Kreisende Lichtgewitter: Die Uraufführung von „Oracle“ bei der Ruhrtriennale erweist sich als prozessverliebtes Spektakel

Oben und unten, damals und heute: Szenenfoto aus der Uraufführung von „Oracle“ bei der Ruhrtriennale (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Vielleicht ist es eine Folge omnipräsenten Konsums: Bei einer aufwendigen, bombastischen Verpackung stört es viele Menschen nicht mehr, wenn der Inhalt nicht einmal die Hälfte des Volumens füllt. Als solch vorgebliche Wundertüte entpuppt sich die Uraufführung der Multimediashow „Oracle“ bei der Ruhrtriennale, mit der Regisseur Łukasz Twarkowski seine Wissenschafts-Trilogie fortsetzt.

In der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord berauscht sich das Publikum an einem gut vierstündigen Spektakel mit Lichtgewittern, Livekameras und dröhnenden Beats, das sich um Fragen der Künstlichen Intelligenz dreht. Das ist im Wortsinn zu verstehen, denn die Bühne – und mit ihr die Produktion – kreist stundenlang um sich selbst. Die Gemeinschaftsarbeit mit dem Dailes Theatre (Riga) wird auf Lettisch gezeigt, mit deutschen und englischen Untertiteln. Interessant wird sie aber erst im Abspann. Der liefert in mehreren Textblöcken nach, welche Personen am Spiel um den britischen Mathematiker Alan Turing mitgewirkt haben – und warum.

Im britischen Zentrum für Kryptoanalyse im Zweiten Weltkrieg spielt der erste Teil von „Oracle“. Der Darsteller von Alan Turing lehnt an der Wand: Wie er heißt, verrät leider weder der Programmzettel noch die Website der Triennale. (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Von Leben und Werk des genial begabten Turing, Urvater der Algorithmen und Pionier der Computerentwicklung, wird nur eine Episode näher beleuchtet: die Erfindung der sogenannten „Bombe“, ein elektromechanisches Gerät, das den als unknackbaren geltenden Enigma-Code der Nazis entschlüsseln konnte und so den Zweiten Weltkrieg um einige Jahre verkürzt hat. Den Weg zu diesem Durchbruch zeigt Twarkowski in fragmentierter Form, aufgeteilt auf Videowände (für die Bilder der Live-Kameras) und auf Innenräume in verschiebbaren Würfeln, die teils transparent, teils durch Jalousien geschützt sind. Bletchley Park, das britische Zentrum für Kryptoanalyse im Zweiten Weltkrieg, erinnert im Bühnendesign von Fabien Lédé an ein Hauptquartier aus amerikanischen TV-Krimiserien.

Die Verschachtelung der Ebenen und Erzählstränge, das Nebeneinander der Zeitfenster ist gewollt. Es gibt Risse und Sprünge, zum Beispiel vom Großbritannien der Kriegsjahre zu einer fiktiven Fernsehshow im Jahr 2023, in der ein gewisser Blake darauf beharrt, dass die Künstliche Intelligenz ein Bewusstsein hat, statt es nur zu simulieren. Dass es sich dabei um Blake Lemoine handelt, einen Google-Ingenieur, verrät erst der Abspann.

Der Darsteller von Alan Turing und die Hedy Lamarr verkörpernde Schauspielerin (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Auch andere Figuren bleiben lange rätselhaft. Die Frau mit dem Sternenkranz auf den Schultern ist der Hollywood-Star Hedy Lamarr, die einst als „schönste Frau der Welt“ galt, zugleich aber mit dem Komponisten George Antheil das Frequenzsprungverfahren entwickelte, das Torpedos steuern half und zur Grundlage von Technologien wie Bluetooth, WLAN und GPS wurde. Aber wer genau sind Helen, Thommy, Joan? Ist mit Werner vielleicht Werner Heisenberg gemeint? Spielt Ada auf die englische Mathematikerin Ada Lovelace an, Tochter des Dichter Lord Byron? Soll der Chinese, der gelegentlich auftaucht, die technische Bedrohung aus dem Reich der Mitte symbolisieren? Fragen über Fragen. Nicht einmal der Programmzettel macht sich die Mühe, die Rollen aufzuführen, die das Ensemble verkörpert.

Den Text für „Oracle“ hat Anka Herbut während der Proben geschrieben, als Reaktion auf die Darstellenden. Vieles ist aus Improvisationen entstanden. Das fehlende Skript merkt man der Produktion deutlich an. Zu erleben ist eine ebenso ambitionierte wie misslungene Stückentwicklung: ausufernd, mit oft banalen Dialogen, die sich vor der Folie der Kriegsereignisse bedeutungsschwer geben.

Wo es um Muster („Patterns“) geht, um die Struktur von Zahlenfolgen, liegt das Spiel mit Wiederholungsschleifen („Loops“) natürlich nahe. In dieser Uraufführung wirken sie jedoch nicht sinnfällig, sondern redundant. Anderes ist dafür bis zur Unverständlichkeit elliptisch: Wer nicht weiß, dass Turing vermutlich Selbstmord beging, indem er in einen vergifteten Apfel biss, wird kaum begreifen, warum Schneewittchen durch die Szene geistert (deren Gesicht Walt Disney nach dem Vorbild von Hedy Lamarr schuf).

Fehlfarbener Wahn: Dem vierstündigen Stück hätte eine Kürzung um die Hälfte nicht geschadet. (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Das Schauspielensemble macht seine Sache großartig, ist aber nicht zu beneiden. Denn nach der Pause trudelt die Produktion vollends ins Haltlose. Weil Alan Turing homosexuell war und der frühe Tod seines Jugendfreunds Christopher Morcom ihn anregte, sich intensiv mit Fragen des Bewusstseins und mit der Möglichkeit „denkender“ Maschinen zu beschäftigen, inszeniert Twarkowski eine Séance. Die Kameraleute filmen, wie sich die Darstellerriege um einen Tisch versammelt und Ada zum Medium auserkoren wird. Der Rest gleicht einem exorzistischen Exzess. Gebrüll, zuckende Lichter, wummernde Musik, verzerrte und fehlfarbene Figuren auf Videoleinwänden. Wer sich das zumuten möchte, sollte besser nicht herzkrank sein.

Desillusioniert blickt die Darstellerin der Hedy Lamarr am Ende in den Spiegel. Sie wolle lieber für ihre Erfindungen in Erinnerung bleiben, sagt sie, als für ihr schönes Gesicht, für den oberflächlichen Reiz eines Glamour-Girls. Nach diesem Abend möchte man ihr zurufen: „Vielleicht sollten Sie sich das abschminken, Mylady.“

(Karten und Informationen: https://www.ruhrtriennale.de/de/programm/oracle/176)




Der doppelte Herbert: Fritsch und Grönemeyer mit dem schrillen Spaß „Pferd frisst Hut“ bei der Ruhrtriennale

Eine glückliche Braut sieht anders aus: Cécilia Roumi (als Hélène) und Christopher Nell (als Fadinard) im Slapstick-Operetten-Musical „Pferd frisst Hut“ (Foto: Thomas Aurin)

Da weiß einer nicht, was er will. Der Strohhut aus Florenz, dem Fadinard am Tag seiner Hochzeit wie verrückt hinterherjagt – das Original wurde nämlich von seinem Droschkenpferd gefressen – ist lediglich ein Symbol dafür, dass der Mann am liebsten Reißaus nehmen möchte: vor der Braut, der Verwandtschaft, der Hochzeitsgesellschaft, womöglich sogar vor sich selbst. Denn er scheint noch nicht einmal sicher zu sein, zu welchem Geschlecht er sich hingezogen fühlt.

In der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks zeigt die Ruhrtriennale jetzt eine neue Version von „Der Florentiner Hut“, einer Verwechslungskomödie von Eugène Labiche aus dem Jahr 1851. Das Stück hat diverse Spuren in den Künsten hinterlassen: Es gibt eine gleichnamige Oper von Nino Rota (der die Filmmusik zu „Der Pate“ schrieb), einen deutschen Film mit Heinz Rühmann (Regie: Wolfgang Liebeneiner), dazu noch zwei französische Filme.

Als Slapstick-Operetten-Musical präsentiert die Ruhrtriennale die deutsche Erstaufführung von „Pferd frisst Hut“, eine Produktion des Theaters Basel in Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin. Federführend sind zwei Männer, deren unverwechselbar Stil hier eigenwillig aufeinander prallt.

Herbert Fritsch, Propagandist des choreographischen Rauschs. (Foto: Christian Knörr)

Das ist zum einen der Regisseur Herbert Fritsch, dafür bekannt, seine Figuren auf der Bühne in einen hyperaktiven Irrsinn zu treiben: in ein kindliches, zugleich bis in die kleinste Geste hinein choreographiertes Herumtoben. Manche mögen sich erinnern, welchen Kultstatus seine Produktion „Murmel, Murmel“ an der Berliner Volksbühne erreichte, bevor er 2018 am Bochumer Schauspielhaus mit der „Philosophie im Boudoir“ von Marquis de Sade ein Skandälchen lostrat.

Für Zugkraft beim Publikum sorgt die Musik von Herbert Grönemeyer, der in seinen Jugendjahren musikalischer Leiter am Bochumer Schauspielhaus war, bevor er 1981 durch „Das Boot“ bekannt wurde und 1984 mit seinem Studioalbum „Bochum“ die Hitparaden stürmte. Aus seinen Melodien, Rhythmen und Texten hat Thomas Meadowcroft eine Partitur für Chor und Sinfonieorchester gemacht: geschickt instrumentiert, fröhlich zwischen Broadway-Musical, Rossini-Oper und Disney-Soundtrack irrlichternd. Die Bochumer Symphoniker und der Chor des Theaters Basel, die unter der Leitung des amerikanischen Dirigenten Thomas Wise Stimmung machen, streuen Glamour über diese unterhaltsame Mischung.

Herbert Grönemeyer war bei der Premiere in Duisburg persönlich anwesend. (Foto: Victor Pattyn)

Was aus der Zusammenarbeit der beiden Herberts entstand, ist so schräg und bunt, wie es die Bühne von Herbert Fritsch (unter Mitarbeit von Oscar Mateo Grunert) gleich zu Beginn erahnen lässt. Das temporeiche Tür-auf-Tür-zu-Spektakel kommt durch acht Zugänge in den Seitenwänden und ein Drehportal vor Kopf in Schwung. Selten war eine Handlung so sehr Nebensache: Hier geht es um eine Typenparade, um die große Orientierungslosigkeit, in der die Figuren haltlos herumstolpern.

So grell und banal das auf den ersten Blick scheint, so hintergründig ist es auf den zweiten, denn nichts und niemand ist in diesem Absurdistan ernst zu nehmen. Wir erleben leere Witzfiguren, die Sprechblasen absondern wie in einem Comic: „S’isch alles aus!“, jault der Schwiegervater bei jedem Auftritt in weinerlichem Dialekt, während der Bürgermeister bei jeder Gelegenheit stöhnt, wie heiß ihm doch sei. Das Gestotter und Gestammel der Hauptfigur Fadinard steckt voll absichtsvoller Versprecher. Wenn er mit Glottisschlag von den Baron*innen spricht, schiebt er stets das Wort „drinnen“ hinterher, wie um den Genderwahnsinn auf die Spitze zu treiben.

Die gesamte Hochzeitsgesellschaft gerät durch einen Strohhut in Turbulenzen. (Foto: Thomas Aurin)

Dazu zeigen die Schauspielerinnen und Schauspieler ein akrobatisches Bewegungstalent, als wollten sie sich für den Zirkus bewerben. Sie rutschen ganz beiläufig in den Spagat, hechten die von der Drehtür herabführenden Treppenstufen herunter, landen auf dem Bauch, überschlagen sich in der Luft. Es ist rasant, es ist sagenhaft. Fritsch hat jede Verrenkung durchgeformt, bis ins Detail, ja sogar bis in den Schlussapplaus hinein.

Der Grönemeyer-Sound ist der Musik bei allen Musical-Anleihen deutlich anzuhören: Vieles klingt in Duisburg irgendwie nach „Bochum“. Die Emotionalität der Songs steht oft seltsam quer zu der alles und alle umfassenden Ironie, die Fritschs rasantes Anarcho-Theater so vergnüglich macht. Aber es gibt Chornummern, die gut zünden, sogar zum Mitklatschen anregen. Der Chor des Theaters Basel zieht in den farbenfrohen Kostümen von Geraldine Arnold eine echte Show ab.

In Erinnerung bleibt ein schriller Spaß, der bei weitem nicht so flach ist, wie er zu sein vorgibt. Um es mit den Worten von Herbert Fritsch zu sagen: „Wir sind alle irre, wir kriegen nix gebacken, und wir kriegen gar nix hin.“ Wer wollte ihm in diesen Zeiten widersprechen?

(www.ruhrtriennale.de)




„Hunger“ – der letzte Teil von Luk Percevals Bühnentrilogie nach Zola-Romanen bei der Ruhrtriennale

Jetzt herrschte „Hunger“ bei der Ruhrtriennale. Nur zweimal kam diese Gemeinschaftsproduktion des Festivals und des Thalia Theaters Hamburg vor düster-rostiger Hochofenkulisse in Duisburg zur Aufführung und war selbstverständlich ausverkauft.

Unter Tage kommen sie sich näher: Szene mit Marie Jung (Catherine) und Sebastian Rudolph (Étienne Lantier) (Foto: Ruhrtriennale/Armin Smailowic)

Den Besuchern wurde zu warmer Bekleidung geraten, außerdem gab es Wolldecken, die, wenn man sie sich nicht über die Knie legte, auch als Polsterung der harten Plastikbestuhlung gute Dienste leisteten. Es ist halt schon eine Herausforderung, stillgelegte Schwerindustrie mit Theater zu bespielen. Doch mittlerweile gelingt dies der Ruhrtriennale souverän. Und es hat auch nicht immerzu geregnet.

Bergleute streiken

Die Bühne in der Gießhalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord ist seit dem ersten Teil dieselbe geblieben, eine karge Spielfläche mit schwer erklimmbarer Erhöhung am hinteren Rand und einigen Seilen, die von oben herabhängen.

„Hunger“ ist als Titel durchaus wörtlich zu verstehen. Teil 3 von Luk Percevals Bühnenfassung zentraler Motive aus Émile Zolas Romanzyklus „Die Rougon-Macquart“ erzählt (nach „Liebe“ und „Geld“) zu einem wesentlichen Teil vom elenden Leben der Bergleute im (fiktiven) nordfranzösischen Bergarbeiterdorf Montsou, denen ihr karger Lohn nicht mehr zum Überleben reicht. Angeführt von Étienne Lantier, der erst vor kurzem herkam, planen sie einen Streik. Als Vorlage diente Zolas Roman „Germinal“.

Lebensgefährliche Nähe: Lokführer Jacques (Rafael Stachowiak, rechts) und Severine (Patrycia Ziolkowska). (Foto: Ruhrtriennale/Armin Smailovic)

An Étienne erinnert man sich möglicherweise noch aus Teil 2 der Trilogie als uneheliches Kind der Wäscherin Gervaise. Nun, in Folge 3, ist er erwachsen geworden und sucht händeringend Arbeit – ein echter Proletarier also, ein „freier Lohnarbeiter“, der hier die Bühne der ungestümen, menschenverachtenden Industrialisierung des 19. Jahrhunderts betritt.

Unbändige Mordlust

Sein Bruder Jacques, Lokomotivführer von Beruf, ist Hauptperson des zweiten Handlungsstrangs dieses Abends. Seine Leidenschaft gilt der Maschine, und bangend hofft er, dass das auch so bleibt. Denn wenn Jacques in Leidenschaft für eine Frau erglüht, dann will er sie töten, und gegen diesen Trieb kommt er nicht an. Es sei dies, legt der Stoff nahe, eine Hypothek aus schwerer Kindheit.

Der Programmzettel erinnert uns daran, dass all diese Dinge ja Resultate von Doktor Pascals Recherche sind, welche zur „Trilogie meiner Familie“ führte. Doktor Pascal lernten wir ausführlicher vor zwei Jahren kennen, als ratlosen Erforscher familiären Unglücks, das mit wenig Betrachterphantasie auf Menschheitsunglück hochgerechnet werden kann.

Ein Mord, um noch einmal auf die Bühnengeschehnisse im dritten Teil zurückzukommen, schweißt Jacques (Rafael Stachowiak) und Severine (Patrycia Ziolkowska) in heißer Zuneigung zusammen, doch letztlich geschieht, was wir befürchteten. Der übermächtige Hunger nach Befriedigung bricht sich Bahn. Und unter den Rädern der Lokomotive, so ist zu hören, findet die Geschichte schließlich ihren schauerlichen Abschluss, während Militär streikende Bergleute erschießt.

Barbara Nüsse gibt den Großvater – ein unwirkliches, furchterregendes Anarchistenwesen. (Foto: Ruhrtriennale/ Armin Smailovic)

Mit Saxophon

Viel Stoff also, der da auf die Bühne drängt und inszenatorisch gebändigt sein will. Luk Perceval arbeitet mit einer, wie man vielleicht sagen könnte, filmischen Technik und wechselt zwischen den beiden Handlungen nach Art von Schnitt und Gegenschnitt.

Manchmal, wenn eine Szene ihr (meist) deprimierendes Ende findet, spielt der Saxophonist Sebastian Gille auf der Bühne sehr expressiv und schön ein Intermezzo, und die Klage seiner Töne schwillt mit dem Gang der Dinge an. Doch der Einsatz des Musikers macht die dramatische Konstruktion nicht wirklich geschmeidiger.

Holzschnitthaft und verkrampft

Die Bergarbeitergeschichte wirkt in ihrem Bemühen, möglichst detailreich vom Elend zu erzählen, holzschnitthaft und verkrampft. Aufruhr wird bevorzugt mit erregtem Herumlaufen dargestellt, nie herrscht ein Mangel an markigen Sätzen. Schließlich sondert Mutter Maheu (Oda Thormeyer) nur noch lange, aufgebrachte Schreie ab, einem verwundet aufheulenden Tier nicht unähnlich. Ja, die Verhältnisse sind schrecklich. Doch war das schon lange vorher klar.

Eine vergleichsweise originelle inszenatorische Idee ist es, die jungen Bergleute mit LED-Stirnlampen auszustatten, die bei fortschreitender Dämmerung für längere Zeit einzige künstliche Lichtquelle auf der Duisburger Hochofenbühne sind. Doch gesehen hat man Ähnliches schon öfter, gern würde man von Pfiffigerem überrascht, gern auch von sinnstiftenden Raffungen im Erzählstrang.

Bühnengeschehen im Schein der Kopflampen. Szene mit Tilo Werner (Vater Maheu) und Marie Jung (Catherine), (Foto: Ruhrtriennale/Armin Smailovic)

Sportliches Ensemble

Man könnte ja auch einfach alles zerschlagen, wie Bonnemort (in etwa: „guter Tod“), es den Bergleuten ausmalt. Barbara Nüsse gibt dem Großvater, diesem gespenstischen Anarchistenwesen, das stets da ist und doch neben allem steht, furchteinflößende Gestalt. Gabriela Maria Schmeide, an die wir uns in der Rolle der Wäscherin Gervaise noch gut erinnern, ist jetzt als schwachsinnig-seherische Alzire auf der Bühne, agiert wie auch Bonnemort ein wenig außerhalb der Handlung, die ein jugendliches, ausnahmslos vorzügliches Ensemble hier mit großer Sportlichkeit auf die zugige Gießhallenbühne stellt. Video-Elemente fehlen völlig, ohne deshalb vermisst zu werden.

Anhaltender und lebhafter Applaus.

Die ganze Trilogie wird am 15. und 17. September bei der Ruhrtriennale zu sehen sein, dann warten schlanke 11 Stunden Theater mit zwei Pausen. Start ist um 13.00 bzw. 12.00 Uhr. Besucher sollten sich warm anziehen und auf den Wetterbericht achten. Infos: www.ruhrtriennale.de




Das Unheil der Liebe – Auftakt zu Luc Percevals Zola-Trilogie bei der Ruhrtriennale

Foto: C.Smailovic

Szene aus „Liebe. Trilogie meiner Familie 1“ (Foto: Carmin Smailovic)

Luc Perceval, seit Jahren Garant für außergewöhnliche Inszenierungen, baut für die Ruhrtriennale eine Trilogie nach dem Romanzyklus von Emile Zola, „Les Rougon-Macquart“ (1893). Teil 1 – „Liebe. Trilogie meiner Familie 1“ wurde jetzt in der Gießhalle im Landschaftspark Duisburg-Nord aufgeführt.

Man sitzt im Halbfreien, zwar ein Dach über dem Kopf, aber der Wind fegt etwas Wirklichkeit in die unglückselige Szenerie. Es geht im ersten Teil um Liebe und die ist in diesem Fall ein reiner Unglücksfall. Oder ist das Unglück programmiert? Wird man in Situationen hineingeboren? Sind Herkunft und Stand von vorneherein Schicksal, dem kaum zu entkommen ist? Das Thema klingt heutig und es wird in der Bildungsstatistik täglich betont.

Auf der Bühne gibt es ein Oben und ein Unten, allerdings bewegen sich die Figuren auf dem oberen kleinen Hügel immer am Rande des Abrutschens. Unten ist mehr Ruhe, herrscht halbwegs vornehmes Unglück. Wie ein verbeultes Schiff, festgeklemmt in unruhiger See, im Auf und Ab – zeigt uns die Szenerie Versatzstücke von Beziehungen.

Gabriele Maria Schmeide gibt die Gervaise, eine Wäscherin. Wenige glückliche Momente werden vom Überlebenswillen überdeckt, der sich ums Brot dreht, also ums Auskommen mit dem Einkommen. Da liebt man, wen man braucht und sie ist auf der ewigen Suche nach Glück, das anhält. Ihre Männer sind kein Halt, ihre Kinder kommentieren das zerrüttete Familienbild. Allein sie zu erleben in dieser Rolle, ist ein Erlebnis.

Die besser gestellte Familie des Dr. Pascal ist auf dem absteigenden Ast. Stephan Bissmeier vergöttert seine Ziehtochter vergöttert und gibt sein Geld gedankenlos für Schönes aus. Auch hier Unheil – Verzicht, Verzweiflung, Verstoß. Der Ruf ist hin und somit auch die Liebe. Welch ein Sittenbild!

Die Inszenierung ist gutes Stadttheater mit ausgezeichneten SchauspielerInnen des Hamburger Thalia-Theaters. Die Aufführung in der Gießhalle gibt dem Ganzen einen atmosphärischen Mehrwert. Moderner Schnickschnack findet nicht statt. Es ist, wie es war oder vielleicht immer noch ist. Paare verlassen das Stück in engerer Nähe als vorher. Haltet Euch fest und genießt die glücklichen Momente!




Metropolensound: Triennale zeigt „Surrogate Cities“ als Choreographie für das Ruhrgebiet

Grundschüler aus dem Ruhrgebiet tanzen zur Musik von Heiner Goebbels (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Grundschüler aus dem Ruhrgebiet tanzen zur Musik von Heiner Goebbels (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Mal begegnet sie uns als belebende Metropole, mal als verschlingender Moloch. Die Stadt moderner Prägung ist Ballungsraum und Schmelztiegel, Brennpunkt und Sehnsuchtsort, der Menschen gleichermaßen vereint wie vereinzelt. Ungezählte Fotografen, Maler, Autoren und Dichter ließen sich von ihr inspirieren. Aber lässt sich urbanes Leben auch in Töne fassen?

Vor nunmehr zwanzig Jahren unternahm der Komponist Heiner Goebbels einen Versuch. Die Alte Oper Frankfurt hatte ihn beauftragt, ein Stück zur Feier des 700-jährigen Bestehens der Mainmetropole zu schreiben. So entstand sein Orchesterzyklus „Surrogate Cities“, der seit seiner Uraufführung am 31. August 1994 internationale Erfolge feiern konnte. Die Ruhrtriennale zeigt das Werk jetzt in einer erfrischend neuen Version der französischen Choreographin Mathilde Monnier.

Die Besetzung wird kundigen Konzertbesuchern bekannt vorkommen: Führten die Bochumer Symphoniker unter dem Dirigat von Steven Sloane das Werk doch bereits 1999 in der Bochumer Jahrhunderthalle auf. Damals wie heute waren der Stimmkünstler David Moss und die New Yorker Soul- und Jazz-Sängerin Jocelyn B. Smith als Solisten zu erleben. Deshalb von einem choreographierten Wiederaufguss zu sprechen, wäre gleichwohl falsch, ja nachgerade unfair.

Mathilde Monnier ist es mit bemerkenswert geschickter Hand gelungen, 130 höchst unterschiedliche Amateure aus der Ruhr-Region in die Produktion einzubinden. Grundschulkinder, Kampfsportler, jugendliche Hip-Hopper und ältere Menschen aus einer Gesellschaftstanzgruppe bewegen sich um ein Rund, in dem das elektronisch verstärkte Orchester musiziert. Von Lautsprechern und Bildschirmen umgeben, wirken die Musiker im monumentalen, rund 160 Meter langen Raum der Kraftzentrale als kraft- und taktgebender Nucleus. Das Publikum darf auf zwei Tribünen Platz nehmen, die an den schmalen Seiten der Halle aufgebaut sind.

Monniers einfühlsame Kunst besteht darin, Massenbewegung und Gruppendynamik zu inszenieren, ohne den Einzelnen in ein uniformes Glied zu zwingen. Individuelle Stärken und Schwächen werden sichtbar: Aber Monnier stellt niemanden zur Schau. Unperfektes, das anfangs „nur“ charmant erscheinen mag, entwickelt sie zu immer größerer Stärke, ja zur conditio humana. Nie verliert die Französin dabei die Verbindung zu Goebbels kraftvoller Musik, die sich mit Einflüssen aller Art vollgesogen hat, ohne darüber ihre Eigenständigkeit zu verlieren. Im Dialog mit einem elektronischen Sampler entsteht ein Sound, der weniger als Surrogat denn als globale Essenz der Stadt verstanden werden kann.

Heiner Goebbels beschließt in diesen Tagen seine dreijährige Intendanz (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Heiner Goebbels beschließt in diesen Tagen seine dreijährige Intendanz (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Mit unerbittlicher Präzision betreiben die Bochumer Symphoniker unter Steven Sloane eine musikalische Kernschmelze. Wie unter Druck verflüssigt, fließt Neues und Bekanntes ineinander. Soul, Jazz und Funk mischen sich mit klassischer Moderne. Wild vorwärts treibende Rhythmik mündet in das poetische Fragment einer Scarlatti-Sonate. Was wie eine bloße Collage oder eine krude Mixtur klingen könnte, schmiedet Heiner Goebbels zu einem neuartigen Sound, der keine Grenzen mehr kennt. Texte von Paul Auster und Hugo Hamilton sowie drei Horatier-Songs von Heiner Müller erzählen von Kampf und Freiheit, von Einsamkeit und Lebenshunger. Stimmakrobat David Moss und die durchschlagskräftige Soul-Röhre von Jocelyn B. Smith erfüllen diese Fragmente mit Leben.

Die New Yorker Soul- und Jazz-Sängerin Jocelyn B. Smith singt "Drei Horatier-Songs" nach Texten von Heiner Müller (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Die New Yorker Soul- und Jazz-Sängerin Jocelyn B. Smith singt „Drei Horatier-Songs“ nach Texten von Heiner Müller (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Goebbels Musik erhält durch die Choreographie von Mathilde Monnier eine hervorragende Unterstützung. Zwar leistet sie weit mehr als eine bloße Visualisierung der Musik, folgt ihrem Duktus aber doch mit einer Hingabe, die das Verständnis der Partitur und ihrer Strukturen erleichtert. Die Vorstellung endet unter Stürmen der Begeisterung. Sogar ein Hauch von Volksfest-Stimmung kommt auf, wenn Jung und Alt schließlich heimwärts streben. Mit „Surrogate Cities Ruhr“ verleiht Heiner Goebbels seiner dreijährigen Triennale-Intendanz einen bemerkenswert vitalen, unbedingt sehens- und hörenswerten Schlusspunkt.

Weitere Aufführungstermine: 26. und 27. September 2014. Informationen: http://www.ruhrtriennale.de/de/programm/produktionen/heiner-goebbels-mathilde-monnier-surrogate-cities-ruhr/

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Gastspiel bei der RuhrTriennale: Suzanne Vega und ihre kostbaren Etüden der Traurigkeit

Bernd Berke

Duisburg. Nebenan in Oberhausen rockten die betagten Rolling Stones, gleichfalls nahebei in Essen legte der Rapper Eminem los – jeweils vor Zigtausenden. Da hieß es: Sich fuchsig durchschlängeln auf den Revier-Autobahnen, um rechtzeitig von Dortmund bis zum Landschaftspark Duisburg-Nord zu gelangen.

Hier geht es intimer und erlesener zu, zumal es sich um eine Veranstaltung der RuhrTriennale handelt: In der imposanten Gießhalle tritt Suzanne Vega auf, die vielleicht kreativste Songschreiberin der letzten Jahre. Als Gitarrist steht ihr der Jazzer Bill Frisell zur Seite, der die gesamte angloamerikanische Abteilung des Triennale-Programms „Century of Songs“ betreut. Die Begleit-Band wurde eigens für die beiden Auftritte am Freitag und gestern Abend in Duisburg formiert.

Das schutzlose Kind schaut hervor

Das Programm, das in dieser Besetzung und Abfolge nie wieder erklingen wird, haben sie in gerade mal drei Tagen einstudiert. Ein Hauch von Exklusivität. Die 1959 geborene Amerikanerin mit den apart rötlich schimmernden Haaren wirkt noch immer mädchenhaft. Wie keine Zweite lässt sie hinter einem zuweilen herben Gestus – das schutzlose Kind in sich durchscheinen. Sie singt vorwiegend von allerlei Trennungen, Einsamkeiten und Ängsten. Mit samtig-seidener Stimme trägt sie verhaltene, kunstvoll in sich selbst versponnene Etüden der Traurigkeit vor.

Derlei melancholische bis verzweifelte (und manchmal trotzige) Gefühls-Nuancen hat Suzanne Vega auch in den Schöpfungen anderer Songwriter aufgespürt. Deren Lieder streut sie ins eigene Schaffen ein, z. B. Bob Dylans „It’s alright, Ma“, dem freilich in ihrer Interpretation die Schärfe des Originals fehlt. Hierfür ist sie ebenso wenig gerüstet wie für „Mack the Knife“ („Mackie Messer“, Brecht/Weill).

Viel lieber, weil vom Habitus her ungleich passender, hätte man etwa Songs von Leonard Cohen (vielleicht gar „Suzanne“?!) von ihren Lippen gehört. Doch Werke des Kanadiers stehen hier nicht auf dem Zettel.

Große Momente mit „Erie Canal“ und „Behind Blue Eyes“

Hingegen entlockt sie „Behind Blue Eyes“ von Pete Townshend („The Who“) oder dem Kinderlied „Erie Canal“ ganz neue, schwebende Qualitäten. Es sind die leider etwas raren, ganz großen Momente dieses Konzerts.

Überhaupt ist Vegas Sache nicht eine Musik des Immer-weiterVoranschreitens bis zum Ende der Welt, wie es einen etwa bei Neil Young erfasst und mitnimmt. Vielmehr verwehen ihre Refrains; zuweilen ins gänzlich Freie, manchmal in beinahe tonlose Regentags-Resignation.

Den Schwerpunkt des Abends bilden Suzanne Vegas eigene Songs – von „Marlene on the Wall“ über „Penitent“, „Gypsy“ und „Caramel“ bis hin zu ihren größten Erfolgen „Tom’s Diner“ und „Luka“.

Eigentlich sollten diese Kostbarkeiten im Zusammen- oder auch Widerspel mit Bill Frisell gänzlich neu arrangiert werden. Doch Frisell hat sich wohl freundlich gefügt, er tupft nur sparsame Arabesken hinzu. Aus den Wandlungsprozessen wird nahezu nichts. Offenbar hat sich Suzanne Vega auf nichts Unerhörtes einlassen wollen.

Also bleiben ihre Texte und Noten weitgehend „unbeschädigt“. Für sich betrachtet, sind sie ja auch ziemlich perfekt. Zudem kann man ihr Beharren gut verstehen: Vega ist Vega, und die Anderen sind eben die Anderen. Nur das sorgsam Ausgesuchte kann sie sich anverwandeln. Das geht halt nicht in wenigen Tagen.