Guy Joosten verschenkt Verdis „Don Carlo“ an der Düsseldorfer Rheinoper

Kampf der Mächte: König Philipp (Adrian Sampetrean, rechts) legt sich mit dem Großinquisitor (Sami Luttinen) an. Foto: Hans Jörg Michel

Kampf der Mächte: König Philipp (Adrian Sampetrean, rechts) legt sich mit dem Großinquisitor (Sami Luttinen) an. Foto: Hans Jörg Michel

Die Oper in Bonn erschließt mit „Jérusalem“ neue Verdi-Dimensionen. Frankfurt erarbeitet mit „Stiffelio“ einen ungewöhnlichen, spannenden Stoff aus entlegenen Regionen der Verdi-Rezeption und holt mit „Oberto“ dessen erste Oper ins Licht einer validen musikalischen Wiedergabe. In Düsseldorf, an der Deutschen Oper am Rhein, die vor Generationen für avancierte Spielpläne bekannt war, bleibt Intendant Christoph Meyer seiner Linie treu. Mit „Don Carlo“ füttert man das übliche Vierzig-Werke-Repertoire auf. Statt perspektivischer Blicke ein Rückzug aufs massen- und kassenkompatible Allerwelts-Einerlei.

Und genau dazu passend kommt die Inszenierung von Guy Joosten daher. Die Bühne von Alfons Flores mag in ihrer goldenen Geometrie – wozu eigentlich? – an den „Palazzo dei Diamanti“ in Ferrara erinnern, wirkt aber in ihrer belanglosen Ästhetik wie ein modisches Tagungshaus-Foyer der siebziger Jahre. Dazu gibt es mal brillantes, mal gedämpftes Licht von Manfred Voss, dann drohen feuerfarbene Schattierungen, und zwei Mal schaltet sich für kurze Momente blaues Licht ein – sich dem Verständnis entziehendes subtiles Interpretationsmoment oder einfach nur der falsche Schalter in der Lichtbude? Hänger fahren rauf und runter, der Raum wird vergrößert oder reduziert. Zum Autodafé gibt es ein bisschen züngelnde Flammen als Projektion. So hat man vor vierzig Jahren die Oper modernisiert.

Bettkantengeflüster

Joosten stellt – wie originell – ein Bett ins Zentrum. Darin wälzt sich der König auf die aus politischer Räson geheiratete Braut seines Sohnes Carlos, während der, ein geistig beschädigter Neurotiker, von Posa zum Werkzeug seiner Pläne gemacht wird und zum final gebrüllten „Libertá“ des Duetts hinausstürmt. Als Bettkantengeflüster nimmt Joosten auch das hochbrisante Gespräch des Königs mit dem unabhängig denkenden Marquis, der sich erst mal entspannt auf die Federn lümmelt. So läppisch will Joosten offenbar eine offene Gesprächsatmosphäre signalisieren, während der anklagende Aufschrei Posas, der König habe Spanien den „Frieden der Gräber“ bereitet, ziemlich eindruckslos an dem Monarchen abperlt. Auch der weibliche Hofstaat um die ehrgeizige Eboli gruppiert sich in putzigen Rüschchenkostümen Eva Krämers auf dem Bett, in das wenige, psychologisch unbeleuchtete Momente später, der Infant seine ehemalige Verlobte zieht.

Geistig beschädigter Neurotiker: Don Carlo (Gianluca Terranova) provoziert seinen Vater im Ketzergewand. Links Ramona Zaharia als Eboli, rechts Olesya Golovneva als Elisabetta. Foto: Hans Jörg Michel

Geistig beschädigter Neurotiker: Don Carlo (Gianluca Terranova) provoziert seinen Vater im Ketzergewand. Links Ramona Zaharia als Eboli, rechts Olesya Golovneva als Elisabetta. Foto: Hans Jörg Michel

Verschenkt ist das Autodafé, jene zentrale Scharnierstelle in der Oper, in der Verdi das Meyerbeer’sche Politdrama mit den intimen seelischen Tragödien verschmilzt. Da leistet sich Düsseldorf einen brutalen Strich und führt damit längst überwunden geglaubte Traditionen geringschätzender Eingriffe in Verdis Partituren weiter – man stelle sich so etwas in Wagners „Lohengrin“ vor! Dass die flandrischen Gesandten mit Eselsohren auftreten, angeführt von Carlos im Ketzerkostüm, ist eigentlich nicht mehr wichtig – die Inszenierung hat zu diesem Zeitpunkt schon längst ihre Chancen verspielt.

Ohne Tiefenblick

Und die hätte es gegeben: Aus dem schwachen, mit Komplexen und Ticks belasteten Carlos, der sich vor Konflikten unter der Bettdecke verkriecht, hätte eine konsequent beleuchteter Charakter werden können. In Elisabetta sieht Joosten offenbar eine selbstbewusste junge Frau, die dem König offen ins Angesicht widerstehen kann, aber die Schemen einer Personenkontur schärfen sich nicht. Der Moment im Autodafé, in dem sie ihm ihre Hand verweigert und er sie sich gewaltsam nimmt, war eines der wenigen Signale einer Deutungsidee. Aber sie verpuffen im goldenen Rahmen und der lahmenden Fadesse einer Personenführung ohne Tiefenblick.

Hätte es nun wenigstens sängerische Lichtblicke gegeben. Aber die Deutsche Oper am Rhein wird auch da ihrem früheren Ruf nicht mehr gerecht. Zwar wird Gianluca Terranova applaudierend gefeiert, aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass er ein finessenlos, bisweilen grob singender neo-italienischer Lautstärke-Tenor ist. Mit seiner festgesessenen Stimme bemüht er sich spürbar um den lyrischen Bogen, um den fein schmelzenden Ton. Da er aber ständig Druck anwenden muss, fehlt ihm die geschmeidige Entfaltung des Klangs, die technisch abgesicherte dynamische Flexibilität, die leicht ansprechende Höhe. Die Misere heutigen Verdi-Gesangs könnte Terranova trefflich exemplifizieren. Ähnlich der diesmal enttäuschende Laimonas Pautienius mit einem galligen, zu weit hinten sitzenden Bariton. Die chevaleresken Töne in der Szene mit Eboli fehlen ihm ebenso wie der idealistische Ton des Freiheitsstrebens oder die verklärten Momente der Todesszene.

Sami Luttinen hat nicht, was Verdi mit „tinta“ bezeichnet, jene untergründige Farbe des Bedrohlichen in der Stimme. Sein Bass erklimmt die Höhe mit Kraft, bleibt im Zentrum unverbindlich. Das Duett mit dem König verharrt im Rahmen einer jovialen Unterhaltung. Für Adrian Sâmpetrean eine Herausforderung, die er – wie das klagende Bekenntnis seiner existenziellen Einsamkeit in seiner Arie – mit Anstand bewältigt, auch wenn ihm die Reife der Gestaltung noch abgeht.

Olesya Golovneva ist eine anrührende Elisabetta mit Momenten der Zerbrechlichkeit wie der inneren Stärke, die sich stimmlich beglaubigen kann, so lange keine Tiefe gefordert ist. Aber sie hat das wehmütige Legato, mit dem sie ihrer vom König gedemütigten Freundin ihr Herz mit zurück nach Frankreich gibt; sie hat auch den abgeklärten Blick auf die „Vanitas“ des Lebens, deren Erkenntnis den alten Karl V. ins Kloster gehen ließ.

Jeder erledigt nur sein Ding

Ramona Zaharia bringt für die Prinzessin Eboli glanzvolle Substanz, ansprechende Höhe und eine gut fundierte Tiefe mit, offenbart aber auch, dass ihr für ein entspanntes Singen der Verzierungen des Schleierlieds die Länge des Atems fehlt. Torben Jürgens erklärt mit respektablem Bass den tiefen Irrtum des ehrgeizigen, zu Staub zerfallenen Kaisers Karl V., Anna Tsartsidzes leichter Sopran veredelt die wenigen Sätzchen des Pagen Tebaldo, Natali Dzemailova kleidet als Contessa Aremberg ihren Schock über den brutalen König in Eleganz. Ibrahim Yeşilay (Lerma) und Sylvia Hamvasi (Stimme vom Himmel) bleiben ihren Partien nichts schuldig. Gerhard Michalskis Chor, in seiner zentralen Szene in den Hintergrund verbannt, singt sich routiniert durch die Oper.

Das Orchester leitet der Ukrainer Andriy Yurkevych, GMD der Polnischen Nationaloper Warschau. Er tut sein Bestes, um dem Abend musikalisch Belang zu geben, wählt aber schwankende Tempi, deren Sinn nicht aufgeht, zumal er gegen Ende hin die Sänger mit zäher Langsamkeit strapaziert. Der Eindruck drängt sich auf, dass auf der Bühne und im Graben jeder sein Ding erledigt, ohne den Kontakt über ein Minimum hinaus zu pflegen oder gar in den Dienst einer gemeinsamen musikalischen Aussage zu stellen. Und das Ding im Graben kommt, wie bei den Düsseldorfer Symphonikern leider öfter, nicht über solide Routine hinaus, gewürzt hier und da durch sorgfältig modellierte solistische Momente. Alles in allem ein verzichtbarer Opernabend. Schade um die Zeit.

Weitere Vorstellungen am 27. Februar, 3., 6., 13., 19., 28. März, 2. April. Karten: (0211).89 25 211, www.operamrhein.de




Massenet im Focus (I): „Werther“ nach Frankfurt und Essen nun in Düsseldorf

Seltsames Phänomen: Da gibt es Komponisten oder Werke, die jahrelang kaum auf den Spielplänen auftauchen. Und auf einmal bricht eine Welle los und schwappt reihum über die Bühnen weg. So geht es derzeit mit Jules Massenet.

„Werther“ in Essen, Gera, Frankfurt, Saarbrücken, Weimar; „Manon“ in Krefeld, das sonst kaum gespielte Spätwerk „Don Quichotte“ in Wuppertal, Gelsenkirchen und jetzt Hagen, „Esclarmonde“ als gefeierte Ausgrabung in Dessau, am 18. Mai das noch seltenere exotische Kurtisanendrama „Thaїs“ in Bonn. Und als jüngste Premiere an der Düsseldorfer Rheinoper wieder der Goethe’sche Held, gebettet in den exquisiten französischen Klang zwischen Wagner und Verismo.

Warum das so ist? Wahrscheinlich unerklärbar. Mag sein, dass in den Repertoire-Strichlisten in den Dramaturgiebüros unter „französisch“ eine Lücke war; mag sein, dass sich zufällig gerade jetzt Regisseure, Intendanten oder Kapellmeister – unter die GMD-Stücke zählen Massenets Opern ja nicht – für das Genre interessierten. Zeitgeistig ist jedenfalls nichts identifizierbar, was etwa „Werther“, das parabelhafte Endspiel einer entgrenzten, aber unmöglichen Liebe, ausgerechnet für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts qualifizieren würde. Selten war eine Jugend so weit entfernt vom verzweifelten Enthusiasmus eines Werthers wie heute.

Erinnerungen im Angesicht des Todes: Für "Werther" in Düsseldorf schuf Alfons Flores die Bühne, das Licht in satten Farben richtete Volker Weinhart ein. Foto: Hans Jörg Michel

Erinnerungen im Angesicht des Todes: Für „Werther“ in Düsseldorf schuf Alfons Flores die Bühne, das Licht in satten Farben richtete Volker Weinhart ein. Foto: Hans Jörg Michel

Der andorranische Regisseur Joan Anton Rechi ist dank seiner „Csardasfürstin“ an der Rheinoper kein Unbekannter; unter anderem hat er 2011 in Mainz mit einem grandios durchleuchteten „König Roger“ von Karol Szymanowski auf sich aufmerksam gemacht. Mit „Werther“ stellt er auf die sattfarbenen Bühne von Alfons Flores in das scharf geschnittene Licht von Volker Weinhart ein verhangenes Drama, das am Rand der Irrealität taumelt: Erinnerungen, Halluzinationen und bedrückende Bilder, materialisierte Seelenzustände, die trotz ihrer klaren Durchzeichnung nicht an Naturalismus rühren. Den Beginn markiert keine gemütliche Genreszene, sondern ein Schuss: Werther, in blutrotem Anzug – eines der ausdrucksvoll-beziehungsreichen Kostüme von Sebastian Ellrich –, schießt sich eine Kugel durch den Bauch. Was folgt, ist der „Film“ vor dem Tode, in dem Sterbende ihr Leben vor dem inneren Auge vorbeiziehen sehen.

Quälende Familien-Idylle: Laimonas Pautienius (Albert) und Kataszyna Kuncio (Charlotte). Foto: Hans Jörg Michel

Quälende Familien-Idylle: Laimonas Pautienius (Albert) und Kataszyna Kuncio (Charlotte). Foto: Hans Jörg Michel

Auch in Frankfurt und Essen gab es Bilder, die das Drama des bürgerlichen Sturm und Drang in einen Raum eines Nach-Tristan-Gleichnisses rücken: Wolfgang Gussmann schuf für Willy Deckers sensible Personen-Balance kosmisch erweiterte Räume; Frank Philipp Schlößmann baute in Essen für Carlos Wagners manchmal ziemlich verquere Figuren-Zurichtung ein Puppenhaus, das zertrümmert und aufgebrochen wird.

Einsamkeit am Telefon. Massenets "Werther" in Düsseldorf: Katarzyna Kuncio (Charlotte), Sergej Khomov (Werther). Foto: Hans Jörg Michel

Einsamkeit am Telefon. Massenets „Werther“ in Düsseldorf: Katarzyna Kuncio (Charlotte), Sergej Khomov (Werther). Foto: Hans Jörg Michel

In Düsseldorf erschafft Flores dumpfe Räume in formlos fließenden Linien, in denen sich Zustände materialisieren: Die kahlen Bäume in schrillem Licht lassen schon zu Beginn keinen Zweifel, dass der schüchterne Traum vom Glück unter Alpdruck steht; das großbürgerliche Souper des zweiten Aktes macht mit seiner gewalttätigen Zuspitzung nicht nur die brutale Seite von Alberts Charakter offenbar, sondern denunziert nachhaltig die familiäre Idylle als zwanghaft. Im letzten Akt lässt Rechi Werther und Charlotte nur mehr miteinander telefonieren: ein surreal angehauchtes Bild eines finalen Versuchs der Kommunikation, den Albert mit dem Druck auf die Fernsprechergabel endgültig unterbricht. Damit rückt Rechi Werther in die Richtung eines Depressiven: Neunzig Prozent der Menschen, die sich umzubringen gedenken, tätigen kurz zuvor einen Anruf, erklärt er seinen Einfall im Programmheft.

In Rechis Todesfilm quälen sich auch die Szenen unter depressiver Last, über denen noch ein Schimmer nie erreichten Glücks leuchten könnte. Doch Sergej Khomov ist als Werther nur ein Erinnerungsschatten seiner selbst, mit düster fixiertem Blick und dramatischer Schwere statt flexibler Leichtigkeit in der Stimme. Katarzyna Kuncio als Charlotte ist gefangen zwischen ihrem brutal seine Besitzrechte durchsetzenden Ehemann Albert und den kompromisslos vereinnahmenden Gefühlsstürmen Werthers: Kuncio agiert mit ihrem vollen, slawisch timbrierten Mezzosopran weniger mit finessenreichen Zwischentönen, eher mit dem lodernden Verismo der seelischen Qual. Der einzige Mensch, dem es gelingt, sich in diesem Drama „außen vor“ zu halten, ist Sophie, mit viel Licht in der Stimme gesungen von Alma Sadé.

Laimonas Pautienius reagiert als Albert auf den Schmerz, vernünftig geliebt, aber nicht leidenschaftlich begehrt zu werden, mit offener Aggression – und stimmlich mit einem festen, einfarbigen, für Massenets Musik zu groben Bariton. Auch die Düsseldorfer Symphoniker unter Christoph Altstaedt entscheiden sich im Zweifel für einen handfesten Klang und gegen dynamisch-koloristisches Sfumato. Für den fiebrigen Ton der seelischen Raserei, für den offen brennenden Schmerz bleiben die Farben zu geradlinig kühl.

In der neuen Spielzeit 2014/15 lassen sich die Aalto- und die Rheinopern-Versionen des „Werther“ vergleichen: Die Wiederaufnahme am Theater Duisburg ist am 6. Dezember vorgesehen; ab 29. März 2015 läuft Massenets Oper dann wieder in Düsseldorf. In Essen steht die Wiederaufnahme ab 11. Dezember auf dem Spielplan – gefolgt von nur zwei weiteren Vorstellungen am 27. Dezember und am 7. Februar 2015.




Verzichtbar: Giuseppe Verdis „La Traviata“, aufgewärmt in Duisburg

Strahlend schön und elend einsam: Violetta (Brigitta Kele) in Andreas Homokis "Traviata" in Duisburg. Foto Hans Jörg Michel

Strahlend schön und elend einsam: Violetta (Brigitta Kele) in Andreas Homokis „Traviata“ in Duisburg. Foto Hans Jörg Michel

Ist das Hauptstadtoper? Ist das die Deutsche Oper am Rhein, einst ein viel gepriesenes und beachtetes Institut, das über Deutschland hinaus künstlerische Akzente gesetzt hat? Nach der Premiere einer nun zum dritten Mal aufgewärmten „La Traviata“ am Opernhaus Duisburg stellen sich solche Fragen noch drängender als sonst.

Ein Blick auf den Premierenplan der Deutschen Oper am Rhein: „Luisa Miller“ in Düsseldorf – eine Inszenierung aus der vergangenen Saison. „La Traviata“ als zweiter, denkbar unorigineller Beitrag zum Verdi-Jahr 2013 – eine Inszenierung aus dem letzten Jahrhundert von Andreas Homoki, seit 1996 in Leipzig im Repertoire, 2006 und wieder im Frühjahr 2013 in Bonn gezeigt. Die „Csárdásfürstin“ – ebenfalls aus der letzten Spielzeit. „Die Zauberflöte“ – ein Import aus Berlin. Und so heißt die erste kreative Neu-Tat „Lohengrin“ – im Januar 2014! Im Klartext: Die erste Hälfte der Spielzeit am Institut des bis 2019 verlängerten Intendanten Christoph Meyer bringt keine einzige tatsächliche Neuproduktion. Und die Auswahl der gezeigten Opern könnte biederer nicht sein.

Der wirkliche „Skandal“ ist nicht der missglückte „Tannhäuser“ im Mai, denn Risiken gehören zum Theater und Flops auch. Es ist die schleichende Entkernung eines einst wegweisenden Hauses, das sich offenbar davon verabschiedet, Opernkunst mit einem eigenen, klar konturierten Profil anbieten zu wollen und sich auf ein massen- und kassenkompatibles Repertoire zurückzieht. Wären da nicht die drei Wiederaufnahmen der hochkarätigen Britten-Inszenierungen von Immo Karaman im Oktober/November, der Spielplan könnte nicht austauschbarer sein.

Schnell verblüht: Kamelien umgeben Violetta (Brigitta Kele) auf Frank Philipp Schlößmanns Bühne zu "La Traviata". Drohend im Hintergrund: der alte Germont (Laimonas Pautienius). Foto: Hans Jörg Michel

Schnell verblüht: Kamelien umgeben Violetta (Brigitta Kele) auf Frank Philipp Schlößmanns Bühne zu „La Traviata“. Drohend im Hintergrund: der alte Germont (Laimonas Pautienius). Foto: Hans Jörg Michel

Über Andreas Homokis Inszenierung ist in den letzten beiden Jahrzehnten genug gesagt worden; sie zeigt sich in ihrer konzeptionellen Stringenz ungebrochen. Konzentriert auf eine Traviata, die eher eine „vom Weg gestoßene“ als eine „vom Weg abgekommene“ Frau ist, von der Masse bedroht und ausgespuckt in die Einsamkeit einer kalten, spiegelglatten, blauschimmernden Fläche.

Frank Philipp Schlößmanns Bühne, sinnig ausgeleuchtet von Volker Weinhart, lässt alles weg, was von den Menschen ablenken könnte, die ihre Beziehungen auf immer zerstören. Nicht nur diejenige zwischen Violetta, dem gesellschaftlichen Geschöpf des cholerischen Barons Douphol, und dem linkischen, aufgeregten Bürschchen aus der Provinz. Sondern auch zwischen dem mit seinen Ehrbegriffen gepanzerten Germont und seinem Sohn. Der Blick, den Alfredo über die tote Violetta hinweg seinem Vater zuwirft, lässt für die Zukunft dieser Familie nichts mehr hoffen.

Mit solchen Momenten hat Co-Regisseur Mark Daniel Hirsch die alte Homoki-Inszenierung merklich aufgefrischt. Er kann auf das präzise Spiel der Protagonisten setzen, das bis in die kleinen, dennoch wichtigen Rollen hinein trägt: Auf Cornel Frey, der dem Gastone etwas von einem schmierigen Varieté-Conferencier gibt. Auf die Flora Sarah Feredes, die leuchtend singt, sich aber dem hilfesuchenden Arm ihrer Freundin Violetta wie alle anderen entzieht. Oder auf Bruno Balmelli als Douphol, der Violetta schon Scheine ins Decolleté stopft, bevor Alfredo seinen schüchternen Auftritt hat. Dass der Baron im zweiten Akt wie ein Duisburger Vorstadtschläger gebändigt werden muss, verzeichnet den latenten Zynismus dieser Figur ins Grobe: Ein Mann wie Douphol würde sich wegen einer Kurtisane nie die Hände schmutzig machen.

Gesungen wird – und das steht symptomatisch für die Verdi-Interpretation heute – weder technisch noch stilistisch einwandfrei. Da mag der Beifall noch so herzlich rauschen: Auch Laimonas Pautienius, der Publikumsliebling des Abends, hat als bedrohlich als schwarzer Schatten auftauchender Vater Germont nicht den rund und ausgeglichen geformten Bariton, den diese Partie fordert. Zwar singt er sich im Lauf des Abends von seinen verfärbten Mundhöhlen-Tönen frei, aber die Stimme schwingt nicht ebenmäßig, klingt nicht natürlich: ein angespannt-flackriger Ton, keine schmiegsame Phrasierung. „Di Provenza …“, die belcantistische Nagelprobe für jeden Verdi-Bariton, klingt unstet, im Vibrato manchmal holprig, auch nicht elegisch abgetönt.

"Als Zeugen rufe ich euch - hier habe ich sie bezahlt!" Jussi Myllys (Alfredo) und Brigitta Kele (Violetta). Foto: Hans Jörg Michel

„Als Zeugen rufe ich euch – hier habe ich sie bezahlt!“ Jussi Myllys (Alfredo) und Brigitta Kele (Violetta). Foto: Hans Jörg Michel

Der Alfredo des Abends, der Finne Jussi Myllys, kämpft sich durch die Partie, dass man Erbarmen haben möchte. Schon im ersten Duett mit Violetta wird der dünne, jammernde Klang seines Tenors abgeschlagen. In „De‘ miei bollenti spriti“ zu Beginn des zweiten Akts zwingt er die Phrasen vergeblich auf den Atem, verliert an den heiklen hohen Stellen den Kontakt mit der Stütze und bildet fragil-heisere Töne. Für Verdi hat diese Stimme keine Fülle, keinen Kern, keine expansive Kraft und keine Reserve – von Farben oder stilistischen Finessen ganz zu schweigen. Wer ist für eine solche Besetzung verantwortlich?

Und Brigitta Kele ist vor allem eine Besetzung für’s Auge. Eine glanzvolle Erscheinung, wie sie im Vorspiel schlank, hochgewachsen und schön, in der edlen weißen Robe der Kostümbildnerin Gabriele Jaenecke alleine mit ihren Juwelen auf der Bühne wartet. Nervosität beim Debüt in einer so prominenten Rolle ist natürlich; so muss nicht jeder Ton auf der Goldwaage gewichtet werden. Aber wenn in der großen Szene „È strano ….“ die Stimme immer wieder nach hinten rutscht, wenn die Koloraturen mit aufgerissener, gerade noch erreichter Höhe unschön erzwungen werden, die Töne merklich gezwungen klingen, muss doch ein Fragezeichen gesetzt werden.

Der zweite und dritte Akt kommen Kele merklich entgegen; im Duett mit dem fordernd, fast aggressiv auftretenden Germont kann sie mit damenhafter Noblesse, aber auch todesbewusster Resignation überzeugen. Nur wenn sie im dritten Akt immer wieder gaumige Töne produziert, zeigt sich, dass an der Partie technisch noch einiges zu arbeiten wäre. Vom Chor der Deutschen Oper am Rhein hört man zuverlässige Solidität, von den Duisburger Philharmonikern viel Willen zur Gestaltung und zur Formung expressiver Details, aber auch unschön schrille Violinen und grob-lautstarke Momente.

Lukas Beikircher sucht nicht nur die ätherische Schönheit der Verdi’schen Kantilenen und die sanfte Pianissimo-Verzauberung, sondern will die Musik am dramatischen Geschehen orientieren und folgt damit Verdis Intentionen. Das Legato bekommt bei ihm Gewicht, die Phrasierung wird beredt. Das Tempo unterstreicht die untergründige Spannung, das Getriebensein der Menschen auf der Bühne. Auch wenn der Dirigent damit manchmal den großen Bogen opfert: sein Konzept hat gute Argumente für sich. Das alles ändert nichts daran, dass diese „Traviata“ als Beitrag zum Verdi-Gedenkjahr und als Ergänzung des Rheinopern-Repertoires verzichtbar ist.