Appetithäppchen aus der Fremde – Dennis Gastmanns „Atlas der unentdeckten Länder“

Atlas der unentdeckten Länder Wenn es einer schwer hat in der durchkarthographierten, digitalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, dann ist es der Entdecker und Abenteurer. Die Welt ist vermessen, ganz bequem kann man vom Schreibtischstuhl aus per Mausklick allüberall hinreisen. Was also tun, wenn man im Herzen ein Entdecker und Abenteurer ist?

Der Journalist Dennis Gastmann ist so einer, getrieben von der Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer, will er so schnell nicht klein beigeben. Natürlich weiß er, „dass alle Länder dieser Welt längst entdeckt worden waren“, er weiß „aber auch, wie unerreichbar manche von ihnen scheinen.“ Also macht er sich auf und sucht „das Unbekannte, verborgene Königreiche, verbotene Berge, ferne, vergessene, magische Orte“ wie die tausendjährige Mönchsrepublik Athos. Er überwindet Berge und Ozeane, aber auch ungezählte „bürokratische Schützengräben“. An all dem lässt er den Leser in seinem „Atlas der unentdeckten Länder“ teilhaben.

Unter Haien und in der Wüste

Eingerahmt von sorgfältigen Schwarz-Weiß Illustrationen, die Details aus den Geschichten zeigen, erzählt Gastmann in seinen Reportagen von versinkenden Inseln wie dem einstigen Zufluchtsort der Bounty-Meuterer Pitcairn und von deren eigenwiligem Autarkie-Verständnis. Er taucht mit Haien, kämpft gegen Sandstürme in der Wüste und wandelt auf den Spuren von Tom Hanks, als er tagelang in einem Flughafenterminal kampiert.

Wenn es nicht anders geht, arrangiert sich Gastmann für seine Reise auch mit Staatsformen, die durchaus als mafiös zu bezeichnen sind (und das ist noch wohlwollend). Immerhin kann er von sich sagen, die Gastfreundschaft der Karakalpakstaner genossen zu haben. Ihm ist kein Weg zu weit, um seine journalistische Neugier und seine Entdeckerfreude zu stillen.

Sehnsucht nach dem Abenteuer

Aber was genau er bei all dem herausfinden will, wird nicht ganz klar. Die einzig klare Intention ist es, Abenteuer zu erleben, alles andere bleibt im Ungefähren.

Dennis Gastmann ist ein deutscher Reise-Schriftsteller und Moderator, eine erste größere Öffentlichkeit erreichte er mit gleichermaßen witzigen wie entlarvenden Beiträgen für das Satiremagazin „Extra3“, in dem Gastmann in die Rolle der renitent penetranten Reporterfigur „Dennis“ schlüpfte. Gastmann bezeichnet sich selbst als Gonzo-Reporter. Diese Form von Journalismus charakterisiert sich durch die Berichterstattung aus subjektiver Sicht des Autors, der sich und seine Erlebnisse selbst in Beziehung zum Thema setzt.

Und genauso subjektiv muss man sich auch an die Lektüre dieses Buches begeben. Dennis Gastmann geht es allenfalls am Rande um die Vermittlung von Wissen, Vorwissen wird sogar vorausgesetzt. Besser man hat bei Lektüre immer ein Nachschlagewerk der Wahl zur Hand. Oder ein kleines, feines Kulturportal mit Bildungsanspruch – dann weiß man zumindest im Kapitel über Ladonien, worüber genau der Autor da gerade so wehmütig sinniert.

Schmaler Erkenntnisgewinn

Gastmann ist unbestritten ein sehr genauer Beobachter. Umso bedauerlicher, dass er von seinem mühevollen Reisen meist nur Mikro-Ausschnitte wiedergibt. Letzten Endes ist sein Buch nicht mehr als eine Sammlung von zwar amüsanten flott geschriebenen Anekdoten, deren Erkenntnisgewinn aber marginal ist und sich auf Urteile wie „Wilhelm Bligh, der cholerische Kapitän der Bounty, war ein überforderter CEO“ beschränkt.

Wer vorherige Werke von Gastmann wie beispielsweise seinen Ausflug in die „Geschlossene Gesellschaft“ der Superreichen kennt, vermisst auch die leichte Prise Boshaftigkeit, die seine Werke sonst oft begleiteten. Das geht einerseits in Ordnung, weil er mit viel Respekt auf die schaut, denen er begegnet. Andererseits fehlt aber der kritische Blick auf soziale und politische Mißstände. Den muss sich der Leser schon selbst aus erwähnten Versatzstücken zusammenklauben.

Meinung wird schmerzlich vermisst

Schon beim Titel empfindet man leichte Irritation – das Werk enthält weder genauere Ortsbeschreibungen noch wenigstens eine Karte, die den Titel Atlas rechtfertigen würde. Und dieses Gefühl der Irritation bleibt. Wenn man sich als Leser auf Reisereportagen einlässt, dann will man doch etwas lernen, etwas Neues erfahren. Anekdoten wie die gebotenen bekommt man auf jeder Familienfeier und da ist es irgendwo auch egal, ob sie vom öffentlichen Nahverkehr am Chiemsee oder in Palästina handeln.

Nun könnte man argumentieren, dass die Berichte über unterschiedlichen Lebensstile immerhin die Frage aufwerfen, was uns das über den Rest unserer durchorganisierten Welt sagt. Auch Gastmann stellt diese Frage, aber er geht ihr auch nicht im Ansatz nach. Da ist er – Gonzo hin oder her – klassicher Journalist. Er berichtet und fertig. Dabei wäre die Meinung desjenigen, der wirklich vor Ort war, schon interessanter gewesen als die Meinung, die man sich als Leser nach den servierten Häppchen selber bildet.

Dennis Gastmann: „Atlas der unentdeckten Länder“. Illustrationen von Harry Jürgens. Rowohlt Berlin. 267 Seiten, €19,95.




Lars Vilks „Nimis“: Kunstwerk aus Treibholz reizt seit Jahrzehnten die Staatsmacht

Wer kann schon von sich erzählen, dass er während einer Reise durch den Norden Europas in vier Ländern und vier Hauptstädten gewesen sei, er sich aber nur in zwei staatlichen, vollorganisierten Gebilden aufgehalten habe. Ja, das geht!

Man reist durch Schweden, besucht Stockholm, durchfährt Schonen und trifft am Kullaberg auf Ladonien und Nimis, dehnt die Fahrt auf Dänemark und Kopenhagen aus und streift dort durch ein Lebensquartier mit Namen „Christiania“ mit der Hauptstadt gleichen Namens.

Schweden und Dänemark sind ja den meisten durchaus ein Begriff, „Christiania“ ist jedem ein solcher, der Hippies, Hanf und Hausbesetzer noch in die ihnen zugeordneten Schubladen einsortieren kann. Ladonien hingegen kennen nur Kenner – und seit einer ausgedehnten Fahrt durchs schwedische Schonen auch ich. 1980 begann dort im Naturschutzgebiet Kullaberg in einer vom Festland aus schwer zugänglichen (oh ja) Bucht der Künstler Lars Vilks Treibholz zu sammeln und es mit unzähligen Nägeln zu einer bekletterbaren Monsterskulptur zu zimmern.

Sehr zur ungnädigen Wahrnehmung der örtlichen Behörden, die in dem artifiziellen Hammerschlag-Puzzle ein Gebäude witterten, was in einem naturgeschützten Gelände nicht sein darf. Das dem Gotte Thor vorbehaltene Schlaginstrument senkte sich also büokratischerseits über Lars Vilk, dem nun das zuteil wurde, was er vermutlich billigend in Kauf nahm: eine allerseits wachsende Aufmerksamkeit.

Behördlich wurden nun salvenweise Abrissverfügungen auf den Freiluftildhämmerer abgefeuert, die er mit wachsendem Fleiß und ständig neuen Ausbauten seiner Kunst, der inzwischen der Name „Nimis“ gegeben worden war, was aus dem Lateinischen hergeleitet wird und so viel wie „zu viel“ bedeutet.

Zwischenzeitlich, als Lars Vilks Fleißarbeit 15 Tonnen wog, hatte ein behördentreuer Stifter einen Brand gelegt, der große Teile von „Nimis“ einäscherte, was Lars Vilks Eifer aber zusätzlich befeuerte und ihn antrieb, beim Wiederaufbau die ursprüngliche Tonnage noch zu übertreffen. Um es vor dem unmittelbar bevorstehenden amtlichen Zugriff zu schützen, verkaufte er „Nimis“ an seinen Freund Joseph Beuys und nach dessen Tod an die Weltverhüller Christo und Jeanne Claude.

1996 trieb Lars Vilk den Kampf gegen Schonen und Schweden auf die Spitze, rief den Microstaat Ladonien aus, abgeleitet von Ladon (griechisch), einem mythologischen Drachen. Zuvor hatte er mit der Arbeit an „Arx“ (Festung) begonnen, einer wuchtigen Steinskulptur, zu der sich 1999 der 1,61 Meter hohe „Omphalos“ gesellen sollte.

Nun mussten sich Polizei und Ämter nicht nur mit „Nimis“ herum plagen, sondern auch noch „Arx“ (Das ist ein weiteres, nennenswertes Kunstwerk in der Nähe von Nimis in Form einer Skulptur aus mit Beton zusammengehaltenen Steinen, die ein abstraktes Buch verkörpern. Es wiegt 150 Tonnen, hat 352 Seiten und wurde sogar 1993 im schwedischen Verlag Nya Doxa veröffentlicht. Arx bildet den zweiten Teil der Verfassung Ladoniens.) und „Omphalos“ gesetzlich zu bekämpfen. Lars Vilk wurde schließlich verdonnert, „Omphalos“ in geeigneter Weise zu beseitigen, die beiden anderen Kunstwerke blieben allerdings verschont, bei denen hatte der Staat aufgegeben.

Zum 100. Geburtstag des Friedensnobelpreises am 10. Dezember 2001, so schlug Lars Vilk in der Folge vor, könne er ja „Omphalos“ in die naturgeschützte Luft der Skagerag-Küste jagen (natürlich mit Nobel’schem Dynamit), was amtlicherseits wenig Beifall fand. Dafür wurde ein Beschluss gefasst, der strengstens geheim gehalten wurde – und „Omphalos“ von staatssicherheitlichen Einheiten am 9. Dezember 2001 entfernt. Dabei nahm die Skulptur, die inzwischen an den Künstler Ernst Billgren verkauft war, Schaden, was den neuen Besitzer gehörig empörte. Er schenkte die vernarbte Kunst aber postwendend dem Moderna Museet, wo sie noch heute ausgestellt wird.

Der listige Lars Vilk ersuchte nun um die Erlaubnis, dem verlorenen Kunstwerk ein Denkmal setzen zu dürfen, die er auch erhielt, nur dürfe dieses Denkmal nicht höher als 8 Zentimeter groß sein. Das Kunstwerk-Denkmal wurde am 27. Februar 2002 seiner Bestimmung feierlich übergeben. Und der ungleiche Kampf endete mit der stöhnenden Aufgabe von Seiten der staatlichen Gewalt.

Ladonien existiert nach wie vor. Es fand seine Hauptstadt in „Wotan“, einem separat stehenden Turm des Gesamtkunstwerkes. 15.000 Einwohner ergab der jüngste Micozensus, allesamt Nomaden und nicht in Ladonien sesshaft. Die Landesflagge ist gekennzeichnet durch ein grünes Kreuz auf grünem Grund (für Grün-Fehlsichtige wird bisweilen auch das Kreuz mit zarten Weißstrichen in lybische Grün gemalt. Für 12 US-Dollar kann man sich einen Adelstitel beschaffen, Ministerien gibt es auch, Steuern werden in Form von Kreativität erhoben.

Ich könnte ja jetzt angeben und sagen: „Muss man gesehen haben!“ Hab‘ ich aber nicht, jedenfalls nicht mit eigenen Augen. Yannic, jung und enorm behende, kraxelte für mich durch „Nimis“, bestaunte den ungewöhnlichen Mut schwedischer Eltern, die es zuließen, dass geschätzte 12-Jährige Türme erklommen, die nicht einmal er bezwang und schwärmte noch lange von dem Kunstwerk, das über Jahrzehnte Heerscharen von Amtsgewaltigen beschäftigte.