Kunst retten oder reinigen wollen – und dabei vernichten

Den flapsigen Spruch „Ist das Kunst – oder kann das weg?“ fand ich persönlich immer schon ziemlich bescheuert. Schon gar nicht zeugt er von ästhetischem Sinn. Etwas origineller kommt jetzt ein Bändchen aus dem Dumont-Verlag daher, in Anspielung nennt es sich: „Das war Kunst – Jetzt ist es weg“. Halbwegs launig, aber nicht leichtfertig werden hier teilweise unfassbare Verluste verzeichnet.

Wohl gar nicht so selten werden Kunstwerke dermaßen dilettantisch „restauriert“, dass sie kaum noch wiederzuerkennen sind. Besonders in Spanien scheint dies ein Problem zu sein, weil dort der Zugang zum Berufsfeld der Kunstrettung kaum geregelt ist. So grotesk sind mitunter die Verzerrungen der Originale geraten, dass man sich mit Grausen abwendet und an bösartigen Mutwillen glauben könnte. Da werden einstmals dezente Farbgebungen durch schrill kreischende Kolorierung „ersetzt“, oder die Gesichtszüge und Körperpartien der Figuren entgleisen vollends ins Fratzenhafte. Selbst die Nachbehandlung eines Freskos von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle misslang auf bestürzende Weise. Aggressive Reinigungsmittel setzen dem Weltkunstwerk heftig zu.

Die mit kurzen Texten skizzierten und fotografisch dokumentierten Vorher-Nachher-Gegenüberstellungen erschöpfen sich nicht in restauratorischem Unglück. Da geht es auch um vorwitzige Museumsbesucher, etwa eine Dame, die ein bewusst unfertig belassenes Kunst-Kreuzworträtsel kurzerhand ausfüllte oder einen russischen Museumswärter, der – in völliger Verkennung der Sachlage – gemalten Gestalten mit dem Kugelschreiber Augen verpasste. Er meinte, es müsse so…

Selbstverständlich begegnen wir auch den oft belächelten, hin und wieder in gut gemeinte Aktion tretenden Reinigungskräften, die beispielsweise eine mit Pflastern und Fett verzierte Badewanne von Joseph Beuys gar gründlich säuberten. Der offenbar unwirsche Hausmeister, der eine Fettecke (ebenfalls von Beuys) in den Müll warf, darf ebenfalls nicht fehlen. Ähnliches widerfuhr auch Martin Kippenbergers Arbeit „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“, die im Museum Ostwall im Dortmunder U derart hingebungsvoll geputzt wurde, dass die wohlkalkulierten Kalkflecken in einem Gummitrog nicht mehr zu sehen waren.

Das schmale Buch, ein nettes Mitbringsel für leicht gehobene Ansprüche, erschöpft sich nicht in einer bloßen Kuriositätenschau oder einem wohlfeilen Gejammer über die Bedrohung hehrer Kultur, sondern wirft auch die (nicht mehr ganz neue) Frage auf, ob sich die Kunst zu Teilen so entwickelt hat, dass sie nicht mehr ohne Weiteres als solche erkennbar ist. Besonders souveräne oder auch mit Gelassenheit und Humor gesegnete Künstler machen sich derweil Kalamitäten mit ihren Werken so zu eigen, dass sie mit den kläglichen Resultaten wiederum kreativ umgehen.

Schließlich geht’s auch noch um veritable Unfälle mit der Kunst: Da blieb ein US-Student in einer überdimensionalen marmornen Vulva zu Tübingen stecken, als er diese näher inspizieren wollte. 22 Feuerwehrleute mussten ihm heraushelfen. Ein Kunstfreund stürzte mitten in ein Bild hinein, an dem er sich abstützen wollte. Eine Besucherin in Los Angeles löste mit ihrem Sturz sogar eine Domino-Kettenreaktion von 60 Säulen aus. Und bei all dem haben wir über häufige Transportschäden noch gar nicht geredet. Ein Fazit: Die Kunst ist, wie alles im Leben, nie gänzlich sicher.

Cora Wucherer: „Das war Kunst – Jetzt ist es weg. Misslungene Restaurierungen und andere kuriose Kunstunfälle“. Dumont, 112 Seiten (Format 17 x 14 cm), 50 farbige Abbildungen. 18 €.

 




Ein äußerst konservatives Verständnis von Kunst – Sammlung des Bundes zeigt ihre Neuerwerbungen in Bonn

„Question #2: When Are We Right“ und „Question #2: When Are We Wrong?“ von Isaac Chaong Wai (2021) (Foto: Mick Vincenz, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Und anschließend überlegt man, was wirklich überwältigend war. Spontan eigentlich: Nichts. Oder vielleicht der große hölzerne Guckkasten von Dirk-Dietrich Henning, in dem er in großer räumlicher Tiefe Bildebenen montiert hat, Ausgeschnittenes überwiegend in Schwarzweiß, eine Fleißarbeit. Der französische Titel ließe sich in etwa mit „Schwäche der Leichtgläubigen“ übersetzen, und darunter kann man sich ja eine Menge vorstellen. Große Holzkiste also, eindrucksvoll. Aber sonst?

Der Titel dieses Bildes gab der Kunstschau den Namen: „Identität nicht nachgewiesen“ wurde, so der Ausstellungskatalog, einer Frau aus Afrika auf den Ablehnungsbescheid gestempelt, als sie versuchte, ein Bankkonto zu eröffnen. (Bild: Bussaraporn Thongchai, Courtesy the artist, Sammlung des Bundes)

Soeben wurde besichtigt, was zwei Auswahlgremien in den Jahren 2017 bis 2021 für die Sammlung des Bundes vorwiegend wohl auf Kunstmessen in Köln, Berlin und Basel zusammengekauft haben, 170 von insgesamt 360 Arbeiten. 4,5 Millionen wurden ausgegeben, was nicht zu kritisieren ist. Doch die Kunst selbst – oder sagen wir besser, der offenbar zugrundegelegte Kunstbegriff – wirkt doch ausgesprochen mager und ausschnitthaft. Kunst ist, daran läßt diese Kunstschau keinen Zweifel, was man an die Wand hängen, auf die Erde stellen, schlimmstenfalls auf die Wand projizieren oder über einen Fernsehbildschirm laufen lassen kann. Wand anmalen geht auch noch. Als inhaltlichen Anspruch formuliert Susanne Kleine, Kuratorin dieser Ausstellung, im Vorwort des Kataloges den Anspruch, den man an die Werke stellte: „Diversität, Toleranz und gesellschaftliche und persönliche Hinterfragungen sind Kriterien, nach denen die Werke ausgesucht worden sind“. Der Souverän, repräsentiert durch die Auswahlkommission, mag es demnach brav und handzahm.

Auch das könnte Kunst sein

Aber wenigstens fragen möchte man doch einmal, wo all die anderen Kriterien geblieben sind, die spannende, berührende Kunst ebenfalls ausmachen können -–Erotik beispielsweise, Wut, Spontaneität, Provokation, vielleicht aber auch Verspieltheit und Obsession, oder die Hingabe an Form und Material. Und natürlich das, was ein verbaler Kriterienkatalog eben nicht adäquat beschreiben kann, was ahnt und raunt und diffus bleibt.

Zuzanna Czebatul: „Siegfried’s Departure“ (2018) (Foto: CAC Futura Prag, Zuzanna Czebatul/Sammlung des Bundes)

Künstler und Werk

Der Kunstbegriff, auf den man hier stößt, ist extrem konservativ. Er kennt nur die Spielpaarung Künstler und Werk, gerade einmal Zweiergruppen sind im Teilnehmerverzeichnis noch auszumachen. Längst jedoch, es genügt ein Blick in die nähere Nachbarschaft, gibt es eine umfangreiche Kunstproduktion jenseits der hier übermäßig bemühten Schemata, die sich nicht sonderlich um die althergebrachten Fachabteilungen kümmert. Man denke da beispielsweise an Künstlergruppen wie „Rimini Protokoll“, der man mit Arbeiten wie „Urban Nature“ im Theater ebenso begegnen kann wie im Museum oder bei einem Musikfestival; oder an das „Zentrum für politische Schönheit“, dessen gewiß nicht immer geschmackvolle Aktionen doch nicht nur politische Demonstrationen sind, sondern eben auch Hervorbringungen mit ästhetischen Qualitäten. Erinnert sei auch an das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa, das in diesem Jahr die Documenta in Kassel kuratiert.

Die Rolle der Kuratoren

Hier wäre übrigens, ganz beiläufig, die Stelle, an der man sich zudem über den Einfluß der Kuratoren auf Kunstproduktion und –präsentation ein paar kritische Gedanken machen könnte, aber das führte im Moment wohl zu weit. Gleichwohl: Müßte man nicht auch für sie, die Kuratorinnen und Kuratoren, ein warmes Plätzchen in der Bundeskunsthalle reservieren?

Bild aus der Fotoserie „The Last Drop – Indien, Westbengalen“ von Anja Bohnhof (2019) (Bild: © Anja Bohnhof/Sammlung des Bundes)

Schließlich, und die Liste könnte durchaus noch länger werden, fehlt das, was mit eher unklarer Kontur als Computerkunst bezeichnet wird – mehr oder weniger geschickte Versuche, dem monströsen Thema IT (oder in letzter Zeit, schlimmer noch: KI) mit einer analog rezipierbaren künstlerischen Beschäftigung zu begegnen. Im Dortmunder Hartware Medienkunstverein im Kulturzentrum „U“, dies nur am Rande, ist in einer schön zusammengestellten Ausstellung zu sehen, wie sich vorwiegend jüngere Künstlerinnen und Künstler dem Thema annähern (Besprechung in den Revierpassagen). Nicht jeder Versuch ist Gold, doch schon der Versuch ist zu preisen. In Bonn gibt es zu diesem Thema nur weißes Rauschen.

„Hochdrücken“ von Kristina Schmidt (2018) (Bild: © Kristina Schmidt/Sammlung des Bundes)

Erwartet wird Haltung

„Es läßt sich beobachten, daß heute verstärkt Stimmen zu Wort kommen, Haltungen sich abzeichnen, Persönlichkeiten unterstützt werden, die sich besonders gut darauf verstehen, das fragile System unserer Gesellschaft, Demokratie und unseres Planeten zu durchleuchten“, schreibt Bundeskunsthallen-Intendantin Eva Kraus im Vorwort zum Katalog. Große Worte, kaum zu widerlegen. Aber natürlich läßt sich dieser Trend eben deshalb beobachten, weil entsprechend ausgesucht wurde. Blickt man auf den Kunstmarkt, wie er sich beispielsweise in Versteigerungen darstellt, erhält man ein gänzlich anderes Bild von Marktwert und Relevanz der Kunst – übrigens auch im drei- oder vierstelligen Euro-Bereich.

Man vermißt die prominenten Zeitgenossen

Kuratorinnen und Kuratoren kamen in der ersten Auswahlperiode vom Hamburger Bahnhof in Berlin, vom Kunstmuseum Stuttgart, der Kunsthalle Bielefeld, der Insel Hombroich und der Bundeskunsthalle selbst; im zweiten Durchgang von den Kunstsammlungen Chemnitz, dem Münchener Museum Brandhorst, dem Kunstverein für Mecklenburg und Vorpommern in Schwerin, dem Kunstverein Braunschweig, dem Westfälischen Kunstverein in Münster und der Städtischen Galerie im Münchener Lenbachhaus. Die Künstler sind dem Verfasser dieser Zeilen mit zwei, drei Ausnahmen unbekannt, und in 20 Jahren, so steht zu befürchten, werden sie dem Großteil des Publikum immer noch unbekannt sein. Warum gibt es in einer nationalen Kunstsammlung keinen aktuellen Neo Rauch? Oder einen Jonathan Meese? Oder einen anderen oder, nota bene, eine andere? Nur als Beispiel. Eine „Sammlung des Bundes“, deren Name auch Anspruch wäre, sollte über Werke der deutschen Künstlerprominenz verfügen können.

  • „Identität nicht nachgewiesen – Neuerwerbungen der Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland“
  • Bundeskunsthalle Bonn
  • Bis 3. Oktober 2022
  • www.bundeskunsthalle.de



Die Kunst kann keinen Krieg beenden

(Foto: Bernd Huber)

Gastautor Bernd Huber über das Verhältnis von Kunst und Krieg in diesen Zeiten:

Ich bin verwirrt, weil sich mir Fragen aufdrängen. Die wichtigste Frage ist wohl die, ob die Kunst in Kriegszeiten „rein“ bleiben kann. Ich möchte es absichtlich mal auf die Spitze treiben und fragen: „Reicht es, ,Imagine‘ zu singen?“

Wenn die Kunst fordernd anklagt, fühle ich mich immer peinlich berührt. Die politischen Missverhältnisse bleiben von ihr unberührt. Diesbezüglich vermag die Kunst nichts. Die Kunst, wenn sie Kunst ist und nicht von vornherein ihre Werke auf dem Politischen aufbaut, sondern das nur in Krisenzeiten tut, verliert ihre Kraft der Unschuld. Der politische Missstand lässt sich nur durch Politik bekämpfen. Kein Spruch lächerlicher, als der, der da proklamiert: „Make Music, Not War“. Als ob ein Mensch wie Putin einen solchen Gedanken überhaupt in Erwägung ziehen könnte!

Im Krieg muss man eine eindeutige Position einnehmen, das ist schon schlimm genug. Im Grunde hieße das für den Künstler, dass er seine Kunst dort lassen muss, wo sie hingehört. Die Kunst hat im Krieg keine Position, der Künstler schon. So wäre es immer sinnvoller, der populäre Künstler bezöge eine politische Position, indem er sagt: „Sofort alle Embargo-Möglichkeiten umsetzen“ – oder ähnliches.

Kunst und Krieg haben keine Gemeinsamkeiten, während die kriegerischen Handlungen anhalten. Ein Kunstwerk wie Picassos „Guernica“ entsteht erst als künstlerischer Reflex auf den Krieg. Die Idee, dass die Kunst den Krieg beenden könne, ist in ihrer Naivität nicht zu überbieten. Achja, und dann gibt es ja auch den zynischen Begriff der „Kriegskunst“. Aber wir alle wissen ja, dass Krieg und Kunst gar nichts miteinander zu tun haben und dass es Kriegskunst nicht gibt. Es gibt ja auch keine Kunst des Mordens.




Gar nichts ist gewiss – die rätselhaften „Weltgeist“-Bilder des René Schoemakers

Selbstporträt des Künstlers als Bezwinger des rosaroten Panthers – René Schoemakers‘ Gemälde „Der böhse Paul“, Acryl auf Leinwand 180 x 120 cm, 2019/2020 (Bild: © René Schoemakers)

Da schau her: Dieses rosarote Stofftier ist doch Paulchen Panther! Und der Mann, der ihm mit einem (total verpixelten) Spielzeug-Schwert den Kopf abgeschlagen hat, ist offenkundig der Künstler und hat dieses stellenweise bluttriefende Bild gemalt. Sein gar nicht so triumphales Ganzkörper-Selbstbildnis changiert zwischen Grau und Pink. Was sollen wir davon halten?

Im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte bleibt man mit diesem und vielen anderen rätselhaften Bildern zunächst ohne Hilfestellung. Die Arbeiten haben Titel, die aber nicht vorgezeigt werden. Also wird man sogleich aufs genaue Hinschauen verwiesen. Aber das allein nützt nicht viel. Denn man muss zusätzlich parat haben, dass die rechtsradikale NSU-Mörderbande ausgerechnet die Panther-Figur in einem Bekennervideo verwendet hat. Doch selbst danach ist man nur bedingt schlauer, zumal auch noch ein Frauenakt zum Panther-Ensemble gehört. Etwas mehr Aufklärung halten Katalog und Internet-Auftritt bereit.

Irritationen und sinnliche Schauwerte

Der in Kleve geborene und in Kiel lebende Künstler René Schoemakers zieht in seine stupend fotorealistisch, geradezu altmeisterlich gemalten Bilder (2011 hat er den Cranach-Preis erhalten) gar viele Sinn-Ebenen ein, die sich auch stilistisch verzweigen. Irritierend sind die zahllosen Brüche und Widersprüche, die Ironisierungen, Verschiebungen und Verfremdungen, die Variationen und Überlagerungen. Hier ist nichts gewiss. Sobald man den Sinn eines Bildes halbwegs zu erhaschen glaubt, scheint der Künstler schon wieder ein paar Ecken und Hirnwindungen weiter zu sein. Es ist kompliziert. Doch die Ausstellung lockt auch mit sinnlichen Schauwerten.

Schoemakers hat nicht nur Kunst, sondern auch Philosophie studiert. Er denkt sich mancherlei Vertracktes aus. Doch wenn er vor der Leinwand steht, sagt er, sei er völlig spontan. Dann gehe es nur noch um die Wirkung des Bildes – und sonst um gar nichts mehr. Allerdings bereitet er jedes Werk penibel vor, oftmals mit dreidimensionalen Modellaufbauten als Vorlagen.

Der Schrecken kommt harmlos und clownesk daher

So kommt es beispielsweise, dass wir – als sei’s eine Dokumentation vom Tatort – die blutigen Spuren des rechtsradikalen Münchner Oktoberfest-Attentats von 1980 sehen, freilich wie mit Spielzeug bühnenhaft nachgestellt. Eine bestürzende Mischung aus vermeintlicher Harmlosigkeit, Nüchternheit und namenlosem Schrecken. Hier kann überall Gewaltsamkeit lauern, zuweilen auch seltsam verquickt mit Clownerie. Totenköpfe können hier aus Lego-Bausteinen bestehen oder als Papier-Faltungen herumliegen. Anspielungen auf Terrorismus werden auch schon mal mit dem Playboyhäschen-Logo unterlegt.

Rund 70 Arbeiten auf etwa 170 Leinwänden, nicht in Öl, sondern Schicht für Schicht mit schnell trocknender Acrylfarbe ausgeführt, sind in der Dortmunder Werkschau zu sehen. Die ungleichen Zahlen erklären sich daraus, dass Schoemakers eine Vorliebe für Triptychen hat, also für dreiteilige Bilder nach dem fernen Vorbild christlicher Altäre. An einem anderen Ende des Spektrums finden sich Schautafeln nach Art von Gebrauchsanweisungen oder Flugblättern, die freilich inhaltlich alles andere als simpel sind.

Gewagte Darstellung mit Bezug zum Massenmörder Anders Breivik: das Katalog-Cover mit René Schoemakers‘ Gemälde „Anders (Mummenschanz)“, Acryl auf Leinwand 160 x 120 cm, 2019. (Bild: © Foto René Schoemakers)

Christian Walda, stellvertretender Museumsdirektor und eigentlich Kurator der Ausstellung, sagt, Schoemakers habe ihm weitgehend die Aufbauarbeit abgenommen. Walda begibt sich auf die philosophischen Fährten, die der Künstler gelegt hat. Der setzt sich gedanklich und malerisch mit dem Idealismus und seinen Weiterungen (oder auch Verengungen) auseinander. Im Gefolge Hegels – die Schau trägt den hegelianisch inspirierten Titel „Weltgeist“ – seien  bloße Ideen vielfach übermächtig geworden und hätten sich gegen jegliche Realität durchgesetzt. Daraus seien die verschiedensten Ideologien mitsamt ihrem Gewaltpotential erwachsen.

Allmachts-Phantasien aus dem Idealismus

Die Allmachts-Phantasien, die sich darin verbergen, nehmen in der Historie und in Schoemakers‘ Bildern diverse Gestalt an. Hier gibt es einen Raum, in dem etwa Porträts von Martin Luther, des Islamisten Pierre Vogel und des US-Rechtsaußen Steve Bannon einander zugesellt werden – ergänzt um etliches Beiwerk. An anderer Stelle heißt es im Goebbels-Brüllton und in Frakturschrift: „Wollt ihr die totale Metapher?“ Mindestens ebenso abgründig ist solcher „Mummenschanz“: Eine Frau steckt in der Phantasie-Uniform, in der sich der rechtsextreme Massenmörder Anders Breivik gefallen hat. Dieselbe Frau posiert ebenso frontal mit Militärklamotten, Knarre und Theater-Schnurrbart – als „Karl-Heinz“ von der rechten „Wehrsportgruppe Hoffmann“.

Schoemakers scheint, allem Gedankenreichtum zum Trotz, kein Grübler zu sein. Für einen Mann vom Jahrgang 1972 hat er sich staunenswert jung erhalten, vielleicht just durch intellektuelle Wendigkeit. Seine Frau und fünf Kinder stehen ihm immer wieder Modell. Welch ein spezielles „Familienalbum“! Es hält seine ansonsten divergierenden Kunstwelten zusammen.

Seine Bilder lassen einen mit ihrer Überfülle möglicher Bezugspunkte nicht in Ruhe. Sie leisten Widerstand gegen Interpretation. Doch wer sie sieht, will ihnen zwangsläufig Sinn verleihen. Keine leichte, aber eine lohnende Übung.

René Schoemakers: „Weltgeist“. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. Noch bis zum 9. Januar 2022.

https://weltgeist-mkk.de

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Der Beitrag ist zuerst im „Westfalenspiegel“ erschienen:

www.westfalenspiegel.de




Corona sorgt für spezielles Kunsterlebnis beim Pressetermin: Bitte nur einzeln zu den Bildern gehen!

Die stellvertrende Museumsdirektorin und Kuratorin Dr. Tanja Pirsig-Marshall präsentiert in einem kurzen Video eine Vorschau auf die Münsteraner Tadeusz-Ausstellung. (Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=4wB3rXY2z6k)

Vor Wochenfrist war hier die Rede von einer Orchester-Pressekonferenz per Videoschalte, wie sie einem immer noch etwas ungewohnt vorkommt, aber derzeit wohl ein Maß der Dinge ist. Nun ist abermals von einem kulturellen Pressetermin in spezieller Form zu berichten. So ist das nun mal: Das „neuartige“ Virus zieht eben neuartige Presse-Gepflogenheiten nach sich.

Schauplatz wird das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster sein. Dort soll es vom 10. Mai bis zum 2. August eine Ausstellung über den in Dortmund geborenen Maler Norbert Tadeusz (1940-2011) geben. Und tatsächlich findet vorab kein Video-Termin als virtuelle Führung statt, sondern mal wieder einer, der körperliche Präsenz erfordert. Doch die Journalistinnen und Journalisten werden an jenem Vorbesichtigungs-Tag nicht (wie ehedem üblich) im Pulk durchs Museum gehen, sondern jede(r) für sich, also einzeln.

Auf diese etwas umständliche Weise wird sich der gesamte Termin mutmaßlich von 10 bis 16 Uhr hinziehen. Das Ganze heißt deshalb nicht Pressekonferenz, sondern „Pressetag“. Es ist anzunehmen, dass die jeweilige Aufenthaltsdauer begrenzt werden muss, damit die Nachrückenden zeitig an die Reihe kommen – je nachdem, wie viele sich mit welchen Wunschzeiten anmelden. Kurze Gespräche mit der LWL-Kulturdezernentin, dem Museumsdirektor oder der Ausstellungskuratorin sind übrigens ebenfalls möglich.

Das alles hört sich nach einem geradezu exklusiven Kunsterlebnis an, bei dem einen nichts von den Bildern ablenkt – auch nicht all die liebenswerten Kolleg(inn)en. Man darf sich also ganz allein vor den Kunstwerken aufhalten; beispielsweise ohne Fernsehteams, ohne wichtig wuselnde Kameraleute und Mikrofonträger, ohne Hörfunk-Mitarbeiter, die gerade mal schnell ihre „O-Töne“ einfangen müssen; ohne Fotografen, die eben noch ein paar Gruppenbilder mit der Museumsleitung anfertigen wollen („Bitte vor dieses Gemälde, bitte den Katalog in die Hand nehmen, bitte hierher gucken – und läääächeln!“). Und sogar ohne klügelnde Fragesteller, die sich ihren imponierenden Auftritt wohl schon Tage vorher zurechtgelegt haben.

So. Jetzt hab‘ ich’s mir glücklich mit allen verdorben. Wie bitte? Nein, ich habe noch nie jemanden bei Presseterminen genervt. Niemals nicht. Wo denkt Ihr denn hin?




Der Künstler und seine Frau – die kleinen Bilder, die Emil Schumacher „für Ulla“ malte

Emil Schumacher, Für Ulla-1/1996, 1996, Gouache auf braunem Papier, 14,6 x 16 cm. © (Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2019/Emil Schumacher Museum Hagen)

Man könnte sie leicht übersehen. Kaum so groß wie ein Blatt Schreibmaschinenpapier sind die Bilder, und auch in ihren Rahmen bleiben sie schmächtig. Es bedurfte eines speziellen Regals für Kleinformate, um sie im Magazin wiederauffindbar unterzubringen. Jetzt aber hängen sie ganz prominent in der Ausstellung. „Für Ulla“ heißt die Serie von Gouachen, die Emil Schumacher für seine Frau malte und die 1996 erstmalig in Jena gezeigt wurde, als der Maler dort die Ehrenbürgerwürde der Universität erhielt.

Emil Schumacher, Für Ulla-7/1996, 1996, Gouache auf braunem Papier, 15 x 22,6 cm. © (Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Zum 100. Geburtstag

Warum Hagens berühmter Informel-Künstler 1996 für seine Frau eine Reihe von Bildern auf Packpapier schuf, ist bis ins Letzte nicht beantwortet. Weder standen runde Geburtstage an (Ulla war 77), noch begründeten andere Anlässe ein solches Geschenk. Und Emil Schumacher, der seine Werke eher mit leichter Hand datierte und signierte, steuerte auch nichts Erklärendes bei. Aber die Bilder sind „für Ulla“. Das steht drauf. Anlass dafür, sie jetzt zu zeigen, ist der 100. Geburtstag Ulla Schumachers.

Emil Schumacher, Für Ulla-15/1996, 1996, Gouache auf braunem Papier, 14,6 x 16 cm. © Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Sehr persönlich

Die Motive dieser „Suite“ sind abstrakt, wie man es bei Emil Schumacher ja gewohnt ist. Doch der Begriff deutet Bezüglichkeit an, und in der Tat laden viele Bilder dieser Reihe zu assoziativer Vergegenständlichung ein. Landschaften mag man erkennen, Tiere, vor allem Pferde. Und Kreise können Räder sein, Sinnbilder der Reise wie der Wiederkehr, und alles ergibt Sinn. Zwar ginge es zu weit, hier ein strenges System der Chiffrierung erkennen zu wollen, doch sicherlich hat Ulla Schumacher diese Bilder so genau verstanden wie kaum ein anderer Mensch. Emil, unabweisbar dieser Eindruck, formulierte hier wie unter einem Brennglas das Gemeinsame, das gemeinsam Vertraute. Es ist eine Kunst der Intimität, vielleicht gar eine anhaltende Liebeserklärung. Dafür brauchte es keine Stichtagsregelung.

Emil Schumacher, Kirmes, 1948, 27 x 34,5 cm. (Bild: © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Biedere Familie

Und ein weiteres Mal ist man erstaunt über das biedere Leben, das dieser Künstler und seine Frau führten. Nichts ist bekannt über Ausschweifungen oder Exzesse, 60 Jahre waren sie verheiratet, und sie haben das als großes Glück empfunden, wie Rouven Lotz unterstreicht, wissenschaftlicher Leiter des Emil Schumacher Museums und Kurator dieser kleinen, hübschen Ausstellung. Und übrigens war das Jahr 1996 doch ein rundes, ein bißchen jedenfalls, weil sich die jungen Leute 60 Jahre vorher auf der Kirmes kennengelernt hatten, auf dem Kettenkarussell, in Hagen, wo sonst.

Traumberuf Telefonistin

Ulla Schumacher, als Ulla Klapprott 1919 in Hagen-Eppenhausen geboren, war gewiß nicht die andere Hälfte eines Künstler-Duos, wie beispielsweise Christos Frau Jeanne Claude. Auch eine Muse war sie nicht, eher schon Managerin ihres zur Zurückhaltung neigenden Gatten. Sie kümmerte sich um die Reisen, schuf und pflegte internationale Kontakte. „Sie war ein bißchen die Außenministerin für den Künstler“, sagt Rouven Lotz. In jungen Jahren hatte sie übrigens als Telefonistin gearbeitet, immer im Gespräch, immer online (wie man heute fast sagen könnte), ein Traumberuf für sie.

Ulla und Emil Schumacher, 1989. (Foto: Stefan Moses / Emil Schumacher Museum Hagen)

„Ach Emil, das wird schön“

Und Ulla war Emil Schumachers wichtigste Kritikerin. Der Maler legte größten Wert auf ihr Urteil, auch im Schaffensprozeß schon. Freunde der Familie berichten von einem unruhigen Künstler, der durch das Haus lief und seine Ulla suchte, damit sie im Atelier ihre Meinung kundtat. Wiederholt verbürgt ist ihr Ausruf „Ach Emil, das wird schön“, mit dem sie in aller Regel ja auch recht hatte und dem kreativen Prozeß gehörigen Schub verlieh.

Zeichnungen der frühen Jahre

Museumsleiter Lotz hat der „Für Ulla“-Suite einige Bilder aus dem Bestand beigesellt, etwas größer in aller Regel, die die enge Verbindung der Kleinformate zum damaligen aktuellen Schaffen Schumachers, frappierend mitunter, dokumentieren. Außerdem gibt es einen zweiten Raum mit frühen Werken, Zeichnungen aus den 30er und 40er Jahren, Alltagsszenen und Akte, auf denen die Dargestellte immer Ulla ist. Diese vergnügliche Reihe, die neben anderem auch deutlich macht, was für ein brillanter Zeichner Emil Schumacher war, beginnt – eben – auf der Kirmes in Hagen, 1936, am Kettenkarussell. Eine Zeichnung wie ein Holzschnitt, hartes Schwarzweiß, mit einer erotischen Figurine im linken oberen Bereich, erste Begegnung mit der Frau fürs Leben.

Emil Schumacher, Ulla, rauchend, 1947, Fettkreidezeichnung, 32,7 x 15,7 cm.(Bild: © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Immer wieder Ulla

Er hat sie, für ein Programmheft der Ruhrfestspiele, als „Irre von Chaillot“ gezeichnet (welche allerdings, ganz adrett und comme il faut, hinter einem Kaffeehaustischchen hockt), als Hausfrau und Mutter zu Hause, als rauchende Gesprächs- und Lebenspartnerin. Daran, daß Emil Schumacher die Seine gerne im Akt abbildete, war gewiß auch die lange Phase künstlerischer Abstinenz schuld, erläutert Lotz. In der Nazizeit hatte, wie hier und da bekannt, der Maler Emil Schumacher mit dem Malen aufgehört, weil seine Kunst nicht gelitten war. Er hatte als technischer Zeichner gearbeitet, um die Familie zu ernähren. Als ihn seine Frau nach 1945 ermunterte, doch wieder ein Künstler zu sein, mußte Emil üben. Auch Akte malen. Niemand konnte damals ahnen, daß er dereinst in Kunstrichtungen Furore machen würde, die man mit Informel oder abstraktem Expressionismus bezeichnete. Die frühen Bilder mit der abstrakten „Für Ulla“-Suite in räumlich-inhaltlichen Zusammenhang zu bringen, ist eine kluge, ja fast schon schöpferische Entscheidung.

Langes Leben

Rund 60 Jahre dauerte die Ehe der Schumachers; Emil starb 1999, 87-jährig immerhin, ohne Vorzeichen „als glücklicher Maler“ auf Ibiza. Seine Frau folgte ihm zehn Jahre später, 90-jährig. Die Baustelle des Hagener Schumacher-Museums hat sie noch besichtigt, die Eröffnung leider nicht mehr erlebt.

Nicht so viele Familiengeschichten!

Schluss jetzt! Wenn man über Schumachers schreibt, droht das immer zur Familiengeschichte zu werden, garniert mit unzähligen Anekdoten. Doch hier gilt’s der Kunst! Sie sei ausdrücklich anempfohlen, die anrührende „Für Ulla“-Sonderschau wie auch das Dauerhafte im Hagener Schumacher-Museum mit seinen stattlichen Großformaten.

  • Emil Schumacher: „Für Ulla“ – Ursula Schumacher zum 100. Geburtstag
  • 24.11.2019 bis 9.2.2020
  • Emil Schumacher Museum Hagen, Museumsplatz 1
  • Geöffnet Di-So 12-18 Uhr
  • Tel. 02331 207 31 38, www.esmh.de



Wie die Kunst zu mir kam und blieb – ein Lebenslauf zwischen Beruf und Berufung

Gastautorin Melanie Tilkov über ihr Leben als Künstlerin:

Ich bin freischaffende Künstlerin im Bereich Malerei, Grafik und Bildhauerei, außerdem Dozentin für Kunst an einer Kunstschule, Lehrkraft für Kunst an einem Gymnasium und habe einen Lehrauftrag an der fadbk/HbK Essen. Mein Studium der Kunst und das darauf folgende Berufsleben im Kunstbetrieb habe ich nach einem wechselvollen und unbefriedigendem Berufsleben als ein „endlich angekommen“ begriffen.

Die Künstlerin Melanie Tilkov mit ihren Arbeiten am Stand der Galerie Augarde (Daun) bei der Straßburger Messe START. (Foto: © Melanie Tilkov)

Verfasserin dieses Beitrags: die Künstlerin Melanie Tilkov, hier mit ihren Arbeiten am Stand der Galerie Augarde (Daun) bei der Straßburger Kunstmesse ST.ART. (Foto: © Melanie Tilkov)

Seitdem bin ich im Kunstbetrieb auf unterschiedlichen Ebenen aktiv – und sehr zufrieden damit. Dass ich noch studieren würde, war alles andere als klar, bin ich doch die Erste in meiner Familie, die akademisch ausgebildet ist.

Zu „abstrakt“ für den Alltag?

Vom Elternhaus her war klar, dass ich eine Lehre mache, Geld verdiene und somit schnell selbstständig würde. Zwar ist die Familie meines Vaters tendenziell handwerklich und auch künstlerisch unterwegs, Werkstätten und ihre Gerüche prägten meine frühesten Erinnerungen. Aber Kunst? Kunst war zu „abstrakt“ und somit als Beruf nicht vorstellbar.

Trotz der anderen Berufe, und auch während meiner Erziehungszeit, begleitete mich handwerklich-künstlerische Arbeit, meine Ideen im Kopf mussten eine fühlbare/sichtbare Umsetzung in der Realität erfahren.

Aber erst durch das Studium erfuhr ich, wie schwer die künstlerische Arbeit wird, wenn nicht allein die handwerkliche Fähigkeit und Begabung wichtig sind, sondern die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem „Warum“ hinzukommt.

Zuerst kommt das Handwerk

Dennoch erachte ich es als essentiell, dass das „Handwerk“ sitzt: Grundausbildung Maltechnik, Zeichentechnik, Wissen um Farben, ihre Wirkungsweise, wie man sie einsetzt, wie ich Holz bearbeite, Ton, Stein…

Künstler, die nicht durch eine traditionelle Ausbildung gehen sondern von Anfang an in ihrem „Suppentopf“ weiter rühren, nie Stilleben gemalt, geschweige denn daran gelernt haben, die nie Menschen zeichnen mussten, nie Perspektive usw. lernten, denen fehlt etwas in ihrer Ausdruckskraft, auch in ihrem Spektrum. Natürlich kann man von Anfang an „abstrahieren“, aber nur wer die Basics lernte und das oft schmerzhaft lang, versteht, wie Abstraktion entsteht, wie Minimalismus sich entwickelt.

Es geht um das Können, nicht um das Wollen

Oft sind heute gezeigte Bilder von erschütternder Ahnungslosigkeit geprägt, was mich gleichermaßen verärgert, wie auch sehr traurig macht. Dadurch wird Kunst in ihrer Aussage entwertet, sie verliert, was sie eigentlich ausmacht. Nicht das Wollen, das Können zeichnet den Künstler aus. Und da gehört auch ein gehöriger Anteil an Praxis dazu, bis man dort ist, wo es einen, oft über Jahre, hingezogen hat.

Kreatives Chaos im Atelier von Melanie Tilkov. (Foto: @ Melanie Tilkov)

Kreatives Chaos im Atelier von Melanie Tilkov. (Foto: @ Melanie Tilkov)

Ich malte Landschaften, Abstraktionen, Spuren; nur um da endlich zu landen, am Ende meines Studiums, wo es mich immer hingetrieben hat. Endlich „konnte“ ich gegenständlich, figurativ malen, gestalten. Alles andere vorher begreife ich nun als handwerkliche und auch gedankliche Vorbereitung darauf. Ohne das Wissen um die Naturabstraktion wäre heute keiner meiner Hintergründe möglich, ohne die Abstraktion allgemein nicht das Wissen um die Auflösung im Prozess.

Eine Arbeiterin in der Kunst

Ich sehe mich als „Arbeiterin in der Kunst“. Meine Hände führen aus, was mein Kopf vorbereitet, gemalt, gebildhauert, gezeichnet hat, oft über Wochen, Monate, bis ich dann zum für mich erlösenden, praktischen Teil komme und alles in ein Medium fließt, Farbe auf Leinwand, Holz wird bearbeitet, behauen, Ton aufgebaut usw.

In der Renaissance gab es einen für uns heute sehr prägenden Wendepunkt. Aus einer anonymen Kunsthandwerkerschaft, aus den „Werkstätten” traten Einzelne hervor, brillierten und wurden, peu à peu, ganz langsam als Individuen wahrgenommen. Plötzlich wurden einzelne Künstler verehrt, Leonardo da Vinci und Dürer, das sind Namen, die noch heute „klingen“ und nachhallen.

Bis in unsere Zeit kam es dann zur starken Verklärung des Künstlers als „anders, wunderbar und sonderbar zugleich“. Dabei haben wir Kunstschaffenden auch nur eine Begabung, in der wir arbeiten (müssen). Auch Chirurgen, Architekten, Lehrer usw. fühlen mit Sicherheit so etwas, was sie in die berufliche Richtung trieb, eine „Berufung“.

Gegen die Verklärung

Vielleicht ist dieser Ruf, dem wir Künstler folgen, nur etwas drängender als der anderer Berufsgruppen, etwas elementarer. Aber gegen eine Verklärung wehre ich mich vehement, ich arbeite. Kunst. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Alles Aufgeblasene, Überzogene, Divenhafte mancher Künstler, die genau diese Verklärung befeuern, stört mich.

Nicht der Mensch, sondern sein Produkt sollte wahrgenommen werden. Ist mein Bild schlecht, sollte nicht das größte Theater und der bunteste Budenzauber, die fieseste Provokation über dieses Defizit hinwegtäuschen. Und doch ist es heute (leider) oft so. Das Event steht über dem Produkt. Damit gehe ich nicht konform. Und sehe mich lieber als Handwerkerin in Sachen Kunst. Der guten Sache wegen.




„reboot : jetzt erst recht“ – nach neun Jahren wieder zurück auf den Kunstmarkt

Als Künstler mit Ende 40 nach einer fast 9jährigen Auszeit mit Burnout-Qualität doch wieder zurück auf den »Markt«.

Kulitattoo "Jetzt erst recht"

Jetzt erst recht – Entwurf für eine Tätowierung / s/w-Foto / 18x24cm / mit schwarzem Rahmen: 28x38cm / 2017 / Preis auf Anfrage

Die alten Freundschaften zerbrochen wie die Netzwerke von damals.
Ne Ausstellung organisieren? Wie geht das nochmal? WTF Pressearbeit? Texte schreiben? Flyer machen? Plakate? Hä?
Der Autopilot funktioniert noch, stottert aber ’n bißchen.

Und überall tummeln sich eh schon die Jungen, Glücklichen, Erfolg­reichen, die Generation, die von den Eltern überall hingefahren wurde oder die Alten, die alles richtig gemacht haben und von Ausstellung zu Ausstellung zu Sammler zu Katalog zu Buch zu Besprechung in der FAZ zu Ankäufen rumgereicht werden. (Ok, die andern gibt’s auch noch.)

Selber schleppt man dieses Stigma rum, daß man zu lang weg vom Fenster war, weil man bei dem ganzen Kunstmarktscheiß nur noch kotzen mußte. Bin ich Künstler oder Verkäufer?

Irgendwann guckt man dann zum tausendsten Mal seine Sachen an und weiß, jetzt geht’s nicht mehr anders und man kann ja eh nur das und was anderes will man sowieso nicht.

Also anfangen, unbeholfen, Müll wegräumen, ständig fällt was runter, kippt um, nix klappt ohne Knirsch, man stellt sich an wie ein Depp. Trotzdem. Zurück ans Fenster. Was nutzt die beste Kunst, wennse keiner sieht?

Dann steht und hängt alles, ’n paar Leute sind auch da, ich hab mich wie ein Viertklässler durch die Begrüßungsrede und’s Künstlergespäch gewurschtelt.

Ich atme tief, guck mir das Kulitattoo auf meinem Arm an (Preis auf Anfrage) und mach mir ’n Bier auf:

reboot : jetzt erst recht
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(Text und Bild sind meine Bewerbung für den den open call »Haut zu Markte tragen« der Künstlergruppe Group Global 3000 [https://groupglobal3000.de/haut-zu-markte]
Das Foto ist/war Teil meiner Ausstellung »Thomas Scherl aka ©scherl @ Galerie Erika«, 13. – 27.7.2017, Quickborn, »Jetzt erst recht« der Arbeitstitel.
Dokumentation: https://www.facebook.com/events/102826140305647
Galerie Erika: http://www.galerie-erika.de)




Acht Städte zwischen Rhein und Ruhr zeigen zeitgenössische Kunst aus China

Warum, beginnen wir den Aufsatz ruhig ein bißchen ketzerisch, gibt der Bundeswirtschaftsminister wohl den Schirmherrn für diese Ausstellung? Ein Grund könnte sein, die Chinesen zu erfreuen und so die Wirtschaftsbeziehungen zu ihnen zu verbessern.

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„Big Woman and Little Man“ (2012) von Zhang-Xiaogang hängt jetzt in der Küppersmühle (Foto: Zhang Xiaogang/china8)

Das Interesse der Wirtschaft an diesem Ausstellungsprojekt ist jedenfalls erheblich, unter anderem sponsern Duisburger Hafen und Düsseldorfer Flughafen, Evonik Industries und Deutsche Bahn und last not least, qua Stiftungsauftrag dazu veranlaßt, die Brost-Stiftung.

Veranstalter der Mammutausstellung ist die Stiftung für Kunst und Kultur e.V. in Bonn, der Walter Smerling vorsteht, der in Personalunion auch die Duisburger Küppersmühle leitet. Der Eigenanteil der beteiligten Städte am Ausstellungsprojekt hingegen ist übersichtlich. „Das Projekt haben wir privat gehoben“, gibt Smerling selbstbewußt zu Protokoll.

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„The Night of Time Vivarium“ (2015) von Sun Xun ist im Hagener Osthaus-Museum zu sehen. (Foto: Sun Xun/china8)

Rund 500 Werke von 120 Künstlern

Nun ist es keineswegs verwerflich, wenn die Wirtschaft die Kunst fördert, und sei es die chinesische. Zu sehen also gibt es – viel. Rund 500 Werke von rund 120 Künstlerinnen und Künstlern in neun Museen in acht Städten. Küppersmühle und Lehmbruck in Duisburg, NRW-Forum in Düsseldorf, Folkwang in Essen, Kunsthalle Recklinghausen, Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr, Osthaus Museum Hagen und Kunstmuseum Gelsenkirchen.

Düsseldorf zeigt einen üppigen Querschnitt, die anderen Häuser haben sich spezialisiert. So widmet Essen sich der Fotografie, Recklinghausen setzt einen Schwerpunkt bei besonders jungen Positionen, die Küppersmühle bietet exklusive Vergleichsmöglichkeiten und präsentiert zu den zehn chinesischen Künstlern, „deren Entwicklung wir seit 20 Jahren intensiv verfolgen“, in etwa zeitgleich entstandene Werke der Herren Baselitz, Beuys, Götz, Kiefer, Lüpertz, Richter, Schultze und so fort. Sie entstammen der Sammlung Ströher, die Küppersmühle hat da einiges zu bieten.

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„Sidewalk“ (2014) – ein Tintenstrahlausdruck von Alfred Ko, jetzt in Essen zu bewundern. (Foto: Alfred Ko/china8)

Pioniertaten in Duisburg

Seit er das Haus im Duisburger Innenhafen leitet, hat Walter Smerling sich in Bezug auf chinesische Kunst zahlreiche Verdienste erworben. Lange Zeit war er der einzige, der in einem Museum (Galeristen waren da häufig schon weiter) chinesische Zeitgenossen breit präsentierte.

Wie es scheint, war Smerling unter den Museumsleuten auch die treibende Kraft für „China 8“, doch beansprucht er den Lorbeer nicht für sich allein. Dankbar erinnert er sich an einen Besuch bei Ferdinand Ullrich in der Recklinghäuser Kunsthalle vor etwa zwei Jahren, wo dieser „Kunst aus Beijing“ aus der Sammlung eines niederländischen Industriellen präsentierte, der ungenannt bleiben wollte. Viele der Werke hatte auch Smerling schon gezeigt, als sie noch nicht Teil jener niederländischen Sammlung waren. Da wurde gleiches Interesse spürbar; und so reiften erste Pläne für die China-Schau.

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„Appearance of Crosses“ (2007-10) von Ding Yi – jetzt in der Duisburger Küppersmühle. (Foto: Ding Yi/china8)

Warum kommt Ai Wei Wei nicht?

Kenner der Materie mögen mich geißeln, aber ich kann nicht behaupten, auch nur einen der präsentierten Künstler zu kennen – sicherlich eine Mißlichkeit, die durch ausgiebigen Ausstellungsbesuch behoben werden könnte.

Der einzige wirklich weltberühmte chinesische Künstler wäre wohl Ai Wei Wei, doch der wollte nicht teilnehmen. Man hatte ihn, beteuert Smerling, angefragt, und für diese Anfrage hatte es von den chinesischen Behörden grünes Licht gegeben.

Ai Wei Wei kommt angeblich also aufgrund einer persönlichen Entscheidung nicht. Was ihn so entscheiden ließ und ob Repression im Spiel war, unterliegt der Spekulation. Allerdings, so Smerling, sei ja auch bekannt, daß der regimekritische Künstler Gruppenausstellungen nicht liebe.

Was nun aber gibt es zu sehen? Viel Öl auf Leinwand, viel Acryl auf Leinwand, einige Videos, einige Installationen, gut plazierbares Skulpturales. Von den Formaten her fühlt man sich oft an die Art Cologne erinnert, wo (ganz anders als im zeitgenössischen deutschen Ausstellungsbetrieb mit seinen immer komplizierteren konzeptionellen Verschwurbelungen) solide Flachware dominiert, gut ins Wohnzimmer zu hängen. Gleiches gilt sinngemäß für die prominent präsentierbaren Skulpturen und Blumenvasen. Keine Experimente – allerdings sollten die Wohnzimmerwände eine gewisse Größe haben, um die ausladende Chinakunst aufzunehmen.

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Die Skulptur „Bang!“ (2002) von Xiang Jing ist 162 cm hoch und steht jetzt im Duisburger Lehmbruck-Museum. (Foto: Xiang Jing/china8)

China-Pop adé

Und inhaltlich? Verglichen mit den poppig bunten, oft auf sehr eindringliche Art gesellschaftskritischen Werken, die in den vergangenen Jahrzehnten bei uns zu sehen waren, ist die „China 8“-Kunst bedenklicher, bedeckter, kontemplativer, in gewisser Weise europäischer. Die Farbigkeit wirkt häufig zurückgenommen, gesellschaftskritische Botschaften sind zwar wahrzunehmen, dominieren aber nicht. Doch selbstverständlich sind Globalbewertungen wie diese immer schwierig. Das Schaffen von 120 Künstlerpersönlichkeiten läßt sich nicht seriös auf einen Punkt bringen.

Die Karte des Reviers, die die teilnehmenden Museen verzeichnet, weist im Raum Dortmund lediglich eine weiße Fläche auf. Wollten die nicht, konnten die nicht? Ferdinand Ullrich, der nicht nur die Recklinghäuser Kunsthalle leitet, sondern auch den Ruhr-Kunstmuseen vorsteht, in deren Kontext das China-Projekt entstand, kann es nicht erklären, findet den Umstand aber auch nicht sehr bedeutsam. Für ihn wurde andersherum ein Schuh daraus. Immerhin nehmen acht Häuser teil, das bewertet er als großen Erfolg.

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Das „New China Series Car No. 1“ (2009) von Ma Jun steht im Hagener Osthaus-Museum und ist aus Porzellan (Foto: Ma Jun/china8)

Daß die Dortmunder nicht mitgezogen haben, mag der personellen Situation geschuldet sein, dem Machtvakuum auf der Leitungsebene im Dortmunder „U“. Bekanntlich sucht man einen „Intendanten“ für das kompliziert strukturierte Haus, der wohl auch den derzeitigen Museumschef Kurt Wettengl beerben wird. Doch sind das einstweilen noch Spekulationen.

Weil aber Spekulieren so viel Freude bereitet, spekuliere ich noch etwas weiter und wage die nicht allzu mutige Prognose, daß die Menge der chinesischen Kunst auf dem Kunstmarkt in den nächsten Jahren enorm wachsen wird. Es gibt viel gelangweiltes Geld, das man im Austausch mit den Kunstwerken einsammeln kann. Zur Freude der Chinesen und ihrer deutschen Partner.

 

  • „China8“
  • 15. Mai bis 13. September 2015.
  • Neun Ausstellungen in acht Häusern
  • Duisburg: Küppersmühle und Lehmbruck-Museum
  • Düsseldorf: NRW-Forum in Düsseldorf
  • Essen: Folkwang-Museum
  • Recklinghausen: Kunsthalle
  • Marl: Skulpturenmuseum Glaskasten
  • Mülheim/Ruhr: Kunstmuseum
  • Hagen: Osthaus-Museum
  • Gelsenkirchen: Kunstmuseum
  • Öffnungszeiten und Eintrittspreise sind unterschiedlich.
  • An den Wochenenden verkehren kostenlose Bus-Shuttles zwischen den Museen.
  • Für die ganze Schau wird auch ein Kombi-Ticket zum Preis von 18 Euro (erm. 10 Euro) angeboten, mit dem in der gesamten Laufzeit des Projekts jede Ausstellung einmal besichtigt werden kann.



Detlef Orlopps starke Strukturen und Plakate aus der DDR im Essener Folkwang-Museum

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Nur Struktur. Das Bild heißt „2.8.1987“ (Foto: Museum Folkwang/Detleff Orlopp)

In der Malerei wären solche Bilder etwas Vertrautes. Viele von ihnen zeigen gleichmäßige Oberflächen, sind monochrom und wirken in der Hängung schnell wie Serien. Vielleicht würde man, wäre es Gemaltes, von „konkreter Kunst“ sprechen, vielleicht auch könnte man in ihnen Totalübermalungen im Stil Gerhard Richters zu erkennen glauben.

Tatsächlich jedoch sind die rund 160 Bilder Fotografien und zeigen sorgfältig abgelichtete Strukturen in urwüchsigen Landschaften oder auf bewegten Wasseroberflächen. Sie entstanden in einem Zeitraum von rund 60 Jahren, ihr Schöpfer ist der Fotograf Detlef Orlopp, dem das Essener Folkwang-Museum jetzt eine große Werkschau ausrichtet. Die Bilder entstammen einem Ankauf von rund 500 Arbeiten, den das Museum 2012 tätigte.

Detlef Orlopp, 1937 in Westpreußen geboren, gehörte zu den ersten Schülern Otto Steinerts, der als Fotolehrer zunächst in Saarbrücken, später in Essen die „subjektive Fotografie“ begründete. Und wenn man nun in Essen Orlopps Arbeiten sieht, mag man das kaum glauben. Denn schon seine seriellen Portraitreihen, die er in den frühen 60er Jahren beginnt, prägt offenkundig der Versuch, die subjektive Handschrift des Lichtbildners durch formale Einheitlichkeit verblassen zu lassen.

Orlopps Landschaften aus jener Zeit indes lassen das Topographische, das Ortstypische noch erkennen, zeigen Bergspitzen und Felswände, Dünenformationen und Küstenlinien. Man ahnt die Wucht der urwüchsigen Natur, doch „beweist“ der Fotograf sie nie, etwa durch Größenvergleiche mit Spuren zierlicher Zivilisation. Die minimalistische Kunstrichtung Zero, so Kurator Florian Ebner, habe Orlopp in seinen frühen Schaffensjahren sehr beeinflusst. Man glaubt es, sieht man seine Bilder, gern.

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„4.9.1966“ (Foto: Museum Folkwang/Detlef Orlopp)

In den folgenden Jahrzehnten entstehen Arbeiten, die noch radikaler sind. Sie zeigen ausschließlich rhythmische Struktur und sind nicht mehr verortbar. Seriell reiht Orlopp das Ähnliche aneinander , was dieser Ausstellung in den angenehm zurückhaltenden Räumlichkeiten des Folkwang-Neubaus geradezu meditativen Charakter verleiht. Doch auch wer hier nicht die Seele schweben lässt, ist tief beeindruckt von der Vielfalt der wahrgenommenen Strukturen und von der vielen (Fotografier-) Arbeit, die in dieser Ausstellung steckt. Übrigens entstanden alle Abzüge – die meisten von ihnen im lange Zeit größten Konfektionsmaß 50 x 60 Zentimeter – sämtlich noch auf traditionelle Weise als Bromsilbergelantine-Abzüge in der Dunkelkammer.

Der serielle Charakter des Oeuvres lässt einen an die Bechers denken, die es mit ihren fotografischen Reihungen von Industrieanlagen, Fachwerkhäusern usw. zu Weltruhm brachten. Interessanterweise machte Orlopp von 1952 bis 1954 eine Fotografenlehre in Siegen, der selben Stadt, in der der sechs Jahre ältere Bernd Becher das Licht der Welt erblickt hatte. Gleichwohl war ihrer beider künstlerischer Werdegang höchst verschieden, haben sich die kreativen Lebensbahnen wahrscheinlich nie gekreuzt.

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„Helen von B., 8.10.1963“ (Foto: Museum Folkwang/Detlef Orlopp)

Der vorzügliche Katalog zur Ausstellung übrigens wurde, eine Besonderheit, auf zwei verschiedenen Papiersorten gedruckt. Frühe Bilder erscheinen in Hochglanz und reinem Weiß, spätere mit einem Hauch von Sepia auf mattem Papier. So kommt der Druck den Vorlagen besonders nahe. Ältere Fotografen fühlen sich bei dieser Materialwahl an die traditionsreichen Agfa-Fotopapiere „Brovira“ und „Record rapid“ erinnert.

Plakate aus der DDR 1949 – 1990

Die andere neue Ausstellung im Essener Folkwang-Museum hat mit der ersten nur Ort und Zeit gemein. Sie zeigt „DDR-Plakate 1949 – 1990“, ein Gutteil des Materials kommt von der Berliner Stiftung Plakat Ost.

Ja, auch in der DDR wurde geworben – für die richtige Politik und gegen den Klassenfeind, gewiss, aber ebenso für Kino und Theater und auch für die Waren, die beispielsweise der „Konsum“ für die Werktätigen (oft leider nicht) bereithielt.

Werbung hatte in der Mangelwirtschaft der DDR immer die Aura des Absurden. Und sie galt als ungelenk, über „Plaste und Elaste aus Schkopau“, die mit schäbigem Schild an einer Brücke beworben wurden, haben Generationen von westdeutschen Transitautobahnbenutzern gelacht. Gleichwohl entstand in der DDR eine Vielzahl vorzüglicher Plakate. Manche davon waren auch im Westen bekannt, wie die schwungvolle Erweiterung des „MM“-Logos der Leipziger Messe zu einem Pärchen mit Koffern, das energisch durch das Bild strebt, der Messe entgegen vermutlich. Es entstand schon 1956, seine Schöpfer waren Margarete und Walter Schultze.

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Klaus Wittkugel: „Kunst im Kampf“. Plakat zur Ausstellung der deutschen Akademie der Künste, 1962 (Foto: Museum Folkwang/VG Bild-Kunst, Bonn)

Viele klassenkämpferische Arbeiten mit roten Fahnen und geballten Fäusten, für den sozialistischen Aufbau und gegen die Bonner Kriegstreiber, sind fachlich und ästhetisch ausgesprochen gelungen. Es ist Plakatkunst im Stil der Zeit, der auf beiden Seiten der immer stärker befestigten Staatsgrenze recht ähnlich war. In den Siebzigern hielt vereinzelt die Pop Art Einzug ins DDR-Plakatschaffen, beispielsweise in der Werbung für Ulrich Plenzdorfs auch im Westen stark beachteten Film „Die Legende von Paul & Paula“ mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Entwurf von Heinz Edelmann, der das Cover der Beatles-Platte „Yellow Submarine“ gestaltete. Doch der tatsächliche Schöpfer hieß Klaus Vonderwerth.

Die jüngsten Plakate stammen aus der Zeit, als es die DDR fast schon nicht mehr gab. 1990 bewarb das Bündnis 90 einen gewissen Jochen Gauck mit dem Slogan „Freiheit – wir haben sie gewollt – wir gestalten sie!“ – „Tatkräftig – zuversichtlich – mit norddeutschem Profil“ steht außerdem noch auf dem Plakat, was immer mit Letzterem gemeint ist.

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Jürgen Freeses Plakat „Nürnberg schuldig!“ von 1946 ist sogar um einiges älter als die DDR. (Foto: Museum Folkwang)

„Anschläge von ,Drüben’“, so der Titel der Plakatausstellung mit dem heutzutage wohl unvermeidlichen Doppelsinn, ist nicht zuletzt eine Einladung zum Nachdenken über den anderen deutschen Staat, den es eben auch einmal gab und den viele am liebsten einfach vergessen wollen. Bilder aus einer untergegangenen Welt mithin. Das wäre fast schon ein Plakatmotiv.

  • Detlef Orlopp: „Nur die Nähe – auch die Ferne. Fotografien“. Katalog 34 €.
  • „Anschläge von ,Drüben’. DDR-Plakate 1949 – 1990“. Katalog 20 €.
  • Beide Ausstellungen: Bis 19. April 2015, Di-So 10-18 Uhr, Do u. Fr 10-20 Uhr, Eintritt 5 €.
  • Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen
  • www.museum-folkwang.de



Was wird hier gespielt? NRW-Theatertreffen 2014 in Dortmund

Der Dortmunder Theaterchef Kay Voges gibt sich bescheiden. Die zehn besten nordrhein-westfälischen Theaterproduktionen des Jahres 2014 herauszufinden, sei schlichtweg unmöglich. „Wer will das entscheiden?“ Stattdessen haben die Dortmunder ihre Kollegen in den anderen Städten um Vorschläge gebeten. Und die Vorschläge haben sie darauf hin geprüft, ob sie auf einer Dortmunder Bühne gespielt werden können.

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Szene aus „wohnen. unter glas“ von Ewald Palmetshofer. Foto: Christoph Meinschäfer/Theatertreffen

Die ausgesuchten Inszenierungen sind das Teilnehmerfeld des NRW-Theatertreffens, das vom 13. bis 20. Juni in Dortmund stattfindet. Und weil ein bißchen Superlativ eben doch sein muß, werden nun, wenn schon nicht die zehn besten, so doch die zehn bemerkenswertesten Produktionen präsentiert. Übrigens mit einer Ausnahme, der Oberhausener Beitrag ist nicht transportabel. Deshalb fährt am 19. Juni ein Shuttle-Bus.

Dies sind, chronologisch geordnet, die Teilnehmer:

„Das Mädchen aus der Streichholzfarbrik“, Schauspiel Bochum, 13. Juni, 20 Uhr, Schauspielhaus. Das Stück entstand nach dem Film von Aki Kaurismäki, Regie führt Bochums Hausherr David Bösch. Und in der Titelrolle ist die quirlige Maja Beckmann zu erleben.

„wohnen. unter glas“, Theater Paderborn, 14. Juni, 18 Uhr, Studio. Eins der zeitgenössischen Stücke im Wettbewerb. Geschrieben hat es der fleißige Österreicher Ewald Palmetshofer (Jahrgang 1978), der 2008 mit „hamlet ist tot. keine schwerkraft“ am Mülheimer Stücke-Wettbewerb teilnahm und über den die Meinungen, wie man so sagt, auseinandergehen. Jedenfalls ist nach 60 Minuten alles vorbei und somit genug Zeit für eine weitere Aufführung am selben Tag, nämlich:

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Szene aus „Minna von Barnhelm“. Foto: Philipp Ottendörfer/Theatertreffen

„Minna von Barnhelm“, Theater Bielefeld, 14. Juni, 19.30 Uhr, Schauspielhaus. Die Bielefelder, ist zu hören, gehen den Stoff sehr komödiantisch an. Da werden die 160 Minuten (eine Pause) ganz fraglos wie im Flug vergehen.

„Der Prozess“, Schauspiel Essen, 15. Juni, 18 Uhr, Schauspielhaus. Natürlich besonders interessant für die, die den Dortmunder „Prozess“ mit dem Essener vergleichen wollen. Übrigens gibt es ein Wiedersehen mit Axel Holst, der früher in Dortmund spielte.

„JR“, Wuppertaler Bühnen, Montag, 16. Juni, 20.15 Uhr, Schauspielhaus. Nach dem Roman von William Gaddis, in einer Fassung von Tom Peuckert, vermerkt das Programm. Das Stück ist eine Uraufführung und erzählt die Geschichte von JR, einem elfjährigen „Rotzlöffel“ (O-Ton), der eine steile Karriere als Brachialkapitalist macht und dabei zum Systemrisiko wird.

„Kasimir und Karoline“, Düsseldorfer Schauspielhaus, 17. Juni, 20 Uhr, Opernhaus. Für die Aufführung im Opernhaus entschied sich das Dortmunder Theater wegen der dortigen Drehbühne. Sie bietet zwar nicht die Möglichkeiten der Düsseldorfer Maschinerie, erlaubt aber doch, einen Großteil der Bewegungseffekte zu zeigen. Bierbänke und –tische in atemberaubender Bewegung, und das gegebenenfalls sogar alkoholfrei. Regie führt Nurkan Erpulat, der mit der „Ehrenmord“-Tragödie „Verrücktes Blut“ ziemlich bekannt wurde.

„Der gute Mensch von Sezuan“, Schauspiel Köln, 18. Juni, 20 Uhr, Schauspielhaus. Moritz Sostmann inszenierte mit Menschen und Puppen, 180 Minuten mit Musik (von Paul Dessau).

„Die deutsche Ayse. Türkische Lebensbäume“, Theater Münster, 19. Juni, 18 Uhr, Studio. „Ein spitzzüngiges Sittenbild über die Anfänge der Migration in Deutschland“ schrieben die Westfälischen Nachrichten zur Premiere.

„Die Orestie“, Theater Oberhausen, 19. Juni, 21 Uhr. Simon Stone hat den Stoff von Aischylos in die Gegenwart gestellt. Und das Theater bleibt, wo es ist, weil der Dortmunder Schnürboden kaputt ist. Der Shuttle-Bus fährt um 19.30 Uhr.

„Das Himbeerreich“, Theater Aachen, Freitag, 20. Juni, 18 Uhr, Studio. Andreas Veiel schrieb seine entlarvende Kapitalismus-Kritik, nachdem er 25 Top-Banker und Manager interviewt hatte. Das Stück fand viel Beachtung, als es herauskam.

Am selben Tag um 20.30 Uhr ist auch die Preisverleihung vorgesehen. Ob dann jedoch eine Inszenierung oder eine Schauspielerin/ein Schauspieler oder eine Regie den Lorbeer erhält, steht ganz in der Entscheidung der Jury.

Neben dem traditionellen Theaterprogramm haben die Dortmunder diverse Diskussionsveranstaltungen („Panels“), Workshops, Konzerte und Performances in das Programm eingeflochten. Bei den letztgenannten scheint „The Smartphone Project“ besonders interessant zu sein; Hier kann sich das Publikum eine App herunterladen (die übrigens bei Android mehr kann als bei Apple) und mit ihr Tänzer im Schauspielhaus ähnlich beeinflussen wie Spielfiguren in einem Computerspiel. Von den eingeladenen Musikanten seinen die nicht gänzlich unbekannten „Tiger Lillies“ genannt, die hier mit „Support“ von Dortmunds Musikchef Paul Wallfisch auftreten.

Es gibt Jörg Buttgereits „Sexmonster“ als Film zu sehen, Kindertheater, Party und einen Theatervorplatz, den die Dortmunder „Urbanisten“ temporär in einen „selbstorganisierten und ungezwungenen Lieblingsort“ verzaubern wollen. Für Fußballfans wird im „Labor“ neben dem Theaterfoyer an allen Tagen der Fernseher laufen und von der Weltmeisterschaft berichten.

Und wer das alles genauer wissen will, nutze die nachfolgend aufgeführten Netzadressen.

www.nrw-theatertreffen.de

www.theaterdo.de

 




Der Krankenhausreport (Teil 2): „Wir sind die grünen Damen“

Heute sind zwei Veranstaltungen im Veranstaltungszentrum angesagt: Patientenberatung zum Thema Ernährung und ein katholischer Gottesdienst für alle Glaubensrichtungen. Ich muss zum EKG auf B1. Ich nehme Platz gegenüber dem Schreibzimmer B01.21. Hier gibt es Schreibzimmer. Das klingt nach Therapie. Sitzen hier diejenigen, die sich schreibend ihre Lasten von der Seele schreiben? Ist es etwa das Dichterzimmer?

Ich will hinein, aber es ist verschlossen. Vielleicht ein Geheimbund für alle Glaubensrichtungen. Neben meiner Bank ist das Patienten-WC, ein wunderbarer Hort für all die Bakterien, die hier ihr Unwesen treiben können. Das stille Rauschen wird plötzlich untermalt von einem anhaltenden Piepsen, das man bei Dr. House oder Emergency Room immer dann hörte, wenn die Spannung steigen sollte. Alarm. Exitus. Ich bin dran. Das Piepsen hört auf. Das EKG sagt: „Fit wie ein Turnschuh.“

Kunst im Spital

Kunst im Spital

Um 20.15 ist Nacht. Der Nachbar will den zweiten Teil eines Fernsehfilms sehen. „Okay“, sage ich verständnisvoll und schaue mir diese Wiederholung zum wiederholten Male an. Bereits nach Minuten vernehme ich Schlafgeräusche, die den Text in den Kopfhörern übertönen. Ich schließe die Augen und vor mir tut sich die Nacht auf in Form eines langen dunklen Ganges, in dem ich stundenlang auf- und abgehe.

Um 22.00 Uhr übernehme ich heimlich die Herrschaft über die Fernbedienung. Um 00.00 beschließe ich, Schlaf über mich kommen zu lassen, die Fernbedienung fest in meiner linken Hand. Um 2.15 Uhr habe ich das Gefühl, acht Stunden geschlummert zu haben. Um 3.20 Uhr bin ich sicher, dass schlummern nicht schlafen ist.

Disziplin wie im Luftschutzbunker

Um 5.50 Uhr kommt das erste von vielen Rollkommandos, die den Kranken an das erinnern, worum es im Leben geht: Disziplin und Gesundheit. „Guten Morgen!“ Das klingt so, als ob man direkt ohne Umwege sich in den Luftschutzbunker begeben soll. Es werden aber nur Papierkörbe geleert. Immerhin: Ordnung. Fünfzehn Minuten später wird die Tür erneut eingetreten. Dieses Mal wird ein Wagen hereingeschoben mit allerlei Gerät. Zwei starke Frauen schieben das Labor auf Rädern. Sie wollen messen. „Unter die Zunge“ lautet der freundliche Befehl für das Fiebermessen und „Arm freimachen“ für den Blutdruck, den man auf solche Weise um diese Uhrzeit krankenhausgemäß auf die notwendige Höhe treibt.

6.30 Uhr erneutes Rumpeln in den Gängen. Auf dem Flur ist offenbar der Bär los. Lautes Palavern, Geschirrgeklirre, als sei man bei der Frühschicht der Opelwerke zu besseren Zeiten. Frühstück – mit dem identischen Flashback wie beim Abendbrot. Bevor ich mich strafbar mache, nehme ich alles ein. Es sind immerhin Lebensmittel und darum geht es. Ich schiebe mir gerade das Brot mit Käse in den Mund, da hat mir eine neue Schwester schon die Armbinde umgeschnallt, um mir mein Blut abzunehmen. In der einen Hand das trostlose Käsebrot, aus dem anderen Arm wird zeitgleich gezapft. Ich solle noch etwas drücken. Also drücken mit der labbrigen Stulle in der Hand. Mein Gesicht ist beige wie der Streichkäse.

Ich gehe eine rauchen. Wo sich nachts noch die Krähen in den Bäumen versammelten nach lautem Getöse, ragen nun die leeren Äste unbewohnt vom Baum ab, als wären sie vereinsamt, blattfrei und winterlich. Taxis fahren vor. Selbsteinlieferer zuhauf. Zurück in meiner Kammer. Es erscheint eine Ernährungsfachfrau, die mich aufklärt über meine privaten Wahlmöglichkeiten. Also bestelle ich zum Frühstück am folgenden Tag Rührei mit Kräutern. Eine Schale Obst käme gleich sowieso. Sie wird gebracht wie die Medizin: Eine Banane, ein Apfel, eine Clementine und viel süßes Kekszeug. Um 10.00 Uhr liefert jemand die Tageszeitung, wahrscheinlich auch ein outgesourctes Unternehmen, zuständig für die Belieferung von Tageszeitungen in deutschen Krankenanstalten. Na also, geht doch.

Glaubensgemeinschaft der Liegenden

Kurze Zeit später – eine seltsame Begebenheit, eine dieser Situationen, mit denen man nicht rechnet. Eine ältere Dame mit grüner Bluse, gefolgt von einer jungen schwarzhaarigen Frau um die zwanzig. „Wir sind die grünen Damen“, sagt sie, „und dies ist unsere Neue.“ Grüne Damen? Sind sie an die Stelle des schwarzen Sensenmanns getreten? Gibt es eine neue Glaubensgemeinschaft für Liegende? Die ältere Dame fragt, ob ich Sorgen habe oder Probleme, über die ich sprechen möchte. „Ja“, denke ich, „endlich“. „Nein“, sage ich, „ich bin glücklich und zufrieden.“ Selten kam mir eine Lüge so schnell über die Lippen.

Sie verschwinden, wie sie gekommen sind, fast, als würden sie sich auflösen. Ich schaue bei Wikipedia nach. Vielleicht hätte ich sie herzen sollen oder in mein Bett einladen oder meine Hand zur Verfügung stellen. Ich weiß es nicht. Sie sind in der ökumenischen Krankenhaus- und Altenheim-Hilfe kirchenübergreifend tätig und christlich inspiriert. Meist übernehmen sie Vorlese-, Einkaufs- und andere Dienste. Das habe ich nicht gewusst. Vorlesen aus Kafkas „Verwandlung“ – das wäre eine Behandlung gewesen, der ich mich gerne untergeordnet hätte.

Zwölf Uhr mittags…

Das Mittagessen wird gebracht. Es ist knapp vor zwölf, eine Uhrzeit, die ich zuletzt als Zehnjähriger zu Hause mit Essen in Verbindung gebracht hatte. Zeitgleich kommt der Chefarzt und spricht mit mir. Ich warte ebenso auf Erkenntnisgewinne wie er. Wir sitzen in einem Boot. Er kündigt für heute und morgen weitere Untersuchungen an. Die Tage sind ausgefüllt. Die Brühe habe ich verschmäht, weil kalte Brühe eher etwas ist für die Sommerzeit unter Pinien in Andalusien. Draußen ist Winter im Ruhrgebiet. Der Rosenkohl und die Salzkartoffeln und das Stück Braten erhalten meine Aufmerksamkeit. Alles lauwarm, wie es die Griechen mögen. Ich muss also immer, wenn ein Essen bereitgestellt wird, damit rechnen, dass eine ärztliche Begleitung da ist, die mich zeitgleich untersucht.

Plötzlich gibt es Privat-Alarm. Der alte Herr neben mir muss raus. Man muss ihm die Fernbedienung aus der Hand operieren. „Aber…“, sagt seine treusorgende Frau. „Tut mir Leid“, sagt die Schwester, die für die Zimmervergabe zuständig ist.  „Sie hätten vorher bezahlen sollen“, diesen Liegeplatz bekäme nun ein richtig Privater. Der Pfleger, ein junger Bursche mit wirr auf dem Kopf verteiltem Haar, bestätigt der Gattin des alten Herrn, dass er im Dreier von ihm genauso behandelt würde wie im Zweier. Das Bett wird samt Hab und Gut des Nachbarn herausgefahren. Mit Blutschnüren verkabelt sehe ich ihn winken, aber das ist nur meine Vorstellungskraft im Zuge der Umzugsmaßnahmen. Mann und Frau wehren sich mit Händen und Füßen. Sie verschwinden in einem Dreier-Saal. Ich habe jetzt eine Tanzfläche.

Hier geht es nicht um Wellness

Krankheit ist nicht Wellness. Hier soll man sich nicht wohl fühlen. Man wäre falsch. Man stellt sich seiner Krankheit. Es ist ein Härtetest, nichts für Weicheier. Wer Ruhe will, geht gleich ins Grab. Hier gilt es, was auszuhalten, Gemeinschaft vor allem. Ich spüre es schon. Habe Magenschmerzen. Die Nase läuft plötzlich. Es juckt. Nachts schreit und stöhnt es auf den Gängen und aus den Zimmern. Hier lohnt es sich, Aufnahmen zu machen, die später für Splattermovies genutzt werden können. Das ist das Leben und darum geht es ja. Aber ich kann mir ja noch eine rauchen gehen.

Draußen stehen drei, vier Taxis mit laufendem Motor. Da trifft man sich zum Durchatmen und Rauchen.

Ein Neuer wird in mein temporäres Wohnzimmer eingeliefert. Ein großer Mann an die zwei Meter. Kopfschmerzattacken plagen ihn. Er braucht eine Bettverlängerung und ist Computerfachmann. Jetzt bin ich der ältere und habe die Fernbedienung schon auf mein Nachttischschränkchen gelegt. Wenn er etwas Bestimmtes schauen wolle, solle er ruhig Bescheid sagen, sage ich großzügig. Das sei okay. Er habe sein Notebook. Für mich ist das auch okay. Ich trinke meinen inzwischen obligatorischen „Cafeteria-Cappuccino für unterwegs.“ Es folgen zwei Untersuchungen auf A5. Elektronik. Impulse. Eine gelungene Abwechslung vor dem Mittagessen. In zehn Minuten solle ich mich auf B1 einfinden zum EEG. „Jawoll!“, sage ich, „ich laufe los“. „Nicht jetzt! In zehn Minuten!“, heißt es. Ich könne mir ja noch eine rauchen.

Der Rest des Tages ist Zeitvertreib zwischen Bettkante, Dieselgeruch und Fahrstuhlfahren.

Paris erkennt man am Eiffelturm

Krankenhausgänge sind kein kunstfreier Raum. Im Gegenteil. Hier wird den lokalen Künstlern Raum gegeben. Auf A5 beherrscht Mischtechnik auf Leinwand die Ausstellung. Impressionen in Pastell. Cities. Das Motiv „Paris“ irritiert mich. Es zeigt deutlich den Eiffelturm. Das ist subtile Direktheit. Auch „Pisa“ kommt ohne den schiefen Turm nicht aus. Wie solle man sonst Pisa erkennen? Ein Gesichtsausschlag macht auch ohne sichtbaren Ausschlag keinen Sinn – also für den Betrachter.

Im Wartebereich zum EEG zieren Landschaftsbilder die Wände, an die man wartend unweigerlich zu starren beginnt. Wo sonst, wenn nicht hier, hat das Kunstwerk uneingeschränkte Aufmerksamkeit? Wer geht in ein Museum, um sich stundenlang ein einziges Bild anzusehen? Leicht der japanischen Seidenmalerei angelehnt, ist hier Landschaft Landschaft. Im Foyer des Hauses gibt es Aquarelle und bunte Malerei, wegweisend für den weiteren Verlauf der Gänge und Abteilungen. Manche Bilder hängen schief. Niemand wird sie je gerade richten.

In allen Nachrichten liest und hört man heute Berichte über Zustände in deutschen Krankenhäusern. 19000 Tote durch Behandlungsfehler. Das ist prickelnd, wenn man gerade selbst einsitzt oder –liegt. Überhaupt ist Humor unerlässlich. An der Wand meines Zweierappartments hängt ein Gerät, aus dem Desinfektionsmittel sprühen, wenn man es betätigt. Es betätigt nur niemand. Ich mache einen Versuch und die Flüssigkeit sprüht aus einer Düse auf meine Hose, an eine Stelle, wo das Erklären von Flecken keinen glaubwürdigen Sinn macht.

Fortsetzung folgt




„re:set“ – Recklinghausen zeigt Malerei nach Computer-Motiven

Drum

Viereinhalb Quadratmeter wabernde Kunst: „Drum’n Bass“ von Volker Wevers aus dem Jahr 2007 (Bild: Kunsthalle Recklinghausen/Katalog)

Der Computer, eine Binse, hat viele Lebensbereiche gravierend verändert. Auch die bildende Kunst bedient sich seiner, manche Menschen behaupten gar, der Computer selbst besäße Kreativität und würde den Künstler bald überflüssig machen. Ist die Maschine also das letzte Maß der Dinge? Das will man ja auch nicht so recht glauben, zumal Bäume nicht in den Himmel wachsen, selbst dann nicht, wenn sie digitalisiert sind.

In der Recklinghäuser Kunsthalle sind nun rund 70 Bilder zu sehen, deren Schöpferinnen und Schöpfer sehr bewußt eine Trennlinie zur elektronischen Kunstgenerierung gezogen haben. Es ist dies eine Grenze irgendwo auf dem Weg zum künstlerischen Endprodukt, keine Ausgrenzung des Elektronischen schlechthin. Vielmehr sind viele Entwürfe im Rechner entstanden, um letztlich jedoch zu einem „gemalten“ Bild zu führen. „Re:set – abstract painting in a digital world“ ist die Gemeinschaftsschau von 16 Künstlerinnen und Künstlern überschrieben, und es darf einen nicht wundern, daß vier von ihnen mit Video arbeiten, was der Malerei ja nur mit einigen definitorischen Anstrengungen zuzuordnen ist.

Die Teilnehmer stammen aus Deutschland, Belgien, Dänemark und den Niederlanden, kuratiert wurde die Ausstellung von Claudia Desgranges und Friedhelm Falke, die auch als Künstler beteiligt sind, und das ganze ist ein Gemeinschaftsprojekt der Kunsthalle Recklinghausen mit dem Kunstmuseum Heidenheim, dem Clemens-Sels-Museum in Neuss und dem Kunstmuseum Celle, wo die Ausstellung bereits zu sehen war. Womit wir endlich beim Thema wären: Was gibt es überhaupt zu sehen?

Global und kränkend phantasielos geantwortet: Viele große bunte Bilder, die in Machart und Anmut natürlich ebenso heterogen sind wie das Teilnehmerfeld. Noch komplizierter wird es, wenn in jedem Oeuvre die spezifische Beziehung zur elektronischen Bildergenerierung mitgedacht werden soll oder gar der Mehrwert für den Betrachter, der durch die handwerkliche Ausführung entsteht. Da hat Friedhelm Falke beispielsweise von schwarzen Balken dominierte Flächenkompositionen auf dem Rechner durchprobiert und seine Favoriten mit Acrylfarbe auf Nesselgrund gemalt; Signe Guttormsen betont die Stofflichkeit ihrer Werke, indem sie beim hölzernen Trägermaterial immer wieder die rechteckige Grundform bricht, Ab van Hanegem wiederum malt vergleichsweise traditionelle, farbenfrohe Flächenkompositionen auf Segeltuch. Ist er damit eher bei Cézannes Stilleben-Apfel, oder war der Bildschirmschoner sein Vorbild? „Eher Apfel als Bildschirmschoner“, stellt Hans-Jürgen Schwalm, der stellvertretende Chef der Kunsthalle, kategorisch fest. Wenngleich van Hagenems farbsatte Bilder auch sehr schöne Bildschirmschoner ergeben würden, unterlegt vielleicht mit einem pfiffigen Animationsprogramm.

Man schreitet voran durch die Hallen des ehemaligen Hochbunkers am Recklinghäuser Bahnhof, trifft auf Michael Jägers stupende Ansammlungen kleinteiliger Dekorationsmuster in knallbunten Clustern auf monochromen Flächen, begegnet Martijn Schuppers’ geheimnisvollen, dreidimensional wirkenden Farboberflächen, die aus dem All oder auch aus dem Elektronenmikroskop stammen könnten, tatsächlich jedoch in einer sehr speziellen Prozedur unter Zuhilfenahme von Lösungsmitteln und weiteren geheimen Chemikalien entstanden. Entfernt lassen sie in ihrer Textur übrigens an manche Flächenbilder von Gerhard Richter denken, der jedoch mit vollkommen anderer Technik zu seinen Resultaten gelangte.

Den wild geschweiften Flachformaten Volker Wevers’ ist eigen, daß sie kraftvolle Titel tragen: „Roundaboard“ heißt eines von ihnen, „Drum’n Bass“ ein anderes, „Wide Car in Germany“ ein drittes. In ihrer schlierigen, plastischen Anmutung erinnern sie an den spontanen Expressionismus des hundertjährigen K.O. Götz, den die Kunstwelt soeben wiederentdeckt (ab März in der Duisburger Küppersmühle), doch sind sie, wie angesagt, Früchte der Auseinandersetzung mit Computergeneriertem.

Einige Plastiken sind in der Ausstellung, und warum sie nicht Plastiken sein sollen sondern Malerei, ist beim besten Willen nicht nachvollziehbar. Aber die stilistischen Zuordnungen von Kunst sind eh immer schwierig und wirken oft auch willkürlich. Ohne Computer-Hintergrund könnte man durchaus auch meinen, in dieser Schau etlichen Vertretern beispielsweise des abstrakten Expressionismus oder der konkreten Malerei begegnet zu sein.

Der Eindruck, den diese Recklinghäuser „postdigitale“ Bilderschau hinterläßt, bleibt verhalten. Natürlich liegt das ganz wesentlich daran, daß die zwölf unterschiedlichen Positionen einander gegenseitig Aufmerksamkeit wegnehmen. Doch köchelt das Gezeigte auch sehr im eigenen Saft, zeigt jenseits des autoreferentiellen Eifers wenig Lust auf Botschaft oder gar Radikalität.

Schließlich gilt, wie stets: Man (und frau!) gehe selber ins Museum und mache sich ein Bild. Denn nur hier gibt es die Originale zu sehen, und die wirken viel stärker als jede Reproduktion.

„re:set“ – Kunsthalle Recklinghausen, Große Perdekamp-Straße 25-27 (am Bahnhof). Sonntag, 9. Februar, bis 13. April 2014. Geöffnet täglich außer Montag 11 bis 18 Uhr. www.kunst-re.de, Eintritt 3 Euro. Der ausführliche Katalog kostet im Museum 12 Euro, im Buchhandel 24,80 Euro.




Von Mäusen und Menschen: Wolfgang Tillmans fotografisches Werk im Düsseldorfer K 21

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer Bewunderung: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Aber wie passt die vielzitierte Sentenz des Philosophen Immanuel Kant zu einem Fotokünstler der Gegenwart?

Eigentlich gar nicht, möchte man meinen, doch empfangen den Besucher gleich im ersten Raum der Ausstellung von Wolfgang Tillmans im Düsseldorfer K21 riesengroße C-Prints von sternenübersäten Nachthimmeln. An der Wand gegenüber zieht eine kleine schwarze Venus über den orangenen Ball der Sonne. „Wann habe ich zuletzt einen derart geilen Sternenhimmel gesehen“, fragt man sich unwillkürlich und denkt an den letzten Sommerurlaub am Meer. Ernüchterung ereilt einen gleich im nächsten Zimmer: „Bitte nackt duschen“, warnt ein Schild und weitere Fotos zeigen unordentliche Kleiderstapel und schlecht sortierte Socken auf dem Sofa sowie herumstehendes Geschirr. Woher weiß der Fotograf denn so genau, wie es bei uns zu Hause aussieht?

Wolfgang Tillmans, Venus Transit, Kunstsammlung NRW

Wolfgang Tillmans, Venus Transit, Kunstsammlung NRW

Vielleicht weil er unserer Generation angehört? 1968 in Remscheid geboren, feierte er noch ein paar wilde Partys in Düsseldorf oder so und machte sich dann Anfang der neunziger Jahre nach England auf. Heute lebt und arbeitet er in London und Berlin und die in der Schau versammelten Fotos wirken wie die Chronik seines Lebens – faszinierend und beiläufig zugleich. Sie zeigen die ihn umgebenden Menschen und Dinge völlig unprätentiös. Ein Mann in Unterwäsche betrachtet seine Fußsohlen, ein anderer steht im Schwimmbad herum. Zimmerpflanzen in Nahaufnahme treten nur für einen Augenblick, nämlich für dieses Foto, aus ihrem unbeachteten Dasein hervor und eine kleine Maus flüchtet in den Gulli, die Hinterbeine in die Luft geworfen.

Ebenso selbstverständlich blickt er auf die Phänomene der Subkultur und auf die nach harten Nächten Gestrandeten: Knutschende Männer, entblößte Muschis und Schwänze, die friedlich neben hübsch angerichteten Flugzeugtabletts liegen. Fast hätte man sie für das künstlich schmeckende Würstchen gehalten, das in solchen Situationen öfter gereicht wird.

Kaum ein Bild ist gerahmt, sie sind einfach so auf die Wand gepinnt und auch die fotografierten Promis kommen ganz unscheinbar daher: Fast hätte ich Kate Moss übersehen, bzw. sie für ein leidlich hübsches Mädchen mit etwas schiefen Zähnen gehalten, vor sich auf dem Tisch seltsamerweise eine Früchte-Mischung aus Erdbeeren und Kartoffeln. Manchmal kommt einem Tillmans vor, wie der Vorreiter der Facebookkultur: Ich poste mein Leben und ihr sagt mir, wer ich bin. Tatsächlich schafft es aber seine künstlerische Vermittlung, zu zeigen, wer wir alle sind.

Wolfgang Tillmans, Kunstsammlung NRW

Wolfgang Tillmans, Kunstsammlung NRW

Außerdem hat sein Werk durchaus eine gesellschaftspolitische Komponente: Eingehend hat sich Tillmanns mit dem Thema AIDS beschäftigt. Großformatig kopierte Zeitungsartikel lassen die Berichte aus Kriegsgebieten monströs erscheinen. Und das wandfüllende Foto von der blumengeschmückten Unterführung, in der ein Migrant Opfer von Neonazis geworden war, braucht keinen weiteren Kommentar. Ebenso wenig die überdimensionale Schaufel voll mit Müll aus dem Slum. So landet der Besucher nach den verschiedensten Eindrücken durch die Augen von Wolfgang Tillmans gesehen wieder beim Sternenhimmel, denn hier ist der Rundgang zu Ende. Von Moral war also auch die Rede, hätte man gar nicht gedacht. Und zum Schluss gibt es sogar noch einen Katalog geschenkt. Total nett, dieser Künstler. Kriegt ein „like“.

Bis 7. Juli im K 21 in Düsseldorf

www.kunstsammlung-nrw.de

 




Einmal Hochkultur und zurück – die Kinderjury der Ruhrtriennale

Kunst zum Kichern bei der Ausstellung "12 Rooms" im Essener Folkwang Museum.

Kunst zum Kichern bei der Ausstellung "12 Rooms" im Essener Folkwang Museum.

Eine Kinder-Jury begleitet die Ruhrtriennale und verleiht zum Ende des Festivals jeder Produktion einen Preis – die Awards heißen „Die beste Hose“, „Die beste Pose“ oder „Das verrückteste Stück“. Sie werden Abend für Abend wie Superstars behandelt: Chauffeur, roter Teppich, Blitzlichtgewitter. Über die Künstler, die Stücke, die Hintergründe wissen die Kinder – nichts. Was soll das sein: Kulturvermittlung? Oder tatsächlich die angekündigte „kritische Prüfung zeitgenössischer Kunst“ durch eine „unverbildete Jury“? Und: Kann das gut gehen?

Bochum, 17. August, kurz vor 20 Uhr. Internationales Stimmengewirr im Foyer der Jahrhunderthalle. Aus ganz Deutschland und dem Ausland sind Opernliebhaber angereist, um „Europeras 1 & 2“  zu erleben. Die Gelegenheit ist selten, seit der Uraufführung 1987 war John Cages Opern-Dekonstruktion kaum mehr zu sehen. Vom Parkplatz bis zur Halle stehen Verzweifelte auf der Suche nach Karten – alle Termine sind ausverkauft. Es wird eine Wahnsinns-Produktion, die den Sängern und Musikern alles abverlangt.

Zwei Vans fahren vor; selbstmalte Glitzer-Schilder weisen sie als „VIP“-Fahrzeuge aus. Kaum sind die Mitglieder der Kinderjury, heute Abend alles Mädchen, aus den Autos geklettert und unter dem Applaus der Umstehenden verlegen über den roten Teppich in die Jahrhunderthalle gegangen, werden ihnen Mikrofone unter die Nase gehalten. „Was erwartest du dir heute Abend?“, will eine Radio-Reporterin wissen. „Viel! Dass es nicht langweilig wird. Und dass es … spannend wird“, antwortet ein Mädchen. Kurz vor Beginn der Vorstellung macht Jana Eiting von „Mammalian Diving Reflex“ letzte Ansagen. Die kanadische Künstlergruppe wurde von der Ruhrtriennale für das Kinderjury-Projekt engagiert. „Also, wenn es langweilig wird, und das kann passieren, dann beschäftigen wir uns irgendwie, ihr könnt ja was malen“, sagt sie. Als der Zuschauerraum schon bis auf den letzten Platz gefüllt ist, nehmen die Mädchen unter wohlwollendem Applaus des Publikums in der ersten Reihe Platz.

Gelsenkirchen, 27. Juni, 8.30 Uhr. „Wir wollen mal ein bisschen über Kunst reden“, sagt Jana Eiting. Sie steht in einem Projektraum der Gesamtschule Ückendorf in Gelsenkirchen, um sie herum 21 Schülerinnen und Schüler, die sich für das Kinderjury-Projekt gemeldet haben. Die Gelsenkirchener Schule ist eine von dreien, die am „Children’s Choice Award“ teilnehmen; auch in Bochum und Duisburg wird es noch Treffen geben. Insgesamt sind um die 60 Kinder dabei; jedes wird sich ein paar Produktionen der Ruhrtriennale anschauen. Jury-Sitzungen gibt es nicht, die Preisträger werden anhand der Evaluationsbögen ausgezählt, die jedes Kind am Ende einer Show ausfüllen wird. Doch das wissen die Kinder noch nicht, der Workshop heute ist der erste.

In die 5. oder 6. Klasse gehen die Kinder, die im Stuhlkreis sitzen und sich immer wieder vom Kameramann der Ruhrtriennale ablenken lassen. Vom Alter her sei für das Jury-Projekt „alles zwischen Milchzähnen und Schamhaaren“ okay, hatte Darren O’Donnel, der künstlerische Direktor der Gruppe, gesagt. Das hat in diesem Fall nicht ganz geklappt. Einige stecken schon schwer in der Pubertät, offenbar mussten sie die eine oder andere Klasse wiederholen. Die Gesamtschule Ückendorf hat trotz guter Ausstattung und eines engagierten Kollegiums keinen besonders guten Ruf bei bildungsorientierten Eltern, was vermutlich allein daran liegt, dass Kinder deutscher Eltern dort seit langem in der Minderheit sind. So auch im Jury-Workshop. „Wir machen soziale Kunst“, sagt Jana Eiting und fragt, was das wohl bedeutet: sozial. „Mit Geld irgendwas?“, schlägt ein Schüler vor. „Sozialamt!“, fällt einem anderen ein. Was eine Jury ist, das muss den Kindern niemand erklären. „Deutschland sucht den Superstar“ kennen nun wirklich alle. „Sehen wir auch Stars?“, will ein Mädchen wissen. Als eine Mitarbeiterin des Mammalian Diving Reflex erzählt, dass sie in Kanada aufgewachsen sei, nicht allzu weit entfernt von Teenie-Schwarm Justin Bieber, da weichen zwei Mädchen nicht mehr von ihrer Seite. In der Pause muss sie Autogramme geben.

Roter Teppich für die Youngster-Jury der Ruhrtriennale.

Roter Teppich für die Youngster-Jury der Ruhrtriennale.

Essen, 17. August, 12 Uhr. Die Ruhrtriennale eröffnet mit der Performance-Ausstellung „12 rooms“ im Museum Folkwang. Damien Hirst, Marina Abramivic, Jon Baldessari sind mit ihren Arbeiten vertreten – doch die Stars der Eröffnung sind die Kinder. Vorfahrt mit dem Van, roter Teppich, Applaus – das volle Aufmerksamkeitsprogramm. Auch Darren O’Donnel, der künstlerische Leiter von „Mammalian Diving Reflex“, ist dabei. Er hat „The Children’s Choice Awards“ auf Festivals in vielen Städten auf der Welt initiiert und begleitet, und er ahnt wohl, wie die Kinder sich fühlen, wenn sie plötzlich in einer fremden Stadt vor einem Kulturpalast inmitten fein gekleideter Menschen stehen. Mit sicherem Blick geht er auf die schüchternsten Schüler zu, steckt ihnen eine Löwenzahn-Blume hinters Ohr, stellt seine Kaffeetasse auf ihren Köpfen ab, bringt sie mit Faxen zum Lachen. Schnell ist die Scheu dahin, nur ein Mädchen klammert sich an den Arm ihres Lehrers. Schon bald bewegen sich die Kinder alleine und sicher durch die Schau, öffnen Türen, machen sich Notizen.

Während die erwachsenen Vernissage-Besucher zumeist zurückhaltend an den Turen der zwölf Kunst-Kojen stehen bleiben und erst einmal beobachten, sehen die Schüler die Live Art als eine Art Streichelzoo: Sie gehen nah ran an die Statisten, fassen sie an, stellen ihnen Fragen, lachen. Zögerlich treten nun auch die erwachsenen Besucher näher, einige machen es den Kindern nach.

Diese Schüler waren noch nie in einem Kunstmuseum; was denken sie, wenn das Kunstwerk aus einem Mann in KFOR-Uniform besteht, der in der Ecke steht und die Wand anstarrt? „Cool“, sagt Hasan, „der Soldat hat mir am besten gefallen.“ Warum? „Ich mag Krieg.“ Später in seiner Pause erzählt der Soldat-Darsteller den Kindern, dass er tatsächlich ein Kriegsveteran ist. Der Künstler Santiago Sierra wolle, erklärt er, mit der Performance darauf aufmerksam machen, dass Kriegseinsätze für die Soldaten oft psychische Folgen haben. Dann dürfen die Kinder Fragen stellen. „Sind die Waffen schwer?“, fragen sie, und „Haben Sie schon mal jemanden erschossen?“

Bochum, 17. August, 20.05 Uhr. „Puh, geschafft“, sagt Samira, als sie endlich in der ersten Reihe Platz nimmt und ihre 1,5-Liter-Wasserflasche aus der Tasche packt, „das Schlimmste hab’ ich überstanden.“ Das Schlimmste: Der Walk über den roten Teppich, die Interviews, der Gang vor der Augen hunderter Zuschauer zum Sitzplatz. Jetzt heißt es nur noch, die Oper zu überstehen, zweieinviertel Stunde Neue Musik. Samira war noch nie im Theater. Sie hat sich schön gemacht und erwartet, schöne Dinge zu sehen. Sie wird nicht enttäuscht werden: Heiner Goebbels Inszenierung ist eine Materialschlacht, eine Show der Effekte, es gibt Tier-Masken, Rokoko-Kleider und Männer in Frauenkleidern, es brennt und schneit auf der Bühne, Kulissen werden hineingerollt oder von oben herabgelassen. „Bor!“ entfährt es Samira, als ein schwerer roter Samtvorhang unvermittelt vor einer Sängerin auf den Boden donnert. Nach einer Stunde kramt Samira ihr Notizheft hervor, beginnt zu schreiben – und hört nicht mehr auf. „Wie hat es mir gefallen“, schreibt sie als Überschrift oben aufs Blatt, und notiert: „Dass Männer und Frauen zusammen singen. Dass viele verschiedene Orte gezeigt werden. Dass man sieht, wie sie auf der Bühne arbeiten und aufbauen.“ Am Ende klatscht sie, bis ihre Hände weh tun. Anstrengend war es, langweilig, aber auch ein einzigartiges Erlebnis.

Nach der Vorstellung dürfen die Kinder noch Mezzosopranistin Karolina Gumos treffen. „Wir haben mehr als hundert Arien gesungen, habt ihr eine erkannt?“, fragt die Sängerin in ahnungslose Gesichter: Was bitte ist eine Arie? Dennoch hängen die Mädchen an den Lippen der Künstlerin, die mit Turm-Frisur und ausladendem Reifrock direkt vom Schlussapplaus zu ihnen geeilt ist.

Wenn die Jury-Kinder am 30. September auf großer Bühne ihre Awards vergeben, dann haben sie auf den teuersten Plätzen und unter exklusiven Bedingungen Kulturveranstaltungen erlebt. Sie wurden aus ihrem Klassenzimmer einmal ins große Kulturleben geschubst. Dass sie aber keine Erklärungen bekamen, dass es kein Lern-Ziel gab, dass Vor- und Nachbereitung komplett fehlten – das muss man erst einmal verdauen. „No education“ heißt die Programmlinie der Ruhrtriennale für junge Leute, keine Erziehung, keine Bildung. Das Konzept dahinter: Man kann Kultur nicht vermitteln, man muss sie einfach erleben. „Komplett informiert zu sein, hilft auch nicht immer“, sagt Darren O’Donnel, „manchmal bringt es einen vielleicht weiter, verwirrt zu werden.“ Wichtig sei, dass die Kinder ins Zentrum rücken. Dass sie dabei sind, anstatt in kindgerechte Veranstaltungen abgeschoben zu werden.

Samira wird also nach wie vor mit dem Namen „John Cage“ nichts anfangen können, und Hasan ist vielleicht enttäuscht, wenn beim nächsten Besuch in einem Kunstmuseum nur Plastiken und keine Soldaten in der Ecke stehen. Vielleicht, wahrscheinlich sogar war es auch ihr erster und einziger Ausflug in die Hochkultur. Kulturvermittlung ist „The Children’s Choice“ also nicht. Eine kritische Prüfung zeitgenössischer Kunst sicher auch nicht. Letztlich waren die Schüler Teil eines Kunstprojekts: So wie der Kriegsveteran für Santiago Sierra im Museum Folkwang die Wand anstarrt, so schaut Hasan für die Ruhrtriennale den Veteranen an. Sie werden ihre Erlebnisse vermutlich beide so schnell nicht vergessen.

Der Text erschien in der September-Ausgabe des Kulturmagazins K.WEST.




Selbstbestimmte Erdbeeren: Meine erste dOCUMENTA

Weltgeschichte auf Schilfgras: Für den "Zeitstrahl" von Geoffrey Farmer bilden sich auf der dOCUMENTA Warteschlangen (Copyright: Anders Sune Berg)

Spottet nur, ihr Daheimgebliebenen. Fragt ruhig ironisch, ob schon ein paar selbstbestimmte Erdbeeren oder herrschaftsfreie Hunde aufgetaucht seien, die von der dOCUMENTA-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev als Beispiele für einen Themenschwerpunkt der diesjährigen Ausstellung genannt wurden – was prompt einen kleinen Medienwirbel verursachte. Eure Häme kümmert mich nicht. Mich treibt das dringende Bedürfnis nach intellektueller Herausforderung nach Kassel.

Den vorgefertigten Meinungen vieler Medien, die ihre Leser zunehmend für dumm verkaufen, will ich mich lustvoll widersetzen. Ich will mich Neuem öffnen, und wenn dies dazu gehört, gerne auch ratlos vor Installationen stehen, deren Bedeutung sich mir nicht erschließt. Ich will mich wehren gegen das feiste Grinsen, mit denen die Feinde von Kunst und Kultur auf die Fettecke von Joseph Beuys deuten, um dann mit perfider Grobheit zu fragen: „Is dat Kunst, oder kann dat wech…?“

Ganz alleine scheine ich mit solchen Wünschen nicht zu stehen. Bereits zur Halbzeit konnte die dOCUMENTA (13), diese 100 Tage währende Weltausstellung der Kunst, einen Besucherrekord vermelden. Genaue Zahlen sollen erst zum Abschluss am 16. September verraten werden. Indes wurde bekannt, dass die Verantwortlichen mit rund 750.000 Kunsthungrigen rechnen.

An diesem ersten Samstag im August, der sich trefflich auch im Freibad oder im heimischen Garten verbringen ließe, schwärmen die Menschen vom gesichtslosen Areal rund um den Hauptbahnhof aus in die Stadt. Bald schon bewege ich mich im Kielwasser kleiner Gruppen. Im Laufe des Tages wird der Besucherstrom anschwellen, wird mich zum Hugenottenhaus, zum Brüder Grimm Museum, zur Neuen Galerie, in die Karlsaue, zur barocken Orangerie, zur Documenta-Halle, zum Fridericianum und zum Hauptbahnhof führen. Er wird mich treppauf und treppab laufen lassen, das Verlangen nach Essen und Trinken auf später verschiebend, weil das Angebot bei 300 Künstlern so verlockend groß und vielfältig ist, mein Besuch aber leider auf diesen einen Tag beschränkt.

Neugierde, Spannung, aber auch einige Zweifel begleiten die erste Kontaktaufnahme. Wie werden wir miteinander zurechtkommen, die zeitgenössische Kunst und ich? Die erste Tuchfühlung erfolgt im Hugenottenhaus, einem kleineren Veranstaltungsort der diesjährigen dOCUMENTA. Das historische Gebäude zeigt sich von einer gewöhnungsbedürftigen Seite, befindet es sich doch in einem stark fortgeschrittenen Stadium des Verfalls. Leitungen liegen frei, vergilbte Tapeten schälen sich von den Wänden. Große Löcher in Decke und Wänden legen Schichten aus Stroh, Lehm und alten Balken frei, die dem Blick sonst verborgen bleiben. Das Haus zeigt seine Eingeweide her. Aber es gibt hier mehr zu sehen als Spuren vergangenen Lebens. Der 1973 in Chicago geborene Theaster Gates hat das Gebäude mit einer Gruppe von Auszubildenden aus Kassel und Chicago in Besitz genommen. Sie haben primitive Möbel geschreinert, eine Küche eingerichtet, in einem Freiraum neben der Diele sogar eine große Hollywoodschaukel aufgehängt. Die Schlafzimmer sind für Besucher nicht begehbar, stehen ihren Blicken aber offen. Wie kann man leben in dieser „sozialen Skulptur“, wie die Künstler diese Begegnungsstätte nennen? Gibt es eine Ästhetik des Schäbigen? Wo mögen sich die Künstler und Künstlerinnen tagsüber aufhalten? Der Zufall will es, dass eine von ihnen gerade auf ihrem Bett sitzt. Sie kehrt den Besuchern den Rücken zu, wird aber trotzdem fotografiert, als sei sie ein seltenes Tier in einem Zoo.

Schlafstatt und Ausstellungsraum: Theaster Gates und eine Gruppe von Auszubildenden machten aus dem Hugenottenhaus eine "soziale Skulptur" (Copyright: Nils Klinger)

Kurz darauf tappe ich ins Dunkel. Der Raum, in dem eine Performance des deutsch-britischen Künstlers Tino Sehgal stattfinden soll, ist aber nur auf den ersten Blick stockfinster. Wer vorsichtig voran geht, bemerkt bald einen schwachen Schein von einer indirekten Deckenbeleuchtung, die ein Minimum an Sicht erlaubt. Staunend und langsam bewegen sich Menschen durch diesen Raum, der von einem leisen Summton erfüllt ist. Er stammt unverkennbar aus menschlichen Kehlen. Sind es vielleicht die anderen Besucher, die hier leise vor sich hin summen? Oder vielmehr: Sind die Menschen um mich herum denn überhaupt Besucher? Kaum taucht der Gedanke auf, da bricht auch schon die Hölle los: Die vermeintlichen „Besucher“ beginnen laut zu singen und rhythmische Texte zu skandieren. Dazu tanzen sie im Dunkeln nach einer ausgefeilte Choreographie. Plötzlich wälzt sich ein Tänzer auf dem Boden. Die anderen stampfen und toben rhythmisch durch den Raum. Ich fürchte eine Kollision, werde aber nicht einmal gestreift. Ein Sprecher sinniert verwundert über die existenzielle Unzufriedenheit vieler wohlhabender Menschen in den westlichen Gesellschaften. Und plötzlich ist der Spuk vorbei. Die Tänzer schwanken leise wie Rohre im Wind. Nichts bleibt als das Dunkel und der geheimnisvolle Summton.

Verzaubert kehre ich zurück ins Tageslicht. Wie Atréju aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ habe ich ein Orakel besucht, einer geheimnisvollen Stimme gelauscht und eine Botschaft empfangen, die ich nur halb verstehe. Ich fühle mich zurückversetzt in Kindheitstage, erinnere mich an aufregende Spiele im dunklen Flur des Kellers, die zur Abendzeit nur durch ein Machtwort der Erwachsenen beendet werden konnten. Um einen Kindheitstraum dreht sich auch die Ausstellung „Knights (and other dreams)“ im Brüder Grimm Museum. Dort beleuchtet der Bulgare Nedko Solakov seine kindliche Faszination für Ritter von denkbar vielen Seiten. Das ist erwartungsgemäß verspielt und auch hübsch anzusehen. Gleichwohl resümiert der Künstler hellsichtig: „Ich hätte sie in meinem Kopf behalten sollen, diese Träume. Dort hätten sie wohl glücklich bis an das Ende ihrer Tage gelebt. Vielleicht.“

Ein erster Höhepunkt ist die Neue Galerie. Hier bewundere ich die teils fragilen, teils kraftvoll-bewegten Bronzeskulpturen von Maria Martins und die fröhliche Farbintensität der Bilder von Gordon Bennett, die Muster und Zitate aus der Kunst der australischen Ureinwohner (Aborigines) aufgreift. Eine leuchtend bunte Jukebox hat die US-amerikanische Künstlerin Susan Hiller aufgestellt: In 100 verschiedenen Sprachen und Varianten bietet sie das Lied „Die Gedanken sind frei“ zur Auswahl an. Die dazugehörigen Texte zieren die Wände bis unter die Decke. Eine lange Warteschlange bildet sich im zweiten Stock vor dem spektakulären „Zeitstrahl“ des kanadischen Künstlers Geoffrey Farmer. Es handelt sich dabei um eine 44 Meter lange Collage aus Ausschnitten des amerikanischen „Life“ Magazins, die von 90 Mitarbeitern in filigranster Arbeit ausgeschnitten und auf Schilfgras geklebt wurden. Bilder von Figuren, Menschen und Gegenständen, 50 Jahrgängen des Heftes entnommen, erzählen die Geschichte der Jahre 1935 – 1985 auf ihre ganz eigene Art und Weise.

Skulpturen von Maria Martins sind in der Neuen Galerie zu sehen (Copyright: Anders Sune Berg)

Nur selten stehe ich an diesem Tag vollkommen ratlos vor einem Kunstwerk. Sogar das auf den ersten Blick Lächerliche ergibt bei näherer Betrachtung Sinn, lädt ein zum Nachdenken über die Vergangenheit oder über den Alltag in fernen Kulturen. Zum Beispiel gibt die 1949 in Zagreb geborene Sanja Ivekovic einer Sammlung von Stoff-Eseln in einer Glasvitrine den Titel „The Disobedient“ (Die Ungehorsamen). Namensschilder weisen die Plüschtierchen als berühmte Personen der Zeitgeschichte aus: Rosa Luxemburg, Martin Luther King und die Geschwister Scholl sind hier versammelt. Ein historisches Foto aus Kassel im Jahre 1944 bildet den Schlüssel zu dieser vermeintlich niedlich-belanglosen Installation: Es zeigt einen Esel, den die Nationalsozialisten in der Stadtmitte von Kassel in Stacheldraht eingezäunt haben, verbunden mit einer Warntafel, dies sei „ein KZ für alle widerspenstigen Staatsbürger“, die nach wie vor bei Juden kauften. Die zwei toten Fliegen, die der thailändische Künstler Pratchaya Pinthong in einer Vitrine ausstellt, verweisen auf den erbitterten Kampf, den die Menschen in seiner Heimat gegen die Tsetsefliege und die von ihr übertragene tückische Schlafkrankheit führen.

Kühne und zugleich kühle Visionen von Technik und Fortschritt beherrschen die große Documenta-Halle. Der deutsche Künstler Thomas Bayrle zeigt dort ein acht Meter hohes und über 13 Meter breites Schwarz-Weiß-Bild eines Flugzeugs, das aus unzähligen kleinen Flugzeug-Bildern zusammengesetzt ist. Am Eingang steht die „Monstranz“, ein feingliedriger Sternmotor, der einst ein tschechisches Saatflugzeug antrieb. Er ist längs durchgeschnitten, sein Inneres ist bloßgelegt, zusammen mit Lautsprechern ist er auf einen stählernen Fuß montiert. Die Maschine läuft, wenn das Stromkabel angeschlossen ist: Gleich wird ihr gleichförmig arbeitender Originalton mit einer vielkehligen Rosenkranzandacht aus dem Kölner Dom zusammenklingen. Der Motor „betet“.

Technik als Religion: Arbeiten von Thomas Bayrle in der Documenta-Halle (Copyright: Anders Sune Berg)

Vermutlich in dem Versuch, möglichst viele Orte in die dOCUMENTA einzubeziehen, werden die Künstler in der Orangerie in der Karlsaue recht lieblos präsentiert. Ihre Arbeiten drücken sich schamhaft in eine Ecke, werden von den ständigen Exponaten nachgerade erschlagen. Die Weiten der Karlsaue zu durchmessen, ist an diesem einen Tag natürlich ganz unmöglich. So entgeht mir der Hundespielplatz für vierbeinige Documenta-Besucher. Die Hunde, die ich an diesem Tag zu Gesicht bekomme, sind erkennbar nicht „herrschaftsfrei“. Auch die glücklichen Himbeeren und Tomaten an einem „Fair Trade“-Stand machen keinen sonderlich politischen oder selbstbestimmten Eindruck. Was im Vorfeld so viel Anlass zum Spott gab, kann andererseits als der durchaus ehrbare Versuch gesehen werden, von einem Weltbild abzurücken, das den Menschen als Maß aller Dinge sieht.

Nach neun Stunden dOCUMENTA bin ich müde, glücklich, voller neuer Eindrücke. Ein Versäumnis fällt mir auf der Heimfahrt plötzlich doch noch ein: Ich habe Hitlers Badewanne nicht gesehen! Diese wurde von der Fotografin Lee Miller aufgenommen, die im April 1945 als Kriegsberichterstatterin mit den amerikanischen Truppen in München eingezogen war und einige Tage in Hitlers Wohnung am Prinzregentenplatz wohnte. Am Tag seines Selbstmords badete sie dort. Nun ja, es muss ja nicht immer Hitler sein. Und was die dOCUMENTA betrifft: In fünf Jahren treffen wir uns bestimmt wieder. Ganz selbstbestimmt und herrschaftsfrei.




Eine Herzmanovsky-Verführung

Kaum dass der vor kurzem im Residenz Verlag erschienene Bild- und Textband „Forscher im Zwischenreich / Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“ uns in den Blick gerät, schon nehmen wir ihn in die Hand und ahnen sofort, welch schönes, welch interessantes Buch wir da in Händen halten.

Die Bildreproduktionen sind einladend, eröffnen einen Blick in eine ganz eigene, durch mangelnde große Bekanntheit noch recht unverbrauchte Welt. Druckbild, Farbgebung, etc. alles einwandfrei, ja hervorragend.

Es mag dabei ein beträchtlicher Vorteil sein, dass FHO (= Fritz von Herzmanovsky-Orlando) zum Beispiel in Deutschland noch nicht allzu bekannt ist, aber auch in Österreich dürfte der beeindruckende Zeichner FHO weit weniger bekannt sein als der Schriftsteller. Zwar kamen auch in Deutschland FHOs sämtliche schriftstellerischen Werke erst in der originären Ausgabe des Residenz Verlages heraus, dann vor allem jedoch (allerdings mit mir unbekanntem Erfolg) in der dreibändigen Lizenzausgabe bei Zweitausendundeins. Aber richtig bekannt ist der Schriftsteller in Deutschland nicht geworden, sicher am wenigsten noch nördlich des Mains, also auch nicht im Ruhrgebiet.

Gewiss: In der Reihe des Heyne-Verlags „Das besondere Taschenbuch“ erschien einst in den 80er-Jahren Herzmanovskys wegen seiner Skurrilität wohl berühmtester Roman „Der Gaulschreck im Rosennetz“ mit den vom Autor selber stammenden Illustrationen. In einer Kultsendung wie der vom Hessischen Rundfunk (HR2) ausgestrahlten Ratesendung Peter Härtlings, „Literatur im Kreuzverhör“, kamen mindestens zweimal schon Texte FHOs vor, bei denen nach anonymer Textverlesung der Autor erraten oder gewusst, jedenfalls gefunden werden musste und durch Telephonanrufer auch erraten wurde. Auf den Literaturreisen von „Begegnung mit Böhmen“, eines Reiseunternehmens aus Regensburg, lässt sich u. a. der literaturkundige Reiseleiter Arthur Schnabl wirkungsvoll vorlesbare Texte von FHO wie z. B. den „Wassertrompeter“ wohlweislich auch nicht entgehen.

Aber nach wie vor gilt: So richtig im Bewusstsein durchgesickert und bleibend angekommen ist Fritz von Herzmanovsky-Orlando als Schriftsteller und als Eigenillustrator, gar als eigenartiger und beeindruckend eigenständiger Zeichner zumindest in Deutschland noch nicht.

Das neue Buch des Residenz Verlages kann dem nun durchaus verführerisch Abhilfe schaffen, so es denn wahrgenommen wird. Und das darf man ihm vorbehaltlos wünschen. In diesem wunderbar ausgestatteten Band kann man den großartigen Zeichner FHO entdecken und sich zugleich indirekt einen Zugang zu seinem Werk als Schriftsteller verschaffen; oder umgekehrt, wenn man von FHO schon etwas gelesen hat, kann man in seinen Zeichnungen eine andere, womöglich die originäre Seite von ihm in unverklemmter Offenheit präsentiert bekommen. Und wirklich: Von der chronologischen Abfolge her scheint das reife zeichnerische Werk (das jedoch zeitlebens bei FHO, also auch in seiner stärker schriftstellerisch geprägten Lebensphase) nie ganz aufhört, dem schriftstellerischen voran- bzw. vorauszugehen. Im Haupttext des Buches, im vielgliedrigen Essay von Arnulf Meifert, wird jedenfalls u. a. aufgezeigt, wie sehr auch noch das schriftstellerische Werk FHOs von dem zeichnerischen her gespeist wird, ja sich geradezu aus ihm heraus entwickelt, mental, thematisch, figural.

Fürwahr, eine Herzmanovsky-Verführung ist dieser Band, eine gelungene Verführung zu ihm als Zeichner und von da her alsbald wohl auch zu ihm als Schriftsteller. Meine Anspielung auf Rolf Vollmanns im Dezember des letzten Jahres im Albrecht Knaus Verlag erschienenen Doppelband „DER DÜRER VERFÜHRER oder die Kunst, sich zu vertiefen“ ist dabei ganz bewusst. Zudem: eine klare Überschneidung gibt es auch.

Auf der Seite 31 des FHO-Bandes finden wir eine Wiedergabe von Albrecht Dürers Radierung „Der Spaziergang“ – ein auch bei Vollmann eingehend betrachtetes Bild (vgl. dort die Seiten 33 – 35 des 1. Bandes) – konfrontiert mit FHOs Dürer-Adaption in Form einer Zeichnung.

Gerade der direkte Vergleich verrät sehr viel von der Herzmanovskyschen Eigenart, die weder vor Verknappung und Leichtigkeit noch vor satirisch grotesker Zuspitzung bzw. ironisch-humorvoller Scheinverniedlichung (hier des Todes) zurückschreckt. Wie überhaupt der Bezug auf schon vorhandene Kunstwerke, an denen er sich bewusst schulte und abarbeitete, indem er sich bewusst dagegen abhob, Fritz von Herzmanovsky-Orlando zu seinem Eigenen mitverholfen haben mag.

Arnulf Meifert tut zusätzlich das Seine zur Verdeutlichung von FHOs Eigenständigkeit, indem er ihn wiederholt gezielt und durchaus abweichend von eingeschliffenen Mustern mit Alfred Kubin, vor allem aber mit Paul Klee zusammensieht, mit dem FHO u. a. den Begriff „Zwischenreich“ teilt, wiewohl ganz anders akzentuiert.

Das fast unbekannte, recht liebevoll und höchst ansprechend präsentierte Bildmaterial alleine schon lohnt die Anschaffung dieses Bandes: Freizügig und dezent tabulos sind diese Bilder – und faszinierend merkwürdig, wenn man in ihnen immer wieder eine Verschränkung von weiblich-feenhafter Dominanz mit bis zur Karikatur submissen männlichen Ungestalten wahrnimmt, eine Verschränkung eines paradiesähnlich gemeinten Zustandes also – mag man diesen nun als eine bildgewordene Utopie oder als konzentrierte Privatmythologie auffassen – mit einer das Männliche immer wieder herabstufenden realsatirischen Konkretion.

Der große Essay von Arnulf Meifert vor allem, aber auch die kleineren Beiträge von Peter Assmann, Franziska Meifert und Siegfried de Rachwitz nebst einer den Band abschließenden Übersicht der Werke im Museumsbesitz, vermitteln uns auf wichtig erhellende, durchaus ideologiekritische Weise Zusammenhänge und Hintergründe. Politisch Schlimmes, sehr Schlimmes und in künstlerischer Form weniger Schlimmes, da künstlerisch Gebanntes, so lernen wir, entstammen ein und denselben geistigen bzw. gelegentlich abstrusen Strömungen nach 1900, an denen insbesondere auch FHOs Frau Carmen, ihn stark beeinflussend und zugleich seiner sexuellen Veranlagung maßgeblich entgegenkommend, regsten Anteil nahm.

Es fällt auf, dass Arnulf Meinert Fritz von Herzmanovsky-Orlandos phantasievoller Zeichenkunst vordringlich eine gewisse „Bannbildfunktion“ (S.62) zuzuerkennen bereit ist, ihn im Übrigen gelegentlich auch als Vorwegnehmer der Surrealisten feiert.

Als besondere Bereicherung des Bandes habe ich empfunden, dass Arnulf Meifert an den Beginn eines jeden der sieben Kapitel seines Hauptessays je eine ganze Drittelseite sehr gut ausgesuchter thematischer Aphorismen gestellt hat. Diese (von sehr verschiedenartigen Autoren stammend) sind fast durchweg kaum bekannt, wiewohl von meist hoher bis sehr hoher Qualität.

Arnulf Meifert / Manfred Kopriva (Herausgeber): „Forscher im Zwischenreich. Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“. Residenz Verlag. 256 Seiten, 36 €.




Der Traum des Architekten

Liebe Revierlinge, etwas Berichterstattung aus dem Zonenrandgebiet der wahren Kulturhochburg muss auch mal sein. Von daher bitte ich um Verzeihung für den folgenden Bericht über das Geschehen in der finsteren westlichen Peripherie der Zivilisation.

Frauke Dannert in der Galerie Rupert Pfab, Düsseldorf

Ausgelassen feiern Dannerts Collagen die Freiheit von all den Sachzwängen, die ArchitektInnen an der Umsetzung bahnbrechender Einfälle hindern: Ohne Rücksicht auf kleinliche Gesetze von Material und Statik, entwickeln sich ihre Gestalten unbekümmert um Schwerkraft und Funktion gemäß einer Ästhetik, die zwischen Organischem und Anorganischem oszilliert. Zerschnitten und neu zusammengesetzt, stehen diese Ergebnisse von Analyse und Synthese scharf konturiert vor einem Hintergrund, der nur im Fall reiner Papierarbeiten frei bleibt.

Dannert, Collage auf Messing, ohne weitere Angaben, Foto CL

Appliziert Dannert die Foto-Fragmente nämlich auf Messingplatten, wird die klare Aufgabenverteilung von Figur und Grund zum Kippbild, der Blick des Subjekts aufs Objekt zum Blick in den Spiegel, und die Rezeption somit zur Interaktion: Das Betrachtete erscheint integriert in den Raum des Betrachters.

Doch gerade das Nebeneinander von flacher Form und dreidimensionalen Umfeld verdeutlicht die Eigenartigkeit der unbunten Gebilde, die Anklänge an Mineralisches, Pflanzliches und Artifizielles erkennen lassen, dabei aber ein nicht-definierbares Eigenleben bewahren.

Dannert, Collage auf Papier, ohne weitere Angaben, Foto CL

Während frühere Arbeiten architektonische Elemente noch relativ eindeutig zu – an botanische Organismen erinnernden, und bisweilen kaleidoskopischen – Spiegelsymmetrien zusammensetzten, leben die Collagen seit 2010 von einer mitunter äußerst prekären Balance. Die klar erkennbare materielle Beschaffenheit von Bauten kurz vor Ausbruch der Postmoderne suggeriert architektonische Zusammenhänge, wohingegen jedoch die Vielzahl von Perspektiven eine räumliche Lesart verhindert.

Dannert, Collage auf Messing, ohne weitere Angaben, Foto CL

Die irritierende Wirkung, die zum wiederholten visuellen Abschreiten der Chimären zwischen noch visionären und schon utopischen Gebäude motiviert, besteht in der Unsicherheit, ob es sich um rein ästhetische Erfindungen oder eben doch um potentiell realisierbare Objekte handelt. Schließlich versorgen uns zeitgenössische Prestigeprojekte mit einem umfangreichen Vorrat an Bildern fantastischer, und dennoch realisierter Gebäude.

Dannert, Collage auf Papier, ohne weitere Angaben, Foto CL

Wie weit Dannert aber letztlich von jedem Modell- oder Entwurfscharakter entfernt ist, verdeutlicht ihr Desinteresse an jeglicher Anwendbarkeit, mit der sie aus dem als optische Zumutung in die Architektur des 20. Jh. eingegangen Sichtbeton mal dramatische, mal verspielte Kristalle des 21. züchtet.

http://www.galerie-pfab.com/de/home




Belgische Kohle

Die 9. Manifesta auf den Spuren des Steinkohlebergbaus

Gemäß ihrer traditionell ortsspezifischen Ausrichtung bildet diesmal die vom Steinkohlebergbau geprägte Kultur der belgischen Region Limburg den Ausgangspunkt der zweijährigen Wanderausstellung, die sich im 1924 errichteten Hauptgebäude einer ehemaligen Mine vor pittoresk ruinöser Kulisse verteilt.

Waterschei Mine, Genk, BE. © Manifesta Foundation, Foto Kristof Vrancken

Waterschei Mine, Genk, BE. © Manifesta Foundation, Foto Kristof Vrancken

Dem Beitrag der Kohleindustrie bei der Erzeugung und Zerstörung von Kultur und Natur nähert sich die Ausstellung aus drei Perspektiven. Neben 36 zeitgenössischen Arbeiten aus bildender Kunst, Film und Performance zeichnet die kunsthistorische Sektion die Entwicklung des Kohlebergbaus als Gegenstand der Grafik und Malerei seit der Romantik nach, während die dritte Abteilung die soziokulturelle Entwicklung der Bergarbeiter-Region Limburg dokumentiert.

Der sich hierbei ergebende rhythmische Wechsel von Forschung und Anschauung entzerrt den potentiellen Informations-Overkill, zumal die vier Stockwerke des kathedralenartig dimensionierten Art Deco-Baus den mal kleingedruckten, mal monumentalen Exponaten ihre Hoheitsgebiete zugestehen.

Die Veranschaulichung abstrakter Prozesse von Produktion, Distribution und Zerstörung industrieller Produkte gelingt mittels einer Flotte buchstäblich zwischengelandeter Gebetsteppiche angeworbener Gastarbeiter ebenso wie mit freundlicher Unterstützung einer Ameisen-Kolonie.

Teppiche der ersten türkischen Bergarbeiter in den 50er & 60er Jahren. Foto CL

Teppiche der ersten türkischen Bergarbeiter in den 50er & 60er Jahren. Foto CL

Während Magdalena Jitrik die Aufbruchstimmung des revolutionären Russlands in einer multimedialen Installation beschreibt, beschränkt sich Claire Fontaines Kommentar zum Ende der Sowjetunion auf die Rekonstruktion der noch immer optimistisch farbenfrohen Neonschrift, die einst die Verwaltungsgebäude von Chernobyl zierte.

Beim Publikum führt die allgegenwärtige Ahnung der Einbindung in von unbekannter Seite gesteuerte Abläufe zur Identifikation mit Ante Timmermans, der inmitten eines Käfigs aus Tonnen geduldig wartenden Papiers mit quälender Gewissenhaftigkeit ein Blatt nach dem anderen stempelt, locht und abheftet, wobei er einen wachsenden Konfettihügel produziert. Angesichts der vom Fenster aus sichtbaren Halden ließe sich dies als Migration der Form bezeichnen, oder als postindustrielle Variante der Königstochter inmitten des Strohs, das sie zu Gold spinnen soll.

Ante Timmermans, Performance "Making a Molehill out of a Mountain (of Work). Foto CL

Ante Timmermans, Performance "Making a Molehill out of a Mountain (of Work). Foto CL

Die hier manifeste Aussichtslosigkeit entfremdeter Arbeit nimmt auch in Ni Haifengs hallenfüllender Mitmach-Aktion groteske Gestalt an, wo sich eine so majestätische wie lächerliche Kaskade wahllos aneinander genähter Fetzen auf ein Gebirge weiterer Textilreste senkt. Einzelnen, die das Ihre zum Gemeinwohl beizutragen wünschen, steht eine ganze Produktionsstraße funktionstüchtiger Nähmaschinen zur Verfügung.

Ni Haifeng, Installation "Para-Production". Foto CL

Ni Haifeng, Installation "Para-Production". Foto CL

Eine solch ästhetische Erfahrung unbewussten Handelns ermöglicht auch Nemanja Cvijanovićs Ermunterung zur Betätigung einer Spieluhr, woraufhin leise Die Internationale erklingt. Erst später und damit zu spät, wird das jeweilige Opfer – vielmehr Täter – feststellen, dass die arglose Einwilligung zum Gehorsam gegenüber einem undurchschaubaren System dazu führt, dass Verstärker im Außenbereich die Botschaft verlautbaren. Dass durchschnittlich drei Personen pro Minute auf diese Weise zu unwissenden Rädchen im Getriebe werden und die Völker auf der Terrasse zum Hören der Signale nötigen, wird vielleicht weniger zum letzten Gefecht inspirieren, als vielmehr dazu, über die räumlich und zeitlich entfernten Konsequenzen des eigenen Tuns früher nachzudenken, als es während der Industrialisierung mit all ihren Spätfolgen geschah.

Infos zur 9. Manifesta: http://manifesta9.org/en/home




Grenzgänge zwischen Kunst und Musik: Ruhrtriennale-Chef Heiner Goebbels arbeitet für eine Ausstellung in Darmstadt

John Cage, "Waterwalk", eine Performance von 1960. Foto: Courtesy John Cage Trust/Mathildenhöhe

John Cage, "Waterwalk", eine Performance von 1960. Foto: Courtesy John Cage Trust/Mathildenhöhe

So starr waren sie auch früher nicht, die Grenzen zwischen (bildender) Kunst und Musik, man denke nur an die Oper als „Gesamtkunstwerk“. Oder an synästhetische Fragen wie die nach dem „Klang“ von Farben (Olivier Messiaen) oder eben auch der „Farbe“ von Klängen, ein Thema, das die Musik seit den 19. Jahrhundert ausdrücklich beschäftigt.

Doch die Mathildenhöhe in Darmstadt will nun in einem Großprojekt das Thema völlig neu aufrollen. Anlass dazu ist der 100. Geburtstag von John Cage, dem wohl bekanntesten unter den avantgardistischen Infragestellern von Grenzen.

Mit dem Ausstellungsprojekt „A House Full Of Music“ will das Institut, angesiedelt in einer der schönsten Jugendstil-Stadtlandschaften Deutschlands, parallel zur documenta 13 in Kassel „erstmals die inneren Zusammenhänge zwischen den Gattungen Musik und Kunst“ thematisieren. Und der neue Chef der Ruhrtriennale, Heiner Goebbels, wird dazu eine neue Sound- und Video-Installation kreieren.

Der Anspruch der Ausstellung ist ehrgeizig: Ein ganzes Jahrhundert soll auf neue Art und Weise präsentiert werden. „A House Full Of Music“ – so die Aussteller – gehe grundsätzlich anders vor als einschlägige Musik- und Kunst-Ausstellungen der letzten Jahrzehnte: Die haben etwa die Klangkunst als neue Hybridgattung, gattungsübergreifende soziokulturelle Kontexte von Kunst und Musik oder einzelne Medien – wie etwa die Schallplatte – in den Fokus gerückt.

Die Mathildenhöhe dagegen setzt auf die epochenübergreifende Präsentation wirkmächtiger Strategien: speichern, collagieren, schweigen, zerstören, rechnen, würfeln, fühlen, denken, glauben, möblieren, wiederholen, spielen – zwölf Strategien, die sowohl die Musik als auch die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts bis heute prägen. In kontrastreichen Strategieräumen – so verspricht die Ausstellung – will sie die parallelen Vorgehensweisen von Musik und Kunst in Geschichte und Gegenwart erfahrbar machen. Damit wirft „A House Full Of Music“ einen neuen Blick auf die thematischen, formalen und durch Personen gestifteten Zusammenhänge der beiden künstlerischen Disziplinen.

Bis 9. September geht es also um Pioniere und Grenzgänger zwischen Musik und Kunst: John Cage, Erik Satie, Steve Reich, Marcel Duchamp, Joseph Beuys, Nam June Paik, Yves Klein oder Paul Klee; aber auch The Beatles, Miles Davis, Frank Zappa – insgesamt 110 bildende Künstler, Musiker und Komponisten. Mit 350 Werken in allen Medien und Techniken können die Besucher die Wechselbeziehungen zwischen den Künsten, die Netzwerke zwischen den Musikern und Künstlern sowie die Themen, die beide gleichermaßen beschäftigt haben, erschließen.

Zchng. (Instrument fuer d neue Musik) - eine Federzeichnung von Paul Klee. Foto: Zentrum Paul Klee, Bern

Zchng. (Instrument fuer d neue Musik) - eine Federzeichnung von Paul Klee. Foto: Zentrum Paul Klee, Bern

Der Komponist, Musiktheaterregisseur, Intendant der Ruhrtriennale 2012 bis 2014 und Träger des Ibsen-Preises Heiner Goebbels realisiert im Wasserreservoir der Mathildenhöhe eigens eine von John Cage und Gertrude Stein inspirierte Sound- und Videoinstallation „Genko-an 64287“. Und in den Bildhauerateliers des Museums Künstlerkolonie wird ein Cage-Kino installiert. Dort läuft im CinemaScope-Format der Künstlerfilm „Sound ??“ von 1966, der John Cage mit dem Jazz-Saxophonisten Rashaan Roland Kirk in einen kreativen Dialog setzt. Im benachbarten Weißraum ist Nam June Paiks filmisch-künstlerische Hommage „A Tribute to John Cage“ von 1973/76 zu erleben.

Zur Ausstellung erscheint neben einem weiteren Band aus der Reihe „Kunst zum Hören“ der Katalog „A House Full of Music. Strategien in Musik und Kunst“, herausgegeben von Ralf Beil und Peter Kraut im Verlag Hatje Cantz, mit Essays und Werktexten u. a. von Samuel Beckett bis Erwin Schulhoff und Karlheinz Stockhausen.

Der Katalog zur Ausstellung erscheint im Verlag Hatje Cantz

Der Katalog zur Ausstellung erscheint im Verlag Hatje Cantz

Der 416 Seiten starke Band mit 468 Abbildungen kostet 45 Euro an der Museumkasse. Ein umfangreiches Rahmenprogramm begleitet die Ausstellung; unter anderem gibt es am 16. Juni eine Aufführung von Erik Saties Vexations (840 Wiederholungen) über mehr als 24 Stunden am Flügel im Foyer des Ausstellungsgebäudes.

Die Darmstädter Ausstellung „A House Full of Music“ im Ausstellungsgebäude, im Wasserreservoir Mathildenhöhe und im Bildhauerateliers Museum Künstlerkolonie ist bis 9. September von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr geöffnet. Der Eintritt kosten 10, ermäßigt 8 Euro, eine Familienkarte ist für 20 Euro erhältlich.

Kontakt: www.mathildenhoehe.info

Tel.: (0 61 51) 13 33 50.




Kunstvoll Geld verdienen

In Zeiten wie diesen kommen viele Anleger auf die Idee, ihr Geld zu Kunst zu machen. Kurzfristige Gewinne erzielt damit jedoch vor allem eine Gruppe – die der Berater. Einer Szene auf der Spur.

Die "Lesende" von Gerhard Richter, dem teuersten deutschen Künstler.

Kann man sich leisten: Die "Lesende" von Gerhard Richter als Postkarte. Bringt aber kein Geld.

November 2011. Ein abstraktes Bild von Gerhard Richter erzielt bei einer Auktion von Sotheby’s in New York 15 Millionen Euro, fast doppelt so viel wie erwartet. Ein Monat zuvor kam bei Christie’s eines seiner Kerzen-Gemälde unter den Hammer – für 12 Millionen Euro. Gerhard Richter ist 79, und er malt noch immer. Fast jedes Bild, das sein Atelier verlässt, wird seinen Galeristen aus den Händen gerissen. Wohl dem, der einen Richter hat – doch jetzt Richter kaufen?

Wie anders erging es damals Pablo Picasso. Erst zwei Jahrzehnte nach seinem Tod konnte sich die Kunstwelt mit seinem Spätwerk anfreunden. Doch auf dem Kunstmarkt ist Picasso keine sichere Bank: Mal erreichen seine Werke Rekord-Ergebnisse wie im vergangenen Jahr, als ein Käufer für das Ölgemälde „Nackte, Grüne Blätter und Büste“ 106 Millionen Dollar ausgab. Mal zählt er zu den Ladenhütern, wie bei einer Auktion in diesem November.

„Viele glauben, wenn ich einen Picasso habe, habe ich immer ein gutes Bild. Das ist aber nicht so. Es gibt gute und schlechte Picassos, auch nicht so gut verkäufliche. Wir beraten unsere Kunden, dass sie das richtige Bild zu einem realistischen Preis kaufen“, sagt Dr. Stefan Horsthemke. Auch zum derzeit teuersten deutschen Maler hat er eine Meinung: „Die Preise für Richter sind auf einem sehr hohen Niveau. Als Invest würden wir das nur empfehlen, wenn es einem wirklich gut gefällt.“

Es ist offenbar leicht, Geld zu Kunst zu machen, aber eine Kunst für sich, sein Vermögen mit Kunst zu mehren. Dr. Stefan Horsthemke ist kein Künstler. Doch die Kunst, mit Kunst zu verdienen, beherrscht er gut. Kein Wunder nach einem passgenauen Studium der Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Kulturmanagement und der Kunstgeschichte, inklusive Dissertation („Das Bild im Bild in der italienischen Malerei“). Erfahrungen mit dem Kunstmarkt sammelte der Kunsthistoriker bei der AXA Art – er versicherte die Werke, bei deren Ver- und Ankauf er nun hilft, bewertete und beriet zahlreiche Privatsammlungen. Nebenbei baute er seine eigene Sammlung zeitgenössischer Kunst auf. Nun hat Horsthemke gemeinsam mit dem Düsseldorfer Kunst-Berater Helge Achenbach und der ältesten deutschen Privatbank, der Berenberg-Bank, die „Berenberg Art Advice“ gegründet. Ein eigenständiges Unternehmen, das sich nicht nur dem Aufbau und der Verwaltung von Sammlungen sowie der Kunstberatung verschrieben hat, sondern das Kunden auch dabei unterstützt, ihr Geld in Öl auf Leinwand zu investieren – und Kapital aus der Kunst zu schlagen. Ein genialer Schachzug für alle Beteiligten. Das prall gefüllte Adressbuchvon Kunstberater Achenbach, der, wie er in einem Interview verriet, seit 15 Jahren nicht mehr akquirieren muss, wurde noch angereichert durch die Sammler-Kontakte Horsthemkes und die Abwicklungsmöglichkeiten über eine Privatbank.

Immobilienblasen können platzen, Aktienbörsen zusammenbrechen, Währungen wertlos werden. Ein Bild bleibt dagegen ein Bild. Auch wenn die Finanzwelt verrückt spielt – mit einem Kunstwerk hat man nicht nur ästhetischen oder dekorativen Mehrwert, sondern besitzt ein Stückchen Kunstgeschichte. Man holt sich die Aura des Originals ins Haus. Und so beantworten Reiche und Superreiche die Frage „Wohin mit dem Geld?“ zunehmend mit „Kunst“. Der internationale Kunstmarkt hat aktuell ein Volumen von 20 Milliarden Euro, in Boom-Jahren wie 2010 können es auch schon mal 43 Milliarden sein. „Das liegt auch daran, dass der Markt internationaler geworden ist, immer mehr Sammler kommen aus Asien, vor allem aus China“, sagt Horsthemke.

Horsthemke spricht mit ruhiger, sonorer Stimme. Seine goldenen Manschettenknöpfe blitzen auf, wenn er während des Gesprächs kurz E-Mails auf dem iPad checkt oder das Klingeln seines iPhones unterdrückt. Die beiden Geräte wirken seltsam aus der Zeit gefallen in dem dunkel-gediegenen Konferenzraum der Stadtvilla direkt am Rhein mit ihrem schmiedeeisernen Gitter und dem Kamera-Auge am Eingang. Seine sorgfältig gegelten grauen Haare und die markante schwarze Brille lassen den 46-Jährigen nicht nur jünger wirken, sondern für einen gebürtigen Westfalen auch ziemlich düsseldorferisch. Wenn Horsthemke unterschreibt, wird daraus eher eine Zeichnung denn eine Signatur. Das ist vermutlich angemessen, wenn man seinen Namen unter Millionen schwere Transaktionen setzen muss.

Leztens hatte er fast wieder so einen Fall. Ein Kunsthändler sprach Stefan Horsthemke an. Er wollte einen Picasso zurückkaufen, den Horsthemke ihm vor zwei Jahren im Auftrag eines Kunden abgekauft hatte. Auf 2,5 Millionen Euro hatte man sich damals geeinigt – ein sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, fand Horsthemke. Und er hatte recht: Mittlerweile könnte der Kunsthändler das Bild für bedeutend mehr Geld verkaufen. Er bot Horsthemke 3,8 Millionen für das Bild. Horsthemke sprach mit seinem Kunden, dem damaligen Käufer. Eine Rendite von über 50 Prozent in zwei Jahren – ein Traum, sollte man meinen, auch wenn man die hohen Transaktionskosten von 10, bei Auktionshäusern bis zu 35 Prozent berücksichtigt. Doch der Picasso-Besitzer wollte sich nicht trennen. „Seine Liebe zu dem Bild ist gewachsen“, sagt Horsthemke, „ursprünglich hatte der Mann mit Kunst wenig am Hut und wollte nur sein Geld sinnvoll anlegen.“ Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Anleger zum Sammler wird.

Ein betriebswirtschaftlich irrationales Verhalten – und doch ein für diesen Markt typisches. Der Kunstmarkt ist noch unberechenbarer als andere Märkte, was nicht nur am unkalkulierbaren Verhalten der Marktteilnehmer liegt. Anders als bei Aktien oder Immobilien lässt sich der Wert von Kunst nur begrenzt kalkulieren. Und da ist sie wieder, die Frage aller Fragen: Was ist gute, qualitätvolle Kunst? Was ist Kunst wert?

Fragt man Stefan Horsthemke danach, dann klingt alles ganz logisch und transparent. Horsthemke redet von „Art Evaluation Process“ und „Due-Diligence-Prüfung“, einem Verfahren, mit dem man vor einem Kauf verborgene Risiken aufspüren und die Qualität prüfen kann. „Im Falle der Kunst schauen wir, wo das Werk herkommt und wie häufig es bereits gehandelt wurde, wie stark es restauriert wurde, ob es gefälscht sein könnte, und welche Preise es auf dem Kunstmarkt erzielt hat.“ Neulich etwa habe ein Kunde ein bestimmtes Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner im Auge gehabt und um Beratung vor dem Kauf gebeten. Es zeigte sich, dass bei einer älteren Restaurierung Leinwand und Farbschicht des Bildes in Acrylharz getränkt wurden. Die schlechte Restaurierung ließ sich nicht mehr rückgängig machen. „Dadurch war das Bild wertlos geworden“, so Horsthemke, „es kommt für viele Käufer nun nicht mehr in Frage, auch wenn es motivisch interessant ist.“ Natürlich riet er vom Kauf ab.

Doch was, wenn Bilder weder gefälscht noch beschädigt sind? Wie kommt man rechtzeitig dahinter, dass Bilder aller Schaffensperioden von Gerhard Richter Summen erbringen, die der Künstler selbst „unverständlich, albern, unangenehm“ nennt?

Man kann es nur vermuten – also spekulieren. „In der Tate Modern in London läuft eine Richter-Ausstellung, die demnächst nach Berlin kommt, und er wird nächstes Jahr 80 Jahre alt – solche Faktoren spielen in die Bewertung hinein“, sagt Horsthemke, „für viele ist Richter ein zweiter Picasso.“ Aber niemand kann garantieren, das Richter an seinem 107. oder 122. Geburtstag von den Zeitgenossen noch ebenso geschätzt werden wird. Letztlich kann keine noch so gute Qualitätsprüfung die Wertentwicklung vorhersehen. Es ist der Markt, der den Rang eines Kunstwerkes bestimmt, und nicht das Werk selbst. Sobald es jemanden gibt, der bereit ist, Geld auszugeben, steigt der Wert. Ein einfacher Mechanismus.

Wenn man Stefan Horsthemke glauben darf, dann ist er glücklich darüber, dass der Millionen schwere Picasso-Rückkauf nicht zustande kam. „Eine Kunstinvestition“, sagt er, „ist für uns eine langfristige, konservative Anlage und kein kurzfristiges Spekulationsobjekt.“ Man sollte nur kaufen, was zu einem passt und einem gefällt, findet er, und es mindestens fünf, besser zehn Jahre halten – am liebsten noch länger. Kunstwerke, die Berenberg Art Advice als Geldanlage empfiehlt, haben alle eines gemein: Sie entstanden vor 1945. Ihre Schöpfer sind tot, ihr Stellenwert auf dem Kunstmarkt ist geklärt. „Wenn man die wichtigen, großen Künstler nimmt, die in Museen und Sammlungen vertreten sind, und auf gute Qualität achtet, kann man wenig falsch machen“, sagt Horsthemke. Große Wertverluste sind dann ebenso wenig zu erwarten wie große Steigerungen: Mal steht Renaissance-Künstlern eine Renaissance bevor, weil die Ausstellung „Gesichter der Renaissance“ im Berliner Bode-Museum das Interesse neu entfacht. Mal sind es die Impressionisten, die wieder im Interesse steigen. Natürlich muss man für Kunst dieser Kategorie tiefer in die Tasche greifen. Die Kunden von Berenberg Art Advice können das. Ihre Kunden investieren mindestens 100.000 Euro jährlich in Kunst. Zwischen fünf und zehn Prozent des Verkaufspreises landen als Beratungsgebühr bei Berenberg Art Advice.

Immer mehr Kunden wollen jedoch etwas anderes. Sie sind auf der Suche nach junger, zeitgenössischer Kunst, nach dem ultimativen Geheim-Tipp, der sich top entwickeln wird. „Ich werde das sehr oft gefragt, auch von Künstlern selbst“, sagt Horsthemke und schaut sehr ernst durch seine schwarze Brille. „ Kunstspekulationen sind für uns ein No-Go-Thema. Damit macht man Kunst zur Ware und zerstört jungen Künstlern den Markt.“ Beispiele dafür gebe es genug, seit Christie’s und Sotheby’s vor 15 Jahren damit begonnen hätten, auch sehr junge zeitgenössische Kunst zu versteigern. Zu viele Künstler seien zu früh auf dem so genannten zweiten Markt, dem Auktionsmarkt, gehandelt worden, anstatt nach und nach über Galerien ihre Weg in Sammlungen zu finden.

Kunst als Ware – ist das nicht die Basis des Geschäftsprinzips von Berenberg Art Advice? Diesen Umstand möglichst auszublenden, ist noch so eine Eigenheit der Akteure auf dem Kunstmarkt. Auch Horsthemke spricht lieber davon, wie glücklich das Sammeln von Kunst macht, welche Lebensfreude es bringe und wie wichtig die richtige Vermittlung von Kunst sei.

Viele Künstler sind da längst einen Schritt weiter. Jeff Koons oder Damien Hirst spielen mit den Mechanismen und Funktionsweisen des Marktes, der Flirt – wenn nicht gar der Beischlaf – mit Markt und Kommerz ist zu ihrem Markenzeichen geworden. Damit stehen sie in der Tradition Andy Warhols, der bewusst die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz verwischte, und das weit über seinen Tod hinaus: Nie war er so teuer wie heute, was vor allem an den Absprachen der größten Warhol-Sammler untereinander liegt.

Wer sehr viel Geld in Kunst investieren will, dem raten Horsthemke und seine Kompagnons nicht zu Warhol, sondern eher dazu, sich an Ankäufen großer, teurer Werken zu beteiligen, die anschließend zum Beispiel an Museen ausgeliehen werden. Allerdings ist man auch dann vor bösen Überraschungen nicht gefeit. In Dortmund schrubbte unlängst eine Putzfrau Martin Kippenbergers Installation „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“ kaputt. Das Werk war die Leihgabe eines anonymen Sammlers und ist nun irreversibel beschädigt. Dass die Versicherungssumme 800.000 Euro beträgt – ein für die kunstferne Öffentlichkeit unglaublicher Betrag angesichts des mageren Materialwertes aus einigen Brettern und einer rostigen Wanne – dürfte den Leihgeber kaum trösten, zumal die Installation nach Ansicht Horsthemkes stark unterbewertet war.

 

Der Text erschien zuerst in der Dezember-Ausgabe des NRW-Kulturmagazins K.West.




Weiß – die Synthese aller Farben

Callum Innes, Installationsansicht Loock Galerie, Berlin, 10, Foto CL

Callum Innes, Installationsansicht Loock Galerie, Berlin, 10, Foto CL

Jawohl, Euer Ehren: Ich gestehe. Ich gehöre auch zu denen, die mit der Kamera im Anschlag durch Ausstellungen ziehen, und von denen man sich fragt, was sie mit all den erlegten Terabytes eigentlich anstellen. Naja, erstmal beschriften und in entsprechenden Ordnern versenken. Selbige tragen so unverfängliche Titel wie „Malerei“, „Skulptur“, „Installation“ und so. Guckt man aber rein, fällt – in meinem Fall – eine gewisse Einseitigkeit auf.

Es sieht nicht allzu farbenfroh aus da drinnen. Die Palette der Gemälde beispielsweise bewegt sich zwischen Zartgrau und Titanweiß, die der Objekte zwischen Vanille und Beige, und nur unter den Installationen finden sich dunklere Grautöne. Der Anblick dieses ziemlich blassen Sortiments, das ich inzwischen zusammen geknippst habe, veranlasst schon mal die Frage, warum mich inmitten des allgegenwärtigen Farbrausches ausgerechnet die gespenstisch blutleeren Leinwände und Objekte anziehen. Leide ich unter diesem psychischen Waschzwang, der so manche Personen mit mörderischer Gesinnung veranlasst, sich vorzugsweise in schneeweißer Garderobe zu präsentieren?

Anders gefragt: Was hat Weiß, was all die umwerfend schönen Farben nicht haben?

Rosella Bellusci "Uomo diafano D, B, C", 07, Foto CL

Rosella Bellusci „Uomo diafano D, B, C“, 07, Foto CL

Dabei sind mir die Vorzüge bunter Farben durchaus geläufig. Ich gehör sogar zu den fantasiearmen Langweilern, die im einst legendären Fragebogen der FAZ auf die Erkundigung nach der „Lieblingsfarbe“ einfallslos aber wahr „alle“ geantwortet hätten. (Bedauerlicherweise hat mich die FAZ nie gefragt.) Dennoch können sie „alle“ mir zuweilen sowas von gestohlen bleiben. Und dabei weiß (!) ich mich in bester Gesellschaft – nämlich in eurer.

Wir alle sind einem Farbgewitter ausgesetzt, gegen das wir uns eher selten durch bewusstes, weitaus häufiger durch unbewusstes Ausblenden wehren. Umso wohltuender erleben wir die Sicht in eine unbunte Weite. Ja, Weite, denn Sehen ist entspannend, wenn wir den Blick ausrollen können, ohne irgendwo anzustoßen. Dieses unscharfe Schweifenlassen funktioniert besonders gut, wenn es mangels Form- und Farbunterschieden nichts zu fokussieren gibt: Himmel, Wasser, Erde – eine gewisse Reizarmut zugunsten von Weitläufigkeit macht relativ unaufgeregte Elemente zur Badewanne für die Augen.

 

Esperanza Spierling "Fünf Würfel", 09, Foto CL

Esperanza Spierling „Fünf Würfel“, 09, Foto CL

Da sich in Ausstellungen aber eher selten die Gelegenheit ergibt, selbige an Horizonten oder Wolkendecken zu räkeln, suchen sich diese unsere „Eierbecher der Blicke“ andere Schlupflöcher aus dem visuellen Overkill. Dazu gehören Flächen und Körper, die die optische Entsprechung sog. Schalltoter Räume darstellen – Kammern, deren Wandverkleidungen keinerlei Ton reflektieren.

Diese Analogie jedoch trifft nur begrenzt zu, denn hat sich der vom Farbgeflimmer betäubte Gesichtssinn erst an die plötzliche Ruhe gewöhnt, gewinnt er an Schärfe und fängt an, die anfängliche Reizarmut „rein“ weißer Situationen in Nuancen zu zerlegen – ein Phänomen, das einst zum gern zitierten Irrtum der vermeintlichen Vielzahl von Wörtern für Schnee in den Sprachen der Eskimo geführt hat.

 

Markus Amm, Installationsansicht Galerie Guenther, Berlin, 10, Foto CL

Markus Amm, Installationsansicht Galerie Guenther, Berlin, 10, Foto CL

Weiß erzeugt eine unvergleichliche Sensibilität für seine nicht-weißen Bestandteile. So stellt es die zu seiner Erfassung notwendige Trennschärfe selbst her, indem der Blick ins vermeintlich einheitlich Helle alsbald die darin verborgenen Unterschiede offenbart.

Das lustvolle Auflösen anfänglich kompakter Homogenität in eine Vielzahl verschiedener Helligkeiten, Schärfen und Entfernungen ist wohl auch der Grund, weshalb wir bis heute hartnäckig an der inzwischen mehrfach widerlegten Illusion festhalten, die Heroen und Göttinnen der Antike habe man sich weiß gewandet und ungeschminkt vorzustellen. Trotz pädagogisch ambitionierter Ausstellungen solcher Statuen entsprechend des historisch belegten, papageienbunten Dresscodes der griechischen Klassik, bevorzugt die Mehrheit heutiger BetrachterInnen die unbemalte, und daher erst richtig „edle Einfalt, stille Größe“, wohl wissend, dass sie eine geschichtliche Fälschung ist.

 

Antonella Zazerra, Installationsansicht Art Cologne, 11, Foto CL

Antonella Zazerra, Installationsansicht Art Cologne, 11, Foto CL

Während andere monochrome Flächen zwar ebenfalls sensibilisieren, leisten sie dem investigativen Blick dennoch mehr Widerstand. Je mehr Licht eine Farbe absorbiert, desto eindringlicher müssen wir sie fixieren, wohingegen Licht reflektierende Flächen uns die Arbeit des scharfsichtigen Beleuchtens abnehmen. Das als Schneeblindheit bekannte Kippen des Lichten ins Überbelichtete inszenierte einst Terence Koh in einer Installation namens Captain Buddha, die nur durch eine Luke erreichbar war. Die beim Eintreten erlebte Blendung verdankte sich weniger einer einzelnen Lichtquelle als vielmehr dem erbarmungslosen Weiß der Situation – ein optischer Nebel, aus dem die Konturen symbolisch aufgeladener Gegenstände nur widerwillig herauf dämmerten. Dieses Auflösen der Formen in einem nicht fassbaren, gleißend hellen Raum ähnelt einer in buddhistischer Terminologie als Leerheit umschriebener psychischer Erfahrung, die Koh wie folgt erläutert: „schon immer wollte ich eine ausstellung über die ideen des buddhismus machen, sie werden heutzutage sehr gebraucht“.

 

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, Foto CL

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, Foto CL

Wie dem auch sei, wurde die philosophische Kapazität des Weiß, über sich hinaus ins Nicht-Materielle zu verweisen, traditionell auch Gold zugesprochen. Anders als diese grundsätzlich mit dem Wert eines Edelmetalls assoziierte Farbe aber wahrt Weiß eine gedankliche Freiheit, welche die Betreiber der Mailänder Galerie Grossetti Arte Contemporanea veranlasste, der diesjährigen Art Cologne ein Kuckucksei namens White Meditation Room ins Nest zu legen. Und in dem war tatsächlich drin, was drauf stand. Das Aufgebot einer Vielzahl (mehr oder weniger) weißer Exponate erzeugte eine kontemplative Ruhe und fungierte somit als exotische Insel inmitten des Rummelplatzes der Messehalle.

 

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

Es ist seine Doppelnatur, die Weiß als Synthese aller Farben über diese hinausgehend ins Immaterielle erhebt. Denn es ist materielle Präsenz sowie deren Abwesenheit, eine barrierefreie Spielwiese umherwandernder Blicke, die gleich darauf zur Implosion örtlicher Begrenzungen und somit vollständigen Orientierungslosigkeit führen kann, eine Projektionsfläche zur dramatischen Inszenierung subtiler Abweichungen, die ebenso zur Auslöschung jeglicher Unterscheidung führt. Dieser Verweis des Gegenständlichen aufs Nicht-Gegenständliche nebst aller vorher beschriebenen Eigenschaften hat jedenfalls bewirkt, dass sich meine Festplatte unter dem Etikettenschwindel „Malerei“ und „Skulptur“ mit allerlei Varianten weißen Rauschens füllt, die innerhalb der Kakophonie von Messe- und Ausstellungshallen den Durchblick ins Jenseits von Hinguckern und Must-Sees erlauben.

 

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

 





Von Vermittlung und Verblödung

Für sein Buch „Die Leichtigkeitslüge“ hat Holger Noltze, Professor für Musikjournalismus an der TU Dortmund, viel Beifall erhalten – aber auch ein paar Buh-Rufe aus der Branche. In dem Band mit dem Untertitel „Über Musik, Medien und Komplexität“ vertritt er eloquent seine These: Kunst- bzw. Musikgenuss ist nicht so leicht zu haben, wie viele Programme zur Musikvermittlung es behaupten. Wer ästhetische Erfahrungen machen wolle, müsse auch Anstrengung zulassen. Ein Großteil der gut gemeinten Programme laufe nicht nur ins Leere, sondern banalisiere auch noch das Werk, um dessen Vermittlung es eigentlich gehen solle. Ein vermittelndes Gespräch mit dem streitbaren Professor.

Geredet wird zurzeit ja viel davon, aber was ist das eigentlich: Musikvermittlung?

Noltze: Musikvermittlung ist alles, was zwischen einem musikalischen Kunstwerk und uns Hörenden passiert. Das kann Musikunterricht sein, eine klassische Konzerteinführung, eine Konzertbesprechung in der Zeitung, aber wenn ich Ihnen erzähle, was ich gestern Abend gehört habe, ist das auch Musikvermittlung. Auch eine Fernsehsendung, auch ein Youtube-Video sind Musikvermittlung. Musikvermittlung ist vieles, und sie ist sehr wichtig.

Mögen Sie den Begriff? Er ist ja sehr technisch, wo es doch eigentlich darum geht, Faszination für Musik zu wecken …

Ich habe sehr viel darüber nachgedacht … ach, eigentlich habe ich nichts gegen den Begriff. Auch bei Goethe kommt ein Mittler vor, es ist ein ehrwürdiges Wort. Meine Kritik setzte da ein, wo etwas passiert, was ich als Projektion bezeichne: Ich habe hier einen schwierigen Inhalt: Neue Musik, oder den späten Beethoven, oder die Kunst der Fuge. Und dort habe ich das Publikum. Und ich habe ein Problem: Das Publikum wird älter. Es wird weniger. Die Musikvermittler wollen glauben machen, mit ihnen werde alles gut, mit ihnen werde sich der Gegenstand schon erschließen und weiterleben. Dagegen ist erstmal  nichts zu sagen. Musik ist schließlich stark an die Aufführung gebunden. Ich kann sie eben nicht wie eine Werkausgabe ins Regal stellen oder an die Wand hängen, sondern sie ist präsent. An die Aufführung gebundene Musik verlangt danach, dass der Zugang zu mir gelegt wird. Das ist ja auch das, was wir hier lehren und erforschen wollen: Musikjournalismus als logischer zweiter Flügel neben der Musiklehrerausbildung; Kommunikation über Musik, die über Medien geht.

Was ist dann das Problem?

Durch die Einführung des Wortes Musikvermittlung fühlten sich plötzliche viele Leute dafür zuständig. Es macht ja auch Spaß, über Musik zu reden. Jetzt passiert etwas Merkwürdiges: Es gibt zwar ein Problembewusstsein unter den Musikvermittlern, aber auch eine große Bereitschaft, sich toll zu finden und permanent auf die Schulter zu klopfen, denn man macht etwas mit Kindern, Mozart ist eh gut, man hat einen fraglos guten Inhalt … Dabei läuft durchaus nicht alles so toll, wie die Fotos mit den glänzenden Kinderaugen glauben machen. Ich finde, es gibt zu viel Zufriedenheit und zu wenig Selbstkritik. Es bildet sich eine Blase, eine heile Welt der Musikvermittlung, und draußen passiert etwas ganz anderes. Aber das will man nicht sehen, denn das ist unkomfortabel.

Was passiert denn da draußen?

Es gibt zum Beispiel musikalische Programme, die an die Schule angedockt sind. Nur in der Schule kann man alle erreichen – jedenfalls da, wo es Musikunterricht gibt. Aber jenseits der Schule erreichen Sie nur noch spezielle Milieus, die Kinder der Abonnenten. Und die haben die Neigung, sich unter sich wohl zu fühlen und das Draußen auszuklammern.

Sie haben im Schwerpunkt Germanistik und Spanisch studiert. Wer hat denn Ihnen Musik vermittelt?

Es gab Musik in der Familie; mein Opa war Musiker. Aber als ich Klavier lernen wollte, musste ich anklopfen und darum bitten. Mein Vater war Bergmann, ein Klavier im Haus war nicht selbstverständlich. Deshalb habe ich das auch eine Art Geschenk empfunden, ich wollte es gerne. Ich bin nicht belämmert worden. Und irgendwann hatte ich das Gefühl, Musik ist für mein Leben wichtig. Da tut sich ein anderes Feld auf, das mich bereichert, das mich durch Krisen trägt und mir wichtig ist. Mein bester Freund Christoph war Fußballfan. Er hat mir von Westfalia Herne erzählt und ich habe ihm das Meistersinger-Vorspiel vordirigiert. Das war ein selbstverständlicher Austausch, und so geerdet gefällt mir das gut.

Wenn Sie sagen, Sie seien nie mit Musik „belämmert worden“, meinen Sie damit Ihre Eltern. Gab es damals Musikvermittlungsprogramme, etwa in Schulen?

Meinen Musikunterricht würde man heute wohl als abschreckend empfinden. Der Inhalt wurde einem hingestellt: friss oder stirb. Wenn ich sehe, was heute im Musikunterricht bei meinem Sohn passiert, dann läuft das oft anders herum: Macht doch mal ein Referat über eure Lieblingsband. Das ist ja auch in Ordnung. Aber wenn Sie den Kindern dann mit Mozart kommen, klappen die Ohren wieder um. Die Kolleginnen und Kollegen, die hier in Dortmund schon seit Jahren Musiklehrerausbildung machen, sind ausgesprochen findig darin, wie man neben der Freude am Wiederfinden des Bekannten auch eine Freude am Entdecken von etwas Neuem entwickeln kann. Zusammen mit dem neuen Studiengang Musikjournalismus ist das ein riesiges, sehr praxisorientiertes Labor für Vermittlungsfragen.

Was sollten Musiklehrer denn Ihrer Meinung nach tun?

Ich versuche die angehenden Musiklehrer, die in meinen Seminaren sitzen, zu ermutigen, mit erhobenem Haupt in die Schule zu gehen. Nicht zu denken, Mathematik sei das Wichtige und Musik nur die Zugabe. Nein! Ihr seid wichtig. Musik ist kein Orchideenfach. Die Leute, die wir hier ausbilden, sollen das, was sie tun, mit Passion tun. Und diese Leidenschaft, das Entzündlich sein für eine Sache, kann auch andere anstecken. Was wir nicht mehr machen können: Beethoven als Bildungsinhalt ausweisen, den man verinnerlichen muss, weil das eben so ist. Das wird nicht funktionieren, da man heute traurigerweise sehr gut durch diese Welt kommt, ohne etwas von klassischer Musik gehört zu haben.

Musikunterricht ist ja nichts Neues – woher kommt die beschriebene Blase, der Boom an Musikvermittlung?

Im Jahr 2002 kam der Dokumentarfilm „Rhythm is it“ heraus: Die Berliner Philharmoniker und der Choreograf Royston Maldoom machten mit Berliner Brennpunkt-Kindern ein Tanzprojekt zu Strawinskys „Le Sacre du Printemps“. Diesen Film haben unglaublich viele Menschen gesehen, es war der erfolgreichste Dokumentarfilm in diesem Jahr. Viele haben geweint – ich auch, denn es war rührend zu sehen, wie sich Fenster auftun bei denen, die Strawinsky eigentlich so fern sind, wie man sich das nur vorstellen kann. Es war der Beweis: Musikvermittlung kann gelingen, wenn man nur entschieden genug ist. Wenn man auch klar macht: Es ist eine ernste Sache. Es ist nicht nur Spaß. Da gibt es diese Szene, wo das Projekt fast kippt, weil es nicht voran geht. Es gibt eine Grundsatzdiskussion, eine Gruppe Mädchen giggelt, und da sagt der Choreograf: Was lacht ihr denn da so? Die Mädchen antworten: „Wie, det soll doch Spaß machen hier. Lachen is jesund, wa?“ Und dann sagt Maldoom: „Das könnt ihr so sehen. Aber für mich ist es ernst.“ Und er erklärte ihnen, warum das Tanzen für ihn so eine Lebenswichtigkeit hat. Das Projekt ging dann weiter.

Eine wunderschöne Erfolgsgeschichte…

Ja, aber daraufhin haben viele, die eben nicht die Berliner Philharmoniker sind, gedacht, wir müssen auch so etwas machen. Und wo ein Bedarf ist, sind sofort auch Leute, die ihn füllen. Jeder Boom schwemmt auch Mittelmaß nach oben, und die Gefahr ist, dass man darüber den Maßstab verliert und sich nicht mehr traut, weiterzugehen. Was ist kritisiere, ist, wenn Vermittlung bloß noch über Vereinfachung läuft. Dass sie den Gegenstand so sehr verkleinert, bis er eine Pille ist, die man noch reinkriegt. Ich kann aber nicht den Wert von Bach oder Mozart ständig behaupten und dann die Sache selber so abschaben, bis gar nichts mehr übrig bleibt.

Ein Beispiel?

2006 war Mozart-Jahr, und die Medien waren voll von ihm. Was aber da von Mozart übrig geblieben ist, ist schon sehr traurig. Mit Musik hatte das gar nichts mehr zu tun, gar nichts. Aber ich glaube schon, dass es eine Chance gegeben hätte! Man darf nur nicht so mutlos sein, man muss eine Faszination wecken auch für das, was nicht so einfach ist. Jeder Mensch hat Bedürfnisse, und ich behaupte, es gibt noch das Bedürfnis nach Musik, es gibt auf jeden Fall das Bedürfnis nach anderen Erfahrungen. Und die mache ich, wenn ich meine Alltagswahrnehmung hinter mir lasse. Das kann ich aber nicht, wenn alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht wird. Der ist uninteressant. Damit speist man das Publikum ab, nimmt es nicht ernst.

Aber ist es nicht erst einmal gut, die Leute über die Schwelle zum Beispiel eines Konzerthauses zu führen? Man kann sie dort dann ja ruhig stehen lassen – und hoffen, dass sie nun Eigenmotivation entwickeln, denn ohne die geht es eh nicht weiter.

Ja, aber was meiner Meinung nach nicht geht, sind Vermittlungsmodelle à la Elke Heidenreich, über die ich in meinem Buch ein großes, bisschen böses Kapitel geschrieben habe. Sie hat die Oper entdeckt. Und dass sie in jeder Oper weinen kann. Sie vermittelt: Wenn du auch weinen willst, dann geh mir nach. Es gibt Leute, die ihr glauben und die ihr nachgehen. Sie macht das ja auch eloquent und immer beglaubigt durch ihre eigene Rührung. Ich behaupte aber und kann das auch belegen: Sie bringt die Leute bis an das Portal, an dessen Ecke sie steht und redet und weint, und die Leute gehen durch, und dann sind sie tatsächlich allein. Sie merken, sie müssen gar nicht weinen. Stimmt irgend etwas nicht mit ihnen? Das ist dann ein fauler Zauber, ein falsches Versprechen, das gemacht wird.

Aber sie waren da in der Oper, und es hätte passieren können. Immerhin waren sie da!

Es hätte passieren können, aber wenn, dann nicht wegen Elke Heidenreich. Ich glaube, dass die Enttäuschung: hat nicht geklappt mit dem Weinen,  bei den Menschen letztlich dazu führt, dass sie nicht mehr wiederkommen werden. Und über Inhalte zu reden, vermeidet Elke Heidenreich konsequent. Sie redet nur über Emotionen.

Ein Kollege von Ihnen hat in der Neuen Musikzeitung (nmz) ebenfalls den „Vermittler-Hokuspokus“ kritisiert und behauptet, klassische Musik könne man erst mit reifen Ohren ernsthaft hören. Stimmen Sie zu?

Ich glaube, das hat er jedenfalls nicht exkludierend gemeint. Mein Kollege Hans Christian Schmidt-Banse, der das geschrieben hat, hat natürliche Jahrzehnte von Erfahrung und misstraut der schönen neuen Vermittlungswelt… Immerhin sind wir ja schon etwas schlauer. Ein Kollege in Paderborn hat festgestellt: Es gibt eine Phase der Offenohrigkeit für alle Arten von Musik, und die geht, raten Sie mal: Von null Jahren …

… bis 13 Jahren?

Genau. Wenn die Pubertät ihr grässliches Haupt erhebt, ist es erstmal vorbei. Mein Sohn war ein großer Fan von Strawinsky, und zwar, weil er den Disney-Film „Phantasia“ gesehen hatte, in dem „Le Sacre du Printemps“ vorkommt. Und wenn ich ihm, dem damals Fünfjährigen, einen anderen Strawinsky aus der gleichen Phase vorgespielt habe, dann sagte er: Das ist die Dino-Musik. Er fand es toll. Diese Phase ist nun vorbei, jetzt gibt es nur noch Hard-Rock, in Abgrenzung zu Papa. Faszinierend ist jedenfalls, dass in dieser Phase Musik existenziell wichtig wird. Auf einmal definiert man sich über Musik. Die Frage ist nur, was nach der Pubertät passiert. Und ob man vorher auch mal eine positive Erfahrung mit anderer Musik gemacht hat.

Wie könnte Musikvermittlung das erreichen?

Ich habe auch keine Patentrezepte, aber man sollte erst einmal gewisse Fehler vermeiden. Zum Beispiel den, Musik als Zwangs-Bildungsinhalt zu behandeln. Es kann eine so tolle Erfahrung sein, schöne Klänge zu hören. Vermittlung sollte sich verstehen als Zugangserforschung an musikalischen Kunstwerken. Dabei müssen sich die Zugänge an der Kreativität der Kunstwerke messen und nicht an dem, was im Konzertführer steht. Natürlich geht das nicht ohne Anstrengung; wir müssen uns ein bisschen reinhängen, wenn wir etwas von der Sache haben wollen. Es wird aber gern vorgegaukelt, das sei nicht so, denn alle wollen ihre Projekte verkaufen.

Was würde wohl Beethoven über die heutigen Formen der Musikvermittlung denken?

Beethoven ist vielleicht nicht das typische Beispiel, der wollte ja die Menschheit erreichen, aber Künstlern ist meist relativ egal, was um sie herum passiert. Das kann ich auch verstehen. Wer sich auf seine Kunst konzentrieren will, der muss nicht dauernd als Postbote seiner Botschaft unterwegs sein. Genau dafür wollen wir unsere Studenten hier ja auch ausbilden. Wir wollen Leute, und das ist unser Alleinstellungsmerkmal, die sich am Ende formal, technisch, handwerklich in Musik auskennen und die auch das Mediengeschäft kennen. Musikjournalismus war bisher kein Lehrberuf, sondern immer eine Art biografischer Unfall. Und ich bin sicher, dass für Kommunikatoren über Musik ein Bedarf da ist, der sogar noch steigen wird. Aber es geht auch ein bisschen darum, die Welt zu retten.

„Der Musikjournalist nach Dortmunder Art ist auch Therapeut, Dolmetscher und Muntermacher. Er glaubt an die Genesung der Klassik“, schreibt die ZEIT. Stimmen Sie der Charakterisierung zu?

Ja. Ich will Motivation generieren. Und ich bin grundsätzlich optimistisch, allerdings kritisch mit dem Zustand des Betriebs. Kürzlich gab es ein Streitgespräch für die Zeitschrift „Das Orchester“, und da fragte mich mein Gegenüber, warum immer meckere. Ich antwortete, dass sich bei einem Arztbesuch doch auch nicht erzähle, was alles nicht weh tut. Da sagte er: Aber der Patient ist grundsätzlich doch gesund! Genau das glaube ich eben nicht. Der Patient kränkelt stark, der Umgang der Gesellschaft mit dem Gegenstand Musik ist nicht so, wie es sein könnte. Aber ich bin Optimist, denn wir haben ein großes Kapital. In jeder mittleren Stadt gibt es ein Orchester. Das ist ein unglaublicher Reichtum, der uns vergleichsweise gar nicht viel kostet, aber man muss diesen Schatz heben. Das macht mich kribbelig. Ich habe das Gefühl, da kann man mehr machen.

Zur Person

Dr. Holger Noltze hat als Professor für Musikjournalismus seit 2005 den Studiengang „Musik und Medien / Musikjournalismus“ am Institut für Musik und Musikwissenschaft aufgebaut. Die ersten zehn Studierenden des Fachmaster-Studiengangs sind derzeit im zweiten Semester. Noltze studierte Germanistik und Hispanistik in Bochum und Madrid. Er promovierte über den „Parzival“-Roman Wolframs von Eschenbach. Nach einem Volontariat beim WDR wurde er Redakteur und Moderator verschiedener Kulturmagazine im WDR-Radio und –Fernsehen und arbeitete als Ressortleiter Aktuelle Kultur beim Deutschlandfunk. Am Dortmunder Konzerthaus gründete er die Vortragsreihe „Dortmunder Lektionen zur Musikvermittlung“..

Das Interview erschien zuerst in „mundo – Das Magazin der TU Dortmund“, Ausgabe 14/11

 




Kunst kommt von Können – aber nicht immer

Lange war es geschlossen, das Osthaus Museum in Hagen. Seit es 2009 mit dem angeschlossenen Schumacher-Neubau wieder eröffnet wurde, zieht es vor allem Architektur-Freunde an.

In diesem Sommer nun hat das Haus eine frühere Tradition wieder aufgegriffen: Die Ausstellung „Hagener Künstlerinnen und Künstler“. Alle zwei Jahre soll sie stattfinden. Für 2011 hatten sich 117 bildende Künstler beworben, 42 wurden durch eine Jury ausgewählt, und bei dieser Menge – im Verhältnis zur Größe der Stadt Hagen – kann man sich vorstellen, dass es deutliche Qualitätsunterschiede gibt.

Das Osthaus Museum in Hagen

Auf drei Ebenen verteilt finden sich Malerei, Collagen und Skulpturen, aber auch großformatige Fotografien und Computerkunst. Interessante Strukturen auf durchlöchertem Sperrholz oder Experimente mit Kunststofffolien hängen neben konventionell abstrakten Acrylbildern. Übergroße Spermien aus Pappmaché schmücken eine Querwand, und der stets präsente Uwe Nickel durfte mehrere seiner knallbunten, noch am Kubismus orientierten Wandgemälde beisteuern. Die sind, wie so oft in der Kunst, eher Geschmacksache.

Einige Künstlerinnen und Künstler widmen sich der Kombination von Fotos, die auf Leinwände gedruckt wurden, und ihrer nachträglichen Bearbeitung mit Öl- oder Acrylfarben. Das bringt verblüffende Effekte, erinnert jedoch stark an die verwischten Richter-Bilder, und der kann es wirklich besser. Natürlich ist ein solcher Vergleich etwas ungerecht, aber wer sich mit seiner Kunst in ein renommiertes Museum begibt, der muss auch damit rechnen.

Am Ende des Rundgangs kommt man auf der dritten Ebene in eine Sonderausstellung des früh verstorbenen Hagener Malers RappaPort – „Objekt und Farbe“ heißt diese Präsentation, zusammen gestellt vom „Freundeskreis RappaPort“. Figürliches vermisst man hier völlig, stattdessen beeindrucken aber seine seriellen Bilder. Das hat schon was.

Und dann blickt man durch eine Seitentür in einen Raum der ständigen Sammlung, da hängen die Bilder von Christian Rohlfs, und schlagartig wird einem der Unterschied klargemacht: Kunst kommt von Können, aber nicht immer.

Osthaus Museum Hagen, Hochstraße 73. Erwachsene 6 Euro. Bis 28. August 2011




Sie sind unter uns – Aussteiger des digitalen Zeitalters

Zum Erstaunen des mit dem üblichen Maschinenpark mobiler Endgeräte ausgestatteten Endverbrauchers geschieht es immer wieder: Inmitten einer telefongrafierenden Menge stemmt jemand eine voluminöse Sucherkamera vors Gesicht und setzt mit Betätigung des deutlich hörbaren Auslösers eine Reihe weiterer Schnapp- und Klickgeräusche aus der Frühzeit des Menschen in Gang – bis hin zum Summen des Motors, der den Rücktransport der Filmspule nach der letzten Aufnahme untermalt.

Analoge Telefonie (Ward "Charging-Bull", 10, Foto web)

Analoge Telefonie (Ward „Charging-Bull“, 10, Foto web)

Abhängig vom Lebensalter reicht die Reaktion der Umstehenden vom interessierten „Was machst du da?“ der im digitalen Zeitalter Aufgewachsenen bis zur nostalgischen Rührung ihrer Vorfahren, die mit derlei mechanischen Tonfolgen Erinnerungen verbinden: Der Geruch von Filmdöschen, Fixierbad, von Staub grillenden Diaprojektoren, die haptischen Feinheiten von Baryth-Papier, sowie die erlesene Schönheit reich geschmückter Umschläge von Fotoalben.

Analoge Bürokommunikation (Graham "Rheinmetall", 03, Foto web)

Analoge Bürokommunikation (Graham „Rheinmetall“, 03, Foto web)

Auf ihre liebenswerte Fortschrittsverweigerung angesprochen führen die analogen Felsen in der Pixelbrandung eine überschaubare Palette von Argumenten an: An erster Stelle die Sinnlichkeit des Materials und die der manuellen Arbeit im Labor, die Spannung der Zeitverzögerung durch das Einschicken von Farbfilmen nebst der Überraschung angesichts der Ergebnisse, sowie die disziplinierende Wirkung der Beschränkung auf eine gegebene Anzahl kostspieliger Aufnahmen.

Und diejenigen, die diese Eigenschaften für kein Alleinstellungsmerkmal analoger Fotografie halten (schließlich treten am Bildschirm ähnliche Probleme auf) zücken die apokalyptische Keule: Alles hat einmal ein Ende, nur digitale Medien haben zwei – degenerierende Dateien und zerbröselnde Speichermedien. Als vorbildliches Gegenbeispiel verweist man auf Nega- und Positive, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts verlustarm erhalten haben (sprich restauriert wurden), wohingegen ungezählte geistige Errungenschaften der letzten paar Jahrzehnte auf elektronischen Speichermedien – alle mit der Haltbarkeitsdauer von Milch – begraben liegen.

Beschwörungen der Nachhaltigkeit des Althergebrachten gegenüber dem programmierten Verfall jeweils zeitgenössischer Produktion kehren seit Beginn der Industrialisierung in Gestalt der Arts & Crafts-Bewegung über das Weimarer (!) Bauhaus1 bis zu postmodernen Design-Positionen rhythmisch wieder. Und eben diese Argumente für die Überlegenheit des Unterlegenen werden auch beim derzeit standhaften Beharren auf analoger Foto- und Filmtechnologie angeführt.

Dean "Filthy Weather", 1998, (Kreide auf Schultafel), Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean „Filthy Weather“, 1998, (Kreide auf Schultafel), Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Aus der Fraktion der digitalen Refuseniks greife ich eine Künstlerin heraus, deren Gesamtwerk – Ton- und Filminstallationen, Fotografie, Objekte, Texte, Zeichnung – sich durch die sprichwörtliche Einheit in der Vielfalt auszeichnet.

Hauptsächlich im Bereich des 16 mm-Films arbeitend, gehört Tacita Dean zu den eloquentesten Verfechterinnen analoger Bilder und Töne. Eine zusammenfassende Beschreibung ihrer Filme wäre an dieser Stelle so hilfreich wie ungerecht. Deren Wirkung verweigert sich nämlich der Nacherzählung, weil ein zentrales Merkmal im ruhigen Aufzeichnen subtiler Prozesse in Natur, Kreatur und Architektur besteht. Die sich der Betrachtenden übertragende Konzentration der langen Einstellungen verdankt sich einer Fokussierung auf Feinheiten – eine mikroskopische Wahrnehmungsschulung, die das Sehfeld wie ein Zoom aufzieht.

Dean "Bubble House", 1999, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean „Bubble House“, 1999, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

 

Der investigative Blick, der visuelle Subtexte bizarrer Landschaften und skurriler Artefakte offenlegt, richtet sich auch auf Personen, und zwar in einer Weise, die das metaphorische Potential alltäglicher Handlungen sichtbar macht, wodurch die umher schlendernden, kramenden und plaudernden ProtagonistInnen ihre eigenen Denkmäler werden. Frei von aller „Jetzt erzählen Sie mal“-Rhetorik folgt die Kamera den Koryphäen in ihrem angestammten Habitat, das sich bei der damit hervorgerufenen näheren Betrachtung als äußerst vielsagend erweist.

Apropos vielsagend: All das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, sondern vielmehr Tacita Deans Feldzug zur Rettung des 16 mm-Films schildern.

Nachdem sie seit Jahren den Niedergang der analogen Foto- und Filmindustrie in Wort und Film begleitet hatte, veröffentlichte Dean Anfang 2011 anlässlich der Schließung des letzten auf 16 mm-Film spezialisierten Labors in Großbritannien einen Artikel im Guardian. Dabei war die Popularität analoger Medien unter KünstlerInnen durchaus gestiegen. Auf der letzten Berlin-Biennale beispielsweise lag der Anteil analoger Filme doppelt so hoch wie der digitaler. Da aber eine solche Gegenreaktion keine Geschäftsgrundlage ist, und 16 mm-Filme vorwiegend zu dokumentarischen oder künstlerischen Zwecken Verwendung finden, nicht aber für Spielfilme, wurde die Produktion eingestellt.

Dean "Opening-Swell", 1998, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean „Opening-Swell“, 1998, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean erklärt ihre Vorliebe für das Format mit dem Hinweis, ihre Filme seien Malerei näher als Kino. Die Verwandtschaft von 16 mm-Film und bildender Kunst beruhe u.a. auf der Tatsache, dass Lichtempfindlichkeit des Auges wie der fotografischen Trägermedien gemeinsame Grundlage sei. Da digitale und analoge Verfahren einander nicht über- oder unterlegen sondern schlicht verschieden sein, plädierte sie für das Aufrechterhalten von Wahlmöglichkeiten.

Freiwillige Selbstkontrolle (Beckett, Filmstill, 1964, Foto web)

Freiwillige Selbstkontrolle (Beckett, Filmstill, 1964, Foto web)

Kopfschüttelnd merkt sie gern an, der Siegeszug digitaler Medien verdanke sich dem erstaunlich bereitwilligen Verzicht auf die nahezu perfekte – nämlich analoge – Wiedergabe der Realität zugunsten trägen Masse entstellender Pixel.

Und überhaupt sei „analog“ letztlich die Sammelbezeichnung für „alles, was mir lieb und teuer ist.“

Wie dem auch sei – der volle pädagogische Wert dieses Appells wird hauptsächlich Unbedarften wie mir zuteil, die spätestens an dieser Stelle zugeben müssen, Unterschieden analoger und digitaler Medien bislang zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Zumindest das werden wir ändern.

1(und nur das Weimarer – nicht etwa das der nachfolgenden Phasen)




Essen und gegessen werden

Das Verfahren hat sich bewährt: Man nehme einen ortsspezifischen Ort und rufe Kunstschaffende zur Einreichung ortspezifischer Werke auf. Dem Ort tut das gut, weil er in der Regel nicht gerade im Brennpunkt öffentlichen Interesses steht. Vielmehr gilt häufig das Prinzip „bring in the Clowns.“ Mit andern Worten: Wenn die Abrissbirne bereits Anlauf nimmt, holt die Künstler! So kommt man nochmal in die Zeitung und wird vieler schöner Synergieeffekte teilhaftig.

Den KünstlerInnen tut das auch gut, weil die Aufforderung zur Reaktion auf ungewohnte Gegebenheiten entweder zur Erweiterung des eigenen Aktionsradius verleitet, oder aber Gelegenheit bietet, bestehende Arbeiten umzuetikettieren – will sagen: „einer Revision zu unterziehen“.

Türsteher mit Wutzn, Foto CL

Türsteher mit Wutzn, Foto CL

Entgegen dieser fahrlässigen Verallgemeinerung findet die neunte Ausgabe der Ausstellung „Vogelfrei“ in keiner zum Abschuss freigegebenen Asbestfabrik statt, sondern in einem Schloss und dessen Park. Letzterer ist traumhaft schön, Ersteres, ist was ortspezifische Orte nun mal sein müssen: eine Herausforderung. Gebildete BesucherInnen schätzen es als fürstliches Jagdschloss aus dem 16. Jh., weniger gebildete Gutmenschen als Beinhaus, das über die gewöhnungsbedürftige Freizeitgestaltung dekadenter Feudalherren Aufschluss gibt.

"Rucksack" im Schlossmuseum, Foto CL

"Rucksack" im Schlossmuseum, Foto CL

Wo nämlich Fachleute Zeugnisse waidmännischer Großtaten erblicken, sieht das unbewaffnete Auge Gemächer voll Leichenteile. Dabei müssen Jagdtrophäen gar nicht derart bizarre Formen annehmen, um an die Opferriten zu erinnern, in deren Verlauf Tiere mit viel Erfindungsgeist nieder gemetzelt wurden.

Hinter jedem Geweih verbergen sich Hetzjagd und Todeskampf – Tatsachen, denen Werner Henkels Installation die Anschaulichkeit zurückgibt, welche die heroischen Ziegen an der Wand vermissen lassen.

Werner Henkel "5 Rotwild-Silhouetten", 11, © Ute Ritschel & Zentrum f. Kunst u. Natur e.V.Einige der 20 TeilnehmerInnen hat die von Kuratorin Ute Ritschel ausgegebene Losung „Jäger und Sammler“ auf die einfallsreichen Vorrichtungen aufmerksam gemacht, die den Herren zu Kranichstein das sportliche Massaker erleichterten – sogenannte Jagdschirme z.B, die den Schützen ungestörtes Zielen außerhalb des Einzugsgebiets ungehaltener Wildschweine erlaubten.

Die in diese Barrikaden eingelassenen Schießscharten bildet Anjali Göbel aus geflochtenem Holz nach, suggeriert aber durch deren Anordnung eine zeitgenössische Variante der einstigen Treibjagd. Schließlich erinnern die in alle Richtungen weisenden Trichter an primitive Lautsprecher, wie sie noch heute zwecks Verbreitung öffentlicher Botschaften zur Anwendung kommen (egal ob politische Agitation, oder auch nur „57, bitte an die 10“).

Anjali Göbel "Sautod", 11, Foto CL

Anjali Göbel "Sautod", 11, Foto CL

Auch das für Jagdhunde damals gebräuchliche Stachelhalsband, das diese ebenfalls vor unerwünschter Annäherung seitens besagter Wildschweine schützte, empfindet die Künstlerin auf vieldeutige Weise nach.

Göbel, ohne Titel (Gleditschienendornen), 11, Foto CL

Apropos vieldeutig: Eine gewisse Bedeutungsoffenheit kennzeichnet etliche Arbeiten, die eine differenzierte Haltung der KünstlerInnen gegenüber dem Phänomen des Jagens von Tieren erkennen lassen. So sind sich viele der Bedeutung der Jagd als Kulturtechnik bewusst – und damit umso deutlicher der Diskrepanz zwischen der Jagd als Kampf ums Überleben auf Augenhöhe, und ihrer Perversion, bei dem eingepferchtes Wild vom Balkon aus erlegt wurde.

Claudia Kappenberg & Dorothea Seror "Trophäen", 11, Foto CL

Claudia Kappenberg & Dorothea Seror "Trophäen", 11, Foto CL

Kappenberg & Seror "Trophäen", 11, Foto CL

Kappenberg & Seror "Trophäen", 11, Foto CL

Tatsächlich verdankt sich ihre kopflastige Körperlosigkeit einer Veranstaltung am Eröffnungswochenende, in deren Verlauf die Künstlerinnen das Publikum aufforderten, aus den von ihnen mitgebrachten Stofftieren jeweils ein Opfer auszuwählen, das darauf hin „geschlachtet“ und „zubereitet“ wurde. Die Ergebnisse dieser in Gastronomie und so mancher Religion gängigen Prozedur finden sich über das gesamte Anwesen verteilt.

Henkel "6-Schädel". 06. Foto CL

Henkel "6-Schädel". 06. Foto CL

Eine wohltuend unseriöse Variante der Schädelstätte hingegen installierte Henkel inmitten der Totenkopf-Galerie.

Das Ganze nochmal aus der Nähe. Foto CL

Das Ganze nochmal aus der Nähe. Foto CL

So präzise die erste Hälfte des Ausstellungsthemas, so vage die zweite: das Sammeln. Die semantische Unschärfe des dehnbaren Begriffs erleichterte den TeilnehmerInnen die Auswahl geeigneter Arbeiten keineswegs, weil irgendwie halt irgendwie alles irgendwie irgendwas mit Sammeln zu tun hat.

Waltraud Munz "Cloud-Areas", 11, Foto CL

Waltraud Munz "Cloud-Areas", 11, Foto CL

Umso bemerkenswerter, dass kaum jemand angesichts dieser nichts und alles sagenden Arbeitsanweisung ins Archiv griff. Waltraud Munz etwa reichert die ortsansässige Pilzansammlung mit Blech-Pilzen an.

Waltraud Frese "Rindenbüsten", 08, Foto CL

Waltraud Frese "Rindenbüsten", 08, Foto CL

Waltraud Frese versammelt Rindenstücke auf menschlichen Torsos – eine Reminiszenz an Daphne und die viel zitierte Verwandtschaft von Mensch und Baum.

Helina Hukkataival lädt zum Mineral-Orakel, indem sie von BesucherInnen mitgebrachte Lieblingssteine mit Grafit auf Papier frottiert und die BesitzerInnen die Zeichnung nach Art des Bleigießens interpretieren lässt.

Wem sich hierbei der Zusammenhang zum Stichwort Sammeln nicht auf Anhieb erschließt, sei getrost: Mir auch nicht.

Aber das ist ja das Interaktive an Themenausstellungen. Denn wo der Bezug zwischen aktuellem Thema und bewährtem Vorgehen nicht sofort ersichtlich ist, ist die Kreativität der BetrachterInnen gefordert, sie herbei zu fantasieren.

Bis 2. Oktober kann man sich bei Darmstadt persönlich davon überzeugen, wie unverzeihlich es von mir ist, ausgerechnet die dreizehn hier nicht erwähnten KünstlerInnen nicht zu erwähnen.

Harry van der Woud "Selbstbildnis ex aequo", 11, Foto CL

Harry van der Woud "Selbstbildnis ex aequo", 11, Foto CL

 





Konzeptlos in die documenta

Die documenta ist in vielerlei Hinsicht ein sehr, sehr merkwürdiges Unterfangen. Sie will Weltausstellung der Bildenden Kunst sein und liegt doch in der Hand nur eines Direktors. Sicher wird der seine Adlaten und Faktoten treiben, an ihm allein, so zeigt’s die Geschichte, bleibt aber der Ruhm oder Unruhm kleben. Und überdies: Eine „Weltkunst“ gibt es nicht. Niemand kann die Übersicht haben, und uns zu geben vermag sie auch keiner. Was sicher auch damit zutun hat, dass der Mensch, gemessen an den Zeitläuften, nur ein relativ enges Fenster bewusst mitbekommen kann. Steht man beispielsweise im Saft seines Lebens, das Grünzeugs hinter den Ohren ist fortgeschnippelt, und haben einen Mami und Papi nicht gerade im Buggy durch jede Ausstellung und die Kasseler Auen geschoben, startet man gegebenen- oder äußerstenfalls in der kunstleistungskursvertrödelten Oberstufe mit der ersten ernsthaften Beschäftigung in Sachen zeitgenössischer Kunst. Man schaut fünf Jahre später eine Ausgabe während des Studiums und, gesetzt den Fall man ist recht flott bei der Sache: Schon findet man sich im Berufsleben (nicht mehr) wieder, möglicherweise als Kritiker, und soll über eine solche Veranstaltung auch noch fundierte Aussagen verfassen.

Der Zeitpunkt, zu dem wir’s allerdings wirklich können, weil wir genügend Ausgaben gesehen haben, liegt immer schon in der fernen Zukunft. Sind wir jedoch dort erst einmal angelangt, verstehen wir den Betrieb nicht mehr, geschweige denn die Künstler und ihre Werke. Ein Blick in die Altherrentexte gewisser Autoren, vorzugsweise publiziert vom frakturierten Oberkopf am Main, reicht. Wie muss es erst sein und sich anfühlen, wenn man eine solche Veranstaltung als Curator in Chief auf die Beine zu stellen hat? Allein die historische Belastung, das Erbe der Großen seit den Fünfzigern, ist eine Qual für sich! Kein normaler Mensche möchte mit Carolyn Christov-Bakargiev (CCB) tauschen, die ihre Ausgabe für 2012 vorbereitet. Was alles ist zur vergangenen Veranstaltung gegen die Buergelmaschine in Stellung gebracht worden. Nun, geschadet hat ihm das mediale Debakel nicht. Heute ist er ganz professoral. Vielleicht kann man dem nur entkommen, indem man nicht einfach nur Unsinn macht bzw. viel dummes Zeugs präsentiert, daherredet, proklamiert und nebenbei auch noch Künstler düpiert, vielleicht muss es genau so sein, wie CCB es jetzt zelebriert: Ein Feuerwerk des reflektierten Schwachsinns. Denn so dämlich wie die jetzigen Beiträge der Kuratorin in der Öffentlichkeit sind, so geplant irrsinnig muss das sein. Ein Interview mit Noemi Smolik in Frieze d/e, Heft 1, Sommer 2011, offenbarte die pathologisierende Wirkung des Jobs auf diese kunstsinnige Multiplikatorin.

Was für ein Dialog! Der beginnt mit dem Zauber der Dialektik. Nordpol. „Die Welt sieht ein bisschen anders aus, wenn man den Blickwinkel derart verlagert“, kratzt die Chefin ihre Miles and more im Hirn zusammen und präsentiert den Humbug der Öffentlichkeit, die scheint’s für jeden Pup als Mülleimer herzuhalten hat. Denn für eine derartige Erkenntnis benötigt niemand Polarluft und muss sicher nicht tonnenweise CO2 qua Flugzeugabgas in den Himmel pumpen. Es ist nicht ganz klar, was kuratorische Arbeit mit CCBs Nordfahrten zutun hat. Aber das muss es auch nicht, denn sie ist ja irgendwie selbst die Künstlerin, diejenige, welche ein großes Werk namens documenta 13 zu realisieren, aufzuführen hat. Begleitet sie Künstler bei ihren Recherchen? Frau Smolik fragt leider nicht danach. Oder ist derartiges Geplänkel mittlerweile das verbale Initialritual für ubiquitäres Bullshit-Bingo im „kritischen“ Sektor des Kunstbetriebs? Jedenfalls formiert sich am Pol ein großes Experiment mit unbekanntem Ausgang. Die documenta. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2011, und die Verantwortung sei Segen und Bürde zugleich, sagt CCB. Dabei ist es doch vollkommen gleichgültig, was sie präsentiert: Dass die Besucherzahlen jedoch kontinuierlich gestiegen sind, lässt eigentlich vermuten, dass die Beschwernis nicht allzu groß ist. Es wird schon, liebe CCB, keine Bange. Der Kunstrubel rollt weiter. Na ja, und irgendwie wird vor diesem Hintergrund auch verständlich – gewissermaßen –, warum Du so viel Murks erzählst. Etwa über das Konzept.

Denn nach diesem eiskalten Vorgeplänkel kommt sie wirklich zur Sache. Besser: Sie kommt natürlich nicht zur Sache, sondern nur zum Konzept, und die d13 soll keines übergestülpt bekommen. Denn Konzepte überschatteten heute die „Arbeit der Kultur“. Was aber ist die? Seit wann geht die Kultur auf Arbeit? Und wenn ja, wo? Eine Ausstellung konzeptlos zu gestalten hieße für sie, möglicherweise „in einer sehr guten Kunstmesse zu enden“. Ist das so? Ist eine Messe tatsächlich konzeptlos? Das wird Herrn Hug oder wen auch immer doch extrem ärgern, und es ist beinahe schon verwunderlich, dass die Macher der Frieze solch unreflektierte Hirnsoße gestatten. Zum Glück tun sie das, nicht nur der Pressefreiheit wegen. Denn hier geht es um mehr als nur den schnöden Alltag in einem gesellschaftlichen Subsystem mit postfeudalistischen und protooligarchischen Zügen. Konzept heißt gemäß Duden unter anderem, einen klar umrissenen Plan zu haben. Ist das so verkehrt mit Blick auf ein derartiges Mammutprojekt? Wie sich die documenta finanziert? Keine Ahnung, aber sollte auch nur ein Cent meiner Steuern in das Vorhaben fließen, so kann man erwarten, dass sich die Dame auf ihren Hosenboden setzt und gefälligst ihre Hausaufgaben macht, sprich: ein tragfähiges Konzept einer Ausstellung entwickelt und begründen kann, warum sie diesen oder jenen Künstler eingeladen hat und andere nicht. Was ihr Blick auf die Gegenwartskunst ausmacht, woran er sich orientiert. Und so weiter… Doch vielleicht brütet CCB etwas ganz anderes aus, und wir verstehen ihre Worte (noch) nicht. Alles denkbar, alles möglich, denn sie sagt ja auch, dass die documenta eigentlich keine Ausstellung ist.

Das Dumme an der Sache ist nicht, dass CCB gewagte Thesen in den Raum wirft. Das sollte zur d13 auf jeden Fall passieren. Allerdings sollten nicht die Pfade des Bewusstseins verlassen werden. Zum Verzweifeln ist’s bei dem absolut hirnrissigen Vergleich zwischen dem Konzept einer Ausstellung wie der d13 und Facebook. Sie behauptet: „Hier überschattet das Konzept des Kommunizierens den Inhalt dessen, was kommuniziert wird, und schafft so narzisstische Störungen in der Gesellschaft.“ Der Vergleich zwischen dem Konzept einer Kunstausstellung und der scheinbaren Funktions- und Wirkweise einer Internetplattform verbietet sich. Außerdem ist diese FB-Interpretation sachlich falsch. Der formalisierte Rahmen, der die Kommunikation über das Internet erlaubt, ist letztlich flexibel genug, um ein enormes Quantum herkömmlicher Kommunikation zu gestatten. Eben jene unterstellten narzisstischen Störungen ereignen sich bei bereits Veranlagten, aber nicht in Form einer direkten, monokausalen Konsequenz, wie es CCB suggerieren möchte. Diese Hinrichtungsargumente, die gerade nicht argumentieren, wollen der Technik eine Schuld zuschreiben, die verkennt, dass es keinen Schuldigen gibt, selbst Herr Zuckerberg ist keiner. Was CCB hier übertreibt, ist falsch verstandene Medientheorie der frühen Neunziger. Wer also möchte von offensichtlich ignoranten, ganz deutlich uninformierten Pseudokünstlern eine Ausstellung im Format der documenta serviert bekommen? Was kann denn da erscheinen? Vielleicht ist es de facto so, dass man als Kurator der Kasseler Über-Veranstaltung heute tatsächlich wie ein Künstler agieren muss. Vielleicht führt am Nordpol kein Weg vorbei. Vielleicht ist Kassel auch wirklich nicht der eigentliche Veranstaltungsort dieser Schau und vielleicht versteht man ferner den Humor dieser Kaste von künstlichen Kunstmultiplikatoren nicht mehr. Aber was aus dieser Wortblubberei zu lesen ist, das reicht, um einem die Lust zu verderben: einerseits am Betrieb, andererseits an der Ausstellung. Und das zu bemerken, ist keine Frage der Häufigkeit des Besuchs.




Wille zur Schönheit

1. Szene: Gegen Ende eines Crashkurses zum Thema „Geschichte des Russischen Konstruktivismus“ verabschiedet sich die Volkshochschulgruppe. Nachdem ich sie neunzig Minuten lang mit Manifesten und dem damit einhergehenden Bildmaterial strapaziert habe, sehe ich mich von ratlosen Gesichtern in komischer Verzweiflung umgeben. Eins erfrecht sich, auszusprechen, was alle denken: „Das war heut aber kompliziert.“

Oh ja“, beginne ich meine positive Verstärkung, „und das ist erst der Anfang. Ab jetzt wird es immer schlimmer. Und wenn wir erst bei der Konzeptkunst mit dem Charme eines Aktenschranks voller Leitz-Ordner angelangt sind, werden Sie mich anflehen, doch wenigstens ein klitzekleines Bildchen zu powerpointen. Aber wahrlich, ich sage Ihnen: Nix gibt’s. Kunst und Ästhetik hat ma grad SOWAS VON ÜBERHAUPT NIX miteinander zu tun!“

[Unterdrücktes Schluchzen vernehmbar.]

Ruhe da hinten. Sind wir hier im Kunstgeschichtskurs oder in der Kunsttherapie?“

Teilnehmerin: „Aber Kunst kann doch auch schön sein. Machen wir mal wieder Nolde?“

Ich sage: „Den haben wir bereits gemacht bis wir bunte Flecken im Gesicht hatten, und Ihnen zuliebe kram ich ja nun wirklich bei jeder Gelegenheit Kandinsky und ähnliche Schöngeister hervor, um ein beseeltes Lächeln auf Ihre Gesichter zu zaubern. Aber bevor Sie weiter fragen: Nein, Frau Sowienoch, und Chagall machen wir auch nicht. Von so viel unkontrollierter Schönheit krieg ich Pickel. Aber jetzt wollen wir uns doch nicht die Ferienlaune verderben. Nach der Sommerpause sehen wir weiter.“

Ich denke: „Und dann kommt dann Art & Language. Und wenn Sie wüssten, wie unschön das ist, würden Sie schon jetzt weinend davonlaufen, hihihi.“

Michael Lin, ohne Titel, 10, © studiopesci.it

Michael Lin, ohne Titel, 10, © studiopesci.it

2. Szene:

Am darauf folgenden Tag lausche ich einem sog. Künstlergespräch. Will sagen: Der Maestro sitzt, umgeben von Œuvre, auf dem Podium gegenüber einer Gesprächspartnerin, die ihm (wie der Zufall es so will handelt es sich um die Kuratorin seiner jüngst eröffneten Einzelausstellung) äußerst wohlgesonnen ist und das Interview aus der Froschperspektive führt.

Ich meinerseits wohne diesem Unterwerfungsritual widerspruchslos bei, weil ich vor ca. 25 Jahren einen Katalog des Meisters voller optisch eher unauffälliger Studien hartnäckig bestaunte. Die dezente Langeweile der seriellen Anti-Spektakel veranlasste mich zu der Überzeugung, dass der unterkomplexen Anmutung ein überkomplexes Konzept zugrundeliegen müsse, das ich nur noch aufspüren brauchte. Da mir das nicht gelang, bin ich also heute hierher gekommen – voll von unfinished business und gesteigertem Erkenntnisinteresse.

Und dann waren da noch die Kalauer aus dem videoten Interview mit dem GröFaZ, das ich am Vortag in freudiger Erwartung der Audienz gesehen hatte, und das verbale Ohrwürmer enthielt wie I have a good relation with whatever female energy there is in the world. And I’m interested in men as well – in all their complicated simplicity.”

Soviel zu meiner Motivation. Den Erschaffer solcher Oneliner MUSS man schließlich von Angesicht zu Angesicht schauen, oder?

Also lausche ich. Und da der Schöpfer Anfang der 70er nach chemisch induzierten Schlüsselerlebnissen die obligatorischen Aufenthalte in Indien und Japan absolviert hatte, geht es erwartungsgemäß um heilende bis göttliche Potentiale der Kunst und so. („The artist’s role is to show that the world is perfect, and then to make visible that this perfection needs a bit of correction.“)

Im Großen und Halben bin ich ganz einverstanden und willens, einen wohlwollenden Bericht zu verfassen. Also begebe ich mich anschließend in die Ausstellung auf der Suche nach Anschauungsmaterial, das die unverbrüchliche Aktualität des Malers belegt.

Und ich bin ECHT willens. Ich WILL fotografieren. Denn ließe ich euch inmitten einer Buchstabenwüste ganz mit ohne „auch nur klitzekleines Bildchen“ (siehe oben) zurück, würdet ihr maximal bis zum Ende der Überschrift lesen – ich kenn euch doch. Also muss was Buntes her. Und in dieser überlad– äh, ich meine: überwältigenden – Ausstellung wird ja wohl irgendwas zu finden sein, das ich längerfristig auf meiner umkämpften Festplatte parken will.

Aber nein. Nachdem ich gutwillig bis nachsichtig zwei Mal sämtliche Riesenformate abgeschritten bin, geb ich auf. Soviel gewollte Schönheit ist anstrengend. Überwältigungsästhetik, wie man sie aus der Werbung oder Spielzeugindustrie kennt. Um flächendeckendes Erschauern auszulösen, bedient sich der Meister großzügig beim Repertoire eines normalerweise eher unter Pubertierenden verbreiteten symbolischen Surrealismus: Mensch und Kreatur in Regenbogenfarben nebst Regenbögen und Tränen und Herzen und Uhren und Käfigen und einstürzenden Kartenhäusern und Liebenden und Leidenden und Geburt und Tod und Glück und Leid und – okayokay, ich hör schon auf. Ich fürchte, ihr könnt euch die barocke Pracht vorstellen.

Genug gewatscht. Soll das heißen, Kunst darf nicht schön sein?

Abramović "Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful", 1975, © VG Bildkunst

Abramović "Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful", 1975, © VG Bildkunst

Kann, aber muss nicht. Marina Abramovićs Erkenntnis Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful, der sie 1975 in der gleichnamigen Performance Nachdruck verlieh, gilt nach Dafürhalten Vieler noch heute – wie die eingangs zitierte Reaktion der konstruktivistisch Traumatisierten zeigt. Menschen wollen schöne Dinge und schöne Menschen sehen und dagegen ist nichts einzuwenden.

Anders als 1975 oder in vorhergehenden Jahrhunderten aber bedarf es heute keiner Kunstwerke mehr, um unser Dasein zu durch-schönen. Dank technischer Möglichkeiten ist Schönheit allgegenwärtig – sei es die Grafik des Media-Players oder die Möglichkeiten der plastischen Chirurgie. Alles ist schöner geworden, der gemeine Fernseher quillt über von geradezu überirdisch attraktiven Menschen. Verglichen mit dem Erstaufführungsjahr von Abramovićs Bürstenorgie wurde der mediale Raum nebst seiner Insassen visuell in nie zuvor gekannten Maße optimiert (der mediale – nicht der reale). Das teilweise Belustigende alter Filme und Fotos liegt daher in dem rührenden Bemühen um Schönheit mit unzulänglichen Mitteln. Diese Unschuld haben heute bereits Kinder verloren, die ihre AltersgenossInnen aus Casting-Shows mit geradezu erschreckender Professionalität nachahmen. Sie wollen nicht nur optisch perfekt sein – sie sind es.

Insofern ist die Übernahme einer Ästhetik, die in anderen Zeiten und Räumen entstand – im vorliegenden Fall in Indien – ein Anachronismus. Kulturen erteilen Kunst unterschiedliche Aufträge, die daher nur innerhalb der jeweils herrschenden Bedingungen legitim sind. Die BewohnerInnen hochgelegener Täler des Himalayas z.B verbrachten ihr Leben innerhalb der Grau- und Braun-Töne ihrer vegetationsarmen Region. Ausgehungert nach Sinnesreizen überzogen sie alles, dessen sie habhaft werden konnten, mit dem, was sie schmerzlich vermissten: üppige Blütenmuster in reinen Farben. Während diese Dekors in andere Klimazonen exportiert grell und überladen wirken, sind sie an ihrerm mineralienreichen Ursprungsort ein Augenschmaus.

Hienieden aber hat sich der Schönheitsauftrag der Kunst aus den oben erwähnten Gründen erledigt, weswegen sich Letztere auf andere Kernkompetenzen wie beispielsweise Bewusstseinserweiterung besinnen kann. Und diese Sensibilisierung schließt die Wahrnehmung von Schönheit keineswegs aus. Kunst kann Schönheit sichtbar machen, ohne sie dabei aber zu forcieren, wie der besagte Maler mit dem Indien-Import-Export es tut.

Neuenschwander "Ash Wednesday/Epilogue", 06, © http://bit.ly/bBE6BG

Neuenschwander "Ash Wednesday/Epilogue", 06, © http://bit.ly/bBE6BG

Zu den zentralen Eigenschaften bildender Kunst gehört ihre Möglichkeit, Ignoriertes – darunter auch subtile Formen von Schönheit – sichtbar zu machen. Als besonders geeignet hat sich dabei die Verwendung natürlicher Materialien erwiesen. Dabei sind die Grenzen zwischen bloßen Verweisen auf unwillkürliche Schönheit einerseits und deren Herstellung fließend.

Am eher dokumentarischen Ende der Skala befinden sich KünstlerInnen, die natürliche Prozesse lediglich optisch verstärken: Liang Shaoji fotografiert Spiegel auf Berggipfeln, welche die über sie hinwegziehenden Wolken reflektieren, Rivane Neuenschwander tränkt Konfetti in Zuckerwasser, bevor sie ein Ameisenvolk darauf loslässt, mit dem Ergebnis, dass die wegen ihres süßen Geschmacks nun äußerst beliebten bunten Blättchen in Windeseile durch den Raum transportiert werden und abwechslungsreiche Muster ergeben.

Bradshaw "Six Continents", 03-06, © http://dovebradshaw.com

Bradshaw "Six Continents", 03-06, © http://dovebradshaw.com

Dove Bradshaw oder Markus Wirthmann konstruieren Vorrichtungen, innerhalb derer chemische Reaktionen ablaufen und als Nebenprodukt ästhetisch eindrucksvolle Strukturen erzeugen.

Bradshaw "Contingency Pour 5, nebulae croppe", 1994, © http://dovebradshaw.com

Bradshaw "Contingency Pour 5, nebulae croppe", 1994, © http://dovebradshaw.com

FWirthmann, Ausstellungsansicht Galerie Fehring, Frankfurt, 10, Foto CL

Wirthmann, Ausstellungsansicht Galerie Fehring, Frankfurt, 10, Foto CL

Am theatralischen Ende hingegen baut Andy Goldsworthy als bekanntester Vertreter der romantischen Fraktion seine traumhaften Gebilde,

Goldsworthy "Slate Arch", 1982, © goldsworthy.cc.gla.ac.uk

Goldsworthy "Slate Arch", 1982, © goldsworthy.cc.gla.ac.uk

während Matthias Kessler gewichtige Beleuchtungstechnologie nach Venezuela und Grönland transportiert, um Eis- oder sonstige Berge in Szene zu setzen.

Kessler "La Huasteca", 07, © mathiaskessler.com

Kessler "La Huasteca", 07, © mathiaskessler.com

Auch David Nash lenkt die Aufmerksamkeit auf die Materialästhetik von Holz und Stein – allerdings in technisch anspruchsvoller Form.

David Nash am Werk, © http://bit.ly/kFt656

David Nash am Werk, © http://bit.ly/kFt656

Diese Abstufungen von Bearbeitung machen deutlich, dass Schönheit innerhalb von Kunst niemals natürlich, d.h. ohne menschliche Absicht, sondern stets gewollt und entsprechend inszeniert auftritt. Wer spontane Ästhetik sucht, sollte sie im Gewachsenen ohne Umweg über das Gemachte suchen – wobei die Möglichkeit, überhaupt irgendetwas „Natürliches“ zu erkennen, seit Heisenbergs Erkenntnis vom unausweichlichen Einfluss des Beobachters auf das Beobachtete bezweifelt werden darf.

Doch unabhängig davon, ob sich die ästhetische Wirkung dieser und ähnlicher Objekte organischer Weisheit oder menschlicher Nachhilfe verdankt: Ja, Frau Sowienoch, Kunst kann auch schön sein. Aber besser ganz mit ohne Chagall.




Eberhard! (Schlotter…)

Schlotter "Schwarzer Lappen", 1962, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Schwarzer Lappen", 1962, Mischtechnik, Foto CL

Ich bin ja sehr tolerant. Und grundsätzlich historisch interessiert. Wenn mich also jemand fragt, ob ich mitkäme in den Kunstverein einer mittelgroßen Gemeinde (wart ihr schon mal in „Darmstadt“ (sic)? Liegt südlich von Wixhausen (sic). Kein Scherz; die Hessen sind bekannt für poetische Namensgebungen.) Also jedenfalls, wenn mich jemand sowas fragt und mir die Besichtigung der Ausstellung eines neunzigjährigen Malers in Aussicht stellt, sag ich natürlich gequält aber aufgeschlossen „kann’s kaum erwarten“ – oder sowas in der Richtung. Meister der Moderne muss man sich schließlich unermüdlich draufschaffen, weil wie wir wissen, ist besagte Moderne ja unsere Antike und so.

Dass mir der Name Eberhard Schlotter (tja, auch Niedersachsen können poetisch) noch nie begegnet ist, obwohl eingedenk unserer ansehnlichen Lebensspannen eigentlich Zeit genug gewesen wäre, bremst meinen Enthusiasmus zusätzlich. Dann aber erinnere ich mich an meine inbrünstig demokratische Lasst-mal-die-Kleinen-nach-vorn-Mentalität, und an meine Schimpftiraden hinsichtlich der immergleichen Hypes der üblichen Verdächtigen. Also halte ich mir einen pädagogisch wertvollen Vortrag, um mich von der These zu überzeugen, dass die Tatsache, dass ein Maler offensichtlich neunzig Jahre lang in der Pre-Emerging-Schleife verbracht hat, nur seine konsequente Mainstream-Inkompatibilität beweist, und hier aufrechter Widerstand gegen zeitgenössischen Anpassungsdruck zu erwarten ist.

Auf dem Weg zum Tatort weiß ich genau, welche Art von Malerei die nächste halbe Stunde meine geballte Selbstdisziplin (= Verdrängung hartnäckiger Fluchtimpulse) fordern wird. Wenn er 1921 geboren wurde, ist er aller Wahrscheinlichkeit nach in den 1950er Jahren zu Hochform aufgelaufen und hat demnach sein kreatives Potential in die unausweichlich informelle Malerei jener Epoche investiert. Gegen die hab ich auch gar nichts. Und gerade deswegen inzwischen dann doch häufig genug gesehen. Abbildungen in einer Zeitung bestätigen mein sorgfältig differenziertes Vorschussurteil: „Ach, so einer.“ Na denn: Auf zur Vollstreckung des Bildungsauftrags.

Schlotter "Die graue Tür", 00, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Die graue Tür", 00, Mischtechnik, Foto CL

Beim Betreten der Halle erleide ich einen Anfall akuter Maulsperre: Der Unterkiefer sackt und lässt mich eine Weile intelligenzfrei an die Wände starren. Der Wow-Faktor hat zugeschlagen.

Trotz aller Vielfalt lässt das Panorama aus abstrakten und veristischen – d.h. ins Groteske übersteigerten figurativen – Gemälden eine eigenartige Übereinstimmung erkennen:

Noch die scheinbar ungegenständlichsten Arbeiten erweisen sich als in Farbe und Form reduzierte Darstellungen wiedererkennbarer Motive: Architektur in Landschaft, Gebäudeteile, Licht und Schatten auf Mauerwerk und Holz.

Schlotter "Die kleine Stadt Huayacan", 01, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Die kleine Stadt Huayacan", 01, Mischtechnik, Foto CL

Der Verzicht auf Einzelheiten aber bedeutet keine wirkliche Reduktion, sondern bietet Raum für einen erstaunlichen Detailreichtum der Struktur einer Oberfläche, die keine ist. Aus einer Mischung von Sand, Gips und Farbe (oder so) entstehen Reliefs, die den Blick vollständig vom Inhalt („Leeres Kaufhaus“, „Das große Wäscheproblem“ etc.) auf die Form lenken. Das Auge kriecht in Furchen und stolpert über die Leinwand verkrustende Plateaus, deren Fülle erdfarbiger Nuancen einem denkbar unbunten Spektrum entstammt. Schlotters Palette beschränkt sich so konsequent auf Farbfamilien, wie sie allenfalls oberhalb der Vegetationsgrenze oder 40° Celsius in der Wüste vorkommen, dass es nicht überrascht, dass der Maler seit 1960 einen zweiten Wohnsitz im spanischen Alicante unterhält.

Schlotter "Gropius was here", 1999, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Gropius was here", 1999, Mischtechnik, Foto CL

Die Personendarstellungen aus den 1950er bis 70er Jahren hingegen sind bunter, aber nicht farbenfroh, denn Dunkles dominiert – in jeder Hinsicht. Auch hier lenkt das weggelassene Beiwerk die Aufmerksamkeit auf die psychogrammartigen Porträts. Nahezu alle Gesichter erinnern auf ihre Weise an Masken: das bizarre Makeup Jugendlicher Mitte der 80er Jahre, der bevorstehende Tod im aufgelösten Gesicht eines Heroinabhängigen, das subtile Sabbern des angetrunkenen Lustmolchs im Frack.

Schlotter "Der selbständige Sohn des Metzgers", Öl auf Leinwand, Foto CL

Schlotter "Der selbständige Sohn des Metzgers", Öl auf Lwd., Foto CL

Eine allgegenwärtige physiognomische Asymmetrie lässt auf die zwei Seelen, ach, der ProtagonistInnen schließen. Gesichts- und Körperhälften sind selten synchron: ein Auge ist müde, das andere lüstern, ein Mundwinkel hebt, der andere senkt sich.

Schlotter "Die Frau des Metzgers", 1958, Öl auf Lwd., Foto CL

Schlotter "Die Frau des Metzgers", 1958, Öl auf Lwd., Foto CL

Szenarios ohne Personen hingegen wirken symbolisch, dabei aber polyvalent – eher Pittura Metafisica als bedeutungsschwangere Redseligkeit. Zurückgelassene Gegenstände und leere Interieurs erzählen von etwas, das wir nie erfahren werden. Angesichts der Verteilung von lesbaren Details und freien – nicht leeren – Flächen drängt sich ohnehin der Eindruck auf, dass es dem Maler weniger um den rekonstruierbaren Plot ging als darum, das Geplauder der Einzelheiten räumlich einzudämmen und den größten Teil der Leinwand dem freien Spiel von Farbe und Schatten zu widmen.

Schlotter "Herein ohne anzuklopfen", 04, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Herein ohne anzuklopfen", 04, Mischtechnik, Foto CL

Fazit: Normalerweise bin ich nicht so freigiebig mit Beifallsstürmen, aber diese Ausstellung ist faszinierend. Dabei hab ich die ganze Druckgrafik gar nicht erwähnt. Und das ist gut so, denn ein Blog ist kein Katalog und Schlotter muss man offline sehen. Fahrt mal nach Darmstadt (sic)!

Eberhard Schlotter „unterm Strich“ bis 22.8.11 in der Kunsthalle Darmstadt




Bad Painting. Zu den Offenbacher „Kunstansichten“

Wieder eine dieser konzertierten Aktionen, bei denen sich die sonst Konkurrierenden versöhnlich in die Arme sinken, um sich ein Wochenende lang als würdig zum Empfang kommunaler Zuwendungen zu erweisen. Dies ist keinesfalls so polemisch gemeint, wie es klingt – ich persönlich liebe solche Wimmelveranstaltungen und fahre stoisch alles ab (nicht um!), was sich mir in den Weg stellt: Galerien beim Galerien-Wochenende, Ateliers beim Atelier-Wochenende.

Das einzige Auswahlkriterium meines planlosen Besichtigungsrausches, die verkehrstechnische Machbarkeit, führt mich in – sagen wir mal „abwechslungsreiche“ Umgebungen. Es gibt halt solche und solche, und letztere überwiegen zuweilen bei solchen Gemeinschaftsevents.

Sämtliche Bilder sind keine Negativbeispiele sondern veranschaulichen das für den Text zentrale Thema der Vernetzung. Mark Bradford "And Off They Went", 2010, Foto CL

Sämtliche Bilder sind keine Negativbeispiele sondern veranschaulichen das für den Text zentrale Thema der Vernetzung. Mark Bradford "And Off They Went", 10, Foto CL

Harmoniebedürftig wie ich bin, verschone ich euch mit visuellen Belegen der beachtlichen Spannbreite des künstlerischen Niveaus. Weniger, um unsere Bildschirme nicht mit diesen ganz besonderen Werken (sprich Sondermüll) zu belasten, als vielmehr, da die Tatsache, dass ich etwas überflüssig finde, nicht bedeutet, dass es das ist. Lieber beschreibe ich das Grauen, wohlwissend, dass ihr über einen ausreichenden Vorrat an ähnlichen „Großer Gott!“-Erlebnissen verfügt, um meine Schilderungen aus eurem persönlichen „Nee, oder?“-Ordner zu schmücken. Denn wenn es eine aller Kunst gemeinsame Eigenschaft gibt, ist es die Unverbindlichkeit individueller Urteile. Ungeachtet aller noch so tragfähigen Kriterien hängt ihre Anwendung von den EndverbraucherInnen ab, die ihre Entscheidung über Daumen rauf oder runter aufgrund einer individuellen Kombination vergangener und gegenwärtiger Bedingungen treffen: Prägungen und Erinnerungen, körperliche und geistige Verfassung, sowie Hoffnungen und Ängste hinsichtlich der Zukunft.

Begeistertes Gespräch: Rinus van de Velde, o.T., 10, Foto web

Begeistertes Gespräch: Rinus van de Velde, o.T., 10, Foto web

Ich habe mir angewöhnt, vor der Bekanntgabe eigener Urteile die Meinung des Gegenübers in Erfahrung zu bringen. Wenn diese positiver ausfällt als meine, bin ich heilfroh, rechtzeitig den Schnabel gehalten zu haben und schmarotze probeweise an der Wahrnehmung meines Gesprächspartners. Manchmal eröffnet mir dieses Ausleihen anderer Leute Augen und Hirne Neuland, manchmal wird es gewogen und zu leicht befunden. Immer aber bestätigt es mich darin, dass das Einholen verschiedener Ansichten der Meinungsbildung immer zuträglich, vorlautes Watschen hingegen Kunstzerstörung ist.

Daher auch das hiesige Bildfasten. Denn würde ich jeden geifernden Satz mit entsprechendem Anschauungsmaterial krönen, würde diese negative Programmierung jegliche andersgeartete Sichtweise erschweren und somit das aller Kunst eigene Potential auf Emoticon-Format schrumpfen.

Insofern geht es mir hier nicht darum, eine Aufzählung persönlicher Zu- und Abneigungen zu bebildern, als vielmehr um das grundsätzliche Phänomen des Angebots ohne Nachfrage.

In diesem Fall waren es also die sog. „Kunstansichten Offenbach“, bei denen ca. 45 Ateliers einer mittelgroßen Stadt mit Kunsthochschule zwei Tage lang das Volk über sich ergehen ließen.

Naturgemäß werde ich, das Volk, auf diese Weise mit einem bemerkenswerten Qualitätsgefälle konfrontiert. Dass KünstlerInnen Schrott produzieren, ist nicht weiter bedrohlich – Shit happens. Beklemmend ist vielmehr, dass manche es so hartnäckig tun. Und mit dieser Feststellung begeben wir uns auch schon vom kunstspezifischen Terrain auf die kosmische Ebene, denn die Investition von Zeit und Energie in Aktivitäten, die niemand braucht, ist ein uns alle verbindendes Hobby.

Dass in einem Atelier mehrere bunte Probleme nebeneinander hängen, ist allein noch kein Grund zur Sorge. Das kann in jeder Ausstellung geschehen, ohne die Befürchtung nahezulegen, der Täter könne nicht anders. Vielmehr mag es sich einem Augenleiden der KuratorInnen oder einem treudoofen thematischen Schwerpunkt verdanken. Jedenfalls besteht Anlass zur Hoffnung, bei den Exponaten möge es sich um Entgleisungen handeln, die immerhin Entwicklungspotential ahnen lassen.

Stehe ich aber inmitten eines Ateliers, in dem nur ein Teil des Grauens die Wände ziert, während ein identischer Rest aus Regalen, Schränken und Mappen lugt, beginne ich über die Vergeblichkeit menschlichen Mühens zu sinnieren.

Ina Juretzek u.a., Relikt einer Performance vom Eröffnungsabend in der Heyne Kunstfabrik, Foto CL

Ina Juretzek u.a., Relikt einer Performance vom Eröffnungsabend in der Heyne Kunstfabrik, Foto CL

Vergangene Woche zeigte Tacita Dean, eine meiner Lieblingskünstlerinnen, Ausschnitte aus einem Film über Claes Oldenburg. Entsprechend ihres Prinzips, Personen in einem für deren Lebenswerk bezeichnenden Kontext zu dokumentieren, hatte sie Oldenburg vorgeschlagen, er möchte seine umfangreiche Sammlung kleiner Gegenstände namens „Mouse Museum“ abstauben und sortieren. Bereits 1972 auf der Documenta 5 präsentiert, füllte diese Masse von manuell und industriell gefertigtem Klimbim – Spielzeug, Werbemittel, Ziergegenstände – ein ganzes Wandregal in Oldenburgs Studio.

So schrullig das klingt, ist eine umfangreiche Sammlung aus Sicht der Außenwelt nur bedingt wertvoller Objekte keinesfalls selten, sondern fast die Regel innerhalb einer Bevölkerungsschicht, deren Grundbedürfnisse gesichert ist. M.a.W. verfallen viele Menschen außerhalb der Notstandsgebiete irgendeiner Art von Gegenständen, deren Attraktivität sich anderen nicht zwangsläufig erschließt.

Ein gemeinsames Merkmal von Deans Filmen ist ihre Fähigkeit, das Aufgezeichnete durch kommentarlose Dokumentation über sich selbst hinausweisen zu lassen. Landschaften, Architektur, Objekte, Personen – sie alle entfalten eine über größere und tiefere Dimension durch den schnörkellosen Blick der spektakelfreien Kamera.
So auch im Fall von Oldenburgs Pflege seines archivierten Unsinns. Nach kurzer Zeit gerät das Abstauben und Ordnen persönlicher Kleinodien zur beklemmenden Metapher für menschliche Aktivität allgemein – von Misanthropen schon mal als „Stühlerücken auf der Titanic“ bezeichnet.

Während die Kamera dem Künstler näher kommt, nimmt der Betrachter dessen Perspektive ein – die mikroskopische Sicht auf dieses jahrzehntelang vervollständigte Universum aus Bling. Der Anblick der Versenkung einer Person in eine Aktivität einerseits, und das Wissen um deren Bedeutungslosigkeit für anderen andererseits1 gibt Anlass zur Frage nach ähnlich absorbierenden, dabei aber objektiv verzichtbaren Aktivitäten im eigenen und anderer Leute Alltag.

Mateo López "Changing-Matter", 10, Foto CL

Mateo López "Changing-Matter", 10, Foto CL

Den gleichen Effekt hat der Anblick des erhöhten Kunstaufkommens in den Ateliers derer, die am vergangenen Wochenende Einblick in ihre Arbeits- und Lagerstätten gewährten. Seit Jahrzehnten hat der weltweit steigende Ausstoß von Kunst vormalige ProduzentInnen von der Erzeugung zusätzlicher Objekte zu prozessorientierten oder konzeptuellen Arbeiten wechseln lassen. 2010 fand Michael Landys Art Bin – ein Plexiglas-Container, der KollegInnen erlaubte, misslungene Werke vor aller Augen und in aller Form in die Tonne zu treten, begeisterte Zustimmung, schien er doch die zeitgenössischste aller zeitgenössischer Kunst in einer Phase, da das Angebot die Nachfrage in beängstigendem Ausmaß übersteigt.

Die Gründe für das Missverhältnis sind zu vielschichtig, um sie im Rahmen eines Blogbeitrags zu behandeln. Dass es sich aber so verhält, liegt auf der Hand angesichts des anhaltenden Verteilungskriegs um die knappe Ressource Aufmerksamkeit. Scharen von kurz- oder langfristigen Zusammenschlüssen, On- und Off-Spaces, kommerziellen Galerien, Bi-, Tri- und Quatriennalen usw. versuchen durch gemeinsame Initiative dem Schicksal der EinzelkämpferInnen „divided we stand, together we fall“ zu entgehen.

Das wichtigste Werkzeug dabei ist – wie überall – Kommunikation und Bildung. Denn nur durch das Bekanntmachen des Produkts, zusammen mit der Vermittlung des zur Rezeption erforderlichen Wissens lässt sich die Klientel erweitern.

Steve Lambert "I Will Talk With Anyone", 06, Foto web

Steve Lambert "I Will Talk With Anyone", 06, Foto web

Darin liegt der Sinn solcher Gemeinschaftsaktionen, wie sie in unterschiedlichen Formaten zwischen Klein- und Groß-Posemuckel stattfinden. Und da ich mir öfter mal vorstelle, es ist wasauchimmerfürein „Weekend“, und keiner geht hin, gehe ich überall hin. Das ist meine Art donquichotiger Graswurzelarbeit gegen Blockbuster-Shows und prominente Bösewichter, wie sie als Star-KünstInnen oder allesfressende Mega-SammlerInnen durch die Medien geistern.

Ja klar, wie eingangs erwähnt, ist die Palette bei diesen basisdemokratischen Ereignissen ziemlich bunt, aber, wie ebenfalls erwähnt – es gibt halt nicht nur solche, sondern auch solche.




Hirnforschung – mit den Mitteln der Kunst

Liebes Revier. Genaugenommen braucht es euch nicht zu bekümmern, welche Ausstellung heute in anderen Bundesländern eröffnet. In der vorliegenden aber geht es um ein Hirn. Und ich dachte, weil bei euch der eine oder andere vielleicht auch sowas hat, könnte es interessant sein. Hier also nähere Infos zu

Max Brand: „Meine Gedanken“

Galerie Jacky Strenz, Frankfurt am Main, 7.5. – 1.7.11

Schlechte Sicht. Der Blick von der Straße wird von einem Vorhang getrübt. Die mangelnde Transparenz ist Absicht, ist doch der Ausstellungsraum nichts weniger als die Veranschaulichung eines Gehirns, und als solches bekanntlich von außen nur bedingt einsehbar.

Einmal eingetreten, bietet sich die unverstellte Sicht auf zwei- und dreidimensionale Äquivalente für „Meine Gedanken“. „Seine“ genaugenommen, doch Besitzverhältnisse sind hier zweitrangig, denn die Metaphern, die Max Brand für Denkprozesse findet, sind grundsätzlicher Natur und daher übertragbar. Tatsächlich sind es kollektive Strukturen, die seine Bilder nachzeichnen. Wer jemals das eigene Denken beobachtet hat, wird Ähnlichkeiten feststellen zwischen Gedanken- und Bildfiguren. So lassen sich Brands Gemälde als Visualisierung des Denkens betrachten.

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Ob detailreich oder verkehrsberuhigt – auf sämtlichen Arbeiten finden sich Schemen von Mensch, Tier und Pflanze. Oszillierend zwischen Karikatur und Piktogramm weisen sie gerade eben genug Ähnlichkeit mit Bekanntem auf, um als Chiffre identifiziert zu werden, ohne aber den Anspruch eines Abbilds zu erheben.

Solche Klischees der sichtbaren Realität verdeutlichen den Unterschied zwischen Denken und Wahrnehmen. Im sinnlichen Kontakt erleben wir Phänomene in ihrer Komplexität. Denkend aber aktivieren wir lediglich den diskursiven Rest dieser vielschichtigen, weil ästhetischen Erfahrung. Da das eigentliche Erlebnis rational nicht fassbar ist, bleibt im Bildgedächtnis lediglich der Umriss einer ursprünglichen Fülle, bestehend aus wiederkehrenden Charakteristika: Auge und Hand, Schnabel und Schnauze – die Vielfalt der Vegetation auf eine Pril-Blume geschrumpft. Die kindliche Handschrift der Kürzel verweist auf die Tatsache, dass die in der Kindheit gespeicherten visuellen Eindrücke die Grundlage aller späteren Wahrnehmung bilden.

Doch da sich subjektives Erleben und der daraus gebildete Vorrat von Sinneseindrücken innerhalb eines kulturellen Kontextes vollzieht, der bereits frühe Prägungen mitgestaltet, bevorzugt Brand Bildträger mit sichtbarer Geschichte – bedruckte Stoffe, vom Maler gefunden, dabei aber eher ausgewählt als aufgelesen.

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Die so angedeutete Gegenwart des Vergangenen scheint auch in der erkennbaren Vielschichtigkeit der Gemälde auf, deren aktuelle Erscheinung lediglich die letzte vorhergehender Stufen darstellt. Letztere lassen sich mit unbewaffnetem Auge erkennen, ganz so, wie auch aktuelle Gedanken ihre eigene Entstehungsgeschichte nur notdürftig verbergen. Doch während wir uns selten zurückliegender Überlegungen bewusst sind, die zum gegenwärtigen Erleben beigetragen haben, schieben sich in Brands Bildern „unterbewusste Inhalte“ durch die oberste Schicht des Bildträgers. Palimpsestartig schimmern halbherzig übertönte Farben und modifizierte Formen durch die labile Oberfläche und berichten von der Macht der Geschichte.

 

Brand, o.T., 2010, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T., 2010, © Galerie Jacky Strenz

 

Jede Leinwand enthält eine Vielzahl visueller Metaphern für Entstehung und Wandlung von Denkprozessen. Während die wenigsten Verbindungen gerade, d.h. folgerichtig verlaufen, dominieren tastende, planlos mäandernde Linien das Terrain. Sie beginnen zaghaft oder grandios, stottern, verblassen, leuchten auf, schleichen aus, brechen ab, kreuzen, schließen und verknoten sich. Zuweilen treten sie auf der Stelle, umfahren die einmal geglückte Form wieder und wieder – Lieblingsgedanken, die wir immer dann zitieren, wenn uns zu neuen Problemen nichts Neues einfallen will.

Die Kombination flüchtiger und ausgearbeiteter Zonen vermittelt den Eindruck beständiger Unbeständigkeit. Ähnlich wie wechselnde Geistesverfassungen liegen grelle, mitunter krasse Passagen neben wolkigen Gebilden, in denen die Mischung vieler Farben zu vager Dumpfheit, das Verknüpfen vieler Fäden ins Dickicht geführt hat. Die Applikation zusätzlicher Textilien und der stellenweise pastose Farbauftrag erweitert die eigentlich unzulässige Verflachung geistiger Aktivität in die dritte Dimension. Zugelassene und herbeigeführte Spuren von Alterungsprozessen bringen die vierte Dimension der Zeit ins – buchstäbliche – Spiel.

 

Brand, o.T, 2008/09, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T, 2008/09, © Galerie Jacky Strenz

Als Äquivalent des zeitgenössischen iBrains ist auf Brands Gemälden Komposition durch Kakophonie ersetzt. Einzig gemeinsames Merkmal von Farbe und Material ist ihre gleichzeitige Anwesenheit in diesem Bild– bzw. Kopfträger. Organisches und Synthetisches, Schrilles und Zartes stehen so unvermittelt nebeneinander wie widersprüchliche Gedanken.

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Dieses Zusammentreffen des Disparaten spitzt sich in den Skulpturen zu: Die Mischung von Gips und Gießharz veranschaulicht die Gleichzeitigkeit von Transparenz und Dichte, von geistiger Klar- und Trübheit. Die von einem Tau umwundene Hirnform weckt Zweifel am vermeintlich grenzenlosen geistigen Entwicklungspotential. Die lediglich an einer Außenseite bemalte, graue Materie1 hingegen erinnert an das proportionale Verhältnis von erforschten und unerforschten Hirnfunktionen.

1„Grey Matter ist die englische Entsprechung der deutschen „grauen Zellen“ als Synonym für Gehirn.

 

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

 

Farbenfroh, verwickelt und mit hartnäckig unbekanntem Inhalt thront ein geheimnisvolles Bündel wie eine uneinnehmbare Festung inmitten eines kristallklar überschaubaren Milieus: der nicht auflösbare Rest – das Hirn – umgeben von allem, was es schon weiß.

 

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

Brand, o.T., 2011, © Galerie Jacky Strenz

 




Künstlergruppe Freiraum2010 verabschiedet sich von der Lukaskirche

Zweite Freiraum2010-Ausstellung in der LukaskircheDie entweihte Lukaskirche in Essen-Holsterhausen soll modernisiert werden, die Kunst muss raus. Nach zwei erfolgreichen Austellungen verlassen die Künstler von Freiraum2010 das einst christliche Gebäude in der Planckstraße.

Am 1. Mai war letzter Ausstellungstag. Zum Abschied verkündete Joscha Hendricksen, Pressesprecher der Gruppe, die „100 Thesen zum Freiraum“ – in Anlehnung an René Polleschs „Der perfekte Tag“, wie er betonte. Entsprechend nachdenklich wirken nun die teils lustig, intelligenten und immer irgendwie abgedreht klingenden Thesen nach. „Nach fast einem Jahr auf der Suche nach Freiräumen, ist unsere Gruppe gewachsen. Dass wir jetzt wieder ohne Ort zum Zusammenkommen und Arbeiten dastehen, ist eine Tragödie. Dies schwächt unsere Gruppe und erschwert die Möglichkeit, künstlerische anspruchsvolle Projekte zu entwickeln und zu verwirklichen“, sagte Hendricksen nach der Veranstaltung.

Friedlicher Protest – Durch Hausbesetzung ans Ziel gelangt

Zur Kirche als Arbeits- und Ausstellungsort gelangte Freiraum2010 nachdem sie vergangenes Jahr das DGB-Gebäude in der Essener Innenstadt friedlich besetzt hatten. Auch wenn die Besetzung nur wenige Tage andauerte, so verschaffte sie den Künstlerinnen und Künstlern zumindest Gehör bei der Presse und schließlich auch bei der VEWO Wohnungsverwaltungs GmbH. Sie stellte ihnen das Gebäude für einige Monate als Arbeits- und Ausstellungsraum zur Verfügung.

Und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Zur ersten Ausstellung ist bereits ein Katalog erschienen, der, wie auch die zweite Ausstellung, eine breite Facette junger Kunst – von Streetart über Fotografie bis zu Installationen – zeigt.

Unsicher in die Zukunft

Zweite Freiraum2010-Ausstellung in der LukaskircheBereits fest steht: Aus der Kirche soll ein integratives Wohnprojekt werden. Doch wie es für die Künstlergruppe weiter geht, bleibt ungewiss. Bislang hat sich noch kein entsprechendes Gebäude beziehungsweise Investor oder Vermieter gefunden, der den Künstlern langfristig eine Bleibe geben würde. „Hätte es die Kulturhauptstadt nicht gegeben, dann wären wir wohl nicht so erstaunt über das geringe Interesse seitens der Verantwortlichen in Kultur und Politik an einer vitalen Kunstszene in Essen- der Einkaufsstadt“, erklärt Joscha Hendricksen. Denn „angesichts der geringen Mittel, die benötigt würden, um unserer Initiative eine Plattform zu ermöglichen, und den großen Reden über Nachhaltigkeit, wundert es uns schon, dass eine Odyssee, die mehr als 100 Kunstschaffende und 2500 Besucher in einen Leerstand gebracht hat, auf der Straße stranden muss.“

Doch so schnell wollen die Künstler nicht aufgeben. „Der Freiraum ist auf der Suche nach einem neuen Objekt!“, steht auf der Homepage. Bleibt zu hoffen, dass der Nachhall dieser Ausstellung auf offene Ohren trifft.




Die Lecture-Performance (oder so)

Mein Fehler. Ich habe mir den falschen Platz gesucht: Damit sich die später Eintreffenden nicht an mir vorbei schieben müssen, hatte ich mich in die Mitte einer Stuhlreihe gesetzt statt an den Rand. Und weil der Sprecher so prominent ist und ich ihn aus nächster Nähe bestaunen wollte, auch noch ganz vorne. Da sitze ich nun und kann nicht anders. Könnte ich anders, hätte ich mich nach ca. zwanzig Minuten geschlichen, und zwar in der Überzeugung, dass der Vortrag später sicher gut geworden wäre, ich aber mal wieder zu ungeduldig war. Aufgrund dieses Schuldbewussteins wäre der prominente Dozent in meiner Achtung gestiegen. Eingeklemmt aber zwischen LeidensgenossInnen bleib ich sitzen, hauptsächlich, um keinen Massenexodus loszutreten. Also erleide ich die ungekürzte Fassung eines Dramas. Und zwar in Großaufnahme – mit allen mimischen und gestischen Feinheiten.

Ihr braucht übrigens gar nicht runter zu scrollen, um herauszufinden, um wen es geht: Ich sag’s nicht. Weniger um ihn nicht zu blamieren, als vielmehr mich selbst, die ich eine brillante Performance nicht als solche erkannt habe. Schließlich hat der Mann Ausstellungen in namhaften Institutionen, und Texte in namhaften Publikationen. Im Kontrast zum analytischen Umfeld, in dem seine Prosa erscheint, wirken seine Beiträge immer so anekdotisch und assoziativ, dass ich diesen Mut zur Abweichung für Konzept gehalten und daher die Gelegenheit ergriffen hatte, den als Autor und Künstler gehandelten Verfasser leibhaftig zu sehen.

Der Abend fängt vielversprechend an, nämlich mit der Erzählung eines GaUs: Kurz vor Fertigstellung eines Katalogtextes war sein Computer eines Morgens nicht mehr aufgewacht und auch durch hartnäckige Wiederbelebungsversuche nicht wiederherzustellen. Der Mann wird meines ungebremsten Mitgefühls teilhaftig und durch Tränen umflorte Augen sehe ich ihn mit DIN A-1 großen Bögen zusammengeklebter Seiten wedeln, von denen er Passagen vorliest. Ich kann nicht ganz folgen, habe ständig den Eindruck, zentrale Erläuterungen zu verpassen und ärgere mich über meine Unkonzentriertheit. Der Zusammenhang der thematisch abwechslungsreichen Textauszüge will sich mir nicht erschließen, zumal jede Episode nach wenigen Sätzen durch ein abruptes „whatever“ endet.

Rezipient gibt sich Mühe.

Ja, er spricht Englisch, wir befinden uns schließlich in einer international renommierten Kunsthochschule, und daher wäre mir das nicht weiter aufgefallen.
Wenn er denn Englisch spräche. Sein derzeitiger Lebensmittelpunkt („lives and works in NY“ – of course) scheint ohne nennenswerte Folgen für seine Sprachkompetenz geblieben zu sein. Wahrscheinlich wünschen die englischsprachigen Studierenden ebenfalls, er möge Deutsch sprechen – das wäre auch für sie einfacher.
Ein konsequent auf die imposanten Collagen gerichteter Blick und eine Art selbstversunkener Sprachmelodie vereinfachen die Rezeption nicht.

Spätestens seit der Schilderung irgendeines Morgens danach, da er beabsichtigte, sich vom Boden zu erheben, infolge erhöhter Alkoholzufuhr aber schließlich davon absah und stattdessen Katzenfutter verzehrte, dämmert mir, dass ich wohl besser meine Erwartung korrigieren und vom Vortrags- in den Performance-Modus umschalten sollte.

Darin bestätigen mich die mit bewundernswerter Konsequenz eingehaltenen Sprechpausen, während der er die Bögen nach weiteren lesenswerten Passagen durchsucht. Auf DIN A-1 kann das dauern. Aber nicht erst seit Cage wissen wir um die bewusstseinserweiternden Folgen des auf die eigenen akustischen Hervorbringungen verwiesenen Publikums. Diszipliniert bemühe ich mich also um die Überwindung der Trennung von Subjekt und Objekt, indem ich Performer und Performte, äußeres Geschehen (überschaubar) und inneres (zunehmende Unruhe) als Werk begreife und beflissen meine passive Erwartung warenförmigen Kunstkonsums reflektiere.

Rezipient gibt auf.

Die anderen Insassen verfahren ähnlich. Zwar verzeichne ich ein leichtes Ansteigen des Verbrauchs alkoholischer Getränke (Biertrinken bei Lectures ist hier normal. In diesem Ateliergebäude kommen die Zuhörenden schließlich direkt von der Arbeit und machen es sich daher erst mal gemütlich), aber anders als bei theorielastigen Events wie Symposien und dergleichen ist die dort unablässige Pflege sozialer Netze per Telefon zumindest nicht sichtbar.

Der einzige, der bereits nach zehn Minuten mit dem Sortieren des Posteingangs beginnt, ist der Rektor der Schule. Der zweite anwesende Professor hingegen hat im gleichen Zeitraum die erste Flasche Bier beendet und unterbricht anschließend, eine der choreografisch wirkungsvollen Schweigephasen mit der Frage, ob er vielleicht eine Frage stellen solle. Hält er etwa die konsequente Brechung unserer Wahrnehmungsgewohnheiten für ein Zeichen mangelnder Vorbereitung? Aber gern dürfe er das, freut sich der Redner, geht dann aber auf die ihm angebotenen Stichworte offenbar nicht zur vollsten Zufriedenheit des Professors ein, der daraufhin voll Adrenalin induzierter Dynamik hochschnellt und den Raum verlässt.

Prof gibt sich auch Mühe.

Nee, Jungs, so geht’s nicht, denke ich. Überlegt euch besser vorher, und vorher besser, wen ihr einladet, und sitzt es dann aus. Meine Polemik war voreilig, denn schnell kommt die Koryphäe wieder rein, in der Hand eine zweite Bierflasche, offenbar entschlossen, sich den Vortrag schön zu trinken.

Die StudentInnen sehen das entspannter. Zustimmendes Lachen erklingt, als der Referent von seiner Ambition berichtet, wissenschaftliche Texte in dafür vorgesehenen Magazinen zu unterzubringen, seinen diesbezüglichen unwissenschaftlichen Bemühungen und der daraus abgeleiteten Erkenntnis, gewisse US-amerikanische Kunstfreunde hätten doch irgendwie Recht: Texte haben in „Kunst“ nichts verloren, und wenn doch, komme es nicht so sehr drauf an, was drin stehe, solang das Layout stimmt. The medium sei nämlich the message.

Während die kunstschaffende Fraktion Nachsicht übt, hat der vor mir platzierte Rektor inzwischen bemerkt, dass sein diskretes Texten den Vortragenden nicht direkt anfeuert. Er lässt das Telefon verschwinden und versteinert fortan zusehends. Als ihm unwillkürlich missbilligende Laute entweichen, sieht sich seine Begleiterin zu de-eskalierendem Tätscheln veranlasst.

Dieweil ich noch immer die konzeptuelle Stringenz dieses Erwartungen unterminierenden Auftritts bewundere, steigert sich der Redner zum Finale. Nachdem er mit Blick auf die Uhr („by the way, what time is it?“) feststellt, dass das Ende naht („oh, seven, that’s good“ – es war acht, aber wer stellt schon gern zweimal jährlich die Uhr um?), woraufhin die chronisch zitternden Finger beim Umklammern einer Zigarettenpackung zur Ruhe kommen, endet er mit einer längeren Erklärung hinsichtlich der Gründe seiner leichten Desorientierung, wobei er das interpunktierende „whatever“ durch rhythmisches „sorry“ ersetzt. Viel gereist, viel Partys nebst der damit einhergehenden Belastungen – und dann die Sache mit dem entschlafenen Computer … Mein oben beschriebene Mitgefühl weicht der gehässigen Überlegung, der Schaden der verlorenen Dateien sei eventuell geringer als befürchtet.

Der Applaus ist lang – fast zu lang, bekommt er doch etwas Tröstendes, geradezu Therapeutisches. Aber lieb, finde ich. Und kaum jemand ist gegangen. Denn trotz lebhaften Verkehrs zwischen Vortrag innen und Bierautomat außen kamen fast alle wieder rein. Nette Studierende.
Ziemlich unverzeihlich hingegen die zwei Hochschullehrer, die den Referenten nach Redeschluss allein erst sitzen, dann stehen und schließlich rausgehen ließen. Sowas macht man nicht. Ich glaub, die müssen an ihrem Kunstbegriff arbeiten.




Wenn rohe Kräfte der Natur die Kunst verbessern – Der Mohn, der Reis und die zerstörte Skulptur: Klima betrifft auch die documenta

Von Bernd Berke

Nicht nur das Kino hat mit dem Wetter zu schaffen, sondern auch die bildende Kunst. Und wie! Bei der documenta in Kassel können sie Lieder davon singen.

Die erst seit einer knappen Woche laufende Weltkunstschau ist bereits mehrfach von ungünstiger Witterung betroffen. Vor allem die großflächigen Blickfänge wollen und wollen nicht gedeihen. Das vor dem Fridericianum ausgesäte Mohnfeld der kroatischen Künstlerin Sanja Ivekovic mag die ersehnten roten Blüten nicht herzeigen. Ständiger Regen hat die meisten Keime ausgewaschen.

Ganz anders gelagert ist das Problem im Falle des Reisfeldes am Schloss Wilhelmshöhe, angelegt vom Thailänder Sakarin Krue-On. Das hierfür dringend nötige Wasser versickert fruchtlos im porösen Boden. Jetzt will man notgedrungen von Nass- auf Trockenreis umstellen.

Hier wie dort ist Geduld gefragt, bis die Pflänzchen der Kunst endlich sprießen. .Doch damit nicht genug der klimatischen Sorgen.“ Der Chinese Ai Wei Wei (derjenige, welcher‘ 1001 Landsleute als lebendes Kunstwerk nach Kassel holt) hat auch eine turmförmige Holzskulptur gebaut, die von einem Kasseler Unwetter zum Einsturz gebracht .wurde. Da rufen wir „O wei!‘ und „Potzblitz“!

Ist es etwa absichtliche „Dekonstruktion“? 

Mit all diesen betrüblichen Informationen versehen, legte man sich schon mal passende Deutungen zurecht. Waltete hier nicht pure Absicht? Der schlaue, mit allen Wassern der Theorie gewaschene documenta-Chef Roger M. Buergel hatte doch bestimmt mal wieder „Dekonstruktion“ (sprich: gezielte Zerlegung) von Kunst im Sinn. Überdies besseres Mittel als Pannen und Schäden, um jeden Tag in die Presse zu kommen.

Ertappt, lieber Herr Buergel! Sie haben im Vorfeld einfach zu oft die besondere Schönheit unvollendeter Werke gepriesen, die sich im Lauf der Zeit verändern. Jetzt wissen wir, wie Sie das anstellen.

So phantasierte man sich in Glossenstimmung hinein und wollte gerade zu schreiben beginnen. Doch just da kamen die neuesten Zitate aus Kassel, die den ironischen Zugriff hinter sich lassen.

Ai Wei Wei denkt nämlich gar nicht daran, seine Skulptur wieder aufzubauen. Er glossiert den Vorfall selbst: „Das ist besser als vorher. Jetzt wird die Kraft der Natur sichtbar.“ Und er fügt im Hinblick auf einen konkreten Kaufinteressenten hinzu: „Der Preis hat sich soeben verdoppelt.“

Auch documenta-Chef Buergel, der gestern barfuß durch Pfützen watete und die Einsturzstelle besah, findet, dies alles sei „nur konsequent. Die Trümmer lassen jetzt jede Menge Assoziationen zu.“ Ja, warum dann nicht gleich so? Warum überhaupt anfangs intakte Arbeiten hinstellen? Na, wie gesagt: Damit es Schlagzeilen gibt.




Inseln der Kunst im Sauerland – Rundfahrt zu aktuellen Ausstellungen in Arnsberg, Lüdenscheid und Schwerte

Von Bernd Berke

Arnsberg/Lüdenscheid/Schwerte. Sage niemand, daß es im Sauerland keine interessanten Ausstellungen gebe. Nur sind hier die zeitlichen und örtlichen Zwischenräume etwas größer als im Ruhrgebiet oder gar in Köln. In Südwestfalen sind es eben Inseln der Kunst. Ein paar Beispiele:

Der rührige Kunstverein Arnsberg, beflügelt auch von der Konkurrenz durch die mäzenatisch betriebene Stadtgalerie im nahen Sundern, zeigt derzeit großformatige Bilder des in Köln lebenden Klaus G. Gaida (geb. 1950). Der Ausstellungstitel „Erdrandbewohner“ bezieht sich selbstverständlich nicht aufs Sauerland, sondern auf Feuerland. Dort hat der Forscher Martin Gusinde um 1918 Sitten und Gebräuche eines bald darauf (durch Masern) ausgestorbenen Indianervolkes fotografisch festgehalten. Diese Dokumente dienten Gaida als Vorlagen. Man sieht phantastische Wesen wie von anderen Sternen, zu strengen Haltungen erstarrte Rituale der Geisterbeschwörung.

Ritual wie beim Fußballteam

Nach striktem Farbschema hat der Künstler diesen so ganz eigenen Menschen-Kosmos mit Kalkfarben und Sand-„Nestern“ auf Textilunterlagen gebannt. Als Mitteleuropäer sucht man nach vertrauten Mustern – und meint eines gefunden zu haben, wenn man z. B. eine Indianer-Gruppe aufgestellt sieht wie eine Fußballelf zum Meisterschaftsfoto. Doch damit sitzen wir bereits dem vorgeprägten Blick auf, den deutsche Fotograf arrangiert hat und den Gaida weitergibt. Vertraute Form, höchst fremdartiger Inhalt – eine irritierende Wechselwirkung.

Weiter geht’s: nach Lüdenscheid. Fast 60 Kilometer sind es von Arnsberg aus über die kurvige B 229. Lüdenscheid kann mit dem schmucken Städtischen Museum, der Stadtgalerie und dem Kulturzentrum schon als Sammelpunkt gelten. Für Kontinuität und Konzepte bürgt Uwe Obier, der jetzt Arbeiten des Lüdenscheiders Heinz Richter (geb. 1924 in Berlin) präsentiert. Die Schau beschließt eine geschichtlich zentrierte Erinnerungs-Trilogie. Der Titel („Steinzeit“) lässt sich beziehen auf kriegerische Ausbrüche, die immer wieder vorzeitlich anmuten. In redlicher Absicht, doch gelegentlich allzu plakativ, warnt Richter vor Neonazis und einer schrecklichen Wiederkunft von „Stalingrad“, wobei er auch auf Skizzen zurückgreift, die er nach dem 2. Weltkrieg angefertigt hat. Besonders im Gefolge des Golfkrieges (1991) hat ihn das Kriegsthema gepackt.

Bekenntnisse auf einem Tuch

Da fordert er auch schon mal flammende Bekenntnisse gegen Gewalt ein, die der Besucher in einer Flügelaltar-Installation per Unterschrift auf einem langen Tuch bekunden soll. Andererseits taucht Richter auf Farbwolken-Bildern in unbewußte oder mythische Regionen und findet mit Metall-Durchbrüchen innigere Bilder der Gewalt.

Einige hundert Meter weiter befindet sich jene Galerie Friebe, die die rigorosen Jury-Maßstäbe der Kölner Kunstmesse „Art Cologne“ erfüllt. Hier sind nun Arbeiten des renommierten Münsteraner Kunstprofessors Joachim Bandau (geb. 1936) zu sehen. Es ist eine sparsam, jedoch überlegt getroffene Auswahl. Die kleinen Wandplastiken aus patiniertem Blei oder Kupfer, in rhythmischer Folge angebracht, offenbaren ihre formalen Qualitäten bei geduldiger Betrachtung. Ähnliches gilt für die „Schwarz-Aquarelle“, die unaufdringlich mit sanften Überlagerungen, Übergängen und Schattierungen spielen.

In Richtung Dortmund empfiehlt sich ein Abstecher nach Schwerte, dem – je nach Blickrichtung – Vorposten des Reviers oder des Sauerlands. Auch der dortige Kunstverein genießt überregionalen Ruf.

Schichten der Erinnerung

Im stattlichen neuen Domizil zeigt man gegenstandsfreie Bilder des Belgiers Ivan Popovic. Die Auswahl umfaßt vor allem eine Serie von „Mauerbildern“. Diese sind schichtweise aufgebaut und ähneln Hauswänden oder eben Mauerstücken, von denen der Putz abgeplatzt ist wie nach einer großen Regenzeit. Die Verwitterung legt dem Betrachter Erinnerung an Vergangenes nahe. Zuweilen eincollagierte alte Briefe mit nicht mehr gebräuchlichen Schriften verbreitern diesen Zugangsweg. Doch auch der frisch-kalkige Duft der Bilder lenkt die Wahrnehmung. Subtile Kunst im Spannungsfeld von Graffiti und politischen Mauerstürzen.

  • Kunstverein Arnsberg, Königstraße 24: Klaus G. Gaida „Erdrandbewohner“. Bis 12. März. Mi.-Fr. 17-19. So. 11-13 Uhr (Tel.: [029 31] 2 11 22).
  • Museen der Stadt Lüdenscheid, Sauerfelder Str. 14: Heinz Richter „Steinzeit“. Bis 26. Februar. Di-So 11-18 Uhr. [023 51] 17 14 96).
  • Galerie Friebe. Lüdenscheid, Parkstraße 54. Joachim Bandau. Bis 10. März. Mo.-Fr.10-12 und 16-18 Uhr. Tel.: [02351] 3 89 24).
  • Kunstverein Schwerte, Kötterbachstraße 2. Ivan Popovic. Bis 3. März. Di.-Fr. 16-19 Uhr [02304] 22175).

 




Puppenbild am Beichtstuhl, Krücken an den Wänden – Kunst kehrt in die Kirche zurück

Von Bernd Berke

Münster. An die Wände der Lambertikirche hat jemand lauter Krücken gestellt. Im selben Gotteshauses hängt, gleich neben dem Beichtstuhl und scheinbar höchst unpassend, ein im „wilden“ Stile gemaltes Bild, auf dem Kinder mit einer zerstörten Puppe zu sehen sind. Und in der Überwasser-Kapelle hat sogar einer die Wände vollgeschrieben. Welche Frevler waren da am Werk?

Gar keine. Es geht um eine Aktion, mit der in Münster das schwierige Verhältnis zwischen Kunst und Kirche ausgelotet wird. Seit Maler und Bildhauer in die Abstraktion abgewandert sind, fanden Amtskirche und praktizierende Christen die Werke nicht mehr anschaulich genug – und damit untauglich zur Glaubensvermittlung.

Bis zum 18. Jahrhundert schienen Kunst und Kirche verschwistert, dann riß die Verbindung zusehends. Hinter dem Münsteraner Projekt „Gegenbilder“, das Arbeiten von 13 Künstlern in vier Kirchen versammelt, stehen Vertreter der beiden großen christlichen Konfessionen als Beiräte. Für die Auswahl war der Galerist und Kunstvermittler Eberhard Lüdke zuständig: „Anfangs bin ich auf Widerstand gestoßen“, bekennt er. Doch Gespräche mit den Gemeindevorständen hätten manches Mißtrauen beseitigt. Ein Begleitprogramm soll nun das Thema vertiefen. Die Kirchenbesucher werden mit Hinweistafeln eingestimmt.

Ein geschlossenes und ein allseits offenes System

Lüdke zum Kern des Problems: „Die Kirche ist ein eher geschlossenes System, die Kunst ein allseits offenes. Das erzeugt Reibung.“ Die Kunst richte ihr Augenmerk eben auf die Zersplitterung der Welt, die Kirche auf den großen Zusammenhang. Desto mehr war Lüdke überrascht, wie bereitwillig die Künstler mitwirkten; geradezu, als hätten sie auf den Anstoß gewartet und als habe das Thema in der Luft gelegen.

Auch bekanntere Größen wie Stephan Balkenhol und Tony Cragg sind dabei. Sie fertigten ihre Arbeiten eigens für Münster an, um auf räumliche Gegebenheiten einzugehen. Mischa Kuball bedient sich der Bildprojektion, Jan van Munster verpaßt dem Steinfußboden irritierende Muster, Stephan Balkenhol hat zwei nackte Holzfiguren geschnitzt: Adam und Eva. Mark Formarek stellt einen Automaten auf, der auf Knopfdruck Trostworte spendet, und Dieter Kießling hat einen Kunst-Brunnen ans Taufbecken platziert.

Norbert Rademacher stellte die erwähnten „Krücken“ auf, die sich ästhetisch in die Säulen-Ordnung der Kirche einfügen. Es sind Pilgerstöcke, also keineswegs unchristliche Gegenstände. Überhaupt ist das Wort „Gegenbilder“ nicht als Attacke zu verstehen, sondern im Sinne eines behutsam-kritischen, freundlich gestimmten Gegenübers. Ganz klar: Ausgesprochene Kirchenfeinde oder Tempelstürmer wurden gar nicht erst eingeladen.

Fragt sich, was geschieht, wenn die Ausstellung vorbei ist. Möglich, daß etwa die Schriftzüge in der Überwasserkirche übertüncht werden. Möglich auch, daß es hier und da zu Ankäufen kommt. Welche Gemeinde hat Mut?

„Gegenbilder“. Münster (Apostel-, Dominikaner-, Lamberti- und Überwasserkirche). Bis 31. Oktober, tägl. 10-18 Uhr. Katalog 20 DM. Infos/Führungen 0251/25687.




Dachau und die schönen Künste

Von Bernd Berke

Es gibt Orte, die tragen untilgbar tiefe Spuren der Geschichte. Es gibt Leute, die neudeutsch „Image-Pfleger“ heißen und kein Einsehen haben. Zu ihnen gehört wohl auch Dr. Lorenz Reitmeier, Oberbürgermeister der bayerischen Stadt Dachau.

Von Haus aus Jurist, hat sich Reitmeier aufs Feld der Kunst begeben und nun mit Schreiben „an d i e Kulturjournalisten und Kunstkritiker in Deutschland“ – eine Adresse, die nach Kampagne klingt – ein Buch geschickt. Es enthält für 198 DM satte 1700 Farbabbildungen auf teurem Hochglanzpapjer und heißt „Dachau, der berühmte Malerort“. Uns liegt eine „Sonderaufläge für die Stadt Dachau“ vor (die bestimmt ganz ohne jeden Steuergroschen entstanden ist, oder?). Der Süddeutsche Verlag erklärt sich verschämt nur für die „technische Gesamtherstellung“ zuständig,

Angeblich eigenständig hat Reitmeier alle Recherchen getätigt, um jedes, aber auch wirklich jedes Kunstwerks habhaft zu werden, das nur irgend mit dem Namen Dachau zu tun hat. Zwar haben dort auch Koryphäen wie Lovis Corinth und Christian Morgenstern gearbeitet (während man sich mit Ludwig Thoma – bei Licht betrachtet – schon weniger brüsten kann, war der doch auf seine alten Tage ein übler Nationalist). Aber bei der Unzahl von Bildern handelt es sich in erster Linie um gemalte Heimattümelei. Die schiere Fülle soll die Sinne des Betrachters überwältigen und den Schluß nahelegen: „Aha, in Dachau ist die Kunst daheim“.

Natürlich weiß auch Reitmeier, gegen welche Vergangenheit er diese Bilderflut stellt. Das ist es ja gerade. Er tut es ganz gezielt, obgleich, wie er pikiert feststellt, das KZ, das unter dem Namen Dachau weltweit berüchtigt war, doch „in einer Nachbargemeinde“ angesiedelt war. Zitat aus dem Klappentext: „Der Glanz des Namens Dachau wurde seit 1933 überschattet von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die unter dem Namen Dachau begangen wurden. Glücklicherweise aber blühte die Kunsttradition Dachaus nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf…“ — Glücklicherweise.

So leicht ist die Geschichte entsorgt, gleichsam durch die Gnade der vielen Bilder. In Dachau hat man sich schon öfter schwergetan, wenn es darum ging, der NS-Zeit wirklich zu gedenken. Das unwürdige Gerangel um eine Begegnungs- und Erinnerungsstätte, die man am Ort nicht haben mochte, ging lange durch die Medien.

In Dachau wurde bereits im März 1933 eines der ersten KZs in Deutschland errichtet, das später 125 Außenstellen „betreute“. Etwa 200 000 Häftlinge waren in Dachau interniert, 34 000 starben.

Selbst wenn Picasso dort gearbeitet hätte: Ein Ort mit dieser düsteren Geschichte kann nicht ohne weiteres zum „Ort der Kunst“ erklärt werden.




Experten warnen: Auch neue Kunst verfällt schon

Von Bernd Berke

Wuppertal. Die Kunst-Restauratoren schlagen Alarm: Nicht nur Werke alter Meister verfallen, auch moderne und zeitgenössische Arbeiten sind schon bedroht. Das Thema steht bei der Jahrestagung des Deutschen Restauratoren-Verbandes (bis Samstag in der Wuppertaler Stadthalle) auf der Tagesordnung obenan.

Experimentierlust und Geldsorgen moderner Künstler machen den Restauratoren zu schaffen. Manch mittelloser Künstler hat einfach beim Material gespart – mit schlimmen Folgen für die Haltbarkeit. Und: Seit dem Aufkommen neuer Materialien in der Objektkunst (von Plastik-Teilen bis zur berühmten „Honigpumpe“ oder „Fett-Ecke“) laufen die für den Erhalt zuständigen Experten der Entwicklung sowieso hinterher. Man ist gerade erst dabei, einen Katalog der Stoffe, also eine Art Ersatzteilliste zu erstellen.

Manche Gegenwarts-Künstler wollen gar, daß Werke allmählich verwittern und vergehen; es gehört zum Konzept. Wann soll und darf man dem Wunsch zuwiderhandeln? Bei Museums-Stücken ist das keine Frage: Der Direktor kann eine Wiederherstellung des Anfangszustands verfügen, notfalls gegen die Intention des Künstlers. Eigentum geht dann vor Urheberschaft.

Verschleiß im rotierenden Ausstellungsbetrieb

Ganz mißlich wirkt sich nach Auffassung der Restauratoren der rotierende Ausstellungs-Betrieb aus. Verbandsvorsitzender Helmut Reichwald (Stuttgart): „Ausnahmslos jeder Transport ist schädlich“. Um sich am Markt durchzusetzen, schicken Galeristen Arbeiten junger Künstler auf „Tourneen“ mit oft 50 Stationen. Wenn schließlich ein Museum zugreife, sei der „Leidensweg“ noch lange nicht vorbei. Im regen Tauschverkehr zwischen den Instituten – Prinzip: „Nur wenn du mir leihst, leih‘ ich dir“ – würden die Objekte weiter verschlissen.

Ingeborg von Baum, als freie Restauralorin für das Essener Folkwang-Museum und das Wuppertaler Von der Heydt-Museum tätig, kann ein Lied davon singen: „Von bedenklichen Ausstellungs-Projekten erfahre ich meist zu spät“. Nicht selten würden ihre Warnungen dann freundlich überhört. Der Ehrgeiz von Kommunen und Museen, mit Spitzenwerken zu glänzen, ist stärker. So dringen denn die Restauratoren darauf, früher gehört zu werden, um vorbeugen zu können. Wenn man erst reparieren müsse, sei meist nur noch kosmetische Schadensbegrenzung möglich. Ehrlicherweise müsse man oft von Vertuschung reden. Es sei fast wie bei der verschämten „Korrektur“ eines Unfallschadens am Gebrauchtwagen: Welches Museum gibt schon zu, daß seine Exponate eine Wertminderung erlitten haben?

Versicherungen zahlen längst nicht für alle Schäden

Weiteres Problem: Es gebe viele „unsichtbare“ Schäden unterhalb der Versicherungs-Schwelle, die gleichwohl nachhaltig wirken könnten. Bezahlt werde aber praktisch nur für spektakuläre Zerstörungen wie etwa Löcher, tiefe Kratzer und Verätzungen. Für Schäden, die ursächlich mit der Maltechnik zu tun haben, stehen Versicherungen nicht gerade.

Und dann gibt’s noch die Umweltschäden, besonders an Denkmälern, wobei – so die Fachleute – nicht alles mit dem „sauren Regen“ erklärt werden könne. So seien z. B. im 19. Jahrhundert Denkmalschäden häufig mit Zement kaschiert worden. Später habe sich diese Materialwahl als grundfalsch erwiesen. Zement biete dem Regen Angriffsflächen, werde schnell porös.

Selbstbewußter agieren könnten die Restauratoren erst dann, wenn ihr Beruf allseits anerkannt ist. Dieses Verbandsziel sei aber gefährdet. Einerseits dränge das Handwerk laienhaft ins Metier, andererseits gebe es, u. a. in Gelsenkirchen, dreijährige Schnell-Kurse. Etwa sieben Jahre (wie in Köln oder Stuttgart üblich) seien nötig.

Kontakte mit dem DDR-Verband wurden auch schon geknüpft. Akutes Problem dort: West-Firmen wollen jetzt mit – womöglich minderwertigen – Restaurierungen in der DDR die schnelle Mark machen.




Kulturfestival baut am „europäischen Haus“ mit – Programmschwerpunkt der Duisburger „Akzente“

Eigener Bericht

Duisburg. (bke) Das Bild vom „gemeinsamen Haus Europa“ erfreut sich großer Beliebtheit. Man kann es ja auch herrlich und fast endlos ausschmücken – notfalls bis hin zur Türklinke. „Unser Haus Europa“ lautet denn auch das Motto der 14. Duisburger „Akzente“. Zielvorgabe durch Duisburgs Kulturdezernenten Dr. Konrad Schilling: Man wolle politische Visionen mit kulturellem Sinn füllen.

Hochkarätige Politiker werden das Kulturfestival am 22. April eröffnen: der Präsident des Europäischen Parlaments und einer der Kammervorsitzenden des Obersten Sowjet. Die Schirmherren heißen Hans Dietrich Genscher und Johannes Rau – und sozusagen als „guter Geist“ über allem schwebt Michail Gorbatschow, der die Formel vom „gemeinsamen Haus“ ersann.

Nachgezeichnet werden soll das – so Kulturdezernent Schilling – „unverwechselbare Eigenprofil“ eines Kontinents, der (zumindest geistesgeschichtlich) auf den Vorrang der Ratio setzte. Zurück zu den Wurzeln dieser abendländischen Vernunft wird eine Aufstellung im Duisburger Niedenheinischen Museum führen: „Kreta – das Erwachen Europas“ werde, so die Veranstalter, mit raren Exponaten glänzen, die zum Teil noch nie außerhalb Griechenlands gezeigt wurden. Es sei überhaupt die erste deutsche Ausstellung zur Hochkultar der Minoer, die gleichsam den Grundstein zum europäischen Hause gelegt haben.

Das Theaterprogramm der „Akzente“, die bis zum 25. Mai dauern werden, umfaßt elf Inszenierungen, darunter allerdings keine Novität, sondern lauter Gastspiele erprobter Aufführungen. Hier sind allenfalls eineinhalb Stockwerke des Europa-Hauses erkennbar, drehen sich doch sämtliche Inszenierungen um die alten Griechen (Sophokles, Aristophanes, Euripides) sowie um Adaptionen griechischer Stoffe in Deutschland (Kleist, Hölderlin, Hans Henny Jahnn). U. a. werden Aristophanes‘ „Lysistrate“ in Henri Hohenemsers Augsburger Einrichtung, Jahnns „Medea“ in Manfred Karges Kölner und Werner Schroeters Düsseldorfer Ausdeutung sowie Sophokles‘ „Aias“ in Frank Castorfs Basler Version zu sehen sein. Aus Mülheim kommt Roberto Ciullis Regiearbeit „Die Bakchen“ nach Euripides. Auch ein DDR-Theater ist dabei: Das Staatsschauspiel Dresden zeigt Kleists „Penthesilea“.

Neben Vorträgen und Kongressen, in deren Verlauf europäische Visionen entwickelt werden sollen, zählt ein Tanzfestival der europäischen Jugend zum „Akzente“-Programrn. Rund 110 Jugendliche aus zehn Ländern werden gemeinsam die mittelalterliche Liedersammlung „Carmina Burana“ tänzerisch einstudieren. Außerdem wird das Heldenepos „Beowulf“ Grundlage einer Choreographie sein – gleichfalls als Beispiel fürs europäische Mittelalter. Schließlich kündigt der „Förderverein Deutscher Kinderfilm“ eine mit 30 Streifen bestückte „Kinderfilmreise durch Europa“ an.




Erstaunlicher Boom für Museen und Kunstmarkt – WR-Serie: Bilanz der 80er Jahre

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Jahrzehnt-Bilanz der bildenden Kunst wäre unvollständig ohne einen Blick auf Museumslandschaft und Markt. Knappste Formel: Bei den Museen gab es einen Bau- und Besucher-Boom, auf dem Kunstmarkt einen Preis-Boom.

Viele Großstädte haben sich, auch im Sinne indirekter Wirtschaftsförderung, in den 80er Jahren ganze Museumszeilen oder Kunst-Viertel zugelegt; allen voran Frankfurt, die Stadt mit dem üppigsten Kulturetat der Republik. Köln imponierte mit dem Museum Wallraf-Richartz/Ludwig, Düsseldorf bekam den Neubau für die „Kunstsammlung NRW“. Auch zwischen Duisburg und Dortmund entstand praktisch in jeder Kommune ein neues Kunst-Domizil. Freilich bleiben Wünsche offen. So wartet Dortmund weiter auf einen Neubau für das Ostwall-Museum.

Die rege Bautätigkeit hat auch Orte der südwestfälischen „Provinz“ attraktiver gemacht. So erhielt Lüdenscheid ein ansehnliches Museum. Überhaupt darf man nicht vergessen, was sich da im Sauerland getan hat: Die Städtische Galerie Lüdenscheid oder auch das Hagener Osthaus-Museum verzeichneten in den letzten Jahren deutliche Aufwärtsentwicklungen. Wo in Lüdenscheid vor allem beharrliche Arbeit an einem Konzept abseits der Modeströmungen beeindruckte, war es in Hagen der belebende Schwung, mit dem der neue Museumschef antrat. Auch konnte man in Hagen (wie in Dortmund) den Sammlungsbestand durch Stiftungen wesentlich erweitern. Und auch das Cappenberger Schloß hat sich just in den 80er Jahren als gute Ausstellungsadresse etabliert.

Den großen Museen drohen auch schon Gefahren: Die Besucherströme waren manchmal kaum noch zu kanalisieren. Nicht wenige fürchten angesichts des Massenandrangs um den Bestand der Kunstwerke. Schadensträchtige Transporte durch alle Welt tun ein übriges. Tötet der „Betrieb“ die Kunst?

Alle Museumsleute klagen zu recht über ihre Ankaufsetats. Viele begeben sich notgedrungen auf die Suche nach Sponsoren. Die jeweils ca. 91 Mio. DM, die für Bilder von Van Gogh und Picasso gezahlt wurden, sind ja nur die Spitze des Eisbergs. Selbst Werke lebender Künstler bewegen sich mittlerweile in irrationalen, unerschwinglichen Preis-Regionen. Welche Kunsthalle heißt schon „Getty-Museum“ und kann da mithalten?

Sammler und Mäzene alten Schlages gibt es kaum noch. Statt dessen hat in den 80ern endgültig der Investor die Auktions-Bühne betreten, dem es nicht mehr auf die Kunst, sondem auf den Kitzel großer Zahlen ankommt. So herrschen denn Börsen-Gesetze, und manche Experten sagen auch hier schon einen „Schwarzen Freitag“ voraus.

Apropos Kunstmarkt: Auch die Künstler der DDR, bislang gegängelt, aber im Falle des Wohlverhaltens rundum abgesichert, werden sich – nach den rasanten Veränderungen in ihrem Land – wohl oder übel den Marktgesetzen beugen müssen. Wie die Kunstgeschichte lehrt, bedeutet das Segen und Fluch zugleich. Befreiung und Ausgesetzt-Sein liegen da dicht beieinander.

Übrigens haben wir allen Anlaß, uns künftig nicht mehr nur auf „Westkunst“ zu konzentrieren, sondern unseren Blick auf die Kunst Osteuropas zu richten. Allzu lange haben wir sie – teilweise erklärbar durch die Unsäglichkeiten des nun wohl „erledigten“ Sozialistischen Realismus – aus den Augen verloren.

(Wird fortgesetzt mit einem Theater-Rückblick)