlarvte Drahtzieher erweist sich zum Schluß als – wer hätte das gedacht – moralisch bewegter Täter. Nur sein Motiv ist arg weit hergeholt. Nicht umsonst schickt er der Erläuterung seines Motivs den Zusatz „Ich will es Ihnen erklären, obwohl Sie mich möglicherweise nicht verstehen werden“ voraus. Gut verständlich aufbereitet hingegen die sorgfältig recherchierten wirtschafts- und finanzpolitischen Hintergründe.

Das letzte Wort im Roman hat Gattin Adriani: „Da kann die Troika sagen, was sie will. In Athen kann kann Dir Vitamin B das Leben retten“. Ja, so ist das wohl. Weiße Rosen waren gestern.

Petros Markaris: „Faule Kredite“. Diogenes Verlag, Zürich. 397 Seiten. € 22,90




Der Grieche ist mein Bruder

Es ist nicht meine Aufgabe, Experte zu sein, nicht meine Aufgabe, alles wissen zu müssen, speziell, wenn es um das globale Finanzsystem geht. Niemand kennt es. Seit Monaten verfolge ich aber die Berichterstattung zu Griechenland und seiner unabwendbaren Pleite. Und – wie immer – gibt es in jeder Talkshow Experten, wie es Experten in jeder Zeitung gibt und weitere bei weiteren Medien. Alle wissen: Der Grieche muss umrüsten. Die Europäer bezahlen die Abwrackprämie, aber nicht an die Griechen, sondern an das Gebilde Staat. Da kommt niemand mit einem Koffer, holt ihn aus dem Kofferraum und übergibt Bargeld an einen anderen auf einem einsamen Parkplatz. Es sind naturgemäß Banken, die das abwickeln. Und abgewickelt ist durch diese kriminelle Soße vor allem der „kleine Grieche samt seiner Griechin“.
Wenn etwas von niemandem richtig durchdrungen werden kann, dann ist alles möglich und die Politik muss politische Maßnahmen ergreifen. So war und ist das auch mit ETEC.

Schlechte Geschäfte

Natürlich gibt es in Griechenland reiche Kerle. Das wissen wir doch alle, mindestens seit Onassis und seiner Sonnenbrille. Und es gibt eine ganze Reihe berühmter Griechen, die wir alle aus Theaterstücken kennen oder als geflügelte Worte mit uns rumschleppen. Odysseus, ja klar. Bei Zeus! Und alle die Anverwandten und Geblendeten. Wer hat da jemals genau durchgeblickt? Da fing die Verwirrung an.
Das Volk, das gemeine, leidet unter den international vorgeschriebenen Leistungseinschnitten. Die Kultur, die Renten, die Mieten, das Leben. Die Reichen verlegen ihr Geld ins Ausland. Der kleine Angestellte oder der Tänzer, sie müssen den Dreck ausbaden. „Es ist eine Karussell, das niemals mehr anhält“, sagt mein Grieche.

Ich bin nach Griechenland gereist, in den Schuldenolymp, habe Athens Orakel befragt, habe mich mit Zeus und Hades, seinem Bruder, dem Gott der Unterwelt, zusammengesetzt und bei einigen Ouzos die Weltordnung umgekrempelt.
Der Ort der alt-europäischen Dekadenz, das Land der Verschwender und Schuldenmacher.
Das Land der Griechen mit der Seele suchend, schweifte ich umher. Ich, der Retter der hellenischen Nation, der Steuerzahler, der seinen letzten Cent in die Antike steckt, damit sie nicht zusammenbricht. Ich hab das alles mit meinem Griechen vorbesprochen.

Eine open-air Bar. Der Kellner braucht Dekaden, bevor er sich sehen lässt. Fehlt mir die Geduld eines Sisifos? Ich sehe Zeus und Dionysos – mir gegenüber und sie lachen mich aus.
„Du bist zu spät“, singen sie.
„Angenehmes Wetter“, sage ich.
„Die Akropolis ist montags geschlossen“, sage ich.
„Das ist skurril“, singen sie.
„Die sind ja bekloppt“, sage ich.
Und wir enden alle drei in einer Bar, wo man mir Aphrodite vorstellt. Ich bin entzückt, falle aber vom Hocker und wache als Esel wieder auf.

Was hat Griechenland mit dem Ruhrgebiet zu tun? Sehr viel. Mein Grieche kommt zum Beispiel aus Griechenland, andere Griechen auch, ob „Poseidon“, „Akropolis“ oder „Mykonos“.
Otto Rehakles kommt aus Essen. Eine Griechin hat die Kulturhauptstadt erfunden. Wir sind auch pleite. Was will man mehr? Sehr viel Verbindendes also.

Die Choreographin Mariela Nestora war bereits mal auf PACT Zollverein. Sie sagt zu unserer Region „Ruhr“. „Ich war in Ruhr“, sagt sie. Und der Hund von Iris Karayan (Ja) heißt Tarmund und alle nennen ihn Dortmund, niemand weiß warum.

Die Griechen sollen sich ihr Leben nicht vermiesen lassen. Hier entstünde ein Land, das sich unter dem Jubel der Unschuldigen zu einem Paradies der globalen Verweigerung entwickelt. Hier würden die Menschen das tun, was ihnen lieb ist und nicht das, wozu sie verpflichtet werden. Ich wache auf, bin kein Esel mehr, sehe wieder aus wie vorgesehen. An der Wand vor mir sehe ich den verschwindenden Traumnebel an einem Strand. Mein Grieche steht dort und winkt mir zu. „Kalinichta“.

Ich erinnere hier an das Stück „Herkules und der Stall des Augias“ von Friedrich Dürrenmatt.

„Aufgrund des ständig anwachsenden Mistes wird das Leben in Elis immer unerträglicher. Deshalb beschließt Augias, Präsident von Elis, zusammen mit seinem Parlament, dem griechischen Nationalhelden Herkules ein ansehnliches Honorar und Reisespesen anzubieten und ihm den Auftrag zur Säuberung von Elis zu übertragen. Sein Sekretär Polybios erinnert ihn an seine gewaltigen Schulden und die Kosten, die die repräsentativen Pflichten eines Helden mit sich bringen.
… Kommissionen beraten in endlosen Sitzungen. Man weist darauf hin, dass unter dem Mist immense Kunstschätze verborgen sein könnten, die durch das Ausmisten verloren gingen. Die Beratungen verschleppen sich so lange, bis Herkules schließlich den ihm gewährten Vorschuss aufgebraucht hat. Herkules, der zudem von Gläubigern bedrängt wird, sieht sich gezwungen, im Zirkus des Tantalos aufzutreten. In dieser aussichtslosen Lage beschließen Herkules und Deianeira gemeinsam, das Land unausgemistet zu verlassen.“ (Quelle Wikipedia)

 




Das Theater muß rigoros abspecken: „Letzte Vorstellung“ von Gerhard Stadelmaier – das passende Buch zur Krise

Von Bernd Berke

Das Berliner Schiller-Theater schließt in wenigen Tagen. weitere Häuser stehen gewiß „auf der Kippe“. Was tun? Wann, wenn nicht jetzt: Nachdenken über unsere Theater-Landschaft, und zwar ohne Tabus. Daß derlei gründliche Revision in Zeiten der finanziellen Nöte noch unterhaltsam sein kann, beweist Gerhard Stadelmaier mit seinem Buch „Letzte Vorstellung“.

Stadelmaier ist Theaterkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). In ihre Diensten hat er so viele Vorstellungen erlebt, daß sein Urteil nicht so sehr aus Anmaßung, sondern aus Anschauung hervorgeht. Und man ist nicht ganz abgeneigt, ihm zu glauben, wenn er behauptet: Deutsches Theater, das ist furchtbar oft eine un-sinnliche, weil kopf- und apparatelastige Veranstaltung.

Blecheimer auf schräggestellter Bühne

Fast möchte man meinen, Stadelmaier habe im Laufe der Jahre einen Haß aufs Theater entwickelt, so fulminant zieht er über seine Macher her, durchleuchtet er seine diversen Köpfe: beispielsweise die mittlerweile etwas angegraute Crew der stilprägenden Regisseure („Machtköpfe“), die denkwütigen Dramaturgen („Schwellköpfe“), die vom Regietheater gebeutelten Schauspieler („Geisterköpfe“), die aus dem Theater verbannten Gegenwartsautoren („Papierköpfe“) – und jene grandiosen Geldverpulverer namens Bühnenbildner, bei denen es immer noch ein bißchen Goldauflage mehr sein darf und die doch als Hauptrequisit in den letzten Jahren nicht viel mehr ersonnen hätten als jenen notorischen Blecheimer auf schräggestellter Bühne mit Wassergraben…

Der landläufige Abonnent, der eine Art neurotische Ehe mit „seinem“ Theater führe, kommt gleichfalls zur Sprache. Stadelmaier schont jedoch auch das eigene Metier nicht. Der Kritiker, so Stadelmaier, sei jenes seltsam ratlose Wesen mit dem Leuchtkugelschreiber, das im Theater aus Prinzip niemals lacht. Ein Typus sehe so aus: „Er sitzt, meist schon ein älterer Herr, oft mit grauem Bart, in Reihe vier auf Platz achtzig und notiert Adjektive, die in seinen Kritiken in Klammern nach einem Doppelpunkt wieder auftauchen.“ Etwa so: „(Renate-Yolinde Müller-Frauenschuh: ein reizendes Kammerkätzchen)“.

Gewerkschaften aus dem Hause jagen

Und noch nicht genug der Schelte. Stadelmaier treibt sich auch in deutschen Foyers herum. Er findet dort (im Gegensatz zu anderen Ländern) ebenso fade wie maßlos überteuerte Pausen-Büffets; dazu langweilige Büchertische und gähnende Garderobe-Frauen, die jedoch draußen vor der Saaltür selten etwas Nennenswertes versäumen. Wohin man auch blickt: Genuß vergällt!

Die ganze Misere, so befindet Stadelmaier, hänge letztlich mit dem „Wasserkopf“ (sprich: Verwaltung und Technik) zusammen. Er plädiert zwar gegen besinnungslose Bühnen-Privatisierung, aber für den rigorosen Abbau aller Dinge und Verhältnisse, die nicht unmittelbar mit dem Spiel zu tun haben: „Das ganze Theatersystem müßte mit leichterem Gepäck marschieren.“ Und weiter: Weg vom teuren Gemischtwarenladen eines lustlos ständig präsent gehaltenen Repertoires, hin zum durchgängigen Spiel weniger, dafür sorgfältig einstudierter Produktionen.

Sein letztes Rezept wird bestimmt nicht jedermann gefallen und mag auch mit Stadelmaiers großbürgerlich orientierter Zeitung zusammenhängen. Es müsse der heimliche Traum aller Theaterleute erfüllt werden: „die Gewerkschaften aus dem Theater zu schmeißen“. Die komplizierten Tarif-Regelungen erstickten jede Phantasie, weil es z.B. „dem Regieassistenten verboten ist, als Stuhlabräumer einzuspringen, auch wenn das dem Fortgang der Probe nützlich wäre, man aber so lange warten muß, bis der zuständige Bühnenarbeiter seinen Pausenzeit beendet hat.“

Sicher, dieser Autor ist polemisch. Für eine witzige Formulierung biegt er notfalls die Wahrheit auch schon mal etwas zurecht. Doch das ist als Denkanstoß legitim, spricht er doch vom Theater wie ein Liebhaber – wenn auch ein enttäuschter, etliche Male um sein Vergnügen betrogener. Und so einer darf gelegentlich zürnen. Zumal, wenn der Schimpf die Szene so schlagartîg erhellt.

Gerhard Stadelmaier: „Letzte Vorstellung“. Eichborn Verlag, Frankfurt/Main (Reihe „Die andere Bibliothek“). 299 Seiten, 44DM.




Buchmesse: „Reden wir die Krise nicht herbei!“ – Zahl der Aussteller in Frankfurt geschrumpft

Von Bernd Berke

Frankfurt. „Reden wir die Krise doch bitte nicht herbei!“ Beinahe flehentlich klang gestern Dorothee Hess-Maier, Vorsteherin beim Börsenverein des deutschen Buchhandels. Was sie zur gestern Abend eröffneten 44. Frankfurter Buchmesse zu sagen hatte, erinnerte ein wenig an das Pfeifen im dunklen Wald. Natürlich, so Frau Hess-Maier, beginne sich auch der Buchhandel um die allgemeine Rezession Sorgen zu machen, doch gehe es der Branche immer noch besser als manch anderem Einzelhandelsbereich.

Obwohl das Buch also offenbar noch kein Notfallpatient ist, griff Frau Hess-Maier doch zu einem medizinischen Vergleich: „Wenn der Buchhandel einen Schnupfen hat, muß man ihm nicht gleich die Schwindsucht andichten.“ Also doch ein leichtes Unwohlsein? Nicht doch! Das neueste Krisengerede entspringe wohl mal wieder der „Untergangsfreude“ der deutschen Intellektuellen.

Auch Klaus G. Saur sah sich gestern bemüßigt, die Wogen zu glätten. Der Vorsitzende des Verleger-Ausschusses im Börsenverein formulierte, keine Krise sei eingetreten, lediglich „eine Beruhigung der Zuwachsraten“. Er und Messedirektor Peter Weidhaas mußten freilich einräumen, daß die Buchmesse erstmals seit 1954 einen Rückgang der Ausstellerzahl (um immerhin 113 ausländische und 68 deutsche Verläge) verzeichnet. Vor allem zahlreiche Häuser aus Frankreich und Italien mochten  oder konnten sich eine Teilnahme nicht mehr leisten. Daß man mît 103 beteiligten Ländern dennoch einen Rekord melden kann, liegt nur an der Aufspaltung der ehemaligen UdSSR und des früheren Jugoslawien.

Osteuropa fällt als Markt für deutsche Bücher fast komplett aus

Ein Alarmzeichen ist ferner das praktisch komplette Wegbrechen der osteuropäischen Märkte für deutsche Bücher. Wurden einst jährlich bis zu 15 Millionen Stück (vorwiegend aus der Ex-DDR) dorthin geliefert, sind es jetzt gerade mal 30.000 Exemplare. Hier will man, unterstützt von Sponsoren und Bundesregierung, heftig gegensteuern.

Fast beiläufig verkündeten Saur und Weidhaas eine grundlegende Neuerung für das Jahr 1993: Dann will man den elektronischen Medien (vom Video über die Info-Platte bis zur Computersoftware) auf der Buchmesse eine eigene Halle zur Verfügung stellen. Saur machte seinen Frieden mit jenen Medien, die früher als größte Bedrohung der Lesekultur galten: „Wir Verleger handeln doch nicht mit Papier, sondern mit Informationen.“

Wie in den Vorjahren, so ist die Messe auch diesmal nur an zwei Tagen fürs breite Publikum geöffnet – am Samstag und Sonntag (3./4. Oktober), jeweils von 9 bis 18.30 Uhr. Bis dahin bleibt das Fachpublikum unter sich.

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Roman auf Diskette?

In Frankfurt erlebt man in diesem Jahr die letzte reine Buchmesse. Im nächsten soll ein großer Bereich für elektronische Medien freigehalten werden. „Bücher“ auf Diskette oder CD, mit blitzschnell abrufbaren Informationen, zieren zwar die Wohnung nicht so wie ein herrlich volles Regal, sparen aber mächtig Platz.

Nicht nur deswegen haben sie Zukunft. Auch der Zugriff auf lexikalische Informationen erfolgt hier wesentlich rascher und effektiver als beim mühsamen Durchblättern herkömmlicher Papier-Lektüre. Die Japaner haben dies schon auf der Buchmesse 1990 eindrucksvoll demonstriert.

Ist es Feigheit und Kapitulation vor dem früher so heftig bekämpften „Feind der Lesekultur , wenn der Buchhandel die Elektronik in seine heiligen Hallen einläßt? Es ist eine wahrscheinlich (über-)lebensnotwendige Reaktion des gebeutelten Verlagsgewerbes auf verändertes Konsumverhalten. Die Kölner „photokina“ hat es ja gerade erst gezeigt: Vermutlich werden wir schon bald daheim ganze Zimmer für die Vielfalt der untereinander vernetzten audiovisuellen Medien brauchen.

Hoffentlich verderben wir uns dann nicht die langen Herbst- und Winterabende, indem wir den neuen Roman am Bildschirm lesen. Sondern im guten alten Lese-Eckchen.

Bernd Berke




„Die Kunst steckt in einer ganz tiefen Krise“ – Gespräch mit dem „documenta-Schreiber“ Peter Rühmkorf

Kassel/Hamburg. Mit dem Hamburger Peter Rühmkorf (57) wurde erstmals ein Schriftsteller zum „documenta-Schreiber“ bestellt, der die Kasseler Weltkunstschau literarisch begleiten soll. Jetzt ist „Halbzeit“ beim sogenannten „Museum der 100 Tage“. Im Gespräch mit WR-Redakteur Bernd Berke zieht Rühmkorf (übrigens ein gebürtiger Dortmunder) Zwischenbilanz.

Rühmkorf glaubt, daß es in der Kunst „keine Bewegung mehr gibt, sondern einen allgemeinen Lähmungszustand“. Die Kunst-Richtungen hätten längst nichts mehr mit „Strömung“, also Entwicklung zu tun, sie bildeten „nur noch Ablagerungen“. Eben diese Stagnation spiegelt, so Rühmkorf, auch die documenta 8 wider. Das mache sie so problematisch, zugleich aber interessant, denn: „Die Krise in dieser tollen Breite vorgeführt zu bekommen, ist sehr wichtig.“ Die „documenta“ sei also weder schlechter noch besser als die Realität.

Bei keiner einzigen Arbeit auf der documenta hat Rühmkorf indessen „ein positives Erschrecken oder gar Begeisterung verspürt“; nur hie und da gehe von einem der Ausstellungsstücke überhaupt ein nennenswerter Impuls aus. Am bedenklichsten findet er die zahlreichen Mischformen aus „Dekoration und Demontage“ und erläutert: Viele „documenta-Künstler greifen festgefügte Formen aus der Kunstgeschichte auf,„zerbrechen“ sie – und setzen sie dann doch wieder auf dekorative Weise zusammen.

Besonders fragwürdig werde ein solches Verfahren z. B. bei einem Künstler wie Gerhard Merz, der „faschistische Weihestimmung“ persiflieren wolle, im Grunde aber „selbst infiziert“ werde und sozusagen vom Reiz dessen zehre, was er bloßstellen wolle. Schlimm sei auch das Vorgehen eines Robert Morris, der „die Leidenswelt der KZs kunstgewerblich aufbereitet“. Rühmkorf sarkastisch: „Dazu fällt mir nur noch Idar-Oberstein ein, nicht Dachau oder Auschwitz.“

Woran liegt’s? Warum eröffnet die Kunst – nach Rühmkorfs Ansicht – keine Perspektiven mehr? Antwort: .„Weil auch die ganze Gesellschaft kaum noch Perspektiven bietet.“ Der Kunstmarkt mit seinen „Szenen“ sei ein Abbild des generellen Stillstands. Rühmkorf hofft auch gar nicht mehr auf eine breitere Bewegung: „Nur noch ausscherende Einzelgänger sind wichtig.“

Gar nicht gut zu sprechen ist Rühmkorf auf „eine Galionsfigur der documenta“ (Rühmkorf), nämlich auf den 1986 verstorbenen Joseph Beuys. Der habe Furchtbares angerichtet, indem er Kunst und Leben gleichgesetzt habe. Geradezu verantwortungslos sei es von Beuys gewesen zu sagen, daß jeder Mensch ein Künstler sei. Damit habe er viele Nachahmer ins Unglück gestürzt. Rühmkorf: „Jeder soll natürlich so viel Kunst wie möglich in sein Leben hineinnehmen; aber Künstler sein – das ist etwas grundlegend anderes.“

„Ich bin doch kein documenta-Gespenst“

Seine Kritik an Beuys hat dem „documenta-Schreiber“ Rühmkorf kürzlich viel Ärger eingebracht. Manche argwöhnten gar, er rede einem „gesunden Volksempfinden“ das Wort, das ja auch gegen Beuys Sturm läuft. Gegen derlei Unterstellungen wehrt sich Rühmkorf: „Man kann heute den Staat angreifen, man kann den Papst angreifen – nur Joseph Beuys ist für manche eine unantastbare Kultfigur.“ Solche Weihe habe ihn, Rühmkorf, schon von jeher mißtrauisch gemacht. Das sei fast wie im Andersen-Märchen von „des Kaisers neuen Kleidern“. Zu sagen, daß „der Kaiser“ nichts anhabe, sei tabu.

Argumente sind Rühmkorf, der auch Kunstgeschichte studiert hat und also nicht ganz „unbeleckt“ ist, allemal lieber als Denkverbote. Bei aller alten Gegenerschaft zu Beuys: dessen „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“ sei immerhin noch einer der stärkeren documenta-Beiträge. Rühmkorf launig: „Allerdings hat es mich auch ein bißchen an Hirsch-Ragout erinnert.“

Was Rühmkorf aus seinem documenta-Amt machen will, weiß er noch nicht genau. Eigentlich sieht er sich nicht als „documenta-Schreiber“, sondem – und das sei etwas ganz anderes – „als Schriftsteller auf der documenta“, bzw. „als eine Art Versuchsperson“. Er komme auch nur hin und wieder von Hamburg nach Kassel. Begründung: „Ich will doch kein documenta-Gespenst sein.“

Ob ein Buch daraus wird, steht noch dahin. Rühmkorf: „Diese Tätigkeit soll kein verpflichtender Alptraum werden.“ Die Dotierung hat er jedenfalls nicht für sich behalten, sondern gestiftet. Er führt ein „Kasseler Tagebuch“, hielt Vorträge in der documenta-Stadt und organisierte dort eine Jazz-Lyrik-Veranstaltung.

Das documenta-Publikum, so Rühmkorf, sei übrigens weitaus toleranter, als man oft annehme. Auch so könne man ja die documenta genießen: „Als internationalen Rummelplatz, auf dem der Übergang von der Kunst zum Scherzartikel manchmal fließend ist.“




Krise bei Kohle und Stahl beschäftigt auch die Kurzfilmtage

Von Bernd Berke

Oberhausen. Die Krise im Kohle- und Stahlbereich beschäftigt auch die Oberhausener Kurzfilmtage, die gestern Abend begonnen haben.

Festivalleiterin Karola Gramann hat bewußt zwei „filmische Kommentare“ für das – wegen einer Diskussion über „25 Jahre Oberhausener Manifest“ („Papas Kino ist tot“!) – arg gestutzte Eröffnungsprogramm ausgewählt, die sich auf ganz verschiedene Weise auf die genannten Industrien beziehen: Maxim Fords „North“/Norden (Großbritannien, 1986) und Rainer Ackermanns „Aus dem Familienschacht“ (DDR, 1986).

„North“ zeigt eine sterbende Schwerindustrie-Region im Nordosten Englands. Ästhetischer Ehrgeiz wird in jeder Einstellung spürbar, zuweilen allzu spürbar. Musikalisch strukturiert, gefällt sich der 37-Minuten-Beitrag im überaus häufigen Einsatz extremer Zeifraffer-Sequenzen (rasende Wolken, pfeilschneller Straßenverkehr usw.). Während man noch rätselt, ob solche Bewegungen etwa ein Äquivalent zur rücksichtslosen Zirkulation von Kapital darstellen sollen, werden die schuldigen Mächte ziemlich direkt benannt: Da vergammeln Fahrzeuge britischer Fabrikation massenweise auf dem Schrottplatz, während – Kontrast in raschen Schnitt-Gegenschnitt-Folgen – die Niederlassung einer japanischen Autofirma ersichtlich floriert. Bootsfahrten und andere betuliche Vergnügungen einer abgelebten Oberschicht werden in Bildern eingefangen, die von Auguste Renoir stammen könnten. Auch durch die Börse bewegt sich die Kamera und zeigt Handbewegungen der Finanzmakler. Die geschmeidigen Gesten bedeuten, so die eindringliche Suggestion, Todesurteile für die Region.

„Auf dem Familienschacht“ kommt ohne solche Kunstanstrengung aus. Das dokumentarische Gruppenporträt einer Bergarbeiterbrigade aus dem Mansfelder Land (DDR) enthält sich des Kommentars, es läßt die Arbeiter selbst zu Wort kommen, beobachtet sie unter und über Tage. Kein „sozialistischerRealismus“ kommt dabei zum Vorschein, sondern sozusagen realistischer Sozialismus, will heißen: die Wirklichkeit der Arbeit ohne Heroisierung. Und dann die Szene, die bei Vorführungen in der DDR Lachsalven auslöste: Eine Bergmannsfrau zeigt ihr Hochzeitbild und erläutert, vor dem Schritt zum Traualtar habe man einander die Sünden gestanden – er hatte mal eine Dummheit gemacht und „gesessen“; sie beichtete, Parteimitglied zu sein. Die beiden „verziehen“ einander.

Auch wenn manche, die stets nach neuen Trends Ausschau halten, das Wort „Glasnost“ schon nicht mehr hören können (man sollte es in der Tat nicht zerreden) – nach dem sowjetischen Schwerpunkt bei der Berlinale war ein Pendant in Oberhausen wohl unvermeidlich.

Das sowjetische Kurzfilmprogramm wird heute um 20 Uhr im Auditorium der Luise-Albertz-Halle gezeigt, es umfaßt neun von insgesamt 80 Filmen des Wettbewerbs. Bemerkenswert etwa Nana Dzhordzhadzes grusinische Gaunerkomödie „Reise nach Zoppot“, schon 1980 gedreht und seinerzeit auf Widerstände gestoßen. Zwei Aussteiger verhökern – natürlich illegal – Sexfotos an Zugreisende und befinden sich ständig auf.der Flucht vor Ordnungshütern, die höchst unsympathisch gezeichnet werden. Natalia Schorinas Animations-Beitrag „Die Tür“ (1986) handelt von einem Wohnhaus, dessen Tür klemmt – ein Hindernis, das man auf jede nur erdenkliche Weise zu umgehen sucht. Man kann darin Metaphern auf das nötige Improvisationstalent im sozialistischen Alltag sehen oder einfach den Einfallsreichtum genießen.