Die visionären Erwartungs-Räume des Giorgio de Chirico – ein virtueller Besuch in der Hamburger Kunsthalle

Giorgio de Chirico: „Der Lohn des Wahrsagers“ (1913), Öl auf Leinwand. (Philadelphia Museum of Art, Louise and Walter Arensberg Collection, 1950 / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Artist Rights Society (ARS), New York, SIAE, Rome – Foto: © Philadelphia Museum of Art)

Um mal positiv zu denken: Immerhin haben sich im Zuge der Corona-Pandemie die längst noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten des Digitalen auch hierzulande deutlich erweitert, besonders im Schulwesen und im Kulturbereich. Wäre ich gestern aus Dortmund zur Hamburger Kunsthalle angereist? Wohl kaum. Unter den obwaltenden Umständen: erst recht nicht. Wie gut also, dass es einen virtuellen Rundgang durch die neueste Ausstellung des Hauses geben konnte. Besser noch: Die Hanseaten haben eine famose Schau über die „metaphysischen“ Jahre des Giorgio de Chirico (1888-1978) zustande gebracht. Erfreut merkt man es selbst aus der Distanz – und bekommt Bilderdurst aufs analoge Erlebnis!

Gleich 35 Meisterwerke des Italieners, der auch 17 Jugendjahre in Griechenland und rund drei Jahre in Deutschland (München) verbracht hat, sind in der Hamburger Kunsthalle zu sehen. In dieser Dichte werden sie wohl nie wieder zusammenkommen, zumindest nicht in unseren Breiten. Und auch nicht zu einem solch vielsagenden Zeitpunkt. Denn woran könnten die leeren Plätze mit den fluchtenden Architekturen und den überlangen Schatten denn wohl erinnern, die De Chirico so unvergleichlich imaginiert hat? Unweigerlich müssen wir Heutigen an leere Straßen und Plätze beim Lockdown denken. Nein, man muss und soll nicht alles auf die Pandemie beziehen. Doch hier liegen solche Gedanken und Gefühle wirklich nahe.

Beeinflusst von Nietzsche und Schopenhauer, Böcklin und Klinger

Die spürbar von Giorgio de Chiricos Schaffen begeisterte, ja geradewegs beseelte Kuratorin Annabelle Görgen-Lammers skizzierte zur live gestreamten Eröffnung geistesgeschichtliche Hintergründe. De Chirico sei durch die Lektüre von Nietzsche und Schopenhauer beeinflusst worden, malerisch hätten u. a. spätromantische bzw. symbolistische deutsche Künstler wie Arnold Böcklin und Max Klinger Pate gestanden. Da es zum Wort „Stimmung“ keine italienische Entsprechung gibt, habe de Chirico dafür übrigens stets den deutschen Begriff verwendet. Im Bann solcher Einflüsse habe er eines Tages die Plätze von Florenz und hernach anderer Städte wie Turin wie zum allerersten Male gesehen. Es müsse wie eine Offenbarung oder Erscheinung gewesen sein. Oder soll man gar von Erweckung sprechen?

Nun entstanden jedenfalls ungemein einprägsame Bilder wie „Der Lohn des Wahrsagers“ (1913), das eine weitgehend leere Piazza mit scheinbar einladendem Torbogen, jedoch auch abweisendem Mauerwerk-Riegel zeigt. Miteinander konfrontiert werden eine antike Skulptur der Ariadne (die auf den Rauschgott Dionysos wartet) und eine seinerzeit moderne Eisenbahn – eine absurd „surrealistische“ Kombination avant la lettre, visionär vorausdeutend auf die spätere Kunstrichtung. Kuratorin Görgen-Lammers spricht von einem übernatürlichen „Raum der Erwartung“, der sich hier öffne und ausbreite, von einer ungeheuren, gleichsam ewigen Stille. Kann man so sagen, wenn man es nicht malt. Kunsthallen-Chef Prof. Alexander Klar sekundiert mit „Alpträumen in der Mitte der Gesellschaft“, die de Chirico traumwandlerisch evoziert habe. Auch ein verbaler Ansatz.

Giorgio de Chirico: „Das Gehirn des Kindes“ (Der Wiedergänger), 1914, Öl auf Leinwand (Moderna Museet, Stockholm, erworben 1964 – „The Museum of Wishes“ / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Foto © Moderna Museet, Stockholm)

Das Bild, das André Breton unbedingt besitzen wollte

Allem realistischen Duktus zum Trotz: Leicht zu deuten sind die Schöpfungen de Chiricos keineswegs. Ein geradezu ikonisches Bild wie „Das Gehirn des Kindes“ (1914) zeigt weder ein Kind noch ein Hirn. Ein unbekleideter Mann in Halbansicht scheint ganz in sich selbst versunken zu sein. Vor ihm liegt ein gelbes Buch, das auf des Künstlers Nietzsche-Lektüre hindeuten dürfte. Er hat nämlich den „Zarathustra“ in der französischen Ausgabe gelesen, die damals just so ausgesehen hat. Ohne Hintergrund-Recherche kann man das schwerlich wissen. Dieses Bild, Ausdruck inniger Suche nach einer Vereinigung von Leiblichkeit und Geistigkeit, ist dem nachmaligen Surrealisten-„Papst“ André Breton so schlagartig aufgefallen, dass er es gekauft und vielen Freunden wie Max Ernst gezeigt hat. Es kann somit als eine Art verfrühtes Gründungswerk des Surrealismus gelten.

Die beiden bislang erwähnten Bilder sind aus Philadelphia und Stockholm ausgeliehen, das ganze Projekt ist eine Kooperation mit den Pariser Musées d’Orsay et de l’Orangerie. Erstaunlich, wie die weltumspannenden Museums-Netzwerke (und die Kontakte zu Privatsammlungen) sich trotz Pandemie als haltbar erwiesen haben. Weiterer glücklicher Umstand: Die Hamburger Kunsthalle gilt weltweit als führend, wenn es um gewisse Ausprägungen des 19. Jahrhunderts geht. Hier kann man auf Bestände der eigenen Sammlung zurückgreifen, welche zu de Chirico passen. Der kam nämlich – wie gesagt – auf deutsche Vorbilder wie Arnold Böcklin („Die Toteninsel“) und Max Klinger zurück, so etwa auf Böcklins „Odysseus am Strande des Meeres“ (1869), das in Hamburg als Eigenbesitz präsentiert werden kann und sich beispielsweise zum Vergleich mit de Chiricos Frühwerk „Sterbender Zentaur“ (1909) anbietet.

Giorgio de Chirico: „Sterbender Zentaur“, 1909, Öl auf Leinwand (Kunstsammlung Assicurazioni Generali / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Foto © Photo Courtesy, Assicurazioni Generali)

Militärdienst und Spanische Grippe

Selbstverständlich darf man den historischen Kontext nicht ausblenden. Wesentliche Werke aus de Chiricos „metaphysischen Jahren“ sind zur umstürzenden Krisenzeit des Ersten Weltkriegs entstanden. Die allgemeine Erschütterung überkommener Weltbilder spiegelt sich in den Kunstwerken jener Epoche, wenn sie nicht gar in ihnen vorausgesehen wird. De Chirico wurde 1916 zum italienischen Militärdienst eingezogen, den er allerdings nicht an der Front, sondern in einer Schreibstube in Ferrara absolvieren konnte. Aber natürlich gingen die Schrecken der Zeit auch dort nicht spurlos vorüber. Und wenn wir schon von Pandemie reden: De Chirico erkrankte an der Spanischen Grippe, die damals Millionen von Menschenleben forderte. Der Künstler überstand die Infektion jedoch.

Die Hamburger Kunsthalle konzentriert sich auf de Chiricos metaphysische Phase, ungefähr von 1909 bis 1919. Kritik und Kunstmarkt haben ihm später die Abkehr von diesen „übernatürlichen“ Darstellungsweisen nicht verziehen. Die Bevorzugung seiner Pittura metafisica blieb natürlich auch Giorgio de Chirico nicht verborgen. Der Künstler, der ohnehin manches Detail in seiner Vita zu verändern beliebte (heute würde man vielleicht „faken“ dazu sagen), malte deshalb auch nach 1920 gelegentlich noch im vorherigen Stile, wenn er Geld brauchte. Dieselbe Marktmechanik rief freilich auch schon mal Nachahmer auf den Plan.

Giorgio de Chirico: „Der beängstigende Vormittag“, 1912, Öl auf Leinwand (Mart, Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto / Collezione VAF-Stiftung / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Foto © Mart, Archivico fotografico e Mediateca)

Seitenblicke auf den komponierenden Bruder Alberto Savinio

Die Hamburger Ausstellung greift am Rande auch noch einen speziellen Aspekt auf, indem sie sich de Chiricos musikalisch hochbegabtem Bruder Andrea zuwendet, der vorwiegend als Komponist, aber auch als Autor und Maler tätig war. 1905 studierte er in München bei Max Reger, Giorgio de Chirico fungierte damals (nebenher) quasi als Dolmetscher. Andrea de Chirico nannte sich ab 1914 Alberto Savinio. Eine kurze Kostprobe aus seinem  musikalischen Schaffen erklang zur virtuellen Eröffnung der Schau, die damit fast schon zum Gesamtkunstwerk tendierte – eine Gattungsmischung, wie sie auch Savinio als Ideal vorgeschwebt hat. Ein von Giorgio de Chirico gemaltes Porträtbild des Bruders gehört gleichfalls zur Ausstellung, die ihrerseits nach dem Vorbild einer Piazza aufgebaut ist.

Insgesamt umfasst die Schau rund 80 Kunstwerke. Neben Bildern von de Chirico, Böcklin und Klinger zählen u. a. Werke von Pablo Picasso, Carlo Carrà, Giorgio Morandi und Alexander Archipenko dazu, so dass Giorgio de Chirico nicht als isoliertes Phänomen erscheint, sondern eingebunden in den Zusammenhang der Epoche(n).

Und die virtuelle Eröffnung? Nun ja, es fehlte eigentlich nichts. Diverse Grußworte wurden ebenso per Video übermittelt wie der eigentliche Rundgang. Obwohl die Kameraführung nicht immer ganz glücklich war, weckte der erste Überblick doch großen Appetit, gerade weil man nicht nach Belieben vor einzelnen Bildern verweilen konnte. In der Randspalte lief ein Live-Chat, an dem man ablesen konnte, wie angetan viele der rund 1200 Teilnehmer(innen) waren – und wie begierig auf echte, leibhaftige Museumsbesuche.

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De Chirico. Magische Wirklichkeit. Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5. Von 22. Januar bis 25. April 2021 (vorerst nur online, Museumsöffnung noch ungewiss).

www.hamburger-kunsthalle.de

Der Katalog (Hirmer-Verlag) wird im Museumsshop 29 Euro kosten und ist einstweilen für 34,90 € zzgl. Porto online bestellbar unter www.freunde-der-kunsthalle.de

Zusätzliche Publikums-Aktion der Kunsthalle: Fotos von (pandemiebedingt) leeren Straßen und Plätzen können eingesendet werden an submission@hamburger-kunsthalle.de Die eindrucksvollsten Fotos sollen dann im Eingangsbereich der Ausstellung gezeigt werden.

 

 




Flimmern, Vibrieren, erhabene Ruhe: Die malerischen Farbforschungen des Kuno Gonschior in Recklinghausen

Kuno Gonschior: „Gelbtrans“ (2003), Mischtechnik auf Leinwand, 200 x 190 (Privatsammlung)

Vor manchen dieser Bilder bekommt man rasch Augenflimmern, so sehr scheinen die vielen kleinen farbigen Bildpunkte auf den Untergründen zu tanzen, zu pulsieren, zu vibrieren; all dies noch gesteigert, wenn der Künstler grelle Leuchtfarbe verwendet hat.

Doch dann wiederum, besonders im späteren Werk, verströmen einige Bilder eine geradezu erhabene Ruhe in Blau, Grün oder Gelb, die an gewisse Naturerlebnisse erinnert. Er hat sie dann auch gelegentlich „Landscapes“ genannt. Kuno Gonschior hat wahrlich weite Felder der Farbigkeit durchmessen. Anfangs im Banne von mancherlei Farbtheorien und nach eigenem Bekunden eher wie ein Chemiker oder Physiker zugange, ist er mit den Jahren zusehends den eigenen Emotionen gefolgt, bis hin zu kreativen Rauschzuständen. Auf seinen künstlerischen Spürsinn konnte er sich da längst verlassen.

Kuno Gonschior wurde 1935 in Wanne-Eickel geboren, sein Atelier hatte der Schüler von Karl Otto Götz in Hattingen, gestorben ist er 2010 in Bochum. Die regionalen Ortsmarken lassen schon ahnen, dass er dem Ruhrgebiet biographisch recht treu geblieben ist. Gleichwohl hat er auch international reüssiert, vor allem in den USA. Der Tod riss ihn dann mitten aus den Vorbereitungen zu einer Ausstellung in Japan.

Kuno Gonschior: V. Rot-Grün (1965), Leuchtfarbe auf Leinwand, 32 x 30 (Privatsammlung)

Es ist die erste Gonschior-Ausstellung im Revier seit dem Tod des Künstlers. 2002 hat ihn das Kunstmuseum Bochum gewürdigt, 2008 das Duisburger Museum Küppersmühle. Zu Lebzeiten hat Gonschior gern ganze Museumswände bemalt. Das ist in der Kunsthalle Recklinghausen naturgemäß nicht mehr möglich. Auch hat man – wie Museumsdirektor Hans-Jürgen Schwalm leise bedauert – extreme Großformate nicht ins Haus bringen können. Es ist zwar grundlegend für Kunstzwecke umgebaut, war aber nun mal früher ein Weltkriegsbunker. An großflächige Farbfeldmalerei hat damals gewiss niemand gedacht. Zumeist hat Gonschior jedoch mit „menschlichem Maß“ gearbeitet, sozusagen nach allseitiger Armspannweite. Deshalb dürften die gezeigten Werke wohl einigermaßen repräsentativ fürs gesamte Oeuvre sein.

Es ist eine konzentrierte Retrospektive mit 68 kleineren und durchaus imposanten mittelgroßen Bildern aus allen Schaffensphasen und mit allen wesentlichen Werkfacetten – von den 1950er Jahren bis ins Todesjahr 2010. Das mutmaßlich allerletzte Bild, das Gonschior schuf, ein unscheinbares Kleinformat, beschließt den Rundgang. Die chronologische geordnete Zusammenstellung, darunter viele Leihgaben aus Privatbesitz, enthält im zweiten Obergeschoss auch einige Bilder aus Gonschiors Nachlass. Kein ganz leichtes Unterfangen, denn alle Kinder des Künstlers mussten zustimmen.

Kuno Gonschior: „Landscape Orange-Blue-White“ (2006), Acryl und Gel auf Leinen, 100 x 95 (Privatsammlung / Courtesy Galerie Frank Schlag & Cie.)

Die ersten starken Signale setzt die Schau schon im Erdgeschoss, wo hauptsächlich Werke aus den 1960er Jahren präsentiert werden. So manche Flimmerbilder des „Farbforschers“ (auf diese griffige Bezeichnung haben sich viele Kunstbetrachter festgelegt) könnte man, was die Wirkung anbelangt, getrost „psychedelisch“ nennen. Der damalige Zeitgeist (im Vorfeld und ums Jahr 1968 herum) scheint darin zu wirken, zu walten und zu wabern, doch sind es letztlich ganz eigenwillige Schöpfungen, die weit über derlei Moden hinaus Bestand haben. Trotzdem hat die Zeit ihnen physisch etwas anhaben können: Makellos sind nicht mehr alle Bilder, hie und da beginnt die immer pastoser aufgetragene Farbe zu bröckeln und feine Risse zu zeigen.

In seinen Anfängen hat sich Gonschior entschieden vom Informel fortbewegt, hin zu Farb-Expeditionen und Experimenten, vielleicht auch in einer späten Nachfolge des Pointillismus, die man im bewundernden Sinne „besessen“ nennen kann. Faszinierend allein schon die offenbar nicht nachlassende Geduld, mit der Gonschior zu Werke gegangen sein muss. Hunderte, ja vielleicht manchmal gar Tausende von punkt-, strich-, keil-, tropfen- oder häufchenförmigen Farbaufträgen, zuweilen mit großem Regelmaß gesetzt, dann wieder grandios von allen Zwängen befreit, lassen auf den Bildflächen je ganz eigene Welten entstehen. Nur selten hilft uns Gonschior mit Titeln auf assoziative Sprünge, hier eigentlich nur bei den „Piccadilly“-Bildern, die metropolitanes Lichter-Gewimmel nachzuempfinden scheinen. Ansonsten tragen viele Werke entweder keine Titel oder führen lediglich die verwendeten Farben im Schilde.

Kuno Gonschior: Ohne Titel (Grau) (1987), Öl auf Leinwand, 190 x 140 (MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher)

Vielfältig die Farberfahrungen, die man hier machen kann: Wie geheimnisvolle Urgründe von unten her durchschimmern; wie die Farben immer wieder neue Dialoge miteinander aufnehmen und unverhofft aufeinander reagieren; wie solche Impulse gelegentlich auch in die dritte Dimension drängen und skulpturale Form annehmen, sei es als sanfte Wölbung oder Kugel!

Der Titel der Ausstellung – er lautet schlichtweg „Farben sehen“ – kann fraglos lückenlose Gültigkeit beanspruchen. Es scheint, als hätte Gonschior keinen einzigen Farbton ausgelassen, von Zeit zu Zeit waren sie ihm alle lieb und wert, ob nun Schiefergrau, schillerndes Blau, flammendes Rot, leuchtendes Gelb, schier grenzenloses Grün oder allerlei Mischformen und Verläufe, Experimente mit Gel, Wachs und Öl oder wechselnden Bildträgern inbegriffen.

Oh seltsamer Kontrast, wenn man danach das Museum verlässt und in die schmucklose Wirklichkeit eines Bahnhofsvorplatzes gerät.

Kuno Gonschior – Farben sehen. Kunsthalle Recklinghausen. 20. September bis 15. November 2020. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Eintritt 5, ermäßigt 2,50 €, samstags „pay what you want“ (Eintrittspreis nach Gutdünken). Telefon: 02361 / 50-1935.

Am 20.9. keine gewöhnlich terminierte Eröffnung, sondern ein ganzer Eröffnungstag von 11 bis 18 Uhr.




Recklinghausen: Franzose Daniel Buren verwandelt Ruhrfestspielhaus und Kunsthalle

Das Recklinghäuser Festspielhaus, versehen mit Daniel Burens Farbfolien. (Foto: Kunsthalle Recklinghausen)

Das Recklinghäuser Festspielhaus, versehen mit Daniel Burens Farbfolien. (Foto: Kunsthalle Recklinghausen)

Die Kunstausstellung der Ruhrfestspiele überschreitet diesmal das museale Gehege und erfasst die Architektur zweier markanter Gebäude in Recklinghausen: Festspielhaus und Kunsthalle.

Nach je eigenen Prinzipien hat der namhafte französische Künstler Daniel Buren (Jahrgang 1938) die Anmutung beider Bauten mit farbigen Folien grundlegend verändert. Besonders das serielle Raster der gigantischen Festspielhaus-Glaswand erhält durch die Farbrhythmen gänzlich neue Akzente. Festlicher und somit empfänglicher gestimmt, könnte man auch sagen: Buren verwandelt, ja verzaubert die Architektur, die im Falle des Festspielhauses (Entwurf Auer+Weber+Partner) ohnehin schon 2001 mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichnet wurde.

Die Farbfolien hat Buren alphabetisch nach (deutschsprachiger) Bezeichnung auf die Scheiben des Festspielhauses gesetzt: Blau, Goldgelb, Grün, Rosa. Die Kunsthalle erstrahlt in einem ähnlichen Spektrum – mit Ausnahme von Grün. Beide Arbeiten folgen dem minimalistischen Kunst-Vokabular, das Buren über viele Jahre hinweg für sich perfektioniert hat.

Es ließe sich schier endlos darüber theoretisieren, doch muss man gerade solche raumgreifenden Arbeiten natürlich „vor Ort“ selbst in Augenschein nehmen. Während das Festspielhaus von innen und von außen ganz verschiedene Ansichten darbietet (auch Wetterverhältnisse spielen dabei eine Rolle), ist die farbige Umgestaltung der Kunsthalle, da von innen beleuchtet, nur von außen angemessen wahrzunehmen und entfaltet erst bei Dunkelheit ihre ganze Wirkung.

Außenansicht der Kunsthalle nach Daniel Burens farblicher Intervention. (Foto: Kunsthalle Recklinghausen)

Außenansicht der Kunsthalle nach Daniel Burens farblicher Intervention. (Foto: Ferdinand Ullrich/Kunsthalle Recklinghausen)

Wie man sich denken kann, sind es Arbeiten auf Zeit, die nach dem 26. Juli nur noch in der Erinnerung (bzw. medial gespeichert) fortleben werden. Ähnlich wie etwa Christos Verhüllungen, verändern solche Eingriffe die Wahrnehmung der Bauten freilich auch auf Dauer. Wie fremd oder auch kenntlich werden einem Festspielhaus und Kunsthalle wohl vorkommen, wenn die Farbfelder wieder verschwunden sind?

Kunstausstellung der Ruhrfestspiele: Daniel Buren – Zwei Werke für Recklinghausen (Festspielhaus, Otto-Burrmeister-Allee 1 – Kunsthalle, Große-Perdekamp-Str. 25-27). 1. Mai bis 26. Juli 2015. Zahlreiche Führungen und „Kunstspaziergänge“. Infos: www.kunst-re.de, 02361/50-1935.

Eröffnung der Ruhrfestspiele am 1. Mai ab 13 Uhr mit dem traditionellen Volksfest rund ums Festspielhaus. Das Motto des Festivals lautet diesmal „Tête-à-Tête“ und verspricht ein vielfältiges Kultur-Rendezvous mit Frankreich. www.ruhrfestspiele.de




Langer Nachhall: Was Recklinghausen am Kunstpreis „junger westen“ hat

Wenn ein Kunsthaus einen Querschnitt durch den Eigenbesitz zeigt, so ist das vielleicht nicht sonderlich spektakulär, es hat aber doch etwas für sich. Zum einen sind die Kosten einer solchen Sichtung überschaubar, zum anderen schärft man den Sinn für Profil und Schwerpunkte der Sammlung. Mag sein, dass sich die künftige Ankaufspolitik danach neu ausrichtet.

Die Kunsthalle Recklinghausen verdankt ihre Bestände ganz wesentlich dem Kunstpreis „junger westen“, der aus der gleichnamigen Künstlergruppe (Gründung 1948 / Auflösung 1962) hervorgegangen ist. Deren Mitbegründer Thomas Grochowiak war von 1953 bis Ende der 1970er Jahre Direktor der Kunsthalle. Kein Wunder, dass andere Künstler aus seinem Netzwerk hier Heimstatt und Hafen fanden.

Wenn jetzt ein Überblick zu den Preisträgern von 1948 bis 2011 gezeigt wird, so erweisen sich womöglich Stärken und Schwächen, gewiss auch schmerzliche Lücken der Sammlung. Auch kann man ungefähr ermessen, was heute noch Bestand hat und was dem Vergessen anheimgefallen ist.

Kunsthallen-Leiter Ferdinand Ullrich (li.) und sein Stellvertreter Hans-Jürgen Schwalm mit dem Objekt "3er Sitz" des Hamburgers Stefan Kern (Preisträger des Jahres 1995). (Foto: Bernd Berke)

Kunsthallen-Leiter Ferdinand Ullrich (li.) und sein Stellvertreter Hans-Jürgen Schwalm mit dem Objekt "3er Sitz" des Hamburgers Stefan Kern (Preisträger des Jahres 1995). (Foto: Bernd Berke)

Genereller Eindruck: Die allermeisten Arbeiten sind auch jetzt noch durchaus vorzeigbar oder haben mit den Jahren gar an Bedeutung gewonnen, so etwa Bilder des nachmals weltberühmten Emil Schumacher, als er noch nicht dem Informel zugerechnet wurde. Ganz zu schweigen von einem Bild wie Gerhard Richters „Küchenstuhl“, das 1967 für schlanke 900 Mark erworben werden konnte. Heute würde man sich allenfalls wünschen, man hätte damals ein ganzes Konvolut aus seinem Atelier erworben. Einige andere Namen sind freilich allenfalls noch Fachleuten bekannt, sie sind in die zweite Reihe gerückt. Und manche Preisträger-Stücke sind auch jetzt im Depot geblieben, nicht zuletzt aus technischen oder Platzgründen. Wie denn überhaupt die Kunsthalle notgedrungen ein Institut der Wechselausstellungen ist und sonst keine Dauerschau bieten kann.

Kurzer Blick in die Historie: Die allerersten Ausstellungen der werdenden Gruppe gab es – mangels Museum – in der (damals gähnend leeren) Lebensmittelabteilung von Karstadt. Anfangs unterstützten die Künstler vom „jungen westen“ einander in Freundschaft, der Preis – zunächst gerade einmal 1000 Mark – wurde meist brüderlich zu mehreren geteilt. In der Frühzeit gab es zudem manchmal Sachpreise aus der Industrie, beispielsweise Maluntensilien oder auch ein Kofferradio. Ab 1956 wurden Jurys berufen, aus der gegenseitigen Akklamation wurde ein Verfahren der offenen Bewerbung, der die Urteilsfindung mit allem Für und Wider folgte. Es waren Entscheidungen mit Nachhall: Praktisch von allen Preisträgern (Frauen erst seit 1993, seither aber im Proporz) blieben Bilder in Recklinghausen – vielfach zum Freundschaftsentgelt überlassen. Hie und da gab es zur Abrundung auch Zukäufe aus dem Umkreis der Preisträger.

Heute beträgt die Dotierung des Kunstpreises „junger westen“ 10.000 Euro, doch hat die Auszeichnung nicht mehr den überragenden Stellenwert wie einst. Trotzdem gehen auf eine Ausschreibung (abwechselnd für Malerei, Arbeiten auf Papier und Skulpturen) rund 300 bis 600 Bewerbungen ein. Da es ein Förderpreis sein soll, liegt die Altersgrenze bei 35 Jahren, ehedem durften Bewerber bis zu 40 Jahre alt sein.

Constantin Jaxy (Preisträger 1987): "Titan" (Kreide, Tusche, Graphit auf Karton, kaschiert auf Leinwand). (Kunsthalle Recklinghausen / Foto: Bernd Berke)

Constantin Jaxy (Preisträger 1987): "Titan" (Kreide, Tusche, Graphit auf Karton, kaschiert auf Leinwand). (Kunsthalle Recklinghausen / Foto: Bernd Berke)

Die weitgehend chronologische Präsentation lässt jetzt auf jeder der drei Kunsthallen-Etagen eine andere Zeitgeist-Mischung hervortreten. Im Erdgeschoss findet man vorwiegend das solide Fundament der Sammlung aus den 50er Jahren (Thomas Grochowiak, Emil Schumacher, K.O. Götz, Heinrich Siepmann, Gustav Deppe, Hans Werdehausen, HAP Grieshaber, Emil Cimiotti usw.), im ersten Stock werden Umbrüche der 60er und 70er dezent spürbar (Horst Antes, Gerhard Richter, Ansgar Nierhoff, Rolf Glasmeier). Ganz oben findet man sich schließlich in der Gegenwart wieder. Zugespitzt gesagt: Es ist, als würden archäologische Schichten der Sammlung freigelegt.

Wir können hier nicht alle 35 Künstler einzeln würdigen. Allerdings sollte man sich diese Ausstellung gerade nicht in schnöde summarischer Absicht ansehen, sondern sich sozusagen auf intensive „Lektüre“ einlassen und also zwar manches en passant anschauen, dafür aber bestimmte Arbeiten umso eingehender betrachten. Dann hat man vermutlich mehr vom Besuch. Meine persönliche Präferenz weist in die neuere Abteilung: Es sind die rätselvollen Raumschöpfungen der Berlinerin Heike Gallmeier, die den Preis 1999 erhalten hat. Ungewöhnlich ihr Verfahren: Sie malt Bilder, um aber sodann Fotografien der Gemälde zu zeigen. Ein Grenzgang zwischen den Medien.

Kunstpreis „junger westen“ 1948 bis 2011. Die Preisträger. Werke aus der Sammlung der Kunsthalle Recklinghausen. Sonntag, 11. November 2012 (Eröffnung 11 Uhr) bis 27. Januar 2013. Kunsthalle Recklinghausen, Große-Perdekamp-Straße 25-27. Geöffnet Di-So und feiertags 11-18, Heiligabend/Silvester 11-13 Uhr. Führungen sonntags 11 Uhr. Kein Katalog. Infos im Internet: www.kunst-re.de




Yoko Ono: Kunst ohne jeden Umweg

Bielefeld. Die meisten kennen Yoko Ono als Witwe des Ex-Beatles John Lennon. Dass sie selbst schon seit 1961 auf der Kunstszene agiert, gehört nicht zum Basiswissen. Doch nun richtet ihr Bielefelds Kunsthalle die größte Werkschau aus, die sie in Europa je gehabt hat.

Das heißt: „Werkschau” oder Retrospektive sind vielleicht keine passenden Begriffe, Yoko Ono lehnt sie jedenfalls ab. Nennen wir’s also eine Häufung der Ausdrucksformen – vom Film bis zur Zeichnung, vom Objekt bis zur bloßen Ideen-Notiz. Kunsthallen-Chef Thomas Kellein: „Sie ist eine Künstlerin, die keine Ruhe gibt. Sie will und kann nicht abschließend einsortiert werden.” Aber schauen wir mal, was sie so macht.

Leichenwagen und
Himmelsleitern

Bereits draußen vor der Kunsthalle legt die heute 75-Jährige ihre Spuren. Hier werden sich bald Onos „Himmelsleitern” recken, die einen Hang zum Höheren offenbaren. Stufe für Stufe. Schon jetzt gibt es dort „Wunschbäume”, an die man Zettel mit Hoffnungen heften kann. Und dann steht da noch ein veritabler Leichenwagen, mit dem sich Besucher durch die Stadt chauffieren lassen dürfen (15 Minuten für 5 Euro). Warum? Weil die Künstlerin es sich so vorgestellt hat.

Bei ihr regiert oft der blitzartige Einfall, der nach rascher Umsetzung, ja Entladung drängt. Da hat sie frühmorgens Sonnenstrahlen er-blickt – und kurzerhand entsteht eine Strahlenbündel-Skulptur, die diesen Moment einfangen soll. Da hat sie von Katzen mit glühenden Augen geträumt – und alsbald stehen da 54 derartige Tiere als Installation im Raum (siehe Bild). Diese Kunst will sofort und direkt „da” sein. Geradeaus, zuweilen ziemlich simpel.

Yoko Ono war freilich auch eine Pionierin der Konzeptkunst, die mehr von skizzenhaften Ideen als von genauer Ausführung lebt. So sieht man denn zahllose schriftliche „Anweisungen” an den Wänden. Etwa die, dass man im Konzerthaus geräuschlos Fahrrad fahren solle oder dass man so lange auf einem spartanischen Bett nächtigen möge, bis sich auf dem Laken ein „Gemälde” abzeichnet. Immerhin: Bett und Rad stehen als Objekte bereit; ganz so, als könne man jede Kopfgeburt flugs verwirklichen. Ansätze zur Bewusstseins-Erweiterung, zum Umdenken? Nicht immer. Manchmal franst diese Kunst an den Rändern in Wirrnis aus.

Dass wir alle zu hohen Prozentsätzen aus Wasser bestehen, ist bekannt. Bei Yoko Ono wird auch aus diesem Befund recht umstandslos die raumgreifende Installation „We’re all Water”. 118 mit Wasser gefüllte Gläser sind aufgereiht, jedes säuberlich mit einem bekannten Namen beschriftet. Die Skala reicht vom Dichter Rilke über John Lennon bis zu Adolf Hitler. Sollen wir denken, dass die schiere Wässrigkeit all diese Gestalten einander angleicht? Das wäre heikel.

Yoko Ono hat auch eine frauenbewegte Ader. Drei aufgeschüttete Erdhügel stehen für verschiedene Formen der Gewalt gegen Frauen oder besser: für deren offenbar immergleiche Folgen. Gegenstück ist der „Familienraum”. Ganz egal, ob Spiegel, Frauenschuhe, Haarbürste, Kleiderbügel, Esstisch oder Kästchen – aus allen Gegenständen quillt Kunstblut. Häusliche Gewalt, auf einen einfachen, plakativen Nenner gebracht.

Hie und da werden Besucher zum Mitmachen angestiftet. Auf anfangs leeren Leinwänden sollen sie Bilder ihrer Mütter anbringen. Einen zerteilten und in Boxen verpackten Silikon-Körper soll man berühren („Touch me”); am besten ganz weihevoll, nachdem man die Hand in Wasser getaucht hat. Daneben läuft ein 25-minütiges Video, in dem sich eine Fliege nach und nach auf alle Partien eines nackten Frauenleibes setzt. Auch die befreite Phantasie fliegt, wohin sie will.

Vor allem aber sollen wir alle stets ganz fest an Frieden denken. Yoko Ono glaubt, dass dies die Energien umpolt – bis eines Tages wirklich überall Frieden herrscht. Das klingt einfältig. Oder sollten wir’s vorsichtshalber doch mal probieren – vielleicht zum Sound von Lennons Gassenhauer „Give Peace a Chance”?

Kunsthalle Bielefeld (Artur-Ladebeck-Str. 5). Bis 16. Nov. Di, Do, Fr, So 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18 Uhr. Eintritt 7 €

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ZUR PERSON:

  • Yoko Ono wird am 18. Februar 1933 in Tokio (Japan) geboren.
  • 1952 wandert sie dauerhaft in die USA aus.
  • 1956 erste Ehe mit einem Komponisten (bis 1962).
  • 1961 erste Galerie-Schau.
  • 1962 zweite Ehe mit einem US-Filmproduzenten.
  • 1966 lernt sie den Beatle John Lennon kennen.
  • 1969 Heirat mit Lennon auf Gibraltar. In den Flitterwochen das legendäre „Bed-In” (Ono und Lennon öffentlich im Bett) im Amsterdamer Hotel.
  • Viele Beatles-Fans machen bis heute Yoko Ono fürs Ende der Gruppe (1970) verantwortlich.
  • Ono und Lennon produzierten mit der Plastic Ono Band Songs wie „Give Peace a Chance”, „Cold Turkey” und „Mother”.
  • 1980 (8. Dezember): John Lennon in New York erschossen.



Ein scheuer Bewunderer der göttlich fernen Frauen – Retrospektive über den Surrealisten Paul Delvaux in Bielefeld

Von Bernd Berke

Bielefeld. Viel nackte Haut gibt es in dieser Ausstellung zu sehen. Doch die erotisshen Obsessionen des belgischen Surrealisten Paul Delvaux (1897-1994) sind keineswegs Zeichen einer befreiten Sinnlichkeit, sondern im Gegenteil: malerische Signaturen einer großen Beklemmung.

Delvaux hat, im Leben wie in seinen Bildern, dem „Geheimnis der Frau“ (Ausstellungstitel in Bielefeld) gehuldigt; allerdings stets aus gemessener Distanz, ja aus angsterfüllter Ferne.

Als 32-Jähriger erlebte dieser enorm zurückhaltende Mensch seine erste Liebesgeschichte: mit Anne-Marie Demartelaere, genannt „Tam“. Seine dominante Mutter verbot ihm die Partie, er ließ es sich gefallen. Erst nach dem Ende einer lukrativen Zweckehe und dem Tod seiner Eltern kam er wieder mit „Tam“ zusammen – 19 Jahre nach der ersten Begegnung…

Natürlich lassen sich derlei biographische Hemmnisse nicht unmittelbar auf die Bilder anrechnen, doch eine starke Prägung ist unbestreitbar. Anfangs malte der Künstler am liebsten Züge und Bahnhöfe. Ungefähr ab 1930 rückte das Frauenthema in den Vordergrund. Delvaux schuf nun abgezirkelte architektonische Kunstwelten mit vorwiegend antiken Versatzstücken. In diesen Gefilden steht die Frau allemal imaginär auf dem Sockel der Verehrung. Unerreichbar, unergründlich, schweigend, abweisend, in sich gekehrt, oft geradezu göttlich fern. Männliche Figuren dürfen sich bestenfalls scheu am Rande zeigen, etwa in Gestalt unreifer Knaben, grotesker Greise oder gar schlotternder Skelette.

Seltsam feierlich und blutleer wirken diese geglätteten, marmorhaft polierten Szenarien, als sei alle Vitalität aus ihnen gewichen. Bloße Bühnen-Staffage und steife Posen herrschen vor. Das Leben ist anderswo. Und die Zentralperspektive, einst in der Renaissance entwickelt, um sichtbare Realität genauer zu erfassen, dient hier just der surrealistischen Verrätselung.

Die Malweise ist konventionell, mustergültig akademisch – und im Ergebnis nicht durchweg geschmackssicher. Beim unentwegten Frauen-Bestaunen unterliefen Delvaux gelegentlich ästhetische Ausrutscher in Richtung einer nahezu naiven Malerei. Hier sieht man schon mal entblößte Blondinen, die einem Klischee-Katalog entstiegen sein könnten.

Doch Bielefeld zeigt auch etliche grandios traumwandlerische Bilder. Überaus delikat hat Delvaux vor allem die Hauttöne der nackten Damen dargestellt. Mal seidig oder kreidig bleich, mal überirdisch leuchtend oder wie mit bronzenem Schimmer überzogen. Außerdem besaß dieser Künstler ein feines Gespür für subtil lockende weibliche Halslinien; wie es eben einem schüchternen Bewunderer eigen ist, der sich nichts weiter traut als nur heimlich zu betrachten.

Bis 21. Januar 2007 in der Kunsthalle Bielefeld. Katalog 24 Euro.




Ein Künstler, der die Gegensätze liebt – Ausstellung der Ruhrfestspiele präsentiert Günther Förg

Von Bernd Borke

Recklinghausen. Fast ist’s wie beim Dichter Ringelnatz, der einst diesen Werkstoff im Reime besang: Da gibt man den Dingern einen ganz kleinen Stips – und da sind sie aus Gips. Aus dem eher unedlen Material, geradezu unförmig aufgeschichtet, hie und da „wild“ bemalt, wuchern zudem in schönster Regellosigkeit solche Fragmente hervor: Dichtungsgummi, Latex-Fetzen, Bruchstücke eines Sägeblatts oder zerbeulte Getränkedosen.

Trash-Kunst von der Müllhalde, Überbleibsel vom Baumarkt? Was die puren Materialien anbelangt: ja, irgendwie schon. Es sind spontan verwendete Fundstücke. Doch der Künstler erhebt (ironischen) Geltungs-Anspruch, denn diese Skulptur-Collagen quellen auf hehren weißen Podesten vor sich hin – wie ferne klassische Vor-Bilder, doch so ganz anders geformt.

Günther Förg, 1952 in Füssen geborener documenta- und Biennale-Teilnehmer, scheut weder große noch kleine Gesten. Bei ihm relativiert sich ja alles mit Leichtigkeit. Geschwind überspringt er Gattungsgrenzen der Kunst. Auch sind Konzept und Zufall bei ihm keine Gegensätze. Sogar Pfusch würde nicht großartig auffallen.

Recklinghausens Kunsthalle präsentiert rund 120 neuere Plastiken, Gemälde und Fotografien von Förg, und zwar im Rahmen der Ruhrfestspiele. Das ist diesmal nicht selbstverständlich.

Streit hinter den Kulissen

Es gab Streit hinter den Kulissen, und es blieb lange ungewiss, ob die neue Festspiel-Direktion (Chef: Frank Castorf) die bildende Kunst überhaupt noch einbeziehen wollte. Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich musste nach überstandenem Gezerre in Windeseile planen: „Hätten wir keine Festspiel-Ausstellung mehr, so wäre das eine Katastrophe für das Haus.“

Mit dem Titel hat man sich sprachlich angeschmiegt: „make it new“ (Mach’s neu) heißt die Förg-Schau, während die gesamten Festspiele unter dem Motto „No fear“ (keine Angst) stehen.

Vor der Eingangstür erhebt sich ein massiver, von Förg weiß getünchter Aluminium-Block: Einladung und Bremswirkung halten sich die Waage. Besagte Gips-Gebilde empfangen den Besucher sodann reihenweise im Erdgeschoss.

Der Betrachter muss sich recken

Im ersten Stock sieht man eigens für diesen Ausstellungsort gefertigte Tafelbilder, darunter ein zwölf Meter langes Riesenformat. Malerisch flott zitiert werden hier etwa die schmalen Fensteröffnungen der Kunsthalle, eines früheren Weltkriegs-Bunkers. Kann etwas zugleich geöffnet und geschlossen wirken? Diese Vexierbilder schon!

Unterm Dach der Kunsthalle muss man sich recken: Hoch an die Wände hat Förg seine Architektur-Fotos gehängt, die zumeist nüchterne Bauhaus-Architektur aus dem Prag der 1920er Jahre zeigen. Förg will jedoch nicht dokumentieren. Seine schwarzweißen Lichtbilder erfassen willkürliche Ausschnitte, sie wirken wie im Vorübergehen aufgenommen, sind gelegentlich unscharf und verwischt. Zu allem Überfluss nimmt Förg es ganz bewusst in Kauf, dass sich das einflutende Licht auf der Verglasung spiegelt. Hier kann sich der Besucher nicht bequemen.

Irritierend auch das Umfeld: Förg, der gern in Serien denkt und handelt, hat sich 18 satteldachförmige Pulte bauen lassen und sie jeweils beidseits mit sichtlich flugs entworfenen Acryl-Malereien verziert, so dass sich 36 „Motive“ ergeben. Gitter- und Fensterstrukturen überwiegen bei diesem äußerst freien Spiel mit architektonischen Vorgaben. Und auch hier gibt’s flirrende Doppelwirkungen: behaust und unbehaust, standfest und flüchtig.

Günther Förg: „make it new“. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Eröffnung Sonntag, 2. Mai. Bis 18. Juli. Katalog 21 Euro.




Bleierne Zeit im Museums-Bunker – Kunsthalle Recklinghausen zeigt Arbeiten von Joachim Bandau

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Auch dies ist ein Weg, die Skulptur vom hehren Sockel zu holen: Wenn man sie einfach auf Rollen setzt und damit signalisiert, dass dies alles jederzeit ins Gleiten geraten könnte.

Joachim Bandau (1936 in Köln geboren) hat seit den bewegten späten 60er Jahren solche im Prinzip mobilen Plastiken gefertigt. Doch sein Werk umfasst auch hermetische, gleichsam still in sich gekehrte und starr wirkende Fügungen aus Blei und Stahl.

Einen Querschnitt durch derlei Vielfalt dokumentiert jetzt mit einer „Gegenüberstellung“ (Untertitel) von Skulpturen und Schwarz-Aquarellen die Bandau-Retrospektive in der Kunsthalle Recklinghausen. Gerade dieser Weltkriegs-Bunkerbau am Bahnhof ist ein passendes Gehäuse für des Künstlers strenge Bunker-Bilder aus den späten 70er Jahren. Sie leiten sich nicht nur aus der fortwährenden Kriegsangst Bandaus her (als Kind durchlitt er schreckliche Bombennächte in Kellern), sondern vermitteln wohl auch etwas von der mulmigen Gefühlslage jener „bleiernen Zeit“ des RAF-Terrorismus um 1977. Man mag da an Hochsicherheitstrakte denken, vielleicht auch an gefährliche Reaktoren. Die Blätter evozieren diese Themen niemals direkt, sondern beschwören eine schwer lastende Atmosphäre von stumpfer Angst und allseitiger Verschlossenheit mit rein künstlerischen Mitteln.

Überhaupt verfährt Bandau nach tradierten Regeln der Kunst: Mit Bodenplastiken erkundete er in immer neuen, sehr exakten Ansätzen Maßverhältnisse, Gewichtungen, Masse und Volumen, Freisetzungen und Einschlüsse. Die Oxidation von Stahl und Blei verleiht diesen beharrlichen Studien allmählich eine ganz eigene Patina und Würde.

Kalkulierte Verzerrung der Körperlichkeit

Bandau, der in Aachen lebt und lange in Münster als Kunstprofessor gewirkt hat, kann höchst triftig über seine Materialien, so auch über Papiersorten und deren Qualitäten dozieren. Jedes Papier habe eine Hauptrichtung des Verlaufs, daran müsse man sich beim Farbauftrag halten, sonst fließe alles ungeregelt umher. Richtung? Ja, man merke dies, wenn man eine Zeitung längs oder quer zerreiße; das eine gehe mit glatten Kanten vonstatten, das andere nur mit Fetzen (bitte nicht gleich mit diesem WR-Exmplar ausprobieren).

Es ist, als habe Bandau die „Seelen“ des Bleis oder der Bütten gesucht und gefunden. Aufs Blei kam er übrigens rein assoziativ, vom Bleistift (Graphit) her, wie er denn überhaupt – aller Expertenschaft und Exaktheit zum Trotz – die Lust am Zufall und am Experiment nie verloren hat. So ergeben sich auch Effekte, die ihn selbst überraschen: Einst zeichnete er mit Tee- und Kaffee-Extrakten. Mit der Zeit sind diese Bilder gelblich geworden, als stammten sie aus ganz ferner Vergangenheit.

Seine rollbaren Skulpturen werden, als originelle Ausprägungen der Pop-Art, neuerdings wieder eingehender gewürdigt. Die teilweise leicht grotesken Klon-Gebilde zwischen Menschenkörper und Maschinenwelt wirken (manchmal an der Grenze zur Komik) ein wenig bedrohlich, sie greifen ins Surreale aus. Man erschrickt über die kalkulierten Verzerrungen und Auswüchse des Figürlichen. Diese oft kabinenförmigen Gestelle sehen aus wie überdimensionierte Spielzeuge aus einer mutierten Welt oder wie technisches Rüstzeug einer absurden Klinik. Dass sie auf Rollen daherkommen, deutet auf etwaige Mobilität hin. Doch diese Objekte sind so abweisend gepanzert, als wollten sie nie mehr vom Fleck.

Joachim Bandau: „Gegenüberstellung“. Kunsthalle Recklinghausen. Bis 18. November, Di- So 10-18 Uhr. Kataloge: Skulpturen 42 DM, Aquarelle 25 DM.




Frauen als unheimliche Wesen – Bielefelder Ausstellung zur „Weiblichkeit im Surrealismus“

Von Bernd Berke

Bielefeld. In einer allseits verspiegelten Vitrine bewegt sich eine Hand auf und ab, immer wieder. Die Finger wölben sich um einen schmalen Hohlraum. Offenbar fahren sie an einem imaginären „Ding“ hoch und nieder. Das Rätsel löst sich schnell, wenn man den Titel der Kunst-lnstallation liest.

Er lautet derb und simpel „Wichser-Schicksal“ (1999). Welch eine barsche weibliche Reaktion auf all die lüsternen (doch auch angstvollen) Männer-Phantasien etwa des Surrealismus und seiner Nebenströmungen. Sarah Lucas stellt mit ihrem Vitrinen-Objekt die emotionale Leere und öde Mechanik der bloßen Geilheit denkbar grell heraus.

Derlei wütende Werke, mit denen Frauen seit den späten 1960er Jahren den Spieß umdrehten, stehen am Schluss der Bielefelder Ausstellung „Die unheimliche Frau – Weiblichkeit im Surrealismus“. Diese Kunstrichtung ist „angesagt“, in Kürze werden sich Tate Gallery (London) und Centre Pompidou (Paris) ausgiebig damit befassen.

Träume, Obsessionen, Ängste, Ausgeburten

Bielefeld spielt ein Präludium – beileibe nicht nur, aber auch mit (ein paar) Spitzenstücken. Säulenheilige des Surrealismus (Dalî, Max Ernst und Magritte) sind vertreten. Hier aber werden sie eingereiht in den großen Zug der Zeit.

Natürlich erschöpft sich der Surrealismus, der in Bielefeld sehr weit gefasst wird und das ganze 20. Jahrhundert umschließt, auch beim Thema Frauen nicht im Lasziven; wie denn überhaupt große Kunst nie in solchen Einzelheiten aufgeht. Vielerlei Träume, Obsessionen, Ängste und Ausgeburten äußern sich in den Bildern. Ständig meint man Sigmund Freud und die Psychoanlyse trapsen zu hören. Aber auch darüber ragt wahre Kunst hinaus.

Symbolisten greifen noch vornehmlich auf Bibel und antike Mythologie zurück. Gustave Moreau umkreist das beunruhigende Mysterium der Frau anhand von mörderischen Gestalten wie Salome, Medea und Messalina. Einflüsse Moreaus auf den nachmaligen Surrealisten-Papst André Breton sind verbürgt.

Jedenfalls konnte man an solche Formfindungen getrost anknüpfen. Einem Max Ernst wird später die Reduktion auf eine weibliche Augenpartie genügen, um jene offenbar ewige Mischung zwischen Faszination und Unbehagen zu evozieren.

Ein Mysterium zwischen Tier und Puppengestalt

Tierhaft oder sonstwie naturnah kommt das Weibliche auf etlichen Bildern daher. Der Belgier Félix Labisse setzt 1943 einer entblößten Frau einen Pantherkopf auf, eine andere Nackte trägt statt des Hauptes eine aufplatzende Feige – sexuelle Symbolik genug. Victor Brauner erblickt im Weibe 1930 gar ein Insekt, genauer: eine Gottesanbeterin, welche die Männer nach dem Liebesakt umbringt.

Direkt vergleicht Paul Delvaux anno 1940 die Geschlechter: Mit Blattwerk bekränzte, entkleidete Nymphen locken als rein körperhafte Naturwesen ins Freie. Etwas unsicheren Schrittes taucht dahinter ein Mann auf – im strengen Anzug, Zeitung lesend, vorsichtig über den Rand der Seite spähend. Dahinter steckt immer ein furchtsamer Kopf…

Ein weiterer Motivstrang zieht sich ebenfalls durch die Jahrzehnte und führt Frauen als puppenhafte Figuren vor Augen. Man weiß nicht, ob sie aus Fleisch und Blut oder künstlich sind. Auch diese Irritation führt stracks in die Gefilde des Unheimlichen. Als Belege dienen beispielsweise Fotografien von Man Ray und Hans Bellmer.

Betreut von einer Kuratorin (Christiane Heuwinkel), steuert die Schau im letzten Drittel zielstrebig auf ausgleichende Gerechtigkeit zu. Meret Oppenheim, Cindy Sherman, Valie Export und Louise Bourgeois erobern sich – mal traurig, mal zynisch – den „eigenen“ weiblichen Blick, nachdem frühere Generationen den Männern nur nachgeeifert hatten.

Kunsthalle Bielefeld (Artur-Ladebeck-Straße 5). 1. Sept. bis 18. Nov. Di/Do/Fr/So 11-18. Mi 11-20, Sa 10-18 Uhr. Einttritt 10 DM. Katalog 32 DM.




Henri Laurens und die Frau als „Bauwerk“ – eine Ausstellung in Bielefeld

Von Bernd Berke

Bielefeld. Er war ein „Späteinsteiger“ der Kunst: Erst mit etwa 30 Jahren fertigte der Franzose Henri Laurens (1885-1954) seine erste Skulptur.

Picasso hatte seine streng kubistische Phase schon vollendet und betrieb seine Formen-Analysen nun eher spielerisch, da begann Laurens gerade erst mit konzentrierten Untersuchungen dieser ästhetischen Materie. Vielleicht wollte er nachträglich und äußerst geduldig zur kubistischen Substanz vordringen, die den drangvoll-mühelosen Schöpfer Picasso nicht mehr zu interessieren schien.

So deutet es jedenfalls Bielefelds Kunsthallen-Direktor Thomas Kellein, der jetzt rund 60 Laurens-Arbeiten (überwiegend Plastiken) unter dem Titel „Frauenbilder, Frauenkörper“ präsentieren kann. Ungewohnt freigebig zeigte sich das Pariser Centre Pompidou: Sonst verleiht man nur ein bis zwei Werke pro Schau, diesmal sind es gleich elf.

Das Weibliche zog ihn hinan, es war sein zentrales Thema. Doch obwohl zumeist nackt dargestellt, ist die Frau bei Laurens weder lustvolles Luder noch gefährliche Verführerin, sondern vor allem anfangs eine Art „Bauwerk“, eine kubistische Konstruktion – mal dynamisch verschachtelt, mal zur Stille gelangt.

Der Künstler, solide ausgebildet als Baudekorateur, schuf immer wieder Frauenskulpturen mit sozusagen architektonischen Qualitäten. Gesichter und Leiber sind Stück für Stück aus Teilen gefügt wie Häuser oder gar Kirchen. Die Körper lassen tatsächlich so etwas wie Sockel, Raumfluchten, Fenster, Stockwerke, Erker und Dachgeschoss erkennen. Das Leben ist eine Baustelle…

Zwar füllte Laurens das kubistische Formen-Repertoire im Prinzip mit vitalen Wesen, doch seine Frauen sehen meist überzeitlich und überirdisch aus, als wollten sie sich abwenden von dieser Welt. Großartiges Beispiel ist „L’adieu“ (Der Abschied) von 1941. Geradezu embryonal in sich gekehrt sitzt diese schwer lastende Frauenfigur da, sie verbirgt ihr Antlitz vollständig. Mit dem täglichen Treiben will sie offenbar nichts mehr zu schaffen haben, sie ist wohl eine Mythenfigur des stummen Schmerzes.

Seit 1918 ließ Laurens seine bis dahin bevorzugten Materialien Holz und Blech beiseite und wandte sich dem Stein zu. Zugleich runden sich die Figuren zu üppigen Schwellformen, denen wiederum jede Erotik mangelt. Abermals scheint es so, als gehörten sie eigentlich in einen baulichen Kontext. So halten die drallen Damen ihre Hände bisweilen so unnatürlich flach über die Köpfe, als wären sie Stützfiguren, die einen Gebäudeteil tragen müssen. Und die Füße sind oft so verformt, als stießen sie an unsichtbare Wände.

Doch es gibt auch weniger zugerichtete, freiere Gestalten: In den 30er Jahren wirken Laurens Schöpfungen verspielter, die Skulpturen vollführen oft gleichsam tänzerische Gebärden, ihre Gliedmaßen geraten nahezu ornamental, sie verfließen freudig in die Lüfte.

Laurens war kein Mann für Jurys und Märkte. Er war vor allem ein Künstler für Künstler. Picasso, Léger, Archipenko und sein lebenslanger Freund Braque (mit ihren Frauen bildeten sie eine frohe „Viererbande“) schätzten ihn sehr. Doch der große Preis der Biennale in Venedig blieb ihm zweimal verwehrt. Künstlerkollege Alberto Giacometti war darob 1950 so verbittert, dass er seine eigenen Werke zurückzog. Und der greise Henri Matisse teilte seinen Preis für Malerei ausdrücklich mit Laurens. Eine generöse Geste von Genius zu Genius.

Henri Laurens: Frauenbilder, Frauenkörper. Kunsthalle Bielefeld (Artur-Ladebeck-Straße 5). 7. März bis 27. Mai. Geöffnet: tägl. außer Mo 11-18, Mi 11-21. Sa 10-18 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 28 DM. Internet: www.kunsthalle-bielefeld.de




Der Kult um den Besitz – Düsseldorfer Ausstellung erkundet Wechselströme zwischen Geld und Kunst

Von Bernd Berke

Düsseldorf. „Wir zeigen keine Aktenkoffer“, stellt Jürgen Harten gleich klar. Der langjährige Chef der Düsseldorfer Kunsthalle, inzwischen im Ruhestand, hat noch einmal eine große Schau an früherer Wirkungsstätte inszeniert: „Das fünfte Element – Geld oder Kunst“.

Der Titel sagt’s: „Mammon“ wird als so elementar begriffen wie Feuer, Wasser, Luft und Erde. Er breitet sich überall aus, macht sich alles Untertan – so mitleidlos das Lebendige niederdrückend wie auf jenem Gemälde von George Frederick Watts (1884). Gewiss: Geld setzt die Werte, doch Kunst setzt die Zeichen.

Keine Aktenkoffer also. Es wäre ja auch zu naheliegend. Nein, hier geht es ungleich subtiler zu: Zwischen archäologischen Kostbarkeiten, älteren und neueren Kunstwerken sowie Alltagsdingen werden Wechselströme im Spannungsfeld zwischen Kunst und Leben aufgespürt.

„Das Museum der höchsten Werte“

Die sechs Abteilungen der Ausstellung tragen so schöne Überschriften wie „Im Atelier des Kapitals“ oder „Das Museum der höchsten Werte“. Bestimmt auf der Basis anspruchsvoller theoretischer Überlegungen, jedoch vom Besucher eher flanierend und assoziativ zu erschließen, begegnen einander die Epochen ganz unmittelbar: Neben dem altägyptischen Kodex findet sich etwa eine Raum-Installation neuesten-Datums, oder kurz nach dem klassischen Tafelbild (besonders prägnant: Quinten Massys‘ „Der Geldwechsler und seine Frau“, 1514) trifft man auf eine Harley Davidson, Baujahr 1945, jene fahrbare Wertanlage mit Kultcharakter.

Es gibt Motive, sozusagen Wert-Zeichen, die durch all die Jahrhunderte gelten. Beispielsweise das Gold als archaisches Unterpfand des Reichtums. Rein wirtschaftlich ist es nicht mehr so bedeutsam, doch das kultische Wesen des Besitzes kommt in ihm zum reinsten Ausdruck. Wir sehen es als Lasur auf einer Mumienmaske, in Gestalt altrömischer Münzen, aber auch als Phantasie-Währung und als Goldfarbe auf fotografierten Gesichtern der Künstler Joseph Beuys oder Katharina Sieverding, die sich somit selbst zu glitzernden Kultobjekten stilisieren.

Die Warenform drängt zur seriellen Kunst

Den „Tanz ums Goldene Kalb“ vollzieht man hier freilich nur virtuell, indem man um einen 1995 von Jeffrey Shaw gestalteten Bildschirm herumgeht. Apropos: Auch das Rind, als Hinweis auf stattlichen Besitz und Zeugungskraft, zählt zu den uralten Reichtums-Symbolen mit sexuellem Anspielungspotenzial. Selbst die Kuhkopf-Tapete von Andy Warhol bezieht sich lässig auf diese Tradition.

Spürbar werden nicht nur die aus Religion und Künsten geborgten kultischen, sondern auch die vom Einzelstück abstrahierenden, gleichmacherischen Kräfte des Geldes. Senta Connerts Regale mit Hemden und Handtüchern (1998) oder ein Verkaufsraum voller Teddybären zeigen die Dinge in ihrer Warengestalt, welche zur seriellen Kunst drängt. Die Sachen werden wie in einer Fabrik vervielfacht und damit letztlich herabgewertet.

Roboter zerreißt Familienbilder

Erschreckend konkret wird derlei Entseelung in einer Maschine von Max Dean, deren Roboterarm sich nach festem Zeitraster Familienfotos (Hochzeiten, Urlaube etc.) greift und sie säuberlich zerschnitzelt. Sind menschliche Bindungen derart zerstört, offeriert sich die käufliche Lust: Edward Kienholz baute 1980 den „Playboy“-Flipperautomaten. Heftige Hüftbewegungen beim Abschießen der Kugeln kann man hier gleich in die Öffnung eines vom ans Gerät montierten weiblichen Torsos leiten…

Gnadenlos abstrakt und lebensfern wirkt die abgebildete Realität des alles regierenden Geldverkehrs: Laura Kurgan macht den unaufhörlichen Fluss weltweiter Devisenströme mit Hilfe des Reuters-Nachrichtendienstes in beängstigender Echtzeit als ein schier ewig weiter zitterndes Kurvenbild sichtbar. Vorher las man auf einer Tafel: „Nur noch 1017 Tage bis zum Ende des Kapitalismus.“ Es muss wohl Jahre heißen, oder?

Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz. Bis14.Mai. Di-So11-18, Fr 11-21 Uhr. Katalog 65 DM.




Mitten ins Herz der Angst – Die ganz besondere Welt der Louise Bourgeois in der Kunsthalle Bielefeld

Von Bernd Berke

Bielefeld. Wann erlebt man das schon: eine geradezu vibrierende Ausstellung, deren Aura einen sogleich erfaßt und betrifft? Wann? Jetzt in Bielefeld. Die Kunsthalle präsentiert eine famose Schau mit Werken der mittlerweile 87jährigen Louise Bourgeois.

Die in Paris geborene Amerikanerin war um 1949 Miterfinderin des Environments: Sanft und nachdrücklich eroberten ihre Kunst den umgebenden Raum. Wahrhaftig „entdeckt“ wurden sie erst in den späten 60ern, als bewegte Frauen sie dem Umkreis des Feminismus zurechnen wollten. So schnurgerade verhält es sich allerdings nicht. Louise Bourgeois hat sich vielfach dankbar über ihre Erfahrungen als Ehefrau und Mutter geäußert…

Gleichwohl attackierte sie die Kunstszene als Männerdomäne. Pioniere und Patriarchen wie André Breton, Max Ernst und Marcel Duchamp mißfielen ihr grundsätzlich. So mag etwa die kannibalische „Destruction of the Father“ (Zerstörung des Vaters, 1974) auch Resultat eines aggressiven, befreienden Aktes gewesen sein.

Doch solche Werke erschöpfen sich nicht in Zorn, sie besagen unendlich viel mehr. Zwölf Installationen und Skulpturen der letzten Jahre bilden den Kern der Bielefelder Auswahl. Hinzu kommen neue Zeichnungen, die das Themenspektrum – nicht minder intensiv – ins intimere Format überführen.

Geburt einer neuen Mythologie

Drei Figuren aus rissigem Textil liegen auf drei Rollwagen – offenbar Mutter, Kind und ein kläglicher Torso. Das Trio hat keine Arme. Ein Inbild der Hilflosigkeit, ja der Sterblichkeit. Rosarote Farbe betont zugleich das Fleischliche und Geschlechtliche dieser verformten Wesen. Schaut man eine Weile hin, so ist es, als dringe einem selbst ein Dorn in die Haut.

Ein großer Käfig mit Tür ragt in der Raummitte empor, drinnen steht ein Stuhl, außen kleben Gobelin-Fetzen. Auf all dem hat sich, wie aus einer fremden Schreckwelt herabgestürzt, eine überdimensionale Spinne breitgemacht. Auch das ist kein Spiel mehr, sondern ein Szenario aus dem Herzen der Angst. Und doch ist ein Schuß höherer Heiterkeit dabei.

Oder dies: Zwei schwarze Figuren, fast untrennbar miteinander vernäht, üben freudlos den Geschlechtsakt aus. Eines der vier Stoffbeine steckt in einer Metall-Prothese. Trostlosigkeit der Liebe im Alter, Unentrinnbarkeit des Partners? Vielleicht. Jedoch auch Innigkeit und Halt. Die Bedeutungen überblenden sich vielfach, als walte hier eine ganz besondere Alchemie.

Mit Worten ist solche Magie kaum zu fassen. Man muß vor oder in diesen Arbeiten stehen und gehen, z. B. in zwei roten Räumen, die verborgene Ängste und Lüste einer Kindheit heraufbeschwören. Unnachahmlich.

Auf dem Grat zwischen fremdartiger Schönheit und Ekel steht jene ganz vage rötlich schimmernde Marmorskulptur mit Hundepfoten und gleich sechs weiblichen Brüsten Geburt einer neuen, unerhört anderen Mythologie…

Bis 2. Mai in der Kunsthalle Bielefeld. Di, Do, Fr, So 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18, Sa 10-18 Uhr; Mo geschlossen. Katalog 45 DM.




Ganz fremd ist die Natur – Max Beckmanns selten gezeigte Landschaftsbilder in der Bielefelder Kunsthalle

Von Bernd Berke

Bielefeld. Selbst der Frühling oder Gestade unter südlicher Sonne leuchten hier nicht. Sie dämmern in aschig verfinsterten, vergrübelten Mischfarben vor sich hin. Manchmal ist’s noch schlimmer: Dann mutiert das vormals Liebliche in der Landschaft gleich zum unheilschwangeren Drama. Was ist bloß mit der Natur geschehen, die Max Beckmann (1884-1950) gemalt hat?

Landschaften? Jawohl. Beckmann wurde oftmals als Schöpfer kraftvoller Menschen-Bildnisse gewürdigt, besonders seine Selbst-Darstellungen gehören zum Kernbestand der Kunst dieses Jahrhunderts. Doch von den Ausstellungsmachern wurde fast gänzlich übersehen, daß nahezu ein Drittel des Gesamtwerks im weiteren Sinne unter den Begriff „Landschaft“ fällt. Mit einer aus Hamburg kommenden, rund 70 Gemälde umfassenden Schau wird nun auch in der Bielefelder Kunsthalle Versäumtes nachgeholt. Etliche Stücke dieser bedeutsamen Auswahl stammen aus Privatsammlungen und wurden so gut wie nie öffentlich gezeigt.

Vergitterter Blick, gewittrige Farben

Was also ist der Natur zugefügt worden? Der Ausstellungstitel deutet’s an: „Landschaft als Fremde“. Künstler des 20. Jahrhunderts können sich in Feld, Wald und Flur längst nicht mehr so heimisch und aufgehoben fühlen wie ihre Vorväter. Begab sich etwa ein Caspar David Friedrich noch kontemplativ gestimmt ins Freie, so malt Beckmann das Mißtrauen stets mit. Die Folgen rabiater Industrialisierung und zweier Weltkriege lassen keinerlei Weihestimmung mehr aufkommen. In den Zeiten solcher Katastrophen wären Idyllen ohne Bruchstellen nur noch Lüge.

Beckmann schafft, schon in seinen frühen impressionistischen Anfängen, in fast herrischer Weise Distanz zur Natur, er hält sie sich gleichsam mit Bollwerken vom Leibe. Es herrscht das Bildgesetz, nicht das Naturgesetz: Immer wieder vergittert und verbarrikadiert Beckmann (beispielsweise in den Meeres-Bildern) den Ausblick ins Weite, verengt dee Perspektive, faßt einzelne Dinge mit harten Pinselstrichen in dunkle Ränder ein.

Bedrohliche Nachtstücke aus Baden-Baden und Genua

Führen Wegstrecken durchs Gelände, so scheinen sie steil abwärts ins Nirgendwo zustürzen („Der Wendelsweg“, 1928 / „Waldweg im Schwarzwald“, 1937). Fensterausblicke wie jener auf eine „Winterlandschaft“ (1930) betonen den Abstand zum Gesehenen, ja den ganz grundsätzlich versperrten Zugang: Die aus den Fugen geratenen Holzrahmen zwingen der Gegend einen geradezu zerstörerischen Bildrhythmus auf.

Freude am Dasein glüht ganz selten auf und wenn, dann eher als trotzige Behauptung. Ansonsten nur Entfremdung. Selbst ein durchgrünter Kurort wie Baden-Baden wirkt hier unbehaglich. Unter Beckmanns Händen ist ein ebenso düster-bedrohliches Nachtstück daraus geworden wie „Der Hafen von Genua“ (1927), der in Schwärze schier ertrinkt.

Ein „Blick aus der Schiffsluke“ (1934) zeigt, nahezu abstrakt, nur grau in grau tobende Gischt. Herrscht schon sonst eine gewittrige Farbstimmung vor, so verdichtet die „Große Gewitterlandschaft“ (1932) diesen Grundton auf unerhörte Weise. Und die „Möwen im Sturm“ (Kriegsjahr 1942!) hocken wie groteske Geier da, wie letzte Überlebende auf Ausschau nach Fraß.

Auch die Technik bringt keinen Trost

Beckmann, von den Nazis als „entartet“ verfemt, hatte Deutschland damals längst verlassen. Von NS-Besatzern in den Niederlanden und Frankreich immer wieder eingeholt, flüchtete er schließlich in die USA, wo er sogar die unendliche Weite Colorados in enge Bildgitter preßte. Der hochfahrende Mann, der allenfalls Picasso neben sich gelten ließ, wollte sich wohl niemals imponieren lassen, sondern selbst imponieren.

Angesichts innerer Naturferne ist es nur konsequent, daß Beckmanns Stadtlandschaften in den Überblick einbezogen werden. „Der eiserne Steg“ (1922) zerschneidet Frankfurt und den Main mehr, als daß er den Fluß überbrückt. Anders als die Futuristen, begrüßt Beckmann die Technik nicht mit Euphorie. Erblickt man seine „ Schiffswerft“ (1946), so meint man gar den Stahl kreischen zu hören. Aufschrei einer naturlosen Welt.

Max Beckmann – „Landschaft als Fremde“. Kunsthalle Bielefeld. 29 November bis 14. Februar 1999. Di./Do./So. 11-18, Mi. 11-21. Fr./Sa. 11-20 Uhr. Mo. geschlossen. Eintritt 10 DM. Katalog 49 DM.




Krachlederne Verwirrung – Rauminszenierungen des Belgiers Guillaume Bijl in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Der Raum ist rundum mit roter Tapete ausgeschlagen, darauf prangen hier und da goldene Schriftzüge in altehrwürdiger Fraktur. Über der ganzen Szenerie liegt dezent gedämpftes Licht. Welch eine feierliche Einstimmung. Hier wird man bestimmt edle Dinge zu sehen bekommen. Und dann? Dann erkennt man an den Wänden acht alte und abgewetzte Lederhosen hinter Glas. Nanu?

Es will fast so scheinen, als trieben die Ruhrfestspiele mit ihrer Kunstausstellung diesmal argen Schabernack. Denn tritt man näher an die Schaustücke heran, so sieht man auch noch Messing-Schildchen, mit denen besagte Lederhosen bekannten Menschen zugeordnet werden: Eine soll angeblich der Verhaltensforscher Konrad Lorenz getragen haben, eine zweite habe der Dichter Stefan Zweig angezogen, weitere hätten dem Bergfex Luis Trenker oder dem CSU-Altvorderen Franz Josef Strauß gehört. Letzteres könnte beinahe wahr sein. Doch wer’s glaubt…

Seh-Erwartung wird gezielt unterlaufen

Wenn Seh-Erwartungen dermaßen gezielt unterlaufen werden, muß wohl Hintersinn im Spiele sein. Der weithin renommierte belgische Künstler Guillaume Bijl (Jahrgang 1946), vor Jahren auch schon mal im Dortmunder Ostwall-Museum präsentiert, hat für das vielteilige Arrangement mit den bajuwarischen Beinkleidern samt einschlägigen Dokumenten gesorgt. Die Arbeit beansprucht das gesamte Erdgeschoß der Recklinghäuser Kunsthalle. Betrachter sollen eben meinen, sie seien in ein wirkliches, offenbar erzkonservatives Museum mit volkskundlichen Exponaten geraten.

Mit geschickt eingefädeltem Sinnentrug geht’s in der ersten Etage raumgreifend weiter. Hinter einer Kordel-Absperrung und ringsum verlegten roten Teppichen liegt ein riesiger Stein ehrfurchtgebietend auf dem Sockel. Guillaume Bijl will uns glauben machen (und zugleich daran zweifeln lassen), dies sei ein Meteorit, der anno 1932 auf die Erde gestürzt ist. Info-Tafeln an den Wänden erläutern die „Hintergründe“ und verstärken den Eindruck der astronomischen Sensation noch. Potzblitz!

Im zweiten Stock sieht man schließlich drei plastische Szenen aus der Prähistorie des Menschen: „Steinzeitler“ beim Feuermachen, bei der Bärenjagd und bei der Höhlenmalerei, also gleichsam in der Geburtsstunde der Kunst. Hier verhält sich die Sache schon ein wenig anders, denn derlei nachgestellte Szenen aus der Vorzeit können ja auch im Fachmuseum nur vage Annäherungen an eine vermutete Wirklichkeit bedeuten.

Keine bloße Parodie auf Museen

Drei irritierende Ausflüge also in die Kultur-, Erd- und Menschheits-Geschichte. Guillaume Bijls Raum-Inszenierungen schillern zwischen chamäleonhafter Anverwandlung und Verfremdung. Es sind, wenn darin auch subtiler Humor aufleuchtet, beileibe keine bloßen Parodien auf tatsächliche Museen, sondern komplexe Zeichen-Systeme, die einen auf geradezu philosophische Fragen stoßen können: Wie verändern sich die Objekte, wenn sie im Museum gezeigt werden? Mit welchem Mitteln trügt der Schein? Was ist überhaupt echt und wahr, was ist falsch? Ist nicht jede bildhafte Darstellung geschichtlicher Tatsachen sowieso schon Erfindung, Kopfgeburt, Gedankenkonstruktion?

Spaß beim Sehen, Stoff zum Nachdenken. Was will man mehr?

Kunstausstellung der Ruhrfestspiele: Guillaume Bijl. 3. Mai bis 5. Juli. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Di-Fr 10-18Uhr, Sa/So 11-17Uhr. Katalog 35 DM.




Wo Deutschland am schönsten war – Reise-Impressionen von William Turner in Mannheim

Von Bernd Berke

Mannheim. „Deutschland ist schön.“ So tönte es uns sonor aus einer bayerischen Bierwerbung entgegen. Im 19. Jahrhundert, als die germanischen Gegenden wohl noch viel schöner gewesen sind, muß der berühmte englische Maler William Turner ähnlich gedacht haben.

Ob der des Deutschen kaum kundige Künstler vor den Landschaften zwischen Rhein, Donau und Elbe „marvellous !“ oder „wunderbar !“ ausgerufen hat, wissen wir nicht. Wir wissen aber, daß er in der nachnapoleonischen Zeit zwischen 1817 und 1844 gleich sieben Deutschland-Reisen unternommen und dabei Hunderte von Bildern angefertigt hat. Rund 150 Beispiele, vorwiegend Zeichnungen und Aquarelle, zeigt jetzt die Mannheimer Kunsthalle. Die Ausstellung (Versicherungswert: rund 80 Millionen DM) lohnt auch weitere Wege.

Im Verbund mit dem vorzüglichen Katalog vermittelt die Schau nicht nur ein bedeutendes Stück Kunsthistorie, sondern auch eine Geschichte des Reisens. Besonders Turners erste Touren ins kleinstaatlich zersplitterte „Deutschland“ (das es damals ja noch gar nicht als einheitliches Gebilde gab) müssen beschwerlich gewesen sein: Erst 1827 fuhren Dampfschiffe auf dem Rhein.

Strapaziöse Zeiten für einen Touristen

Zuvor ruderte man, setzte Segel, oder die Boote wurden vom Ufer aus mühsam mit Pferdekraft gezogen. Die Rheinlandschaften (ab Köln südwärts) waren alsbald Turners Lieblingsrevier, später kamen vor allem die Gestade von Mosel und Neckar hinzu. Zumal die grandiose Schloßkulisse Heidelbergs hatte es dem Engländer angetan. Vergleichbar häufig hat er nur noch die imposante Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz skizziert. Auch Hamburg, Berlin, München, Nürnberg und Dresden hat sich Turner angesehen. Eigentlich hat er nur um Westfalen und Niedersachsen einen weiten Bogen gemacht.

Turner war sozusagen als Rucksacktourist mit leichtem Gepäck unterwegs, vielfach stramm zu Fuß. Also konnte er keine großen Ölbilder auf sperriger Staffelei malen, sondern füllte Skizzenbücher und aquarellierte. Aber wie! Was vielen der damaligen Kritiker „verschwommen“ vorkam, erwies sich später als genialer Vorgriff auf impressionistische Luftigkeit. Waren die frühen Bilder noch deutlich vom romantischen Zeitgeist geprägt, so befreite sich Turner Zug um Zug von solcher Beschränkung. Nun entstanden veritable Farbwunder wie etwa bei der besagten Festung Ehrenbreitstein, die im wechselnden Tageslicht gleißt und zauberisch illuminiert wird.

Goldener Frieden und Überfluß

Nach den am Ort hingehauchten Skizzen und Vorarbeiten (im Nachlaß fanden sich etwa 5000 Blätter mit deutschen Motiven) entstanden daheim in England zahlreiche Stiche und Ölbilder, von denen Mannheim ein grandioses Beispiel präsentiert: „Heidelberg“ (Öl auf Leinwand, 1844/45) ist die rückwärtsgewandte Utopie einer rauschenden Festlichkeit vor rekonstruiertem historischen Hintergrund. Ein Bild, aus dem goldener Frieden und Überfluß geradezu quellen. Ach, wenn es doch in Deutschland seither immer so gewesen wäre!

William Turner in Deutschland. Kunsthalle Mannheim (Anreise per Bahn ratsam, Fahrzeit ab Dortmund ca. 3 Stunden 45 Minuten). Ausstellung bis 14. Januar 1996 (anschließend Kunsthalle Hamburg). Geöffnet di/mi 10-17, do bis so 10-18 Uhr, montags geschlossen. Eintritt 12 DM, Katalog 49 DM.

 




Emigrant zwischen Entsetzen und Idylle – Bilder von Oskar Kokoschka in Bielefeld

Von Bernd Berke

Bielefeld. Auch wenn man gern lebt, wo man lebt, wird einem manchmal die eigene Welt zu eng. Dann muß man hinaus ins Weite. Man kann den Reisedrang des Künstlers Oskar Kokoschka (1886-1980) also verstehen, der schon in jungen Jahren aus der vermeintlichen Starre Wiens ins damals so bewegte Berlin flüchtete und den es dann auch in Dresden nicht hielt.

Seine späteren Fluchten (nach Prag und London) wurden ihm allerdings von den Nazis aufgezwungen. Doch Kokoschka wurde mit der Situation seelisch besser fertig als andere Emigranten. Vor allem um diese Zeit geht es jetzt in einer Ausstellung der Bielefelder Kunsthalle.

In den frühen 30er Jahren ergeht sich Kokoschka noch in schieren Idyllen: „Mädchen mit Blumen“, „Mädchen mit Gans im Korb“, „Mutter und Kind“ – Motive und Ausführung könnten einem Hausbuch deutscher Innerlichkeit entnommen sein. Unverkennbar der Hang, die Farbe im Wortsinne „dick aufzutragen“. Es wirkt, als sei der Künstler noch etwas unsicher gewesen und als habe er dieses Manko mit selbstbewußten Gebärden überspielen wollen.

Als er vor den NS-Machthabern, die ihn auf der schrecklichen Liste „Entarteter“ Künstler führten, nach Prag emigrierte, gewann sein Werk nicht sogleich an Schärfe. In der „goldenen Stadt“ widmete er sich ausgiebig dem Genre des Stadtporträts und suchte dabei nicht Hinterhöfe auf, sondern bevorzugte Postkarten-Perspektiven auf die Moldau, deren Ufer von Türmen und Brücken gesäumt wurden.

Manche Arbeiten durchflutet noch weiches Impressionisten-Licht, dann jedoch steht man vor „Prag – Blick von der Villa Kramár“ (1934/35). Hier hat sich die Szenerie gewandelt, der Himmel über Prag erscheint schrundig aufgerissen, als stünde das Jüngste Gericht bevor. Aus den Farben ist jede Lieblichkeit gewichen wie Blutröte aus einem entsetzten Gesicht.

Das „rote Ei“ und die Politik

Doch Kokoschka ist kein ausschließlicher Künder des Unheils geworden. Er schildert weiterhin auch die hellen Seiten des Lebens. Bilder wie „Nymphe“ und „Aktstudie“ (1938) belegen es. Vier Jahre bleibt er in Prag. 1938 kann er gerade noch vor den anrückenden deutschen Truppen nach London flüchten. Erneut malt er dort Stadtansichten, nur daß es diesmal die Themse ist, die unter den Brücken hindurch fließt. Machtvoll gehen die Blicke von oben herab in die Ferne, als schaue ein Herrscher auf seine Ländereien.

In London findet Kokoschka dennoch zu einer für ihn ganz neuen Ausdrucksform: der politischen Allegorie, also der bildhaften Darstellung sprachlicher Begriffe. Da steht etwa eine absurde Tischgesellschaft, bei der „Das rote Ei“ (1940/41) auf dem Teller liegt, für die Machenschaften beim „Münchner Abkommen“, mit dem England – zum Schaden der Tschechoslowakei – Hitler „besänftigen“ wollte.

Kokoschka greift nun häufig auf karikaturistische Mittel zurück, was seinen späteren Porträts zugute kommen wird: Er hat Illusionen verloren und kommt der inneren Wahrheit näher.

Oskar Kokoschka. Emigrantenleben – Prag und London, 1934-1953. Kunsthalle Bielefeld. 20. November bis 19. Februar 1995. Katalog 59 DM.




Im Schattenreich der Lüste – Ausstellungen über Toulouse-Lautrec und Hopper in Bremen

Von Bernd Berke

Bremen. Die Dame hat ihre Lippen ganz leicht gekräuselt und gestülpt. Zeichen einer bloßen Augenblickslaune? Nicht, wenn einer wie Henri de Toulouse-Lautrec hingeschaut hat. Sein Blatt „In den Vierzigern“ fängt den Zustand einer ranzig gewordenen Ehe in der unscheinbaren und doch vielsagenden Mimik eines Moments ein.

234 Lithographien umfaßt die großartige Ausstellung der Kunsthalle Bremen: Da sind sie alle beisammen – die verderbten Königinnen der Nacht, die etwas schäbigen Priesterinnen der Gier, dazu ihre Kunden und Kavaliere, zumeist fettwanstige Wüstlinge. Manche der Frauen wirken, als seien sie – nach vielerlei Ausschweifung – tief in ihrer Seele über alles Weltliche und Männliche erhaben.

Fasziniert und und angewidert

Das Panoptikum der „Pariser Nächte“ zwischen 1890 und 1901 zeigt keineswegs unvermischte Lebensfreude, sondern auch die Schatten der Lüste. Toulouse-Lautrec (1864-1901), der seit Kindheit krüppel- und zwergenhafte Mann, war als teilnehmender Beobachter in den Pariser Etablissements wohl zugleich fasziniert und angewidert vom sündigen Leben.

Um 1890 hatte ToulouseLautrec seinen unverkennbaren Stil längst gefunden. In der Kunsthalle plagt man sich daher nicht mit dem sinnlosen Unterfangen ab, Entwicklungslinien nachzuzeichnen. Man hat die Arbeiten stattdessen nach „Schauplätzen“ gruppiert: Theater- und Chanson-Bühnen, Vergnügungslokale, Bordelle usw.

Die Plakate von Toulouse-Lautrec gehören zum bildlichen Allgemeingut. Angeregt von japanischen Farbholzschnitten, hat der Franzose einen so souveränen Umgang mit menschlichen Silhouetten, formaler Staffelung, entschlossener Linienführung und Schriftzügen erlangt, daß die Wirkung bis heute anhält. Ob er nun Sensationen im „Moulin Rouge“, Auftritte von Größen wie Aristide Bruant und Jane Avril oder Theaterprogramme ankündigt – es sind stets, wenn es so etwas wie Analogie zu Ohrwürmern gäbe, „Augenwürmer“.

Nicht minder herrlich auch die vielen kleineren, oft skizzenhaften Blätter. Sie wirken unterschwellig, aber ebenso nachhaltig. Da ist zum einen das variantenreiche Licht- und Schattenspiel, besonders um die Augenpartien. Umschattete Blicke, rastlos, unbefriedigt, übernächtigt. Toulouse-Lautrec hat die erotischen Strategien der Näherung und der Lockung, aber auch der Abwehr, der Verstoßung und des Verwelkens unglaublich genau eingefangen. Gelegentlich findet er zu großer formaler Kühnheit. So etwa, wenn er eine in Paris gastierende amerikanische Tänzerin „nur“ als furiose Farbwolke darstellt. Der Wirbel mit Seidenschleier wirkt beinahe abstrakt.

Hoppers Denkmäler der Einsamkeit

Wenn man in Bremen ist, sollte man sich keinesfalls eine zweite Ausstellung entgehen lassen: druckgraphische Werke des Amerikaners Edward Hopper (1882-1968) im Kunstforum am Markt. Die Radierungen, Zeichnungen und Aquarelle des mittlerweile sehr populären Hopper stammen aus dem Whitney Museum of American Art.

Starker Kontrast zu Toulouse-Lautrec: Nach dessen bevölkerten Metropolen-Szenen sieht man nun Meer, Weite, Stadtwüste, vereinzelte Menschen. Hier sind die Nächte nicht gleißend, sondern funzelig. „Somewhere in France“ heißt, beinahe programmatisch, ein Bild – irgendwo in Frankreich. In einem solchen „Irgendwo“ verlieren sich Hoppers Figuren immerzu. Bei ihm ist der Mensch mit sich und seinen unerfüllten Sehnsüchten allein, selbst Gebäude wirken wie einsame Monolithen.

Elegischer Hang zum Unerreichbaren findet Ausdruck in ziellosen Passagen, Bootsfahrten in endlose Weite und Bahnstrecken, die ins Nichts zu führen scheinen. Unvergeßlich, wie intensiv Hopper die Körper zu wechselnden Tageszeiten herausmodelliert – wie unumstößliche Denkmäler des Alleinseins:‘

Toulouse-Lautrec: „Pariser Nächte“. Kunsthalle Bremen (Am Wall 207). Bis 22. Januar 1995. Di-So 10-20 Uhr. Eintritt Sa/So 15 DM. Wochentags 12 DM. Katalog 48 DM.

Edward Hopper: „Night Shadows“. Bremen, Kunstforum am Markt (Langenstr. 2 / Nähe Rathaus). Bis 30. November. Di/Mi 10-18, Do 10-21, Fr-So 10-18 Uhr. Eintritt 10 DM.




Auf übermalten Bildern sieht man mehr – Arnulf Rainer, sein „Markenzeichen“ und die brachialen Witzbolde von Wien

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Solche Kapriolen schlägt der Kunstbetrieb: Da hat Arnulf Rainer sich zum Markenzeichen erkoren, fremde Bilder zu übertünchen – und dann kommen just in seiner Heimatstadt Wien schurkische Scherzkekse daher, die seine längst teuer gehandelten Übermalungen ihrerseits übermalen. Jetzt sind 64 Arbeiten Rainers in Recklinghausen zu sehen – willkommene Lehrstücke zu einer Geschichte, die sich wie ein Witz anhört.

Arnulf Rainer (Jahrgang 1929) ist nicht irgendein vom Markt gehätschelter Schmierfink, der sich über die Sachen anderer Leute hermacht und sie wahllos zukleistert. Die Übermalung ist zunächst sein probates Mittel, die in der Malerei seit jeher grassierende Angst vor der leeren Leinwand zu überspringen. Außerdem verwendet Rainer als Bildgrund fast immer Reproduktionen, z. B. von Fotos oder alten Stichen. Die wird er ja wohl noch bepinseln dürfen!

Vor allem aber: Wenn Arnulf Rainer ein Bild übermalt hat, dann ist es nicht einfach unter Farbe verschwunden, sondern tritt auf wundersame Weise meist deutlicher zutage. Verbergen heißt zeigen. Beispiel: „Königsee“. Eine Postkartenidylle der tausendfach gesehenen Art, man guckt gar nicht mehr richtig hin. Wenn diese Landschaft aber zwischen Rainers Farbströmungen schemenhaft auftaucht, bekommt sie eine flirrende, fast übernatürliche Aura.

Auch Christus am Kreuz ist durch die Jahrhunderte zu einer Art Klischee geworden, man nimmt seine Leiden kaum noch wahr. Wenn Arnulf Rainer in wilder Manier durch die religiöse Szenerie gefahren ist, wird sie wieder zur spannungsvollen Provokation. Ähnliche Wandlung erfahren jene gesichtslos-anonymen Bilder von Katastrophen wie etwa Schiffs-Unglücken.

Eine weitere Bilderserie in Recklinghausen zeigt Übermalungen von (relativ harmlosen) erotischen Fotos. Auch hier herrscht das Verdeutlichungs-Prinzip: Massenware und billiger Abklatsch lebt durch Nachbehandlung neu auf, das Immergleiche wird durch den Akt des Malens zum Einmaligen.

Arnulf Rainer arbeitet in erregten, expressiv und explosiv gestimmten Seelenzuständcn. Früher hat er sich mit Alkohol, Drogen und Tabletten befeuert. Doch diese Zeiten sind lange vorüber. Er hat gewissermaßen Routine in Sachen Ekstase erlangt. Mit den Jahren ist er auch formal treffsicher geworden. Deshalb muß er nicht mehr so viel Mißratenes abtun wie ehedem.

Meist sucht er den ganz direkten Weg vom Körper zur Leinwand, gelegentlich läßt er auch Pinsel oder Spachtel beiseite und malt mit schmerzenden Fingern auf die immer rissigere Leinwand. Dann rinnt schon mal echtes Blut aufs Bild…

Vorbilder des Schaffensrausches mit getrübtem Bewußtsein hat Rainer in bildnerischen Entäußerungen von Geisteskranken gesucht. Er hat solche Arbeiten gesammelt. Unter dem Titel „Outsiders“ (Außenseiter) werden Werke aus dieser Kollektion – parallel zu Rainers Kunsthallen-Schau – im Vestischen Museum gezeigt. Es sind Seelen-Schreckbilder, die ohne Selbstkontrolle zum Ausdruck finden.

Arnulf Rainer. Kunsthalle Recklinghausen, am Hauptbahnhof / „Outsiders“ – Bilder von Geisteskranken. Vestisches Museum, Recklinghausen, Hohenzollernstr. 12 – Beide Ausstellungen: 18. September bis 6. November, di-fr 10-18 Uhr, sa/so 11-17 Uhr. Kataloge 35 bzw. 15 DM.




Von der Pflanzung zur Mauer aus Backstein – Neuere Arbeiten von Per Kirkeby in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wer kann aus 8800 Backsteinen ein Kunstwerk fabrizieren? Natürlich Per Kirkeby. Der mehrfache documenta-Teilnehmer aus Dänemark ist mit machtvollen Skulptur-Bauten aus diesem Material zu einiger Berühmtheit gelangt. Die Ausstellung der Ruhrfestspiele gibt Einblicke in den Entstehungsprozeß solcher Werke.

Die Kunsthalle Recklinghausen ist als ehemaliger Weltkriegsbunker sehr geeignet für die schwere und steinige Kunst, denn eine tragfähigere Statik dürfte kaum zu finden sein. Und so war es denn auch kein technisches Problem, im ersten Stockwerk besagte Tausendschaften von Backsteinen nach Kirkebys Anweisungen zu einem kreuzförmigen Geviert zu mauern.

Könnte man das Werk von oben betrachten, sähe man vier steinerne Arme, die ausgreifen wie Windmühlenflügel. Da aber die mit Türdurchbrüchen versehenen Mauerteile vor dem Betrachter vier Meter hoch bis zur Decke aufragen, nimmt man sie eher als irritierendes Gehäuse wahr und fragt sich verwundert, wie es um Regelmaß und Symmetrie bestellt ist – ein Seh- und Geh-Abenteuer zwischen Architektur und Skulptur. Nach der Ausstellung wird diese Arbeit übrigens komplett abgerissen. Das scheinbar so Festgefügte erweist sich mithin als flüchtiger Ort. Man könnte tiefsinnige lebensphilosophische Gedanken daran knüpfen .. .

Auch in Recklinghausen ereignet sich, was immer der Fall ist, wenn Kirkeby (55) selbst die räumlichen Positionen seiner Kunst bestimmt: Das Innere des Museums wird so nachhaltig verändert und verfremdet, daß es selbst zum Ausstellungsstück mutiert.

Vielleicht ein neues Wahrzeichen für die Stadt 

Eine Besonderheit der Ruhrfestspiel-Schau besteht darin, daß sie die überraschenden Wege nachzeichnet, auf denen Kirkeby zu seinen anfangs immer etwas abweisend und monoton wirkenden Backstein-Aufbauten gelangt. Anhand von kleinen Modellen aus schwärzlich schimmernder Bronze, die den Ziegel-Monumenten stets vorausgehen, erkennt man jene Spuren innig beseelter Handarbeit, die man den auf öffentlichen Plätzen postierten Resultaten später nicht mehr anmerkt, ja, die man als Ursprung nicht einmal vermuten würde.

Es zeigt sich, daß an der Ideen-Quelle das unmittelbar Sinnliche und Vorbilder aus der Natur noch eine große Rolle spielen. Belege dafür sind auch jene 20 Monotypien (spezielle Form der Druckgraphik, bei der nur Unikate entstehen), die man ohne Kenntnis der Dinge nicht gerade Per Kirkeby zuordnen würde. Denn sie zeigen zarte, vegetabile, also pflanzliche Wachstumsformen. Pflanzung als naturwüchsiger Vorläufer des Bauens also. Ein beinahe ins Mystische weisender Vorgang.

Unterdessen zeichnet sich ab, daß die Stadt Recklinghausen mit Sponsorenhilfe zu einem großen Wahrzeichen kommen wird. Auf dem Platz am Lohberg – einem Kriegerdenkmal vis-à-vis – kann eine 25 Meter breite Ziegelstein-Skulptur von Kirkeby ihren festen Platz finden. Es wäre wohl eine Pilgerstätte der Gegenwarts-Kunst, kaum minder bedeutsam als Richard Serras Stahlskulptur „Terminal“ am Bochumer Hauptbahnhof.

Per Kirkeby. Kunsthalle Recklinghausen (Ruhrfestspiel-Ausstellung). Eröffnung Sa., 7. Mai (17 Uhr). Bis 17. Juli, di-fr 10-18, sa/so 11-17 Uhr. Katalog 35 DM.




Die Lust am Weibe und die Angst dabei – „Picassos letzte Bilder“ in der Kunsthalle Bielefeld

Von Bernd Berke

Bielefeld. Der Mann war 1966 immerhin schon 85 Jahre alt und hatte eine schwere Operation hinter sich. Doch kaum war er halbwegs genesen, ergriff auch schon wieder seine alte Passion von ihm Besitz: die Lust am Weibe, vermischt mit allerlei Angst. Und natürlich die unbändige, unerschöpfliche Lust an der Kunst. Der Mann hieß Pablo Picasso.

„Picassos letzte Bilder“ aus den Jahren 1966 bis 1972 präsentiert jetzt die Bielefelder Kunsthalle. Das Institut kann an eine spezielle Tradition anknüpfen. In den letzten Jahren zeigte man die Ausstellungen „Picassos Todesthemen“, „Picassos Klassizismus“ und „Picassos Surrealismus“. Doch von Übersättigung kann keine Rede sein. In diesem Werk lassen sich eben immer wieder neue Aspekte freilegen.

Nun also das bildnerische Finale eines reichen Lebens. Und es ist groß und vital wie je zuvor. Treibende Themen: ewige Lockung und tiefe Kluft zwischen den Geschlechtern. Selbst „Der Kuß“ (1969) bewirkt eine .schreckliche Verformung der Gesichter, er ist ein gewaltsamer Akt. Und sogar die „Blumenvase auf einem Tisch“ (1969) ist nicht so harmlos. Auch dieses Bild handelt von geschlechtlicher Wirrnis, wenn auch im botanischen Gewande.

Andere Arbeiten sind dafür deutlich, bewegen sich im Grenzgelände der Pornographie. Keineswegs nur zu zweit gesellt man sich da. Picassos letzte Gefährtin soll schamhaft einige Blätter vernichtet haben. Wie eine Wunde klafft vielfach das Geschlecht der Frau, zum bedrohlichen Verschlingen bereit. Oft ärmlich hingegen das männliche Pendant. Um eine Formulierung von Hans Magnus Enzensberger zu verwenden: „Eine Hutzel zwischen den Beinen.“

Keine „Waffengleichheit“ der Geschlechter

Hier herrscht offenbar rundweg keine „Waffengleichheit“ zwischen den Geschlechtern. Ob als erotische Gespielin oder als Mutter – die Frau scheint stets übermächtig. Welch eine Verrenkung des Mannes beim „Ständchen“ (1967) für das begehrte Mädchen. Scheint ganz so, als mache er sich zum Narren, um ihre Gunst zu erringen. Und manchmal gerät dann der vermeintliche Herr der Schöpfung in Harnisch: Der „Mann mit Helm und Schwert“ hat sich gewappnet – gegen die Versuchung?

Die Körperlichkeit gibt sich angriffslustig. Die Leiber sind nach vorn, zum Betrachter hin gekippt und gleichsam aufgeklappt wie offene Bücher. Wovor also fürchten sich jene Porträt-Gesichter mit den weit aufgerissenen Augen? Haben sie Angst vor dem offenen Schlund, in dem sich auch der Tod verbergen könnte?

Vielfältig die Farbpalette: erstaunlich das aggressive Fleisch- und Flammen-Rot. Anderes wird ins Schwärzeste getaucht. Wechselbäder. Heftige Stimmungsumschwünge. Auch im Alter hat Picasso davor keine Ruhe. Nicht auszumalen, wenn er die Kunst nicht hätte! Doch so wird aus der sexuellen Bedrängnis ein Kraftquell, der lebendig hält.

Die Bielefelder Auswahl umfaßt rund 40 Gemälde, 20 Zeichnungen und einige Lithographien. Nicht mit Masse, sondern mit erlesener Qualität wolle man prunken, so Kunsthallen-Direktor Ulrich Weisner. Das etwa 1,7 Mio. DM teure Unternehmen sei eine finanzielle „Zitterpartie“. Fast entschuldigend fügt Weisner an, selbst in Zeiten wie diesen müsse man wohl solche kostspieligen Ausstellungen wagen. Wohin sind wir geraten, daß man für Picasso um Verzeihung bitten muß, als handele es sich um ungebührlichen Luxus?

„Picassos letzte Bilder“. Kunsthalle Bielefeld. Artur-Ladebeck.-Str. 5 – 0521/51 24 79). Bis 30. Januar 1994. Tägl. außer Mo 11-18, Do 11.21 Uhr, Sa 10-18 Uhr. Katalog 59 DM. Eintritt 10 DM, ermäßigt 5 DM, freitags freier Eintritt.




Einen Turm bis in die Wolken bauen – Wladimir Tatlin: Der Künstler und die russische Revolution

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Einen Turm bis in die Wolken bauen oder auf einem geflügelten Fahrrad durch die Lüfte segeln – solche übermenschlichen Träume weckte die Sowjet-Revolution bei dem Künstler Wladimir Tatlin (1885-1953). Die Düsseldorfer Kunsthalle zeigt als „Weltpremiere“ (Direktor Jürgen Harten) eine umfangreiche Werkschau des Russen.

Große Überraschung: Tatlin, der doch weithin als Bannerträger der Revolution galt, hat – bis auf eine recht begrenzte Phase – vorwiegend konventionell gearbeitet. In seiner Frühzeit versenkte er sich in Blumen-Stilleben, vertrat dann heftig Positionen der Moderne, wandte sich aber schon nach einigen Jahren wieder Porträts und Landschaften zu. Es war offenbar eine erzwungene Anpassung an die Zeitläufte: Kühne Traum-Konstruktionen waren im erstarrten Sowjet-Reich nicht mehr genehm. Sie hätten die Menschen daran erinnern können, daß das Leben viel Besseres zu bieten hat als aschgrauen kommunistischen Alltag oder gar finsteren Stalinismus.

Im Vor- und Umfeld der Revolution ergießt sich Tatlins Kunst geradezu in die erhoffte Zukunft hinein. Selbst eine Aktdarstellung („Weibliches Modell“, 1913) wird in jener Phase zum Fanal: Der Frauenleib schraubt sich dynamisch und selbstgewiß in den Raum – körperliche Vorform jenes Turms zu Ehren der „III. Internationale“, der Tatlin berühmt gemacht hat.

Optimismus oder Anmaßung?

Das schneckenförmige, himmelstürmende Gebilde, in Düsseldorf als Rekonstruktion zu sehen, sollte zum Ruhme des Sozialismus 400 Meter in die Höhe ragen, ist aber nie gebaut worden. Es wäre vielleicht eine Art zweiter Turm zu Babel geworden, Zeichen eines grandiosen Optimismus, der in Anmaßung umschlagen kann.

Bewegliche Teile im Turm sollten sich nach bestimmten Zeitmaßen drehen – wie bei einer gigantischen Uhr, die dem Menschengeschlecht anzeigte, daß die Stunde der Befreiung vom Kapitalismus geschlagen hatte. Eine Kunst, geboren auch aus dem Geiste der Physik, gedacht für ein „wissenschaftliches Zeitalter“. Von Ideologie einmal abgesehen, kann man sich der formalen Faszination auch heute nur schwer entziehen.

Ähnlich bemerkenswert auch das Luftfahrrad, das Tatlin nach sich selbst benannte („Letatlin“) und mit Gebrauchsanweisungen versah. Auch diese Erfindung zeugt davon, daß der „neue Mensch“ über die Wolken hinaus zu den Sternen strebt. Wie war das noch mit Dädalus und Ikarus: Gab es da nicht einige Pannen? Turm und Fahrrad bilden das optische Zentrum, jedoch nicht das Schwergewicht der Schau. Die zahlreichen Bühnenbild-Entwürfe belegen, daß Tatlin über enorme szenische Vorstellungskraft verfügte.

Typisierungen fürs Theater

Seine gezeichneten Figurinen, Anschauungsmaterial für Theaterrollen, stehen für eine entschiedene Typisierung, die freilich böswillig auch schon wieder als Entindividualisierung im Sinne eines gesichtslosen Kollektivismus mißdeutet werden könnte. Ganz anders die Porträts im späteren Werk: Hier bekommt der Einzelmensch sein Antlitz wieder zurück.

Tatlin hatte seine liebe Not mit den Sachwaltern der kommunistischen Kunstlehre. Arbeiten wie seine „Konterreliefs“ aus Holz, Metall und Schnüren, die aus der Bildfläche hervortraten und als Objekte in den Raum vorstießen, waren den Herrschaften nicht realistisch geschweige denn heroisch genug. Trotzdem halten manche nun der Kunsthalle vor, „in diesen Zeiten“ einen Kommunisten zu präsentieren. Kommentar überflüssig.

Eine stille Sensation verbirgt sich hinter der Ausstellung. Im Vorfeld wurde enorme Forschungsarbeit geleistet. Listete das bisher größte Werkverzeichnis nur 50 gesicherte Tatlin-Arbeiten auf, so sind es nun über 1300. Davon sind in Düsseldorf rund 320 zu sehen.

Wladimir Tatlin. Retrospektive. Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz 4. Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 39 DM.




Jannis Kounellis: Die Kunst erhebt sich aus der Asche

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wir sind hier nicht in der Luxus-Abteilung: Drahtgitter, verschmutzte Leinensäcke, rostender Stahl, nackte Glühbirnen. Bruchstücke von Kohle. Bei Jannis Kounellis scheint die Kunst beinahe buchstäblich in Sack und Asche zu gehen.

Ist Kounellis ein Büßer inmitten der genußsüchtigen Konsumwelt, eine asketische Gegenfigur etwa zu Andy Warhol, dem Schöpfer der schicken Oberflächen; hingegen ein Bruder des Herrn Joseph Beuys mit Fett und Filz?

Der weltbekannte Kounellis, dem die Ruhrfestspiele jetzt eine große Einzelausstellung widmen, stammt aus Piräus/Athen. Seit vielen Jahren lebt er in Rom. Zeugnisse der Antike umgeben ihn, seit er die Augen aufschlug. Vielleicht wirken deshalb manchmal die Materialien, die er benutzt, als seien sie aus vagen Vorzeiten übrig geblieben, als habe keine Künstlerhand sie je berührt.

Doch gewiß hat das alles mit uns zu tun und gehört ganz ins Heute: Da steht etwa ein schlichtes Eisenbett, belegt mit staubigen Decken. Eine Asyl-Szenerie? Nur nicht vorschnell das Naheliegende hinzudenken. All das will erst einmal ausgiebig betrachtet sein. Freilich: Schräg gegenüber hängen einige ausgebeulte Mäntel. Tatsächlich könnte es also um das Thema Bleibe und Flucht gehen. Doch Vorsicht! Kounellis entwirft keine bildhaften Situationen, um damit etwas zu kommentieren. Er baut Energiefelder. Und in denen erhebt sich die Kunst, die doch in Sack und Asche zu gehen schien, zuweilen wie ein Phönix.

Kohlestücke, sorgsam nach Größe mit Drähten eingefaßt, hängen von der Decke herab. Rätselhaftes Rudel. Was von ganz unten, tief aus dem Bauch der Erde kommt, schwebt plötzlich über dem Betrachter. Dann findet man Kohle auf Stahlplatten wieder. Das „schwarze Gold“ ist nun so angeordnet, daß es wie eine urtümliche Schrift wirkt: ein Stück – ein Wort; zwei oder drei Stücke – ein Satz.

Kohle und Stahl. Da war doch was? Tatsächlich hat sich Kounellis vor dieser Ausstellung im Ruhrgebiet umgetan. Und tatsächlich passen diese Montan-Materialien wie angegossen zu seiner „arte povera“, jener „armen Kunst“ also, die sich mit unscheinbaren Stoffen begnügt. Es ist, als habe er von jeher damit gearbeitet. Mehr noch: Die Kunsthalle Recklinghausen, ehemaliger Weltkriegs-Bunker, eignet sich in ihrer etwas rohen Anti-Architektur hervorragend gerade für diese Ausstellung. Kounellis hat sogar dafür gesorgt, daß nachträgliche Einbauten, Ecken und Kanten in der Kunsthalle wieder entfernt wurden.

Erstmals geben die Ruhrfestspiele einem einzelnen Künstler solch breiten Raum. Das war eine weise Entscheidung. Denn Werke von Kounellis kommen erst wirklich zur Geltung, wenn sie ungestört einen ganzen Ort „besetzen“ und durchdringen können.

Jannis Kounellis. Kunstausstellung der Ruhrfestspiele. Kunsthalle Recklinghausen. 2. Mai bis 11. Juli. Di-Fr 10-18 Uhr, Sa/So 11-17 Uhr. Katalog 35 DM.




Durch die Hölle in das sittsame Leben – Graphik von Hogarth und Chodowiecki in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Die Tugend kann man den Menschen auf zweierlei Art beibringen: Entweder malt man die Freuden sittsamen Lebens aufs Schönste aus (und flunkert dabei notfalls ein bißchen) – oder aber man läßt die Leute tief in den Höllenschlund des Lasters blicken, auf daß sie womöglich zurückschrecken.

William Hogarth (1697-1764) hat den zweiten Weg gewählt und damit allzeit gute Geschäfte gemacht. Als Raubdrucke seiner Bilder überhand nahmen, setzte er sogar ein frühes Copyright durch.

Nehmen wir Hogarths Radierungszyklus „Die Stufen der Grausamkeit“ als Extrembeispiel. Schon im ersten Bild quälen einige Rabauken Katzen und Hunde. Die weitere Beschreibung ersparen wir uns. Weiter als das vierte Bild gehen wohl auch Horrorvideos nicht. Ein gravierender Unterschied: Hogarth wollte den heilsamen Schock, durch Schreckensbilder wollte er gerade die Moral befördern. Aus heutiger Sicht könnte man argwöhnen: Hier haben einen Künstler schon die ersten Zweifel an der Aufklärung und ihrem Menschenvertrauen beschlichen.

Die Kunsthalle in Wuppertal-Barmen verknüpft ihren Überblick zu Hogarths Graphik mit Blättern von Daniel Chodowiecki (1726-1801), gleichfalls aus Eigenbesitz. Rund 370 „Sittenbilder des 18. Jahrhunderts“ (Titel der Schau) sind zu sehen.

Chodowiecki, gefragter Buchillustrator und mit Goethe bestens bekannt, ist weit weniger drastisch als Hogarth, ja seine Arbeiten wirken vergleichsweise lieblich. Derlei Unterschiede spiegeln nicht zuletzt den Entwicklungsstand der Metropolen London und Berlin. Während an der Themse schon damals ein „heißes Pflaster“ war, ging es an der Spree idyllisch zu.

Zurück zu Hogarth, denn das Laster ist – gestehen wir’s nur – zumindest optisch weitaus ergiebiger. Da wird in einer Blätterfolge etwa der verwerfliche Lebensweg einer Dirne nachgezeichnet, dann der eines unverbesserlichen Wüstlings („The Rake’s Progress“). Drohend reckt sich der Zeigefinger empor: Zum Schluß landen alle diese Sünder(innen) entweder im Gefängnis oder im Irrenhaus, duellieren sich oder verüben Selbstmord.

Ob Saufgelage (Hogarth rät zum Bier, um die Schnapssucht auszutreiben), miese Wahlkampf-Schlacht oder „Unzucht“ mancher Sorte – Hogarth hat bildnerisch wenig ausgelassen. Fast möchte man seine Stiche und Radierungen (in Anlehnung an jenes umstrittene Fernseh-Genre) „Reality-Papers“ nennen. Doch seine Wirklichkeit ist nicht so platt, er hat sie mit zahllosen symbolischen und formalen Querverweisen überhöht. Noch in der wildesten Orgie stecken klassische Bildmuster etwa von Raffael oder Leonardo. Das alles summiert sich oft zu einer barocken Detailfülle. Charakteristisch die fast karikierende Verzerrung, die Hogarth zu einem Vorläufer von Goya, Grosz und Dix macht — und letztlich sogar zu einem der „Väter“ des Comic-Strips.

Auch Chodowiecki war ein Voyeur sondergleichen. Selbst in Gesellschaft zog er sich lieber an den Rand zurück und zeichnete heimlich die Leute, manchmal gar durch Schlüssellöcher. Auch so ein Wirklichkeits-Verrückter also. Doch er bekam natürlich nur zu sehen, was da war: Beinahe rührend anmutende Versuche des Bürgertums, sich tugendsam gegen den verwilderten Adel abzugrenzen.

Erstaunlich übrigens, daß es all diese Arbeiten in Wuppertal gibt. Sie stammen aus Sammlungen örtlicher Bürger. Kürzlich hat das Museum Museum die Bestände ergänzen können.

„Sittenbilder des 18. Jahrhunderts“ (Graphik von William Hogarth und Daniel Chodowiecki). Kunsthalle Wuppertal-Barmen, Geschwister-Scholl-Platz. Bis 11. Juli, Di-So 10-17, Do 10-21 Uhr.

 




Solche Farben können einen Menschen ändern – Zur grandiosen Cézanne-Ausstellung in Tübingen

Von Bernd Berke

Tübingen. Am Ende scheint diese Frau eine wächserne Maske zu tragen. Immer mehr, von Bild zu Bild, hat sich ihr Gesicht verhärtet. Die Liebe des Malers zum Modell erkaltet zusehends. Auch als Betrachter friert man ein wenig vor diesen eisig-objektiven Porträts.

Die Schrecknisse des genauen Blicks – auch dafür steht das Lebenswerk von Paul Cézanne (1839-1906), der seine Geliebte und spätere Frau Hortense Fiquet derart ansah. In einer grandiosen Überblicksausstellung – seit Paris anno 1936 (!) ist es die umfassendste überhaupt – wird sein malerisches Oeuvre jetzt von der Kunsthalle Tübingen präsentiert.

Kunsthallen-Chef Götz Adriani hat die millionenschwere Schau auch errechnet, nicht nur finanziell: Jedes Genre (ob Landschaft, Porträt, Badeszenen oder Stilleben) ist fast exakt mit dem Prozent-Anteil vertreten, den es im Gesamtwerk einnimmt. Adriani will damit verzerrten Gesamteindrücken vorbeugen. Doch vor allem hat er, der 1978 an gleicher Stelle Cézannes Zeichnungen und 1982 die Aquarelle zeigen konnte, erneut Leihgeber aus aller Welt zu beispielloser Großzügigkeit bewegt. Die 97 Gemälde aus den Jahren 1865 bis 1906 sind fraglos die Krönung der Tübinger Cézanne-Trilogie. Viele Arbeiten waren noch nie in Deutschland zu bewundern, und Schwabens idyllische Uni-Stadt ist die einzige Station. Gründe genug, um auch von weither anzureisen.

War er im Grunde phantasielos?

Cézanne war der wohl wirksamste Geburtshelfer der Moderne überhaupt, obwohl er ein erzkonservativer Traditionalist (und sogar ein schlimmer Antisemit) gewesen ist. Manet, Renoir, Matisse und Picasso besaßen Bilder von ihm. Doch während beim unerschöpflichen Picasso plötzlicher „Wurf“ und Genieblitz kennzeichnend sind, hat sich Cézanne alles mühsam erarbeitet. Seine Bilder wirken wie erkämpft und gebändigt. Oft hat er künstliche Blumen als Vorlage benutzt, denn er malte so langsam, daß die natürlichen vor der Zeit verwelkt wären. Ohne dauerhafte Vorlage ging er selten zu Werke. Adriani: „Im Grunde war Cézanne phantasielos.“

Anfangs überwiegt noch das Erotisch-Anekdotische: Beim Nacktbaden überraschte Frauen oder jener „Nachmittag in Neapel“ – ein schwarzer Diener eilt einem lustvollen Paar zur kulinarischen Hilfe. Unschwer ist das Vorbild Delacroix („Algerische Frauen im Harem“) zu erkennen, dessen Farbskala Cézanne sich zunächst ebenso anverwandelt wie etwa die Dramatik eines Goya (im Bild „Der Mord“, sozusagen einer Vorform des Reality-Fernsehens) oder die Lichtregie eines Caravaggio.

Ein großartiges Selbstporträt von 1875 zeigt dann, wie ernst es um den Meister stand: Da ist er, jener barsche Blick, die unterkühlte Objektivität des von der Mitwelt (einschließlich des Schulfreundes Emile Zola) Enttäuschten und Verkannten. Man meint es mit Händen greifen zu können, obwohl Cèzanne überhaupt nicht psychologisiert. Es ist einfach eine Sache der Farben. Sie sprechen für sich, sie sprechen miteinander. Sie sagen viel. Der Dichter Rilke schrieb seinerzeit gar, es sei, „als ob diese Farben einem die Unentschlossenheit abnähmen ein für allemal“.

Die Gestalten sind einfach da

Auch für die anderen Porträts gilt: Die Gestalten tun oder wollen eigentlich nichts, kein Beiwerk lenkt von ihnen ab; sie sind schlicht ganz und vollends da. Und dann die Landschaften. Mal eng und dunkel unter den Gewölben von Baumkronen, mal endlos weit und ins gleißende Licht der Provence getaucht. Es ist wie Ein- und Ausatmen. Mit kurzen, quer gesetzten Pinselstrichen baut Cézanne die Naturszenen wie Puzzles oder Mosaiken auf. Das Bild erwächst aus kleinen Farbflächen. Im Detail abstrakt und wildwüchsig, sind sie im Ganzen auf wunderbare Weise „richtig“. Man denkt und fühlt: So und nicht anders.

Auch in den Stilleben gibt Cézanne Zentralperspektive und Raumflucht auf, läßt jedem Punkt des Bildes die gleiche Bedeutung angedeihen. Alles tritt rundum überdeutlich hervor und kippt gleichsam auf den Betrachter zu wie eine zweite Natur, die die erste noch überbieten will.

In den Badeszenen versuchte Cézanne eine in Wahrheit längst verlorene Einheit zwischen Mensch und Natur wieder „herbeizumalen“, sie in der Kunst zu retten. Es war eine Arbeit für Jahrzehnte, die immer nur annähernd gelingen konnte. Aber welch eine geradezu heroische Anstrengung steht dahinter!

Paul Cézanne. Gemälde. Kunsthalle Tübingen, Philosophenweg 76. Ab sofort bis 2. Mai (tägl. außer montags 10-20 Uhr). Katalog in der Ausstellung 39 DM (im Buchhandel 86 DM).




Mit Leichtigkeit über das Leben hinwegtanzen – Bilder von August Macke in der Kunsthalle Emden

Von Bernd Berke

Emden. Die Frau näht. Auf dem Porträt ist sie ganz in sich versunken. Sie blickt nicht auf. Doch man sieht sogleich: Zu ihr muß der Künstler ein ganz inniges Verhältnis gehabt haben. In der bloßen Linienführung liegt unendlich viel Zärtlichkeit. Tatsächlich: Die Frau, die wir da sehen, ist August Mackes Elisabeth, eine „Sandkastenliebe“, die er später geheiratet hat.

So ist es meistens. Mackes Bilder bringen tiefen Frieden, bringen Schönheit ohne Beschwernis. Daher wohl auch die fulminanten Ausstellungs-Erfolge – zuletzt vor ein paar Jahren in Münster, als sich Hunderttausende durchs Landesmuseum schlängelten. Sollte in Emden, wo man nun mit Macke erneut einen „Gesang von der Schönheit der Dinge“ (Ausstellungstitel) anstimmt, auch nur halb so viel Andrang herrschen, so wäre die Infrastruktur der ostfriesischen Kleinstadt überfordert.

176 Zeichnungen und Aquarelle sind zu sehen. Bei Macke sind Papierarbeiten eine Hauptsache. In seinem tragisch kurzen Leben (1887 bis 1914, als er im Ersten Weltkrieg fiel) hat der gebürtige Mescheder, der meist in Bonn wohnte, über 10 000 Blätter geschaffen. Wo er ging und stand, skizzierte er seine Eindrucke – mit Bleistift, Kohle, Kreide, Tusche, Aquarellfarben. Wo andere ein bis zwei Worte notiert hätten, brachte er ein Bild hervor.

Das schwankende Glück beim Seiltanz

Einige Arbeiten werden in Emden sogar erstmals gezeigt. Noch nie ausgestellt war z. B. jenes in frohen Farben rotierende „Karussell“ (1912) mit Kindern. Ganz wunderbar leicht hingetupft, verrät das kleine Bildchen noch Mackes Hang zum Impressionismus. Über das Leben „leicht hinwegzutanzen“, wie er einmal schrieb – das war Mackes Vorstellung vom Glück. Die thematisch statt chronologisch gegliederte Schau widmet den Tanzbildern eine eigene Abteilung. Doch diese Feier der Lebensfreude hat ihre Schattenseite. Denn ein anderes Lieblingsthema ist der Seiltanz – und damit das schwankende, stets bedrohten Glück.

Daß er das Leben lieber mit hellem Blick ansah, zeigen Mackes Bilder über Spaziergänger. Auch hier nimmt der Künstler das Leben ganz leicht, wie im Vorübergehen. Ein Dix oder Grosz hätten hier sicherlich ätzende Kritik am städtischen Sündenbabel geübt. Wenn aber Macke vorzugsweise elegante Damen an Schaufenstern entlang flanieren läßt, werden lichte Sehnsuchts-Bilder daraus. Von Konsumterror keine Spur.

Doch seicht oder weltfremd war Macke nicht. Stellt er etwa zwei Frauen und einen Mann ins Bild, so herrscht da auch schon mal eine Spannung, in die man sich eine dramatische Dreiecksgeschichte hineindenken kann.

Durch Stickvorlagen zur Abstraktion

Die Kunst-Avantgarde seiner Zeit hat er sehr genau wahrgenommen. Davon zeugt seine bildliche „Persiflage den Blauen Reiter“. Er hat sich gelegentlich auch abstrakten Tendenzen zugewandt. Bemerkenswert, daß Macke mit eher biederen Vorlagen zu Stickarbeiten, die eine vereinfachte, flächige Formensprache erforderten, auf den Pfad der Abstraktion geriet.

Doch er kehrt immer wieder zum Figürlichen zurück, ja er entwickelt im Laufe der Zeit ein Standard-Repertoire. Beinahe wie Spielsteine werden immer wieder ähnliche Personen-Umrisse in verschiedene Bilder gesetzt. Fast könnte man dies als Beschränkung (miß)verstehen.

Spätestens während der berühmten Tunis-Reise (zusammen mit Klee und Moilliet) befreit sich Macke vollends von formalen Grenzen: „Die Farbe hat mich!“ rief er damals begeistert aus und empfand sich erst jetzt ganz und gar als Künstler. Und wahrhaftig: Die Leuchtkraft der Farben ist nun überirdisch.

Ein Besuch in Emden lohnt (abgesehen von Macke-Ausstellung und Seeluft) allein wegen der Kunsthalle. Da hat Henry Nannen, bekanntlich zu besten Zeiten des „Stern“-Magazins dessen Chefredakteur, seiner Heimatstadt mehr als ein Kleinod gestiftet.

August Macke: „Gesang von der Schönheit der Dinge“. Kunsthalle Emden / Ostfriesland. 8. November bis 7. Februar 1993. Di 10-20, Mi/Do/Fr 10-17 Uhr, Sa/So 11-17 Uhr. Katalof 42 DM. Anschließend geht die Ausstellung nach Ulm und Bonn (dort Mai bis Juli ’93).




Himmel und Hölle des Bildschirms – Nam June Paik in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Einerseits ist diese Ausstellung die schiere Medienhölle: Da dröhnt es aus ungezählten Lautsprechern, da gibt es ein wahnsinniges Bildergewitter auf hunderten von TV-Geräten, da flirren irrwitzige Großprojektionen über die Wände. Hier kann man wirklich einmal testen, wie lange man dem elektronischen Terror standhält.

Andererseits findet man sich in Zonen der Ruhe und der Meditation wieder, die von den selben Medien erzeugt werden: Eine Buddha-Figur „betrachtet“ göttlich-geruhsam ihr eigenes Erscheinungsbild; eine Kamera nimmt ein Ei auf, dessen perfekte Form synchron auf verschieden große Bildschirme übertragen wird. In einem abgedunkelten Raum erstreckt sich sodann ein Garten mit echtem Grün, dessen „Blüten“ freilich aus lauter Video-Farbbildern bestehen.

All dies sind Werke von Nam June Paik, dem großen Anreger der Video- und Fernseh-Kunst. Der Koreaner, heute in New York lebend, aber seit jeher auch der Düsseldorfer Szene eng verbunden, setzt mit diesen Medien sozusagen Himmel und Hölle frei, man erfährt Qualen, aber auch Wohltaten der künstlichen Bildwelten. Die Installationen in der vollverkabelten Düsseldorfer Kunsthalle sind mal Huldigung, mal Fluch.

„This is a Heimspiel for me“

„This is a Heimspiel for me“, soll Paik auf Anglo-Deutsch über diese Ausstellung gesagt haben – Anspielung auf alte, glorreiche Zeiten der rheinischen Kunstszene in den 60er Jahren, auf damals noch provozierende Kunstaktionen, die Paik gelegentlich auch mit Joseph Beuys gemeinsam veranstaltete, dessen Werk jetzt gegenüber in der Kunstsammlung NRW gezeigt wird (die WR berichtete).

Es dominieren Bildschirm-Arbeiten, die auch Leute ins Museum locken könnten, die sonst wenig mit Kunst am Hut haben. Kennzeichnend für Paik ist unter anderem die gegenseitige Durchdringung von Natur und Elektronik, so in besagtem „Fernseh-Garten“, aber auch bei einem Werk wie „Video Fish“: Aquarien mit lebenden Zierfischen stehen vor laufenden TV-Geräten. Die Videos laufen gleichsam „unter Wasser“.

Fernsehen und der christliche Kreuzweg

Paik knüpft mit seinen Arbeiten nicht nur an Naturformen an, sondern auch an die Kunstgeschichte: Den wohl stärksten Eindruck der Ausstellung hinterlassen jene 13 gotischen Schreine, in die der Kunst-„Ketzer“ Paik Femsehapparate montiert hat. Hintergrund: Ursprünglich sollten sich 14 Schreine auf die Stationen des christlichen Kreuzweges beziehen. Station heißt auf Englisch bekanntlich „station“, dies Wort steht auch für Fernsehkanäle – und 13 Stations-Schreine wurden es dann, weil es friiher einmal in New York diese Zahl von Fernsehsendern gab. Siehe da: Die Geschichten hinter den flimmernden Bildern können ganz schön vertrackt sein.

Nam June Palk. Retrospektive. Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz. Bis 12. Januar 1992. Tägl. außer montags 10 -18 Uhr. Katalog 42 DM.




Festspiel-Schauen in Recklinghausen: Deutlich näher an der Gegenwart

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Museums-Chef Dr. Ferdinand Ullrich machte am Samstag die Probe vor versammelter Presse. Erst Klopfzeichen, dann: „Wolfgang, hörst du mich?“ – Beuys-Schüler Wolfgang Wendker (alias „IGADiM“) hörte. Dumpf kamen seine Antworten („Mir geht’s gut“) aus einem mit Stahldeckel verschlossenen Erdloch. Der unterirdische Künstler (die WR berichtete über das Projekt) setzt den wohl auffälligsten Akzent bei der Ausstellung der Ruhrfestspiele.

Doch auch sonst hält die gestern eröffnete „Europäische Werkstatt Ruhrgebiet“ einiges bereit. Sicher: Es gibt da einige Kopfgeburten, die ihre Deutung gar zu offensichtlich nahelegen. Doch das Gros der Arbeiten hält auch dem kritischen zweiten Blick stand. Vorbei jedenfalls die Zeiten jener Festspiel-Schauen, bei denen pflichtschuldigst die montanindustrielle Vergangenheit bemüht wurde, meist mit Gemälden aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Diesmal ist man deutlich näher an der Gegenwart.

Der Strukturwandel im Revier gibt gleichsam den Takt vor, 34 Künstler aus ganz Europa (Polen bis Island, Türkei bis Norwegen) haben sich damit auseinandergesetzt. Bis auf einige Projektskizzen gibt’s auch keine Bilder zu sehen, sondern 55 Installationen in allen drei Museen der Stadt und im Freien. Einige Arbeiten werden der Stadt erhalten bleiben. Die Kunst erobert Terrain.

Bestes Beispiel in diesem Sinne ist Vincenzo Bavieras gigantischer „Streitwagen“ auf einer Wiese vor dem Hauptbahnhof. Das Monument des Schweizers besteht aus einer Seilscheibe und Fahrleitungsmasten, greift also Formen des Bahnverkehrs und der Zechentechnik auf, verschmilzt sie zu geglückter Einheit.

Der Italiener Silvio Wolf erhebt, vor allem an der Fassade der Kunsthalle, mit Blattgold-Einfasssungen simple Signets des Bergbaus ironisch zu Ikonen, er bezieht sich damit auch auf das renommierte Ikonenmuseum am Ort. Just dort entfachte Raffael Rheinsberg (Berlin) Volkszorn, weil er die Gebäudefront mit einem Fries von Gefahrenwarnschildern aus der Arbeitswelt versehen hat. Manche sehen darin eine Verunglimpfung religiöser Inhalte des Ikonenmuseums. Staunenswert präzise hat Andrej Roiter (UdSSR) eine Wehmut des
Reviers mit seinen „Workersongs“ (Arbeiterlieder) getroffen: Kalte Neonschrift überstrahlt schäbige, mit Kohlestaub gefüllte Koffer. Die Vergangenheit auf Abreise ins Exil.

Abgesänge aufs schwarze Gold auch sonst: Der Spanier Julio Jara präsentiert Kohlebrocken im abweisenden Stahlgehege wie Reliquien, der Brite David Nash schichtet verkokelte Grubenhölzer zu einer Art Grabeshügel auf. Die schöne neue Zukunftswelt der Europäischen Gemeinschaft (EG) hat der Schwede Stefan Karlsson im Visier: Er packt die Buchstaben E und G schlicht auf zwei Einkaufswagen – ein Kontinent erliegt Kommerz und Konsum.

„Europäische Werkstatt Ruhrgebiet“. Recklinghausen, Kunsthalle, Vestischeses Museum, Ikonenmuseum, diverse Freigelânde. Bis 17. Juli. Di-Fr 10-18, Sa/So 10-17 Uhr, Katalog 20 DM.




Der tiefste Ernst ist ein Verwandter des Lachens – Frankfurter Schirn-Kunsthalle zeigt erste große Retrospektive seit dem Tod von Jean Dubuffet

Von Bernd Berke

Frankfurt. Jean Dubuffet (1901—1985) gilt heute meistenteils als Hauptvertreter der sogenannten „art brut“ (etwa: rohe Kunst), einer Richtung, die auf alle großen Traditionen (auch die der Abstraktion) pfeift und sich z. B. an bildnerische Hervorbringungen von Geisteskranken anlehnt. In der Kunsthalle Schirn zu Frankfur/Main ist jetzt, bei der ersten großen Retrospektive nach Dubuffets Tod, festzustellen, wie wenig mit solch einer Schubladen-Zuordnung gesagt ist – bestenfalls ein Körnchen der Wahrheit.

Richtig ist, daß Dubuffet (von seinen frühen und erzkonventionellen Anfängen in den 20er Jahren abgesehen) die Tradition aggressiv von sich wies. Bei seinen Angriffen auf die intellektuell hochgezüchtete Moderne hat er Beifall von falscher Seite riskiert. Dubuffet hat seinen ureigenen Weg gesucht. Dieser Weg hatte freilich viele Gabelungen. Man kann das in der Frankfurter Ausstellung anhand von 250 Exponaten aus aller Welt beispielhaft nachvollziehen: Wenn Dubuffet einmal ein Thema oder eine Form für sich entdeckt hatte, blieb er lange dabei. Dann schuf er Serien, deren Variationen sich über Jahre hinzogen. War aber ein Alphabet der Möglichkeiten durchbuchstabiert, brach der Künstler abrupt ab und wandte sich neuen „Schriften“ zu.

Wirklich eigenständig wird Dubuffets Kunst etwa ab 1943. Da malt er grell-groteske „Marionetten der Städte“, etwa jene wie an Fäden hängende Wesen in der U-Bahn („métro“-Serie). Während da der Mensch in der Menge bedeutungslos zu werden scheint, verschwindet er ansonsten in der Weite von Landschaften oder neben riesigen Kühen, die ihn mit kreatürlicher Kraft an den Bildrand drängen. Im Jahr 1945 verblassen bei Dubuffet menschliche Umrisse gar vor grauen Mauern.

Will diese Kunst über den Mensehen hinaus — oder hinter ihn zurück? Solche Menschenbilder wirken jedenfalls entweder magisch-„primitiv“ wie prähistorische bzw. Stammeskunst oder im schönsten Sinne kindlich: Tiefster Ernst und befreites Lachen liegen da oft noch ganz dicht beisammen. Wichtig werden dann billige, bewußt „unkünstlerische“ Materialien wie Kiesel, Sand und Glas. Mit derlei Ingredienzen wirft Dubuffet etwa ein grobkörnig gehäufeltes Raster über eine in Öl gemalte nackte Männerfigur, die den „Willen zur Macht“ (Titel, 1946) und damit eine Art „Ur-Hitler“ verkörpert. Großartig die Bilder, in denen der Materialeindruck sich verselbständigt, z. B. „Tischklumpen“ oder „Felder des Wohlbehagens“ (beide 1951). Diese Arbeiten wirken nicht mehr wie hergestellt, sondern wie immer schon dagewesene Materie. Konsequent, daß Dubuffet dann auch Fundsachen wie Schwämme oder Schlacke-Stücke nach winzigen Eingriffen zu Kunstwerken ernennt. Da blitzt in fast umgeformter Materie plötzlich Bedeutung auf.

Bewußt im Sinne einer „antikulturellen“ (Dubuffet) Kunst gestaltet sind die jeder Herkömmlichkeit des Genres spottenden Frauenakte. Diese Damen ähneln in ihrer zerrinnenden Körperlichkeit eher formlosen Landschaften.

Über einige weitere Bildgruppen („Paris circus“) dringt Dubuffet mit dem 17 Jahre währenden, obsessiven Experiment „Hourloupe“ (lautmalerischer Begriff) auch in die dritte Dimension und zu einer Art Bilder-Skulpturen-Theater vor. In Frankfurt ist eine Bühne zu bestaunen, auf der Dutzende dieser rot-weißblauen Pappmachefiguren ein bizarres, stummes Ballett tanzen.

Danach kehrt Dubuffet zu Collagen zurück, zu einem comic-haften „Traum-Theater“ der Lebenssituationen und schließlich zu den „non-lieux“ (Nicht-Orten), hellsichtig hingesetzten Pinselstrichen auf schwarzem Grund.

Jean Dubuffet. Kunsthalle Schirn, Frankfurt, Am Römerberg. Bis 3. März 1991. Katalog 42 DM.




„Engelsburg“ soll Kunsthalle zur Spitzenadresse machen – Riesenchance fürs Museum / Rätsel um Heyme-Äußerung

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Allerbeste Aussichten auf eine repräsentative neue Ausstellungsstätte hat jetzt die Kunsthalle in Recklinghausen. Das Institut, das nach dem Krieg notdürftig in einem Bunker gegenüber dem Hauptbahnhof angesiedelt wurde und dort bis heute mehr schlecht als recht residiert, könnte in etwa zwei bis drei Jahren die historische „Engelsburg“ beziehen.

Dieses in ursprünglicher Gestalt um 1700 errichtete Gebäude dient derzeit noch als Nobelhotel, doch der Pächter zieht sich zurück. Unterdessen hat die Stadt Recklinghausen den Bau für 3,8 Mio. DM erworben. Für den Umbau zum Museum müßten etwa 15 bis 20 weitere Millionen veranschlagt werden. Die politischen Entscheidungen darüber sind bereits auf gutem Wege.

„Phantastische Chancen für die Zukunft“ sieht Kunsthallen-Leiter Ferdinand Ullrich. In der „Engelsburg“ werde man große Teile des Eigenbesitzes und Wechselausstellungen zugleich zeigen können – eine Möglichkeit, die man auch in weitaus größeren Städten (etwa beim Ostwall-Museum in Dortmund) herbeisehnt. Die ständige Präsentation von Eigenbesitz, so Ullrich, könne mitunter ungeahnte Folgen nach sich ziehen. So seien viele Künstler eher zu Schenkungen oder „Rabatt-Verkäufen“ an Museen bereit, wenn sie sähen, daß sie mit ihren Arbeiten ins bestehende Sammlungs-Konzept passen. Bei einem jährlichen Mini-Ankaufsetat von 10 000 DM, wie er in Recklinghausen besteht, wäre allein eine solche Wirkung Gold wert.

Nicht zuletzt stimmt an der „Engelsburg“ auch das Ambiente. Die Lage ist ideal, sie würde endlich auch „Laufkundschaft“ ins Haus ziehen, und ein zugehöriger Park verführt geradezu zur Aufstellung von Freilichtskulpturen. Kurz und gut: Mit dem Umzug in die „Engelsburg“ ware die Recklinghäuser Kunsthalle schlagartig eine der feinsten Kulturadressen im Revier.

Am Rande einer Ausstellungs-Vorbesichtigung sprach Ferdinand Ullrich gestern auch über sein Verhältnis zum Essener Schauspielchef Hansgünther Heyme, der ja neuerdings auch die Geschicke der Ruhrfestspiele in Recklinghausen bestimmt. Für Irritation hatte Heymes mehrfach wiederholte Äußerung gesorgt, er, Heyme, entscheide ganz allein darüber, wer künftig die Kunstausstellungen der Ruhrfestpiele macht. Bisher war dies immer Sache des Leiters der Kunsthalle gewesen. Ullrich hätte Heymes Ausspruch also als Affront, als eine Art Mißtrauensvotum auslegen können. Mittlerweile, wenn auch recht spät, hat es eine Aussprache zwischen beiden gegeben. Ullrich betönt, daß er sich mit Heyme in punkto Kunstauffassung sehr wohl einigen könne. Und wenn Heyme es wirklich schaffe, eine Berühmtheit wie etwa den Ausstellungsmacher Harald Szeemann nach Recklinghausen zu holen, sei das nur zu begrüßen: „Etwas Besseres könnte dieser Stadt doch gar nicht passieren“.

Als eine Art Zwischenbilanz und Standortbestimmung von Ullrichs Museumsarbeit kann auch in diesem Zusammenhang die Ausstellung „Malerei ’90“ mit rund 80 Arbeiten von acht jungen Künstlern gelten, die an diesem Wochenende eröffnet wird. Die WR wird darauf zurückkommen.




Rhythmen der Arbeit und der Kunst

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Eigentlich soll, so müßte man meinen, der Mensch sich die Welt mittels Arbeit nach seinen Bedürfnissen zurichten. Doch die Geschichte verlief größtenteils anders: Die Arbeit richtete sich „ihren“ Mensehen zu. Nach ihrem – natürlich letztlich von Menschen bestimmten – Rhythmus hat er sich zu strecken.

Immer wieder haben sich bildende Künstler dieses Themas angenommen. Kein Wunder, da „Rhythmus“ ja auch eine künstlerische Kategorie und also bildkräftig ist. Daran konnten denn auch die Ruhrfestspiele über kurz oder lang kaum vorbeigehen. Über 100 bildnerische Beispiele zahlreicher Stilrichtungen und Kunstmedien (Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, kinetische Objekte, Karikaturen und Fotos) zur Entwicklung von „Arbeit und Rhythmus“ (Titel) präsentieren die Festspiele nun in der Kunsthalle Recklinghausen. Das Thema ist gut gewählt, die Auswahl schlüssig, die Beispiele schlagkräftig.

Diesmal können Anneliese Schröder und Brigitte Kaul, die die Auswahl besorgten, sogar mit einer kleinen Sensation aufwarten. Erstmals sind die 1928 entstandenen acht „Überlebensfriese des arbeitenden Menschen“ (vom Dortmunder Bernhard Hoetger) komplett zu sehen. Sie zeigen die Beugung des Körpers durch Arbeit und Überlebenskampf von der Jugend bis ins Greisenalter.

Der rote Faden der geschichtlichen Entwicklung ist auch jener der Ausstellung: Immer genauer und unerbittlicher werden die Arbeitsrhythmen, immer enger wird der Bewegungsradius des Menschen. Es beginnt mit der Landarbeit (Bilder u. a. von Schmidt-Rottluff und Emil Nolde), die ersichtlich mit Selbstverwirklichung zu tun hatte, da sie den Einsatz eigener Körperkraft erforderte. Das verführt manche Künstler dazu, diese Arbeit zu idealisieren und zu heroisieren. Spätere Künstler, so vor allem George Grosz („Wo die Dividenden herkommen“, 1928), sehen die Sache weit kritischer. Für die beiden gegensätzlichen Auffassungen finden sich jeweils zahlreiche Belege in der Ausstellung, die übrigens auch Frauenarbeit (Wäscherinnen, Haushalt) nicht ausspart.

Immer deutlicher bilden sich im Lauf der Zeit die Rhythmen derArbeit heraus. Künstler gestalten sie zu massenhaft reproduzierten Mustern, bis hin zur seriellen Darstellung. Thomas Bayrle entwirft ein solches Muster, das erst bei näherem Hinsehen aus lauter Automobilarbeitern besteht und bei noch näherem Hinsehen die Kopfumrisse des Arbeits-Herren, in diesem Falle des Fiat-Chefs Agnelli, erahnen läßt. Immerwährende Gefahr: Je prägnanter die Muster und Rhythmen, desto größer die Gefahr der scheinbar .„interesselosen“ Ästhetisierung. Schließlich setzt sich die maschinelle Organisation durch. Künstler wie Fernand Léger gewinnen auch diesem Prozeß Utopie ab. Es wird aber auch vielfach Erschrecken spürbar, so etwa in Hannah Höchs „Gewächse“ (1928), einem naturwidrigen Garten aus zahllosen Maschinenteilen.

Arbeit im Bergbau und in der Stahlindustrie (letztere aus purer Farblust auch schon mal pointillistisch dargestellt) nehmen breiten Raum ein. Doch die Ausstellungsmacherinnen haben sich den Blick nicht verengen lassen. Das Spektrum umfaßt auch Bereiche wie die Arbeit im Hafen, im Schlachthof (Bilder von Corinth u. a.) und reicht bis zur Knopfdruck-Tätigkeit am Computerbildschirm. Peter Freeses mathematisch-penible Vermessung und Nachbildung des Terminalmensehen, dessen Persönlichkeit in den Großrechner eingegeben wird, führt sie vor Augen. Apropos Bildschirm: Im Eingangsbereich der Kunsthalle soll man per Computer-Game „durchspielen“, wie ein Bergarbeiter seine Familie anno 1903 durchbringen mußte. Weiterer themenbezogener Einfall: eine Stempeluhr, mit der jeder Besucher abmessen kann, wie lange er in der Ausstellung war.

„Arbeit und Rhythmus“. Kunsthalle Recklinghausen (gegenüber dem Hauptbahnhof). Bis 12. Juli. Mo-fr 10-18 Uhr, Wochenenden/Feiertage 11-19 Uhr.




Joan Miró: Träume und Alpträume

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Joan Miró? Dessen Werk kennt „man“ doch nun wirklich zur Genüge; seine federleichte Symbolsprache ist schließlich in unzähligen Drucken verbreitet. Miró, das ist doch – wie war das noch gleich? – ach ja: das spielerisch-spontane „Kind“ unter den Meistern der Klassischen Moderne, ein froher Traum-Poet, der Nachdenklichkeit abhold…

Derlei Vorurteile könnte man munter weiter pflegen, würde nicht jetzt eine Ausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle (in Zusammenarbeit mit dem Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen sowie dem Kunsthaus Zürich) eine Fülle von Gegenbeweisen oder zumindest Infragestellungen liefern.

Die größte deutsche Retrospektive des Werk von Miró (1893-1983) seit 1969 zeigt mit ihren 180 Gemälden, Zeichnungen und Objekten vor allem zweierlei: Miró hat keineswegs nur spontan gearbeitet, sondern sich ganz bewußt Klärungsprozessen gestellt, indem er Ideen Vielfach vorskizzierte. Und: Nicht alle Figurationen sind als reine Symbole oder Metaphern zu werten. In den 30er Jahren nämlich bricht das Leiden an den Zeitläuften, insbesondere am Spanischen Bürgerkrieg, auch in Mirós Bildwelt ein – in Gestalt „monströser“, gepeinigter Figuren. Keine pure Bildwelt, sondern alptraumhaftes Entsetzen mit Zeitbezug.

Die Ausstellung schlüsselt mit wichtigen Werken aus allen Schaffensperioden (1915 bis 1977), allerdings mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem Frühwerk, Mirós vielfältige Entwicklung auf. Seitenblicke auf andere Größen der Kunstgeschichte ergeben sich, deutliche Anklänge an Marcel Duchamp eingeschlossen. Mirós früheste Arbeiten lassen Einflüsse des Fauvismus und Kubismus, von Matisse, Braque und Gris erkennen. Es folgt eine Phase „Neuer Sachlichkeit“. Das gegenständliche Inventar erscheint in schärfsten Umrissen, denen eine immense Schärfung der Alltagswahrnehmung entspricht.

Aufschlußreich für den Übergang in die spezifische Symbolik Mirós ist „Der Bauernhof“ (1921/22). Der Kanon der Motive, die später – wenn auch abstrahiert oder in surrealen Verbindungsmustern – wiederkehren, ist hier bereits ausgebildet. Die Anverwandlung unterschiedlichster Einflüsse reicht bis in die 60er Jahre, als Miró mit „InformeI“-Strukturen experimentierte.

Die Fügungen in der Bildfläche erfolgen nie additiv, sondern nach quasi-musikalischen, rhythmischen Mustern. Auch in abstrakten Perioden entfernte sich Miró nie gänzlich vom Menschenbild. Solche Rückbindungen, wie auch jene an Mythos und Regionalismus (Verwurzelung in Katalanien), rücken das Werk in die Nähe aktueller Diskussionen.

Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz 4 (Bis 20. April. Di-Fr 10 bis 18, Sa/So 10-20 Uhr, montags geschlossen).




Farben und Formen erklingen wie Musikstücke – Kunsthalle Recklinghausen zeigt Arbeiten ihres früheren Leiters Thomas Grochowiak

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Anstöße zur Kunst findet Thomas Grochowiak auch auf überraschenden Umwegen. Mehrmals kam es vor, daß er die durchschimmernde Farbverteilung auf der Rückseite seiner Bilder kompositorisch gelungener und inspirierender fand als die Schauseite. Also drehte er die Arbeiten um und zäumte die Sache sozusagen umgekehrt auf. Daß so und anders unter Grochowiaks Händen lebendig-spontane, aber keine pure Zufallskunst entsteht, macht jetzt die Werkschau „Reflexionen“ in der Kunsthalle Recklinghausen (2.-30. November) deutlich.

Zwei wichtige Quellen seines Schaffens gaben der Retrospektive den Untertitel „Bilder wie Musik und Reisebilder“. Bildunterschriften wie „Im Fluß der Zeichen und Strukturen“ oder „Im Dickicht der Rhythmen“ sind Programm: Musikalische Strukturen sind der stark rhythmisierten, informellen Bildsprache Grochowiaks von jeher verwandt und einbeschrieben. Subtile Strukturanklänge sind es auch, nicht etwa leichthin „ablesbare“ Umsetzungen musikalischer Abläufe, die Reiz und Wesen dieser Bilder ausmachen.

Bei Arbeiten, die z. B. von Haydns „Schöpfung“ oder Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ angeregt wurden, scheinen zwar sprachliche Assoziationen und Naturvorstellungen auf die Sprünge zu helfen, doch bleibt immer ein weiter Freiraum für die Phantasie des Betrachters. Es gibt da Arbeiten, die wirklich „wie“ Musik sind, zum Beispiel das befreiend-heitere Bild, das mit Schumanns „Frühlingssinfonie“ in hauchzartem Zusammenklang steht.

Vergleichbar wirken Grochowiaks Reisebilder aus Holland, Spanien, Italien und China. Einerseits scheint die gegenstandsabstinente, „absolute“ Malerei Vorstellungen Raum zu geben, die mit Worten gar nicht beschreib- und begreifbar sind, andererseits meint man, etwa in den Spanien-Bildern, die Sonnenflut des Landes mit Händen greifen zu können. Insofern sind diese Bilder „konkreter“, als wenn jemand eine naturalistische Sonne gemalt hätte.

Den nachhaltigsten Eindruck scheint bei Grochowiak die aufstörende Fremdheit Chinas hinterlassen zu haben: Von femöstlichen Schriftzeichen abgeleitete Elemente finden sich auch noch auf den später entstandenen Italien-Bildern.

Mit dieser Ausstellung kehrt der 71jährige Grochowiak, Mitgründer der Ruhrfestspiele und lange Leiter der Kunsthalle Recklinghausen, nochmals triumphal an den Ort seines früheren Wirkens zurück. Und er bringt gleich noch Geschenke für das Museum mit: zwei Vorzeichnungen zu seinem Ölbild „Der Fördermaschinist“.




Kunst zum Wohle der Kommune – Recklinghausen zeigt seinen Eigenbesitz

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wenn eine Stadt 750 Jahre alt wird, dann müssen auch die Kulturinstitute zeigen, wie und womit sie das Wohl der Kommune gemehrt haben. In diesem Sinne präsentiert die Kunsthalle Recklinghausen jetzt (bis 19. Oktober) einen Querschnitt durch den Eigenbesitz.

1927, damals noch im „Vestischen Museum“, begann man in Recklinghausen systematisch zeitgenössische Kunst zu sammeln. Aus diesen Anfängen ist eine achtbare Kollektion von insgesamt rund 250 Gemälden, 120 Skulpturen und Objekten sowie 3000 Handzeichnungen und Druckgraphiken geworden. Noch weit mehr wären es, hätten nicht die lokalen NS-Kunstfeinde nach 1933 große Teile der Sammlungen geplündert und zerstört.

Die jetzt getroffene Auswahl aus dem (zum Leidwesen von Museumsleiterin Brigitte Kaul über die ganze Stadt verstreuten) Magazinen kann sich gleichwohl sehen lassen: Arbeiten von Käthe Kollwitz und Christian Rohlfs, um 1927 erworben, waren frühester Kristallisationspunkt der Sammlung. Wie es sich für ein Museum dieser Größenordnung gehört, wurde auch in der Folgezeit nicht wahllos geprunkt, sondern es wurden – der Not wie der Vernunft gehorchend – sinnvolle Schwerpunkte gebildet.

Besonders die Museumsdirektoren Franz Große-Perdekamp und Thomas Grochowiak stellten nach dem Zweiten Weltkrieg die Weichen. Es war ihre Idee, den Bunker am Hauptbahnhof zur Kunsthalle umzufunktionieren. Außerdem sorgten sie dafür, daß zahlreiche Arbeiten der Gruppe „Junger Westen“ (Gustav Deppe, Ernst Hermanns, Emil Schumacher, Heinrich Siepmann, Thomas Grochowiak) in Recklinghausen heimisch wurden. Auch das „Informel“ der 50er Jahre ist mit Bildern von Hann Trier, K. O. Götz und Fritz Winter nennens- und sehenswert dokumentiert.

Weitere Sammlungs-Schwerpunkte bilden die holländische Szene der 50er Jahre, Arbeiten der Kunstpreisträger „Junger Westen“ (u. a. Horst Antes, Gerhard Richter) sowie – bundesweit bedeutsam – Objekte der kinetischen Kunst, u. a. von der Gruppe „Zero“ (Mack, Uecker, Piene), die denn auch bei der jetzigen Ausstellung große Teile des 2. Obergeschosses einnehmen. In diesem Stockwerk sollen fortan, kontinuierlich wechselnd, weitere Teile des Eigenbesitzes gezeigt werden.

Zur Ausstellung erscheint kein Katalog, doch kürzlich kam im Verlag Aurel Bongers ein voluminöser Band (Preis 144 DM) heraus, der die Bestände aller Museen in Recklinghausen vorstellt.




Ruhrfestspiele: Auswahl aus sechs Hamburger Museen als Loblied auf die Hansestadt

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Das Loblied einer Stadt „singt“ diesmal die Kunstausstellung der Ruhrfestspiele. Nein, nicht auf das just 750jährige Recklinghausen wird angestimmt, sondern auf „das Hoch im Norden“: Hamburg.

Künstler aus der Hansestadt waren es, die vor 40 Jahren – als geistige Gegenleistung für dringend benötigte Ruhrkohle – ihre kaum weniger begehrten kulturellen Spitzenleistungen in Recklinghausen zeigten. Der Tausch „Kunst für Kohle“ war eine Keimzelle der Ruhrfestspiele. Dafür ist man im Revier heute noch dankbar. Die Zuneigung teilt sich jetzt auch in der Ausstellung mit.

Die Kunsthalle Recklinghausen bietet (bis 29. Juni) eine Welt- und Zeitenreise in Form eines Querschnitts durch Bestände aller sechs Staatlichen Museen Hamburgs. Die dortige Kunsthalle hat z. B. ebenso Exponate beigesteuert wie das Museum für Hamburgische Geschichte und das Völkerkundemuseum. Vom Buddelschiff bis zum Picasso-Bild, von der afrikanischen Skulptur bis zu nautischen Instrumenten reicht daher die Auswahl: „Weltkunst und Kunst der Welt“ – der Ausstellungstitel könnte in etwa besagen: Via Hamburger Hafen brachten Seeleufe Kunst(handwerk) der ganzen Welt nach Deutschland. Und: In dieser Stadt wurde europäische Kunst von solchem Rang gesammelt, daß sie füglich als Menschheitserbe, als „Weltkunst“ eben, gelten kann.

Es beginnt, naheliegend, mit der Seefahrt. Eine (für Nicht-Spezialisten) etwas ermüdende Reihung von Schiffsbildern empfängt den Besucher im Erdgeschoß, flankiert von Sextanten und ähnlichem Gerät. Es folgen zumeist anheimelnde Stadt-Szenen aus Hamburgs stolzer Vergangenheit. Hier schon ein Höhepunkt der hanseatischen Rundumschau: „Abend am Uhlenhorster Fährhaus“ (1913), gemalt vom Franzosen Pierre Bonnard.

Hamburger Silber, vor allem für den Export ins zaristische Rußland kunstvoll geschmiedet, erinnert sodann an eine Glanzzeit der Elbe-Metropole. Ja, und dann kommen die ganz großen Namen. Beginnend mit 1886, als der legendäre Alfred Lichtwark die Leitung der Hamburger Kunsthalle übernahm, wird die Ankaufspolitik der seitherigen Direktoren des Instituts mit hochkarätigen Beispielen belegt. Gleichsam in „archäologischen Schichten“ kann man hier die Genese einer renommierten Kunstsammluhg verfolgen. Zu nennen wären Bilder von Max Liebermann (z.B. Porträt des Dichters Gerhart Hauptmann, 1912), von Max Ernst („Ein schöner Morgen“, 1965), Munch, Feininger, Nolde, Picasso, Oelze; dazu Objekte von Man Ray, Kienholz und Uecker.

Die geschlossenste, thematisch nicht so zerstreute Abteilung der Ausstellung versammelt expressionistische Graphik u.a. von Kirchncr, Kollwitz und Franz Marc. Im Obergeschoß beschließen völkerkundliche Streiflichter (Schwerpunkte: Afrika, Ostasien) den Rundgang.




Nuancen des Rot – Retrospektive über Rupprecht Geiger

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Solche, die sich wie Rupprecht Geiger über weite Phasen des künstlerischen Schaffens auf Nuancen einer einzigen Farbe konzentriert haben, dürfte es selten geben.

Nachdem Geiger lange Jahre mit der quasi-musikalischen „Kontrapunktik“, dem Spektrum zwischen Widerstreit und Gleichklang mehrerer Farben experimentiert hatte, widmete er sich immer ausschließlicher dem Rot, dessen Dimensionen er rundum ausgeschritten und das er konsequent bis zum Farb-Raum vorangetrieben hat.

In der Düsseldorfer Kunsthalle, wo jetzt die bislang größte Retrospektive auf das Lebenswerk des heute 77jährigen zu sehen ist (bis 21. Juli), ist ein solcher Farb-Raum ganz real vorhanden: ein voluminöses, blutrotes Zelt („Rote Trombe“, 1985).  Auf daß man ganz und gar in der Farbe „baden“ kann, empfiehlt sich die Benutzung einer bereitliegenden Decke. Für den, der sich unter und in das Farbzelt legt, existiert nur noch reine, abstrakte Farbe.

Geiger begann in den 40er Jahren als Kriegsmaler in Rußland und Griechenland. Schon für diese frühen Jahre bringt die Ausstellung Belegstücke bei. Der gelernte Architekt, in dieser Zeit Autodidakt der Malerei, schuf damals Landschaftsstudien, in denen sich die spätere Autonomie der Farbe schon ankündigt.

Im Lauf von Geigers Auseinandersetzung mit surrealistischen Strömungen gegen Ende der 40er Jahre verschmelzen solche Farbwerte noch nahtloser mit der Vorstellung eines seelischen Innenraums. In Trümmerdeutschland, 1949, war Geiger Mitglied der Münchener „ZEN“-Gruppe, der auch Willi Baumeister und Fritz Winter angehören. Bereits in diesen Jahren, und damit wohl als einer der ersten Künstler überhaupt, arbeitete er mit „shaped canvases“, mit Bildträgern also, die vom Rechteck- oder Quadratformat unregelmäßig abwichen. Im Kontext der Düsseldorfer Ausstellung wird greifbar deutlich, daß sich auf diesen zurechtgeschnittenen Leinwänden gleichsam Ausbruchsversuche, ja Befreiungen der Farbe ereignen. Die Abkehr vom konventionellen Bildzuschnitt bedeutete zugleich eine weitere Verselbständigung des Grundelements „Farbe“.

Als Geiger später zu rechteckigen Formaten zurückkehrt, scheint die Farbe gleichsam „gereinigt“ von allen Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten. Nun werden die (meist titellosen) Bilder zu meditativen „Reiseführern“ ins Absolute, die mit Leuchteffekten den Blick bannen.

 

 




Als Michelangelo für Rock-Stars werben musste – einschlägige Plakatsammlung in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wer heute zwischen 25 und 35 ist, erlebt zunehmend häufiger, wie seine Jugendjahre bereits der Historie zugeschlagen werden. An diesem Vergessens- und Erinnerungsprozeß nimmt jetzt auch die Kunsthalle Recklinghausen teil – mit einer für die Bundesrepublik bislang beispiellosen Ausstellung von 350 Plakaten zur Rock-Musik der 60er Jahre. Selbst US-Museen beginnen dieses Genre eben erst zu entdecken.

Die seit 1972 „tätigen“ Sammler Tomm Klatt (Recklinghausen) und Rainer Knorr (Neubeckum) haben sich auf Plakate von der US-amerikanischen Westküste konzentriert. Daher ist die einschlägige Produktion hier fast komplett beisammen. So gut wie alle mittlerweile legendären Namen, die damals den West Coast-Sound prägten, kommen vor: Allen voran „The Grateful Dead“. Im Umkreis dieser großen Rock-Family hat sich offenbar das größte graphische Potential entfalten können. Auch jeder weitere Name ein Mythos: Jefferson Airplane, The Byrds, The Doors, Frank Zappa and the Mothers of Invention, und so fort. Schließlich zergehen auch die Veranstaltungsorte etwa „Fillmore West“ und „Avalon Ballroom“ in San Francisco Eingeweihten auf der Zunge.

So sehr die Ausstellung auch Lust auf die passende Musikbegleitung macht (vielleicht wird sie gar geliefert?), geht es doch in erster Linie um optische Aspekte. Die Pop-Graphiker (z.B. Wes Wilson, Victor Moscose) haben in nahezu allen Epochen der Kunstgeschichte produktiv gewildert. In Eigentumsfragen lax, machten sie ihre Inspirationsquellen in den wenigsten Fällen kenntlich. Die Herkunft der Motive war denn auch offensichtlich genug: Wenn eine altägyptische Szene für ein Konzert von „Jefferson Airplane“ in San Francisco wirbt, wenn sich Franz von Stucks Jugendstilbild „Die Sünde“ oder Michelangelos nackte Adam-Figur inmitten der grellbunten Pop-Elemente wiederfinden, dann verschwimmt die Grenze zwisehen „Hoch“- und „Gebrauchskunst“.

Eine dominierende Rolle spielen psychedelische, wohl nicht selten im Drogenrausch erzeugte, pflanzenartige Windungsformen und explosive Farbzusammenstellungen. Auch die vibrierenden Augentäuschungen der Op-Art sind immer für Effekte gut, besonders in Leuchtfarben. Oft wird auf Mythen der amerikanischen Pionierzeit angespielt – Goldgräber, Indianer, Cowboys. Aber auch US-Mythen der Neuzeit werden zitiert, indem z. B. Disney-Figuren als Gitarren-Freaks abgebildet werden.

Erstaunlich, daß viele Exponate der eigentlichen Funktion eines Plakatanschlags, eingängig zu sein, diametral zuwiderlaufen. Überraschend schon die kleinen Formate, die überwiegend unserem „DIN A 2″ entsprechen. Vielleicht wollte man Papier sparen. Nur im Kontext jener Jahre ist hingegen verständlich, daß oft die Namen der Gruppen im optischen Gestrüpp „versaufen“. Mögliche Schlußfolgerung: „Man“ stand unter Drogen – und es war zweitrangig, wer die Musik dazu machen würde…

Man hätte die Plakate nach Bildelementen (typisch etwa die Skelette und Totenköpfe, nicht nur bei „Grateful Dead“ – den „Dankbaren Toten“) oder nach Rock-Formationen geordnet hängen können. In Recklinghausen hat man sich für die zeitliche Abfolge entschieden, folglich wird die Fülle der Plakate kaum strukturiert. Aus Etatgründen fehlt leider auch ein Katalog, der leicht eine Pioniertat hätte werden können.

Die Ausstellung, für Rock-Fans nahezu ein „Muß“, ist ab Sonntag bis 30. September zu sehen (Öffnungszeiten: di-fr 10-18 Uhr, sa/so 11-17 Uhr). Sie wird passend ergänzt durch Pop-Graphik (Warhol, Wesselmann, Lichtenstein & Co) aus dem Eigenbesitz der Kunsthalle.




Mit dem Messer der Leinwand die dritte Dimension eröffnen – Werkschau über Lucio Fontana in Bielefeld

Von Bernd Berke

Bielefeld. Aufs Neue mehrt die Kunsthalle Bielefeld ihren Ruf, ein Ort der „stillen Sensationen“ zu sein, den sie jüngst vor allem mit Ausstellungen der Zeichnungen Seurats und der „Todesthemen“ Picassos gefestigt hat. Diesmal widmet man einem weiteren wichtigen Neuerer der Moderne, Lucio Fontana (1899-1968), eine beachtliche Retrospektive (bis 23. 9. – Katalog und Beiheft 35 DM).

Ursprünglich sollte die Werkschau (über 120 Arbeiten) nur in München und Darmstadt präsentiert werden, doch unter sanftem Hinweis aufs eigene Renommee gelang es den Bielefeldern, die Zusammenstellung auch noch in ihr Haus zu lotsen. Wohl zum letzten Mal ergibt sich damit die Gelegenheit, Fontanas Oeuvre ohne konservierende Bildverglasung und somit möglichst unverfälscht zu betrachten.

Bekannt geworden ist der in Argentinien geborene Fontana, der meist in Mailand gelebt hat, durch seine Schlitz- und Perforationsbilder, die nach langen kunsttheoretischen Vorüberlegungen erst ab 1949 entstanden. Solche „Verletzungen“ der Leinwand mit dem Messer sollten – nachdem die Malerei jahrhundertelang und zunehmend geschickter den Raum perspektivisch vorgetäuscht hatte – den befreienden Weg zur einer wirklichen „dritten Dimension“ eröffnen und zugleich den Prozeß der Produktion sichtbar machen. Die Leinwand wird zum Relief, zur plastischen Form.

In Bielefeld legt man allerdings nicht nur auf diese Markenzeichen des Künstlers Wert. Vielmehr wird die ganze Ausdrucksbreite des Werks chronologisch aufgefächert, beginnend mit futuristisch inspirierten Arbeiten aus den 20er Jahren. Auch hat man eine verschollene, bislang nur auf Fotos dokumentierte Neon-Installation von 1951 rekonstruiert, die nun mit weit ausgreifenden Schwüngen den Deckenbereich des Museums bestimmt. Mit solchen „Raumkonzepten“ wurde der Sohn eines italienischen Bildhauers zum Vorläufer einer ganzen Reihe von Environment-Künstlern der 60er Jahre. Auch die deutsche „Zero“-Gruppe verdankte ihm Ende der 50er Jahre erklärtermaßen viel. Strukturen der „Nagelkunst“ Günter Ueckers etwa sind schon in den durchlöcherten Leinwänden Fontanas angelegt.

Viele Exponate bleiben rätselhaft, nähren aber die Vorstellungskraft des Betrachters ganz entschieden – so die Serie der fast zwei Meter hohen, durchlöcherten Ei-Formen mit dem Titel „Das Ende Gottes“ oder die Reihe der Venedig-Bilder, die trotz völliger Abstraktion die Atmosphäre einer Mondnacht oder eines Sonnentags hervorrufen.




Eine Epoche der Plastik wird neu besichtigt – „Skulptur des Expressionismus“ in der Kölner Kunsthalle

Von Bernd Berke

Köln. Ein Ausstellungs-Glücksfall in der Domstadt: Die meisten gezeigten Arbeiten sind so gut wie unbekannt, die Epoche, aus der sie stammen, ist jedoch allgemein anerkannt. „Skulptur des Expressionismus“, ab heute in Gestalt von 125 plastischen Arbeiten von 33 Künstlern in der Kölner Kunsthalle zu sehen (bis 26. August, Katalog 38 DM), schließt eine bislang kaum bewußt gewordene Lücke in der Kunstgeschichte.

Vermutlich kein Zufall, daß dies gerade jetzt geschieht. Allerneueste Bildhauerei knüpft ja – wie jetzt in der bewußt parallel zur Kölner Ausstellung gezeigten Duisburger Schau „Bella Figura“ zu sehen –nicht selten beim Expressionismus an.

Wohl zählt die Malerei jener Stilrichtung längst zum unverzichtbaren Grundstock aller größeren Museen, doch daß z. B. Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Emil Nolde auch plastische Meisterwerke schufen, ist noch nie in dieser Breite demonstriert worden. Köln ist die einzige Station der „bahnbrechenden“ Schau (US-Kommentar) in Europa. Zusammengestellt wurden die aus 70 Museen und PrivatSammlungen stammenden Exponate (Entstehungszeit: 1907 – 1925) vom Los Angeles County Museum of Art. Dabei tauchten sogar verschollen geglaubte Werke wie etwa Kirchners „Tänzerin mit Halskette“ (1910) wieder auf.

Die landläufige Vorstellung, expressionistische Plastik sei im Wesentlichen mit den Namen Barlach und Lehmbruck abgetan, kann angesichts dieser Ausstellung kaum aufrecht erhalten werden. Gewohnte Auffassungen müssen differenziert werden, denn gerade die bis dato nur als Maler berühmten „Brücke“-Mitglieder vollzogen entschiedene Abkehr von den Leitfiguren.

Schon die Wahl des Materials (Barlach bevorzugte Bronze und Stein) macht einigen Unterschied aus. Heckel und Kirchner bearbeiteten Holz und setzten dessen Eigen Struktur als bildnerisches Mittel ein. Ihre meist blockhaften, ungeglätteten Figuren mit versunkenen oder ungestümen, immer aber „elementaren“ Gesten entstanden nach dem Vorbild afrikanischer Plastik. Naturproportionen werden gestaucht oder ins Längliche verzerrt, die Form dient dem Ausdruck psychischer Grenzsituationen.

Alle Versuche, den Expressionismus überhaupt als einheitliche Stilrichtung zu beschreiben, enthüllen sich hier als bloße Hilfskonstruktioneu. Zwar haben die Ausstellungsmacher auch Randfelder (etwa Archipenko oder Gerhard Marcks, jeweils mit gewisser Berechtigung) einbezogen, doch auch ohne diese Ausdehnung wären die Stilprägungen unterschiedlich genug. Rudolf Bellings Arbeiten etwa atmen mindestens ebensoviel konstruktivischen Geist wie expressionistischen (z.B. „Schreitender“, eine aus technoiden Formelementen gestaltete Figur). Christoph Voll wiederum widmet sich (ähnlich wie Käthe Kollwitz) sozialer Thematik.

Eine Entdeckung dieser Ausstellung ist der Schweizer Hermann Scherer, ein Adept Kirchners. Seine monumentalen Liebespaar-Figuren sind von selten erreichter erotischer Vitalität, seine als Dreiergruppe aufragende »Totenklage“ (1924/25) ist eines der eindruckvollsten Stücke der ganzen Ausstellung.




Anbetung und Ausbeutung – der Wald in der Kunst

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Zwischen Anbetung und Ausbeutung – so haben Künstler in den letzten zwei Jahrhunderten Natur gesehen und dargestellt.

Reichliches und hochkarätiges Anschauungsmaterial zur historischen Entwicklung des Naturverständnisses bietet ab heute die Kunstausstellung der Ruhrfestspiele ’84, die als Titel eine ironisch abgekürzte Eichendorff-Zeile trägt: „Wer hat Dich Du schöner Wald…“ „…aufgebaut so hoch da droben“, heißt es bei Eichendorff weiter. Schon das Katalog-Titelblatt (der „Holzfäller“ des jüngst wieder enorm aufgewerteten Schweizers Ferdinand Hodler) läßt ahnen, daß aufbauende Kräfte sich dem Wald nur selten widmeten.

Wohl noch nie hat die Kunsthalle Recklinghausen mit so vielen großen Namen aus der Kunstgeschichte aufwarten können: Cézanne, Corinth. Corot, Courbet, Max Ernst, C.D. Friedrich, Heckel, Klee, Kirchner – und so weiter im Alphabet.

Der Wald in der Kunst seit 1800: Anhand von 188 Leihgaben aus ganz Westeuropa kann man hier verfolgen, wie jede Epoche, jede Stilrichtung dazu ihre eigene, kaum verkennbare Anschauung entwickelt hat. Es beginnt mit Beispielen der Romantik, deren Vertreter den Wald in quasi religiöse Höhen entrückt haben. So bringt etwa Caspar David Friedrich Bäume in unmittelbaren Bildzusammenhang mit einer Kathedrale. Der Verdacht, daß hier etwas „vergoldet“ wurde, was schon verloren zu gehen drohte, ist kaum von der Hand zu weisen.

Im Biedermeier, zum Beispiel bei Spitzweg, dient der Wald vornehmlich als künstlich komponierte Staffage für idyllische Szenen. Übrigens erweist sich gerade Spitzweg, ansonsten Liebkind der Andenkenhändler, mit den in Recklinghausen gezeigten Bildem als Maler von Rang.

Mit der Industrialisierung setzt Stadtflucht auch unter den Malern ein. Der Wald wird aufgesucht als Hort einer – allerdings kaum noch auffindbaren – Einheit zwischen Mensch und Natur. Gleichzeitig werden erste kritische Ansätze sichtbar. Aus expressionistischer Zeit finden sich Belege einer starken antizivilisatorischen Strömung, während in der Neuen Sachlichkeit – Zeichen von Resignation? – Natur und Wald so gut wie gar nicht dargestellt werden.

Vielleicht sollte man aber beim musealen „Waldspaziergang“ durch die Ausstellungsräume gar nicht chronologisch vorgehen, sondern mit der Gegenwartskunst im oberen Stockwerk beginnen, weil sie den eigenen Erfahrungen am nächsten kommt, um sich erst dann in die Historie „zurückzuarbeiten“. Unter den Heutigen fällt besonders Timm Ulrichs auf, der sich dem Thema mit subtilen Gedankenspielen nähert. Beispiel: Auf einer Wippe befinden sich eine dickleibige Kugel und ein winziges (echtes und regelmäßig begossenes) Bäumchen. Würde es wachsen, käme irgendwann die Wippe in Bewegung und die Kugel würde den Baum überrollen. Wachstum als Selbstzerstörung? Ein weites Feld für die Deutungs-Phantasie.

Ganz anders, doch nicht minder eindrucksvoll verfährt Matthias Koeppel, der in altmeisterlicher Manier Zitate aus der Kunstgeschichte verarbeitet. Erst bei näherem Hinsehen bemerkt man die ans Abstruse grenzenden Verformungen der Bäume.

Kunsthalle Recklinghausen: „Wer hat Dich, Du schöner Wald…“ (Ausstellung der Ruhrfestspiele’84). Bis 24. Juni. Katalog 18 DM.




Einöden der Historie – Werkschau von Anselm Kiefer in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Jahrgang 1945, und schon eine nennenswerte Werk-Rückschau – Anselm Kiefer, Schüler des einstweilen noch berühmteren Joseph Beuys, ist schon ein Jemand in der Kunstwelt. 50 Gemälde, zumeist in den Kiefer-typischen Riesenformaten, dazu 100 Aquarelle, Gouachen und Buchobjekte zeigt jetzt die Düsseldorfer Kunsthalle (bis 5. Mai, Katalog 30 DM).

Kiefer bezieht seine Stoffe teilweise aus heiklen Bezirken: Germanische Mythen, deren Umformung durch Richard Wagner, „hehre“ Historie: Auf einem Bild namens „Wege der Weltweisheit“ werden führende Köpfe deutscher Geistesgeschichte zu einem mythischen Reigen rund um eine Feuerstelle arrangiert: Dichter und Denker, die (Kiefer zufolge) die „Hermannschlacht“ des Cheruskers immer wieder zum Zentrum nationaler Identifikation gemacht haben.

Gegen Kiefer ist wiederholt der Vorwurf erhoben worden, „faschistische Kunst“ zu produzieren. Auch mir fällt es schwer, unmittelbare und entschiedene Brechungen des skizzierten Themenkreises auszumachen. Vielleicht ist Kiefers Kunst tatsächlich faschistisch (miß)deutbar. Große Vorsicht ist aber geboten, wendet sich Kiefer doch z. B. auch frei nach Theodor Fontane dem „Märkischen Sand“ oder biblischen Motiven zu. Außerdem sollte zu denken geben, daß gerade israelische und französische Aussteller weniger Berührungsangst zeigen: Jerusalem und Paris sind weitere Stationen der Retrospektive.

Auf dem Bild „Vater, Sohn, Heiliger Geist“: drei Stühle, von lodernden Flammen besetzt. Auch auf zahlreichen anderen Bildern wiederkehrend: Feuer, leerer, erdfarbener Raum, zur Mitte zentriert, den Betrachter gleichsam dorthin „einsaugend“.

Weiteres Schlüsselwerk: „Malerei dcr verbrannten Erde“ – eine Palette schwebt in versengter Landschaft. Auch hier, wie so oft bei Kiefer, hingeworfene Schriftzüge. Sie schweben in menschenleeren Räumen oder verlassenem Gelände, durchziehen (u.a. mittels Ankokeln der Bildoberfläche) aufgerauhte, verwüstete Landschaftsformationen. Endzeitbilder einer Einöde, welche die Geschichte hinterlassen und aus der sich der Mensch verabschiedet hat?