Alles auf Anfang: Wie die Künstlergruppe „junger westen“ im Ruhrgebiet der Nachkriegszeit wirkte

Gruppenbild: "junger westen" mit Thomas Grochowiak (ganz links). (Kunsthalle Recklinghausen)

Gruppenbild: „junger westen“ mit (von links) Thomas Grochowiak, Heinrich Siepmann, Gustav Deppe, Ernst Hermanns und Hans Werdehausen. (Kunsthalle Recklinghausen)

Darüber darf man heute noch staunen: Ab 1947 erlangte die doch relativ kleine Ruhrgebietsstadt Recklinghausen eine Ausnahmestellung in der westdeutschen Kunstwelt. Hier fanden vor 70 Jahren die Protagonisten der alsbald so einflussreichen Künstlergruppe „junger westen“ zusammen, 1948 ließen sie sich ganz ordentlich ins Vereinsregister eintragen.

In jenen frühen Jahren wurde in Recklinghausen zudem ein alter Bunker zur Kunsthalle umgewidmet, der zum zentralen Ort dieser Formation werden sollte. Tatsächlich kamen die Impulse für diese Kulturstätte von den Künstlern selbst. Ein sehr profiliertes Mitglied der Gruppe, Thomas Grochowiak, war (als Nachfolger des 1952 früh verstorbenen Gründungsdirektors Franz Große-Perdekamp) über die Marathonstrecke von 1954 bis 1980 zugleich Leiter der Kunsthalle und der weiteren Städtischen Museen.

Im Revier verwurzelt und geerdet

Der „junge westen“ war eindeutig eine Angelegenheit des Reviers, er war personell und zunächst auch thematisch regional verwurzelt, was seine nationale und später auch internationale Wirkung nicht schmälerte. Jetzt widmet die Recklinghäuser Kunsthalle dieser Gruppierung eine sinnreich und liebevoll gestaltete Überblicks-Schau, die als Ausstellung zu den Ruhrfestspielen firmiert. Mehr Revier-Anmutung geht also kaum.

Ausstellungskatalog der Gruppe aus dem Jahre 1948. (Kunsthalle Recklinghausen)

Ausstellungskatalog der Gruppe aus dem Jahre 1948. (Kunsthalle Recklinghausen)

Der Rückblick auf die Gruppengründung vor 70 Jahren bringt es mit sich, dass sich jetzt sukzessive gleich mehrere Häuser im Ruhrgebiet dem „jungen westen“ widmen: das Märkische Museum (Witten), das Museum DKM in Duisburg, das Kunstmuseum Gelsenkirchen, das Kunstmuseum Mülheim und das Kunstmuseum Bochum steuern je eigene Aspekte bei, auch die Kunstsammlungen der Ruhr-Uni Bochum sind beteiligt. Den institutionellen Rahmen bildet das langfristige Kooperations-Projekt RuhrKunstMuseen.

Die gewichtigste Ausstellung des Gedenkjahres gebührt freilich Recklinghausen, wo allein schon die seit den späten 40er Jahren gewachsenen Eigenbestände eine großzügige Auswahl ermöglichen. Über 30 Leihgeber haben zudem Ergänzungen beigesteuert. Und so kommt es, dass man alle Phasen der Gruppe mit prägnanten Beispielen belegen kann.

Dauerhafter Zusammenhalt

Bemerkenswert dauerhaft, hielt sich der „junge westen“ als gemeinsame Plattform bis etwa 1962 (in dieser Phase endet auch der Fokus der Ausstellung), die entstandenen Freundschaften währten noch viel länger. Nie haben die einzelnen Künstler vergessen, dass sie ihre Werdegänge anfänglich der Gruppe zu verdanken hatten. So etwas gibt es heute praktisch nicht mehr, da waltet eher die von Galeristen und Sammlern entfesselte Marktkonkurrenz.

Thomas Grochowiak: "Scherzo Grazioso" (1948). (Märkisches Museum Witten)

Thomas Grochowiak: „Scherzo Grazioso“ (1948). (Märkisches Museum Witten)

Der Gruppenname „junger westen“ führt etwas in die Irre: Die Mitstreiter waren in der Gründungszeit um oder über 40 Jahre alt, sie hatten wertvolle Lebenszeit im verfluchten Krieg vergeudet.

Im Wesentlichen war es eine Entwicklung von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion, die die einzelnen Künstler, aber auch die Gruppe „junger westen“ insgesamt vollzogen haben. So waren damals die Zeichen der Zeit, die in Recklinghausen nicht nur aufgenommen und gedeutet, sondern teilweise auch aktiv gesetzt wurden.

Die Ausstellung präsentiert das Schaffen der Künstler jeweils in persönlichen Werkblöcken, so dass sich die Entwicklung wie im Zeitraffer nachvollziehen lässt. Zum Kernbestand zählen diese sechs Gruppenmitglieder: Gustav Deppe, Thomas Grochowiak, Heinrich Siepmann, Emil Schumacher, Hans Werdehausen und Ernst Hermanns. Vier weitere treten flankierend hinzu: K. O. Götz (der heute als 103jähriger in Aachen lebt), Georg Meistermann, HAP Grieshaber und Emil Cimiotti.

Ja zur Zukunft mit Atomenergie

Der Blick dieser Künstler im allseits kriegsverwüsteten, buchstäblich ruinösen Land richtete sich entschieden nach vorn, es ging nicht so sehr um die Rehabilitierung als „entartet“ verfemter Künstler. Nein, man erstrebte eine gründliche Inventur, einen Neuanfang. Die Künstler vom „jungen westen“ wollten sich entschlossen einer besseren Zukunft zuwenden, zur Aufbruchsstimmung gehörte übrigens auch eine Bejahung des als friedlich gedachten Atomzeitalters. Keine Bomben mehr, sondern schier unerschöpfliche Energie…

Gustav Deppe: "Hochspannung" (1952). (Kunsthalle Recklinghausen)

Gustav Deppe: „Hochspannung“ (1952). (Kunsthalle Recklinghausen)

Schon 1950, also gerade mal fünf Jahre nach Weltkriegsende, gab es in Recklinghausen eine deutsch-französische Ausstellung zum künstlerischen Stand der Dinge – im Geist der Völkerversöhnung. Frankreich war das gelobte Land, Paris die Metropole, auf die alle schauten. Der Zeitgeist war mit ihnen. Und genau in diese Zeitstimmung kann man in Recklinghausen eintauchen.

Formwelt der Industrie

Praktisch alle Künstler beim „jungen westen“ haben damit begonnen, sich figurativ am industriellen Umfeld des Ruhrgebiets abzuarbeiten. Das Spektrum reicht von Starkstrommasten (Gustav Deppe) über Figuren wie den „Fördermaschinisten“ (Thomas Grochowiak) bis zum prosaischen Alltagsobjekt Küchenherd (Emil Schumacher).

Gustav Deppe war fortan der Einzige, der weitgehend im Gegenständlichen verharrte und den formalen Strukturen der technisch bestimmten Welt unermüdlich nachspürte; ein Umstand, der ihn vielleicht gerade jetzt wieder interessant macht. Man muss darin wahrlich keine Rückschrittlichkeit oder mangelnden Drang zu avantgardistischen Positionen sehen. Es ändern sich die Perspektiven. Heute schwört man längst nicht nur auf Abstraktion.

Heinrich Siepmann: "Komposition IV" (1954). (Kunstmuseum Mülheim/Ruhr - VG Bild-Kunst, Bonn)

Heinrich Siepmann: „Komposition IV“ (1954). (Kunstmuseum Mülheim/Ruhr – VG Bild-Kunst, Bonn)

Die Hauptströmung beim „jungen westen“ führte hingegen weg vom erkennbaren Gegenstand. Doch auch da gab es verschiedene Wege, manche Künstler sind eher dem Konstruktiven zuzurechnen, andere (allen voran Emil Schumacher) strebten in die gestisch-energetischen Gefilde des Informel.

Bis zum Tapeten-Entwurf

Dennoch haben sich die Künstler im „jungen westen“ einander dermaßen intensiv beeinflusst, dass individuelle Unterschiede zeitweise verblassten. Doch dann wieder strebten die Linien wieder auseinander. Ja, zuweilen geht es bei ein- und demselben Künstler mal hierhin, mal dorthin und wieder zurück. Eben dies verleiht der Zusammenstellung die nötige Spannung.

Ein weiterer Aspekt ist das durch den (mit Große-Perdekamp seit Schulzeiten befreundeten) Bottroper Josef Albers vermittelte Bauhaus-Gedankengut, in dessen Nachfolge sich der „junge westen“ sah. So lieferte man zwischendurch auch schon mal ganz selbstverständlich Musterentwürfe für Tapeten.

Zeitgeist in aussagekräftigen Fotografien

Nicht nur die rund 100 Kunstwerke, sondern speziell auch die zahlreichen, vielfach großformatigen Fotografien aus jener Zeit lassen den „jungen westen“ wieder aufleben. Fotos von Ausstellungs-Ereignissen der 50er Jahre zeigen im zeittypischen Ambiente, dass damals bei Eröffnungen etwa noch ganz locker geschwoft und geraucht wurde. Mit konservatorischen Bedenken hatte man es noch nicht so.

Emil Schumacher: "Libya" (1962). (Kunsthalle Recklinghausen)

Emil Schumacher: „Libya“ (1962). (Kunstmuseum Bochum)

Vor manchen dieser Dokumente kann man lange verharren und sinnieren. So beispielsweise vor einem Foto, auf dem offenbar hundert oder noch mehr uniformierte Polizisten in eine Ausstellung drängen, und zwar keineswegs in dienstlicher Absicht. Ein anderes Foto belegt, dass damals Kunst durchaus im Zusammenhang der Warenwelt auftauchen konnte, so auch direkt neben einer Miele-Waschmaschine. Eine Avantgarde traf gleichsam die andere, der Fortschritt schien unteilbar zu sein.

Wer sich viel Zeit nimmt, kann überdies eine große Stellwand mit einer zeitgenössischen „Presseschau“ Zeile für Zeile goutieren, so dass nicht nur den Schauwerten, sondern auch dem Diskursiven Genüge getan ist. Apropos Zeitung: Der FAZ-Kulturkorrespondent für NRW, Albert Schulze Vellinghausen, war es wohl, der der Gruppe publizistisch zum Durchbruch verhalf.

Museumsdirektor Prof. Ullrich nimmt Abschied – doch nicht so ganz

Die von Hans-Jürgen Schwalm und Stephan Strsembski kuratierte Ausstellung bedeutet übrigens auch für den Recklinghäuser Museumsbetrieb eine Zäsur. Es ist die letzte, die Prof. Ferdinand Ullrich als Direktor verantwortet. Er wird allerdings auch im so genannten „Ruhestand“ dem Ruhrgebiet treu bleiben und sicherlich mit Ausstellungs- und Buchvorhaben weiter von sich reden machen. Seine Dissertation hat Ullrich, der seine Laufbahn als Künstler (Meisterschüler bei Timm Ulrichs) und nicht als Kunsthistoriker begonnen hat, einst just über den „jungen westen“ verfasst. So rundet sich alles.

„Auf dem Weg zur Avantgarde. Die Künstlergruppe JUNGER WESTEN“.  Kunstausstellung der Ruhrfestspiele Recklinghausen in der Kunsthalle Recklinghausen (Große-Perdekamp-Straße 25-27). Vom 7. Mai bis zum 13. August 2017. Geöffnet Di-So & feiertags 11-18 Uhr, Mo geschlossen.

Infos zu Recklinghausen: www.kunst-re.de
Infos zu den weiteren Ausstellungen über den „jungen westen“: http://www.ruhrkunstmuseen.com/ausstellungen.html




Luther, Homer Simpson und die anderen – Arbeiten des Malers Anton Henning in der Recklinghäuser Kunsthalle

Homer Simpson, wie Anton Henning ihn schuf (Foto: Kunsthalle Recklinghausen)

Er malt Gesichter, die wie bezahnte Trompeten aussehen, chaotische Innenräume oder auch gruselig kryptische Gebilde, denen Trichter und einzelne Augen die Anmutung von Lebendigkeit verleihen.

Der Grad der Verfremdung naturalistischer Motive schwankt erheblich. Mal begnügt sich der Künstler mit der Applikation eines Horntrichters an einem ansonsten halbwegs normalen Gesicht, mal wirbelt er die Positionen von Augen Mund und Nase in einer Weise durcheinander, daß Francis Bacon und die Kubisten ihre helle Freude daran hätten.

Auf altmeisterliche Art

Manchmal weist nichts außer dem Bildtitel auf die (behauptete) Zugehörigkeit zur Gattung Portrait hin, manchmal aber auch arbeitet Anton Henning ganz konventionell, altmeisterlich sozusagen, Öl auf Leinwand. Das sieht dann ein wenig aus wie Renaissancemalerei, wenngleich die Ausgestaltung der Augen bei Henning nicht ganz so akribisch ist wie in vielen Originalwerken jener Zeit. Einige eher „italienische“ Renaissanceköpfe denn also – wie der von Papst Leo X – bereichern die Ausstellung, daneben aber hat Martin Luther es dem Maler angetan. Immer wieder warf er ihn aufs Leinen, mit typischem Barett und ohne surreale Verfremdung. Weil Luther-Jahr ist vielleicht? Ja, sagt der Maler, das spielt durchaus eine Rolle.

Das Glasfenster für Recklinghausen besteht aus „Plaka und Zweikomponentenlack auf Plexiglas“ und ist 172 x 1057 cm groß (Foto: Kunsthalle Recklinghausen)

Zu sehen sind Hennings Bilder sowie einige plastische Arbeiten jetzt in der Recklinghäuser Kunsthalle, auf drei Etagen. „95 hypermanische Paraphrasen“ ist die Kunstschau betitelt, was bei freundlicher Betrachtung ein hoher Anspruch ist, bei eher nüchterner Sehweise relativ sinnfreies Wortgedröhn. „Hypermanisch“ gibt es nicht, manisch ist ja schon schlimm genug, jedenfalls als das eine Extrem in einer bipolaren psychischen Störung.

Hypomanisch ist etwas weniger schlimm als manisch, aber ebenfalls klinisch auffällig, jedenfalls wohl nicht gemeint. Doch auch wenn wir „manisch“ etwas weniger fachlich mit „besessen“, „obsessiv“ oder ähnlichem übersetzen, will es nicht recht passen. Das liegt natürlich auch daran, daß der Herr Künstler mit Anzug und Aktentasche eher gelassen und entspannt wirkt. Schwer, ihn sich als stark erregten Atelier-Berserker vorzustellen.

Kunst und Religion

Der Begriff Paraphrasen hingegen ergibt Sinn. Denn Anton Henning entwickelt seine Arbeiten an Persönlichkeiten, Ereignissen, Wahrnehmungen, Stilen entlang, lädt sie auf mit dem Durchdringungsanspruch des Künstlers. Solch einem schöpferischen Tun wohnt Religiöses inne, was Henning durchaus bejaht und weshalb der Luther tatsächlich für das Lutherjahr entstand.

Von einem anderen Idol des Malers, der übrigens im Jahre 1964 in Berlin das Licht der Welt erblickte und heute eine Autostunde von dort entfernt in Brandenburg lebt, war bis jetzt noch gar nicht die Rede, was es zu ändern gilt. Henning ist ein großer Freund der Simpsons, der voll prolligen Zeichentrickfilmfamilie aus den USA, deren Oberhaupt Homer viel Unsinn anstellt, was aber auf wunderbare Weise niemals negative Langzeitfolgen für die Familie hat, sondern ihr im Gegenteil zu Erkenntnis, Läuterung und letztlich Vergebung verhilft.

Die Simpsons – und Homer vorneweg – machen also, befindet Henning, in jeder Folge so etwas wie religiöse Erfahrungen, die geradezu ein Idealgegenstand für Paraphrasierungen sind. Eingang in die Ausstellung fanden daher etliche Homer-Portraits mit parakubistischen Eigenheiten unterschiedlichster Intensität, die hier natürlich sehr gut die Seelen- und Gemütszustände des glubschäugigen Filmhelden spiegeln.

Vorne im Bild Durchleuchtetes auf dem Künstlerleuchtmöbel „Minitrex“, hinten an der Wand das Große 3-teilige Stilleben No.1 von 2014 (Foto: Kunsthalle Recklinghausen)

Ob es in den Bildern Hennings nun bevorzugt um die Motive geht, um die Auseinandersetzung mit Stilen oder mit der Malerei als solcher, mag der Betrachter entscheiden. Streng geordnet und durchgezählt sind die Themenreihen, in Recklinghausen vor allem Portraits. Zudem gibt es einige wenige Trouvaillen wie das Künstlerleuchtmöbel „Minitrex“, Installationen wie „Pin-up No. 140“ aus Holz, Glas, Kokosnuß, Gips, Lampe, Buch, Kunststoffhand und PU-Schaum, die im Schaufenster des Museums steht, ein, zwei Akte und last not least eine hübsch bunte Glasarbeit, die das viele Quadratmeter große zentrale Museumsfenster vollständig bedeckt. „Stained Glass Window No. 7“ heißt sie, besteht aus 14 Acrylglasscheiben der Größe 172 mal 75,5 cm und behandelt, was nicht auf den allerersten Blick schon klar wird, die Sieben Todsünden. Sagt der Maler.

Keine Konzeptkunst

Bei weitem nicht alles in dieser Kunstschau erschließt sich zügig, und neben den komplexen personellen und stilistischen Bezüglichkeiten ahnt man schnell doch auch eine gewisse Lust am Verbergen und Verrätseln. Keine Konzeptkunst sei dies, unterstreicht der (demnächst in den Ruhestand wechselnde) Museumsleiter Prof. Ferdinand Ullrich im Pressetermin, sondern es sei eine Kunst, die erst im Prozeß des Entstehens ihre Form finde. Und sicherlich auch im Spielerischen, das diesem Vorgehen ebenso eigen ist.

Altmodische, wandhängende „Flachware“ denn also? Nun, eigentlich schon, aber warum auch nicht. Jedenfalls bereitet die Begegnung mit Anton Hennings Kunstauffassung in der Recklinghäuser Kunsthalle großes Vergnügen. Etliche Bilder würden bestimmt auch den Simpsons gefallen.

  • „Anton Henning – 95 hypermanische Paraphrasen“, Kunsthalle Recklinghausen, Große Perdekamp-Straße 25-27.
  • Bis 17 April 2017.
  • Geöffnet Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr,  Montag geschlossen
  • Telefon +49(0)2361-50-1935
  • Telefax +49(0)2361-50-1932
  • info@kunst-re.de 
  • www.kunsthalle-recklinghausen.com
  • Eintritt 5 Euro, ermäßigt 2,50 Euro.



Werden und Vergehen der Insekten: Das Frühwerk von Jan Fabre in Recklinghausen

Als Zwanzigjähriger schlug der spätere Künstler, Tanzschöpfer und Theatermann Jan Fabre ein „Forscherzelt“ im elterlichen Garten auf und richtete darin ein Minilabor ein, um Insekten zu untersuchen.

Die ärmliche, eigen- und urtümliche, nahezu schamanisch wirkende Behelfs-Behausung ist jetzt als Installation in Fabres sorgsam inszenierter Recklinghäuser Ausstellung aus dem Frühwerk zu sehen. Die Zusammenstellung kreist mit etwa 120 Zeichnungen und 30 Kleinskulpturen um ein einziges, freilich vielgestaltig entfaltetes Thema, nämlich just Insekten.

Das Zelt des jungen Jan Fabre (Bild: Katalog)

Das Zelt des jungen Jan Fabre (Bild: Katalog)

Die Arbeiten aus den Jahren 1975 bis 1979 firmieren als Schau zu den Ruhrfestspielen, die traditionsgemäß am 1. Mai beginnen werden. Was da auf Wänden und in Vitrinen imaginär krabbelt und kreucht, könnte ausgesprochene Phobiker diesmal von einem Besuch der Kunsthalle abhalten. Doch anders als bei früheren Präsentationen aus Fabres Oeuvre, verzichtet man in Recklinghausen auf lebende Spinnen in einer abstrus anmutenden Modell-Landschaft, die sich vom Zirkus bis zum Sadomaso-Studio, vom Theatersaal bis zum Operationstrakt phantasiert. Belgische Tierschützer haben Fabre mit – um es mal mit der juristischen Formel zu sagen – „empfindlichen Übeln“ gedroht, also bleibt der große Schaukasten diesmal unbelebt.

Jan Fabre: Skulptur aus Insekt und Schreibfeder, 1976-79, Mixed media (Museum of Contemporary Art, Antwerpen)

Jan Fabre: Skulptur aus Insekt und Schreibfeder, 1976-79, Mixed media (Museum of Contemporary Art, Antwerpen)

Die Welt der Käfer und Spinnen wird hier dennoch erfahrbar als eigener Kosmos zwischen Naturgeschichte, mitunter bizarren Formensprachen, künstlerischem Schöpfergeist und quasi religiösen Deutungsmustern. Wer will, darf angesichts mancher Bilder des Antwerpeners Fabre sogar einen weiten Bogen zu den flämischen Altmeistern und ihren Vergänglichkeits-Darstellungen schlagen. Es wäre nicht allzu weit hergeholt, sondern wohl ganz im Sinne des Künstlers, der die Insekten ebenso als Instinktwesen (wiederkehrendes Zeichen dafür: die Nase) wie als naturbegabte „Handwerker“ mit veritablen Körperwerkzeugen betrachtet.

Jan Fabre: Spinnentheater, 1979 (Bild: Katalog)

Jan Fabre: Spinnentheater, 1979 (Bild: Katalog)

Fabre war mit seiner Obsession familiär vorbelastet. Sein Vater war Biologe und Stadtgärtner. Ein angeblicher „Stief-Urgroßvater“ (oder auch nur Namensvetter?) hieß Jean-Henry Fabre und war ein führender Entomologe, also Insektenforscher, übrigens auf nobelpreisverdächtigem Niveau. Seiten aus den Büchern des Altvorderen werden gelegentlich zum Ausgangspunkt von Überzeichnungen durch Jan Fabre.

Vielfach hat Jan Fabre seine Bilder mit einer bestimmten Kugelschreiber-Marke zu Papier gebracht. Bei den einfachsten Motiven handelt es sich um spürbar spontane Ideenfindungen, noch nahe am halbbewussten Gekritzel, wie es beim Telefonieren entstandenen sein könnte, doch oft auch schon im frühen Stadium genialisch behaucht.

Jan Fabre: "Spinnenkoppenpoten" (1979), Bic-Kugelschreiber auf Papier (Courtesy Stichting Kröller-Müller Museum, Otterlo)

Jan Fabre: „Spinnenkoppenpoten“ (1979), Bic-Kugelschreiber auf Papier (Courtesy Stichting Kröller-Müller Museum, Otterlo)

Überaus erfindungsreich variiert Fabre die Facetten des Themas. So wird etwa der schon im alten Ägypten legendäre Skarabäus („Pillendreher“) gleich serienweise mit Assoziationen bis hin zur christlichen Symbolik aufgeladen. In einer anderen Serie lassen Gitternetz-Strukturen und Schraffuren die Insekten-Gestalten geheimnisvoll hervortreten.

Die von Insekten verfertigten, mikroskopisch feinen Gespinste und sonstige Hinterlassenschaften, etwa aus Häutungen, sind gleichfalls formprägende Elemente dieser filigranen Welt. In einigen Vitrinen finden sich überdies seltsame, surreale Mischwesen aus Insekten und Gegenständen wie Taschenlampenbirne, Knopfbatterie, Stempel, Stöpsel oder Rasierpinsel. Eine womöglich befremdliche Überschreitung der Schöpfung? Künstlich natürlich. Natürlich künstlich.

Der Künstler, Choreograph und Theatermann Jan Fabre (© Angelos bvba Stephan Vanfleteren)

Der Künstler, Choreograph und Theatermann Jan Fabre (© Angelos bvba Stephan Vanfleteren)

Überhaupt ereignen sich hier unentwegt Metamorphosen, es ist ein ständiges Werden und Vergehen, ein endloser Schöpfungs- und Zerstörungsakt. Beim „Fest der kleinen Freunde“ (Serientitel) ergehen sich die Insekten in bunter Lust am schieren Dasein. Tod, wo ist dein Stachel?

Lachlust in der Insektenwelt: Jan Fabre "Feast of little friends" (1977), Tinte/Wasserfarbe auf Papier (Courtesy Flemish Community, Museum of Contemporary Art, Antwerpen)

Lachlust in der Insektenwelt: Jan Fabre „Feast of little friends“ (1977), Tinte/Wasserfarbe auf Papier (Courtesy Flemish Community, Museum of Contemporary Art, Antwerpen)

Ein gewisser Kern und Beweggrund von Fabres Schaffen mag sich in seinen frühen Werken zeigen, doch hat er seither meist ungleich aufwendiger und spektakulärer gearbeitet – mit einem Hang zum monumentalen Gesamtkunstwerk auch in Performances, Choreographien und Opern. Derzeit inszeniert er die Oper „The Tragedy of Friendship“ (Premiere in Paris am 29. Mai) über die schwierige Freundschaft zwischen Richard Wagner und Friedrich Nietzsche.

Jan Fabre: Insektenzeichnungen & Insektenskulpturen 1975-1979. Ausstellung der Ruhrfestspiele in der Kunsthalle Recklinghausen, Große-Perdekamp-Straße 25-27. Vom Sonntag, 21. April (Eröffnung 11 Uhr) bis zum 23. Juni 2013. Öffnungszeiten Di-So und feiertags 11-18 Uhr, öffentliche Führungen sonntags um 11 Uhr. Internet: http://www.kunst-in-recklinghausen.de/1%20Aktuell/2013_fabre.html

Auch in Wuppertal gibt es derzeit eine Fabre-Schau – aus dem neueren Werk: Im wunderschön gelegenen Skulpturenpark Waldfrieden werden bis zum 2. Juni 22 Bronzeskulpturen der letzten Jahre gezeigt.




Was heißt denn hier naiv – Kunsthalle Recklinghausen zeigt Werke von russischen Laienmalern

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wenn wir von naiver Kunst reden, so ist das allemal ein unscharfer Sammelbegriff. Sicher, da gibt’s die unbedarften Sonntagsmaler, die aus schierem Horror vacui (Angst vor Leere) auch noch den letzten Bildwinkel besinnungslos füllen – gegen jede kompositorische Vernunft. Doch manche, die gleichfalls „naiv“ genannt werden, sind eher subversiv veranlagt und üben sich im freien Spiel mit dem vom Kunstbetrieb Verdrängten.

Mit der Recklinghäuser Kunsthalle traut sich jetzt mal wieder ein stockseriöses Haus ans Thema heran – eine Anknüpfung an örtliche Gepflogenheiten, denn hier setzte sich schon der frühere Hausherr Thomas Grochowiak fürs rege Schaffen der Laien ein. Auf drei Etagen präsentiert man nun rund 60 Arbeiten von „Russischen Naiven“ neueren Datums.

Die Bilder stammen aus der weltgrößten Spezialsammlung, welche von der Galeristin Charlotte Zander in einem Schloss bei Stuttgart verwahrt wird. Im „Ländle“ (Tübinger Retrospektive) ist derzeit ja auch der Berühmteste aller Naiven zu bewundern: der „Zöllner“ Henri Rousseau, der längst alle Weihen der Kunstgeschichte empfangen hat.

Die Russen stehen immer noch mehrheitlich für eine dörflich orientierte Themenwahl, die meist um Frömmigkeit und Feste im Jahreslauf kreist oder auch Wolfsrudel in sibirischer Kälte aufsucht. Das unverkennbare Prägemuster etlicher Bilder gibt die große Ikonen-Tradition vor. Und diese religiösen Schöpfungen waren nun einmal flächig, sie enthielten sich jeder perspektivischen Raffinesse.

Das Ungelenke wird kultiviert

Recklinghausens Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich scheint aber selbst ein wenig im Zwiespalt zu stecken. Sein geschulter Blick merkt den Bildern natürlich „das Ungelenke, Nicht-Gekonnte“ an. Derlei Defizite aber würden von den Besten der Zunft auf frappante Außenseiter-Weise „kultiviert“ und produktiv gewendet, findet der Museumsmann.

Gilt also der Spruch „avanti dilettanti“? Beileibe nicht nur. Wenn etwa ein Pawel Leonow seine üppigen Szenarien von freudigen Festivitäten ausbreitet, so geschieht dies zwar ohne jede Perspektive und Tiefenstaffelung. Doch seine umstandslos aufzählend und aufschichtend gestuften Werke verweisen auf moderne Verfahren der seriellen Art.

Auf Bildern wie „Treffen der Königin von Holland“ (1998) reiht Leonow alle Geschehnisse simultan . Es ist eine Malerei wie mit staunend offenem Munde, manches Gesehene zwanghaft wiederholend. Groteske Fügungen: Vögel fliegen immer wieder in derselben Gruppen-Formation, Hubschrauber reihen sich artig ein. Auch auf der Straße sind Autos und Tiere brav hintereinander unterwegs. Überholen verboten. Musiker, die zum Fest aufspielen, erscheinen in symbolhafter Erstarrung wie auf einem Fries. Und alles, selbst ein ansonsten munterer Zirkus, wird von akkuraten Hecken rechteckig eingefriedet; ganz so, als seien die Phantasie-Räume, die sich da öffnen könnten, dem Künstler selbst zu weitläufig.

Wo die nackten Paare fliegen

Mag die pure Malweise auch naiv, wenig professionell (und gar nicht akademisch) wirken, so könnte die Haltung, die sich dahinter offenbart, als nahezu avanciert gelten. Postmoderne Profis, die eh mit allem Verfügbaren spielen, fänden wohl einiges Vergnügen darin. Ganz und gern zu schweigen von Joseph Beuys‘ altem Sprüchlein, jeder sei ein Künstler.

Bildmächtigster Maler der Schau, die punktuell auch schon mal an die Kitschgrenze rührt, ist wohl Alexander Belych. Seine seltsam symmetrische, jedoch mehrdeutige Darstellung „Liebe, Liebe“ summiert in Chagall-Manier fliegende nackte Paare, einen lüsternen Wolf, körperlose Hände, die sich aus einem züngelnden Feuer recken, sowie allerlei erzählendes Beiwerk. Ist’s nun das Paradies oder nicht doch eine Hölle der Liebenden?

Russische Naive. Kunsthalle Recklinghausen (direkt am Hauptbahnhof). Bis 30. September. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 2,50 DM, Katalog 25 DM.




Wenn der Alltag ganz leise ins Rutschen gerät – Udo Scheel und seine rätselhaften Bilder-Choreographien in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wer mit Udo Scheel durch seine neue Recklinghäuser Ausstellung geht, bekommt eine Lehrstunde über Sinnen und Trachten der Kunst gleich gratis hinzu.

Ganz geläufig (und sympathisch selbstironisch) parliert der 60-Jährige über seine Bilder und die kunsthistorischen Beweggründe. Immerzu hat er passende Beispiele aus Geist und Geschichte parat – von Malern wie Giotto oder Tintoretto bis zu erlesenen Literaten wie Victor Hugo oder Robert Walser. Scheel ist nicht nur ein bildender Künstler, sondern auch noch ein gebildeter.

Die Auswahl in der Recklinghäuser Kunsthalle bewegt sich zwischen zwei Extremen: Gezeigt weiden ungeheuer große und ganz kleine, sozusagen handliche Bilder. Seit Scheel seinen Lebensmittelpunkt von Münster nach Berlin verlegte und im dortigen Atelier. einen Rundum-Blick auf die Hauptstadt genießt, arbeitet er vorzugsweise an großformatigen Panoramen.

Vor den weiten, bogenförmigen Horizonten blitzen flüchtige Eindrücke aus Stadtgängen auf, verstreute Erinnerungs-Splitter eines allzeit neugierigen Flaneurs. Doch es bleibt nicht beim vermeintlich privaten Kopftheater. Oft erweitert sich die Szenerie, gleichsam durch malerische „Grabungen“, zum vieldimensionalen Geschichts- und Geschichten-Raum.

Hier schlägt der einsame Golfspieler seinen Ball, dort hängen ein paar Herren kopfüber ins Bodenlose, doch gleich daneben begeben sich malerische, ungegenständliche Farb-Ereignisse. Bemerkenswert, wie einer dies alles sinnfällig und formbewusst in ein Bildgefüge bringt und Widersprüche versöhnt. Verkehrte Welt, jedoch im Leinwand-Geviert gebändigt.

Scheel malt stets aus dem Gedächtnis, niemals nach Vorlagen. Wohl gerade deshalb schleichen sich gewisse Versatzstücke immer wieder ein: seltsam geformte Vasen, möhrensüchtige Hasen, Zähne fletschende Hunde oder auch monströs verlängerte rote Krawatten. Vollends erstaunlich: In den Randzonen etlicher Bilder prangen allerlei Schreibtischlampen. Eine spezielle Besessenheit, eine fetischistische Spielart gar?

Vor allem die Kleinformate, dicht an dicht gehängt fast wie Cartoons, haben einigen Witz. Es sind vielgliedrige Rätselbilder, freundliche kleine Attacken auf bürgerliche Gemütlichkeit, nervös tänzelnde Choreographien grassierender Neurosen. All das ist ersichtlich dem normal verrückten Alltag entnommen und hebt doch schräg von ihm ab. Sogar ein Bügeleisen schlittert – einem soeben getauften Schiffsriesen gleich – vom Bügelbrett herab, als befinde sich auf dem Fußboden das Meer. Auch vieles andere steht buchstäblich auf der Kippe: Besonders die Verhältnisse zwischen Mann und Frau changieren zwischen Sehnsucht, Gier und Gewalt, Poesie und Pein.

Einige Szenen scheinen sogar auf mögliche Kriminal- oder Schauergeschichten hinzudeuten, doch mörderisch geht es eben nicht zu. Bizarre Vorgänge werden zwar ins Auge gefasst, aber letztlich eher milde und nachsichtig lächelnd betrachtet. So oder so ist das Leben, nehmt’s doch nicht gar zu schwer…

Udo Scheel. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Bis 15. Oktober. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 30 DM.




Wo das Ungeahnte jederzeit geschehen kann – Ruhrfestspiel-Ausstellung zeigt Arbeiten des Niederländers Waldo Bien

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Ganz gleich, ob auf weltweiten Reisen oder in der Kunst: Dieser Mann hält sich gern im „Niemandsland“ auf, im undefinierten Bezirk zwischen festgelegten Bereichen. Da, wo alle Grenzen verschwimmen und das Ungeahnte geschehen kann.

Der Niederländer Waldo Bien (Jahrgang 1949), der jetzt die Ausstellung der Ruhrfestspiele bestreitet, ist ein Grenz- und Schwellen-Gänger zwischen verschiedensten Stilen, Themen, Materialien. So kommt es beispielsweise vor, dass er Röntgenbilder übermalt oder Fotos, die er mit Walfisch-Öl begossen hat, unter Plexiglas einschließt. Die sämigen Schlieren und das eigentümliche Verwittern künden vielleicht von Vergänglichkeit. Oder ist es nur ein purer ästhetischer Akt, bar jeder anderen Bedeutung?

Eine Schlangenhaut, mit Tinte blau gefärbt, gilt Bien als Zeichen für Dynamik, ja als Vorbild unserer Schrift, die sich schlängele wie ein solches Reptil. Buchhalterische Zahlenkolonnen erscheinen auf einigen Bildern als Vorstufen architektonischer Kolonnaden, die Zahlensäulen mutieren zu Säulengängen: Ökonomie als Triebkraft des Bauens. Auf derlei Ideen, die sich aneinander entzünden und dann aufleuchten, muss man erst einmal kommen.

Bien will sich nicht dingfest machen lassen: Der eigentlich eloquente Beuys-Schüler sagt, er könne im Grunde nicht beschreiben, was er tue. Wahrscheinlich, so findet er, nähere man sich seiner Arbeit am besten, indem man feststellt, was er nicht macht. Oh, da käme einiges zusammen! Auf den Markt ziele er jedenfalls nicht, für ihn sei die Kunst ein immerwährendes Labor der Freiheit. Alles fließt…

Zurück zum Sichtbaren. Im Zentrum steht das „Sterbezimmer“, eine Installation im Traditionsstrang der – Achtung, Etikett! – „arte povera“ („arme Kunst“): Man sieht eine Bettstatt aus verbogenem, rostigem Metall, darauf lasten (sozusagen als Matratzen und Kissen) schwerste Kohle-Quader, die Bien selbst aus dem Bauch der Erde gehievt hat. Nach Joseph Beuys‘ Tod hat er ein Gemälde in dieses vordem so finstere Zimmer gehängt. Es zeigt ein luftiges, womöglich unendliches Blau, als wär’s nur ein Ausschnitt, direkt vom Himmel genommen. Und so mag sich dieser andächtige Raum im Laufe der Jahre immer weiter verwandeln.

Doch gar zu einst nimmt Bien das alles nun auch nicht. In den Ecken des Zimmers hat er schmale Lücken gelassen, Ausblicke ins Freie. Warum dies? „Weil ich als Schüler so oft in der Ecke stehen musste“.

Eines Tages haben Waldo Bien und sein US-Kollege Virgil Grotfeldt ihre gemeinsame Vorliebe für die Nicht-Farbe Schwarz entdeckt. Es war der Beginn einer wunderbaren Künstlerfreundschaft. Seither arbeiten sie zusammen, wann immer sie sich treffen. Früchte dieser spontanen Dialoge sind in Recklinghausen zu sehen. Die Doppelbilder sind in gemeinsame Rahmen gefasst, welche freilich an einer Seite offen bleiben, so als könnten jederzeit weitere Elemente angefügt werden. Doch vorerst sind es je zwei: mal wie füreinander geschaffen, mal einander ganz abweisend fremd. Fast wie im richtigen Leben.

Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). 6. Mai bis 2. Juli. Di-So 10-18 Uhr. Katalogbuch 48,50 DM.




Beklemmung und Freiheit – Kunst bei den Ruhrfestspielen: Kawamatas Holzbauten mit dem Titel „Bunker“

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Reges Treiben in der Recklinghäuser Kunsthalle. Offenbar wird der ehemalige Luftschutzbunker erneut umgebaut, denn aus den Fenstern im zweiten Stock schauen ja schon Gerüstbretter. Doch selbst oberflächliche Kenner der strikten deutschen Bauvorschriften schütteln gleich den Kopf. Diese fragile Holz-Anordnung mißachtet alle technische Vernunft. Es muß etwas anderes im Spiel sein.

Das im Wortsinne „Heraus-Ragende“ ist ein Freiluft-Ausläufer der dreiteiligen Großinstallation, die der japanische Künstler Tadashi Kawamata (42) in die Kunsthalle eingebracht hat. Der zweifache documenta-Teilnehmer, der 1992 ein ganzes Holzhüttendorf in die idyllische Kasseler Karlsaue stellte, hat sich in Recklinghausen mehrfach inspirieren lassen: von Herkunft und üblicher Bestimmung des verwendeten Grubenholzes, aber auch von der Bunker-Vergangenheit der Kunsthalle. Und damit spielt schließlich das Friedensmotto des Auftraggebers, der Ruhrfestspiele, indirekt mit hinein.

Im Erdgeschoß müssen größere Menschen die Köpfe einziehen, so niedrig hat Kawamata, ein Virtuose der Raum-Verwandlung, die Holzbohlen kreuz und quer in die Schwebe gehängt. Ein unterschwelliges Gefühl von Bedrängnis kommt auf, als befinde man sich tatsächlich in einem Stollen oder „Bunker“. So heißt denn auch das Gesamtwerk, das sich über drei Stockwerke erstreckt und aus insgesamt 20 Kubikmetern verschraubten und verdübelten Holzes besteht. Nach Schluß der Schau wird übrigens alles zerstört und somit dem Kunsthandel entzogen. Kawamata lebt in erster Linie vom Verkauf der Plan-Graphiken, die auch in Recklinghausen, angeboten werden – zum Vorzugspreis von 150 DM.

Mit dem Licht verändert sich die Ansicht

In der ersten Etage verdichtet sich die beengte Atmosphäre. Dort hat der Künstler eine komplette hölzerne Zwischendecke einziehen lassen. Wie Striche eines informellen Bildes fügen sich die vielen Bretter zusammen. Das Material ist spröde und schroff, roh und rissig, man sieht etliche Ausfaserungen. Die Ansicht verändert sich, je nach Lichteinfall. Aus bestimmten Blickwinkeln merkt man zudem, wie die Hölzer, als seien es magnetisierte Späne, Richtung aufnehmen. Die scheinbar ungefügten Bestandteile geraten miteinander in optische Bewegung, in einem dynamischen Sog, der den ersten Eindruck der Enge überschreitet und nahezu aufhebt. Man fühlt sich zwar immer noch verunsichert. bekommt aber auch eine Ahnung von Freiheit, die in solcher Irritation stecken könnte.

Nochmals gesteigert und anders austariert wird derlei geistige Grenzgängerei im zweiten Stock. Kawamata hat dort, mit allerlei Verstrebungen und geschichteten Holzstößen, kleine Passagen errichtet, die allerdings noch nicht nach draußen führen, sondern vor die düstere Wand. Man muß erst eine Treppe besteigen (Kunsthallenchef Ferdinand Ullrich: „Auf eigene Gefahr“), um aufs oberste Deck der Installation zu gelangen.

Droben wird einem wiederum etwas mulmig zumute. Man stakst vorsichtig herum, den Blick immer zu Boden geheftet, denn an etlichen Stellen sind zwischen den Brettern Löcher belassen, durch die man hinunterfallen könnte. Doch ganz hinten, an der Fensterfront, strebt die Konstruktion endlich ins Luftige hinaus. Ein Gefühl wie vorn auf der Klippe. Auch das also kann Freiheit bedeuten: riskante Lockung.

Kawamata: „Bunker“. Ausstellung der Ruhrfestspiele in der Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Bis 2. Juli, Di-Fr. 10-18 Uhr. Sa./So. 11-17 Uhr. Katalog 35 DM.




Als die große Wut verraucht war – Bilder des Expressionisten Ludwig Meidner

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Caféhauser waren für den Künstler Ludwig Meidner nicht nur gemütliche Orte. Manche Leute, die er dort beobachtet hat, wandeln sich im karikaturistischen Zerrspiegel zu bedrohlichen Wesen, zeigen gar tierhafte Fratzen. War Meidner ein Menschenhasser?

Meidner, 1884 in der schlesischen Provinz geboren, zog 1905 ins brodelnde Berlin. Er entwickelte sich zur „Nachteule“. Allzu gesellig verhielt sich der als Kauz geltende Mann zwar auch hier nicht, doch fand er in jenen Kneipen und Cafés eine allabendliche Heimstatt. Die Tasse Kaffee kostete nur 5 Pfennige, nachbestellen mußte man nicht. Da saß der zeitlebens mittellose Meidner also gut und billig im Warmen. Es blieben noch ein paar Groschen übrig fürs eine oder andere Glas Rotwein.

In der Kunsthalle Recklinghausen sieht man nun in 85 Beispielen, was er in der typischen Caféhaus-Mischung aus Einsamkeit und Bohème skizziert hat. Besonders am Vorabend und während des Ersten Weltkriegs wird der Strich des überzeugten Pazifisten aggressiv, es zucken zornige Blitze aus den Zeichnungen und Graphiken. Da hocken etwa die verhaßten „Stützen“ der spätwilhelminischen Gesellschaft salbadernd am Stammtisch, einer reckt seinen Schweinskopf.

Zerknitterte Zeitungsseiten

Wenige andere deutsche Künstler dieses Jahrhunderts (außer Max Beckmann) haben so oft ihr eigenes Gesicht dargestellt: Auch Meidners Selbstbildnisse kommen mit expressionistischem Furor daher. Selbst eine Zeitung, hinter der sich sein mißtrauischer Blick hervorwagt, ist heftig zerknittert, als falle auch sie der allgemeinen Zersplitterung anheim. Die Welt ist aus den Fugen; Menschengruppen geraten in einen Sog, der sie in die Hölle zu reißen scheint.

Doch dann die Umkehr: Kaum war Meidner mit solchen Bildern bekannt geworden, da wurde er ruhiger und wollte – nach all dem irrlichternden Nachtgewölk – nun auch mal die Tagseiten des Daseins hervorkehren.

Selbst als die Nazis den Juden Meidner ins Londoner Exil getrieben hatten, stieg die alte Wut nicht wieder auf. Die Stadt an der Themse mißfiel ihm: Er war von seiner geliebten deutschen Sprache isoliert, kannte kaum eine Menschenseele – und die Pubs waren halt keine Caféhäuser.

Da er sich Ölfarben nicht leisten konnte, malte er Aquarelle. Das Themenspektrum ist ähnlich wie ehedem, doch die Umsetzung völlig anders. Denn Meidner verankert seine Visionen nun kaum noch in gesellschaftlicher Realität, sondern verliert sich ins Allegorische und Anekdotische. Wie Mahnungen aus Erbauungsbüchern sehen nun etliche Bilder aus. Ein allgemeiner und somit unscharfer Ekel vor einer gierig-geilen Welt hat den Künstler erfaßt. Die Sexualität zeigt er als Sündenpfuhl. Es war in den prüden 50er Jahren.

Erst 1953 kehrte er dauerhaft nach Deutschland zurück, wo ihn die Kunstwelt nicht mehr wahrnahm, zumal er sich dem damaligen Trend zur Abstraktion verweigerte. Es war just die Kunsthalle Recklinghausen, die ihn der Vergessenheit entriß: 1963, drei Jahre vor seinem Tod, bekam Meidner in der Revierstadt seine erste große Nachkriegs-Ausstellung.

Ludwig Meidner: Straßen und Cafés. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Bis 12. Februar (Di-So 10-18 Uhr).




Schweres Material beginnt zu schweben – Skulpturen und Zeichnungen von Emil Cimiotti in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Ein Künstler kehrt an den Ort seiner ersten großen Erfolge zurück: Emil Cimiotti (65) hatte 1957 und 1959 in Recklinghausen den renommierten „Kunstpreis Junger Westen“ erhalten. Er staunt noch heute über die Folgen: „Seitdem konnte ich von meiner Kunst leben.“

Heute erzielen selbst mittlere Skulpturen des gebürtigen Göttingers Preise um 100 000 DM. In der Kunsthalle Recklinghausen, die ihm nun auf allen drei Etagen eine Retrospektive der Skulpturen und Zeichnungen ausrichtet, kann man seine künstlerische Entwicklung seit Mitte der 50er Jahre verfolgen.

Bei der Wahl des Materials zeigt Cimiotti Beharrungskraft: Von Anfang an hat er praktisch ausschließlich Bronze geformt. Hilfsweise hat man ihn dem „Informel“ zugeordnet. Doch bei Skulpturen ist das – anders als auf dem Felde der Malerei – mit der „Formlosigkeit“(Informel) so eine Sache: Die faßbare Präsenz des Materials und seine sinnliche Gestaltung widersprechen eigentlich dem Willen, Form aufzulösen.

Gerade dieser Widerspruch birgt jedoch die Spannung der Cimiotti-Werke. Mit ihren bizarren Zerklüftungen, die das Innerste des Materials nach außen zu kehren scheinen, sind sie im Ungewissen schwebende Abbilder der Seelenlandschaft und zugleich handfeste Dinge, sie sind gleichermaßen konkret wie abstrakt. Werktitel und Formensprache legen oft auch Erinnerungen an Naturformen nahe. Auch in diesem Sinne sind die Arbeiten nicht vollends losgelöst von aller Wirklichkeit. Die Schwebezustände, die Cimiotti mït dem doch recht kompakten und schweren Material zu erzeugen vermag, haben übrigens auch mit seiner speziellen Gußtechnik zu tun, die nur eine Materialdicke von etwa einem Zentimeter erlaubt. Daher also die Feingliedrigkeit und filigrane Wirkung vieler Stücke.

In den 70er Jahren schuf Cimiotti sitzende und hockende Großfiguren, durch deren „Körper“ die Skelettstruktur scheint – Sinnbilder für die Vergänglichkeit des Menschen. Häufig verwendete Fruchtformen scheinen aber in jener Zeit ein lebenspralles Gegengewicht zu bilden.

Zuletzt hat Cimiotti eine ganz andere, mehr ins Malerische ausgreifende Richtung eingeschlagen. Hell und licht bemalte Bronze-Arbeiten wie „Gipfel“, „Landschaft/ Schnee“ oder „Flacher Berg“ scheinen von jüngerer Kunst inspiriert zu sein. Angesichts dieser vitalen Arbeiten und spontaner Skizzen glaubt man kaum, daß man es mit einem seit Jahrzehnten eingeführten Künstler zu tun hat. Es ist, als habe Cimiottis Zukunft gerade erst begönnen.

Emil Cimiotti. Retrospektlve. Kunsthalle Recklinghausen (direkt am Hauptbahnhof). Bis 20. April.




Die Malerei befragt sich selbst – Gruppen-Ausstellung in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Mit Farbwerten experimentiert der eine, der andere mit Perspektiven, der dritte mit dem Wechselspiel von Abstraktion und Gegenstand. Jeder der acht Künstler, die unter dem Allerwelts-Titel „Malerei ’90“ in der Kunsthalle Recklinghausen versammelt sind, verfolgt seine Richtung, doch haben sie eines gemeinsam: Sie befragen einmal mehr die malerischen Mittel auf Aussagekraft und Tauglichkeit.

Zwischen 30 und 40 Jahre alt, sind sie samt und sonders bereits gestandene, wenn auch nicht berühmte Vertreter ihres Faches. Praktisch alle Arbeiten stammen aus neuester Atelier-Produktion, waren also noch nicht öffentlich zu sehen. Hingegen haben alle früher schon einmal in der Kunsthalle ausgestellt. Deren Leiter, Ferdinand Ullrich, präsentiert also einige seiner Vorlieben gebündelt. Das kommt einem Bekenntnis und wohl auch einer Absichtserklämng für die Zukunft gleich.

Die Auswahl hat unbestreitbare Qualitäten, jeder Künstler ist auf unverwechselbarem Wege. Der Recklinghäuser Martin Bartel irritiert mit großflächig-schwarzen Rauten-Mustern. Erst bei genauestem Hinsehen ahnt man, daß unter dem lichtverschlingenden Schwarz ein Farbgrund liegen muß. Gert Brenner (Köln) zeigt u. a. ein großes „Breitwand“-Blumenbild, in Duktus und Farbwahl von fernher an Van Gogh erinnernd. Daneben lassen ausschnitthafte Kleinformate die Auflösung solcher Blumenmotive zu rein malerischen Vorgängen wie spontaner Pinselführung und autonomer Farben-Spur erkennen. Bei Giso Westing (Hannover) läuft der Prozeß umgekehrt. Er erfindet abstrakte Figurationen, die wie Gegenstände wirken, freilich wie fremde, noch nie gesehene.

Ganz anders Jörg Eberhard (Düsseldorf). Er befaßt sich in seinen Stadt-Bildern mit perspektivischen Verzerrungen und greift dabei auch auf die heute ungewohnte mittelalterliche Sehweise zurück, die er in moderne, geometrisch orientierte Malerei überführt. Eigenständiger Ansatz auch bei Hartmut Neumann (Köln): Das flammende Dunkel seiner Wildnis „Berggeschwür“ etwa könnte die furchtbare Gegenwehr einer zerstörten Natur meinen. Zwischen fast altmeisterlich ausgeführten Partien verlaufen Farbrinnsale wie Verletzungen. Ein fröhlich-dschungelhaftes Chaos vermitteln hingegen die Arbeiten von Bernhard Sprute (Bad Oeynhausen), sie rufen die Vorstellung eines paradiesischen Urzustands wach.

Technisch in der Tradition eines Yves Klein stehend, „springen“ die Bilder Peter Reuters (Münster) den Betrachter geradezu angriffslustig an. Diese Kraft entsteht, weil Reuter – wie seinerzeit Klein – keine Bindemittel verwendet, sondern unvermindert leuchtende Farb-Pigmente aufträgt. In der Wirkung aggressiv, sind diese Bilder als Material doch höchst empfindlich. Das Pigmentpulver bröckelt rasch. A. K. Schulze (Münster) setzt mit seinen Minimal-Bildem auch einen komischen Akzent, zum Beispiel so: Große dunkle Fläche, darin zwei winzige helle Quadrate. Bildtitel: „Hasi“. Die Quadrate als vorstehende Hasenzähnchen.

„Malerei ’90“. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Bis 1. Januar 1991.




Als Zukunftshunger die Künstler erfaßte – Bilder in der deutschen Revolution 1918/19

Von Bernd Berke

Recklinghausen. „Was kann die Revolution der Kunst geben, was kann die Kunst der Revolution geben?“ Im Zeichen dieser Doppelfrage steht die große Ausstellung der Ruhrfestspiele. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ lautet der etwas irreführende Titel. Doch es geht hier nicht um die Französische Revolution.

Exponate, die sich auf die Umwälzung von 1789 beziehen, dürften derzeit fast restlos ausgeliehen sein. So konzentrierte sich Dr. Anneliese Schröder in der Kunsthalle Recklinghausen auf fünf Künstlergruppen im Umfeld der (gescheiterten) deutschen Revolution 1918/19.

Dies kann man aus der Ausstellung ableiten: Ganz anders als die Oktoberrevolution in der Sowjetunion, haben die Umsturzversuche in Deutschland die Kunst zwar mit Zukunftshunger aufgeladen, kaum aber auf den Stil der Künstler eingewirkt. Zwar gab es eine Flut von drangvollen Manifesten und beinahe siegestrunkenen Architektur-Entwürfen für kristalline „Kathedralen der Zukunft“ (Motto: „Glas macht dem Menschen Mut“), doch wich der Stilpluralismus nicht etwa einem revolutionären Einheitsstil. Gemeinsame Gesinnung ja, gemeinsame Ausdrucksformen nein – das wäre die Formel.

Die Vielfalt blieb – auch innerhalb der Künstlergruppen. Eine gewisse Ausnahme bildeten die „Rheinischen Progressiven“ (Gert Arntz, Heinrich Hoerle, F. W. Seiwert u. a.), bei denen Tendenzen zu kollektivem Stil und Thematik erkennbar sind. Sie richteten ein Hauptaugenmerk auf Automatismen, die die Industriewelt den menschlichen Körpern aufprägt. Doch findet sich in dieser Abteilung auch eins der ganz seltenen Beispiele für die direkte Darstellung eines Revolutions-Themas, und das auch erst am Punkt des Niedergangs: Margarete Kubickas Bilder zu den Morden an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Der „Arbeitsrat für Kunst“ (Berlin, ab 1919 – Hermann Finsterlin, Hans Scharoun, Bruno Taut u. a.), schon in der Namensgebung an Arbeiter- und Soldatenräte angelehnt und mit der „Novembergruppe“ verwoben (Max Pechstein, Walter Dexel, Rudolf Belling), setzte sich die Kunst-Utopie des „Glücks der Masse“ zum Ziel. Eher das reale Unglück der Massen in Gestalt bedrückenden Arbeiter-Elends spricht aus Bildern der „Dresdner Sezession Gruppe 1919″ um Conrad Felixmüller.

Interessant an der mit berûhmtesten Namen glänzenden Abteilung „Bauhaus Weimar“ (kleinere Arbeiten von Klee, Feininger, Kandinsky, Schlemmer) ist besonders, daß man sie hier im Kontext zeitgleicher Strömungen sieht. Das Bauhaus hatte zwar zunächst manche Berührungspunkte mit der Revolution, wurde aber später zu einer Art Design-Werkstatt im Sinne formal fortschrittlich denkender Industrieller.

Aus dem Rahmen fällt der Raum, der „Dada Berlin“ (Heartfield, Grosz, Hannah Höch) gewidmet ist. Hier wird ein Elan spürbar, der respektlos mit allem umspringt und dabei in ästhetische Regionen vordringt, die anderen nicht mehr zugänglich sind. In diesem Kreis wurde denn auch die einzige genuine Kunst-Erfindung jener Jahre geboren: die Foto-Collage.

Zwar sind nicht durchweg Spitzenstücke zu sehen, doch wäre das auch bei einem Ausstellungsetat von nur 200 000 DM – angesichts heutiger Versicherungssummen – beiweitem zu viel verlangt. Die Schau vermittelt jedenfalls intensives Zeitklima.

Und schon kursieren Ideen, den Ruhrfestspiel-Ausstellungen einen Zweijahres-Turnus zu verordnen. Dann könnte man „klotzen“ und noch mehr Aufwand in die Vorbereitung stecken. Doch gehört nicht eine alljährliche Ausstellung zu den Festspielen wie ein Fisch ins Wasser?

Kunsthalle Recklinghausen: Ab heute bis 18. Juni. Tägl. 10-18 Uhr; Katalog 20 DM.




Wie die Lektüre Kunst und Leben beeinflußt – Bilder des Lesens bei den Ruhrfestspielen (und ein Beitrag des Fritz-Hüser-Instituts)

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Buch und Leser stehen im Mittelpunkt zweier Ausstellungen in der Kunsthalle Recklinghausen, die jetzt bei den Ruhrfestspielen – zusammen mit KollwitzDruckgraphik und DDR-Freizeitkunst – Bilder-Akzente setzen: Unter dem Titel „Magie des Buches“ werden rund 160 Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Objekte zum Thema ausgebreitet, und das Dortmunder Fritz-Hüser-Institut steuert die didaktische Schau „Alltag, Traum und Utopie“ bei (beide bis 3. Juli).

Zunächst zur Kunstausstellung, die zum Teil hochkarätige Exponate (Chagall, Corinth, Heckel usw.) enthält und sich auf Werke des 19. und 20. Jahrhunderts konzentriert. Nur Bilder, auf denen Bücher und Leser zu sehen sind? Langweilig, könnte man argwohnen. Doch dem zweiten und dritten Blick enthüllt sich, wie verschieden die Künstler mit dem Thema umgegangen sind.

Mal ist das Buch eine Zutat sehnsuchtsvoller Romantik (Johann Peter Hasenclever: „Die Sentimentale“, 1846), öfter auch Accessoire des bürgerlichen Porträts; es dokumentiert „gehobenen“ Lebensstil, dient gleichsam als „Bildungsausweis“. Doch es gibt auch die Darstellung dringlicher Lektüre. Beispiele hierfür sind Ernst Barlachs Skulptur „Der Buchleser“ (1936) oder Gerhard Marcks‘ Plastik „Albertus Magnus“ (1955). Werden Lesende ansonsten meist isoliert gezeigt, so kann man bei Marcks auch die Folgen der Lektüre geradezu mit Händen greifen: „Albertus Magnus“ blickt vom Buch auf – mit einer Geste, die den Beginn eines Gesprächs andeutet. Einige Bilder zur „Bücherverbrennung“ lassen ahnen, für wie gefährlich Diktatoren solche Lektüre-Konsequenz halten.

Die Darstellung lesender Frauen ist nicht selten eine sanft verhüllte Liebeserklärung, sie betont den zärtlich-erotischen Aspekt der Versunkenheit und Selbstvergessenheit. Beispiel: Pierre Bonnards „Lesende Frau“ (1909). Vom Lesevorgang abstrahiert dann Paul Klee. Sein „Bilderbuch“ (1937) fungiert als Träger geometrischer Figuren – ein Übergang zu den Buchobjekten: Bücher sind hier nicht nur Thema, sondem selbst Medium der Kunst. Da gibt es etwa Timm Ulrichs‘ „Büchmanns geflügelte Worte“ (1977): Buchbände auf Notenständern, die von einem Ventilator durchgeblättert, also „beflügelt“ werden, oder Claudia Kölgens metallisch flirrendes Buch „Ohne Titel“, dessen haarfeines Gewölk die elektrisierende Wirkung mancher Leseabenteuer verdeutlicht.

Sehenswert auch der Dortmunder Beitrag über „Lesegeschichten und Lebensgeschichten“, der eine aufwendigere Präsentation verdient hätte. Immerhin sieht man Schrift-Dokumente (Zeit mitbringen!) und Lese-Ambiente: Schulbänke, Küchentische.

Vier Revier-Biographien aus vier Generationen (vom Bergmann bis zur Studentin), nach langen Interviews aufgezeichnet, werden zur jeweiligen Lektüre in Bezug gesetzt. Erstaunlich, wie verwoben Leben und Lesen, bei Licht betrachtet, sind. So zieht sich ein frühes Leseerlebnis des Bergmanns (Schillers „Tell“) wie ein Leitmotiv durch sein Leben, beeinflußt nachhaltig sein Gerechtigkeitsempfinden und das Engagement für Kollegen im Betrieb. Fast schon zu mustergültig: Der Weg einer jungen Frau, die durch Uwe Timms „Heißer Sommer“ (Roman über die APO-Revolte) eine idealtypisch „linke“ Lebensbahn einschlägt.