Ein Fest für alle soll es werden: Ruhrtriennale zielt 2025 auf Besucherrekorde

Was verbindet uns? Wie wollen wir morgen leben? Das fragt die Ruhrtriennale 2025. Hier ein Szenenfoto aus der Oper „We are the lucky ones“ des britisch-deutschen Komponisten Philip Venables. (Foto: Koen Broos)

Vorweg kommen die Loblieder, das ist wenig überraschend. Bei der öffentlichen Vorstellung des neuen Programms der Ruhrtriennale preist NRW-Kulturministerin Ina Brandes die im Vorjahr erreichten Resultate. Von 70.000 Besuchern und von einem „gigantischen Erfolg“ für das erste Jahr der Intendanz von Ivo Van Hove spricht sie. Wie praktisch, dass der Glanz zugleich auf den Initiator und größten Geldgeber ausstrahlen dürfte, mithin auf das Land NRW.

Die „Sehnsucht nach Morgen“ (Longing for Tomorrow) ist weiterhin Motto des Festivals. Es soll diesmal um die Frage gehen, wie wir morgen leben wollen und wie wir Verbindungen zueinander herstellen können. Vom 21. August bis 21. September präsentiert die Ruhrtriennale 35 Produktionen und Projekte in vier Städten (Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck). Erneut will sie zeigen, wie sich Kreativität an den Schnittstellen der Künste entzündet. Diesmal turnt sie munter zwischen Theater, Tanz, Performance, Oper, Konzert, Zirkus und Multimediaspektakel. Fünf Uraufführungen, eine europäische Erstaufführung und neun Deutsche Erstaufführungen finden sich im Spielplan, 45.000 Tickets gingen direkt nach der Pressekonferenz (2. April 2025) in den Verkauf.

Ein Fest soll die Ruhrtriennale nach dem Willen des Intendanten werden, und zwar für möglichst viele Menschen. An der Eröffnungsproduktion lässt sich gut ablesen, wie Ivo Van Hove den Erfolg fortschreiben will. Das Strickmuster gleicht demjenigen aus dem Vorjahr auffallend: Ließ der Triennale-Chef damals Sandra Hüller Songs von PJ Harvey singen, konnte er diesmal den phänomenalen Schauspieler Lars Eidinger sowie die Grimme-Preisträgerin Larissa Sirah Herden gewinnen.

Larissa Sirah Herden und Lars Eidinger sind die Stars der von Ivo Van Hove inszenierten Eröffnungsproduktion „I did it my way“. (Fotos: Max Sonnenschein/Ingo Pertramer)

Mit ihnen inszeniert er den Abend „I did it my way“ zur Musik von Frank Sinatra und Nina Simone. Ein kleines Tanzensemble und eine Band sind auch wieder dabei. Ob dieser Abend tatsächlich eine Geschichte von (weißen) Beharrungskräften und (schwarzer) Befreiung erzählt, statt einfach eine Abfolge von Songs zu bebildern, bleibt abzuwarten. Angekündigt ist diese Koproduktion mit der Staatsoper Stuttgart als „interdisziplinäres Musiktheater“.

In die Kategorie Musiktheater fällt auch die Deutsche Erstaufführung einer Oper des britisch-deutschen Komponisten Philip Venables. „We are the lucky ones“, eine Koproduktion mit der Dutch National Opera, zeichnet ein klingendes Porträt der Generation der Babyboomer. Basierend auf Interviews, entwickelten die Dramatikerin Nina Segal und der Regisseur Ted Huffman ein Mosaik, zu dem Venables – laut Programmheft – „überwältigende Orchesterklänge und intime Arien“ komponierte. Die Bochumer Symphoniker spielen unter der Leitung des polnisch-libanesischen Dirigenten Bassem Akiki.

Weißes Pferd und Taubenschwarm: In „Falaise“ (deutsch: Klippe) erzählt die französisch-katalanische Truppe Baro d’evel poetisch von Untergang und Wiedergeburt der Menschheit. (Foto: François Passerini)

Von den großen Schauspiel-Produktionen sind zwei multimedial: Mit „Oracle“, einem Stück von Anka Herbut über das tragische Leben des Computer-Pioniers Alan Turing, kehrt Lukasz Twarkowski zur Ruhrtriennale zurück. Es geht darin um die dunkle Seite der Technik und eine von der KI geprägte Zukunft. Ganz ohne Worte kommt die Bühnenproduktion „Guernica Guernica“ aus, für die das Theaterkollektiv FC Bergman 2023 auf der Biennale von Venedig den Silbernen Löwen erhielt. Inspiriert von Picassos gleichnamigen Gemälde, reflektiert es die Unmöglichkeit, Krieg darzustellen, indem es die Bühne mit zwei Tribünen umrahmt und neben 80 Statistinnen und Statisten auch das Publikum einbezieht. Ein Hauch von Zirkusluft dürfte mit der Deutschen Erstaufführung von „Falaise“ (zu deutsch: Klippe) einziehen. Acht Darstellende, ein weißes Pferd und ein Taubenschwarm werden Bestandteil eines lebendigen Freskos in Schwarz-Weiß. „Falaise“ erzählt poetisch und akrobatisch von Untergang und Wiedergeburt der Menschheit, soll aber auch für Familien mit Kindern ab 10 Jahren geeignet sein.

Für den Tanz hat die Triennale die Zusammenarbeit mit Stefan Hilterhaus gesucht. Der Künstlerische Leiter von PACT Zollverein spricht über die Uraufführung von „Delay the Sadness“, mit dem die S-E-D Dance Company und die vielfach ausgezeichnete Choreographin Sharon Eyal gastieren. Von der Kraft indigenen Wissens und südamerikanischen Mythen erzählt „Último Helecho“, das Nina Laisné gemeinsam mit François Chaignaud und Nadia Larcher in Deutscher Erstaufführung präsentiert.

Um südamerikanische Mythen und die Kraft indigenen Wissens geht es im Tanzabend „Último Helecho“ auf PACT Zollverein. (Foto. Nina Laisné)

Als Choreographie-Rebellin gilt Roby Orlin aus Südafrika: Ihre Show „… how in salts desert is it possible to blossom…“ wird als farbensprühende Performance über die Auswirkungen der Kolonialisierung angekündigt. Und dann ist da noch der als „Upside Down Man“ bekannte belgisch-tunesische Choreograph und Tänzer Mohamed Toukabri, der sich in einem Solo auf die Suche nach seinen eigenen tänzerischen Wurzeln begibt und so zum Archäologen seines eigenen Körpers wird.

Die Konzerte haben mit klassischer Musik fast nichts zu tun. Immerhin wird der 150. Geburtstag von Maurice Ravel mit einer „Rave-L Party“ gewürdigt. Das französische Kollektiv „Les Apaches!“ sorgt dafür, dass sein berühmter „Bolero“ in die Gefilde des Jazz und schließlich des Techno hinübergleitet und die Zeche Zweckel in Gladbeck zum Dancefloor wird. Chorwerk Ruhr feiert sein 25-jähriges Bestehen gemeinsam mit dem New Yorker Instrumentalensemble „Bang on Can All-Stars“. Gemeinsam bringen sie „before and after nature“ von David Lang zur Deutschen Erstaufführung.

Pablo Picasso mit der Make des Minotaurus. Das Theaterkollektiv FC Bergman ließ sich von seinem berühmten Anti-Kriegsgemälde zu dem Abend „Guernica Guernica“ inspirieren. (Foto: Gjon Mili_The LIFE Picture Collection)

Der Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood hat mit „124 Years of Reverb” ein achtstündiges Werk für Orgel komponiert, das Eliza McCarthy und James McVinnie im Essener Bergmannsdom aufführen werden. Das Publikum darf diese Musikmeditation entweder ganz oder in zweistündigen Zeitabschnitten genießen. Eine Pionierin der elektronischen Musik war die Grammy-Gewinnerin Wendy Carlos, die in der Reihe „Erased Music“ gewürdigt wird. Kunstlieder über Themen, die die Realität vieler Schwarzer Menschen in den USA widerspiegeln, schreibt Tyshawn Sorey, der in der Neuen Musik ebenso zu Hause ist wie im Jazz. Er und sein Trio werden in der Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle auftreten.

Post-Punk und Rock aus Anatolien vermischt die feministische Sängerin und Gitarristin Gaye Su Akyol, die als eine der aufregendsten Stimmen des Bosporus angekündigt wird. Aus Island kommt die Oscar-prämierte Komponistin und Cellistin Hildur Gudnadóttir, die Dubstep und indonesischen Ethno-Punkt in einer Lichtshow mit dem Namen „OSMIUM“ zusammenbringt. Ein wenig Händel darf es schließlich auch noch sein, vielleicht auch deshalb, weil der venezolanische Sopranist Samuel Mariño sich nicht nur stimmlich einer Frau anverwandelt. Begleitet wird der Künstler vom Originalklangensemble Capella Cracoviensis unter der Leitung von Jan Tomasz Adamus.

Natürlich gibt es noch weit mehr zu entdecken: den internationalen Festivalcampus, das „Wunderland-Wochenende“, die Literaturreihe „Brave new Voices“, die öffentlichen Künstlergespräche mit dem Intendanten (immer dienstags), die Verleihung des Mortier Awards 2025 (am 21. September in der Jahrhunderthalle), das umfangreiche Programm der „Jungen Triennale“, das jungen Menschen vom 3. Lebensjahr bis zum Studienalter viele attraktive Angebote macht. Wer weiter stöbern möchte, schaue einfach nach unter www.ruhrtriennale.de




„Vergnügen und Verlust“ – Ruhrfestspiele präsentieren Programm 2024

Stefanie Reinsperger in der Titelrolle von Thomas Bernhards „Der Theatermacher“ (Foto: Matthias Horn/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Nun ist es da, das Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele. „Vergnügen und Verlust“ ist es überschrieben, und in diesem Titel, so Intendant Olaf Kröck, spiegele sich das weltpolitische Übel unserer Zeit ebenso wie die Notwendigkeit, es mit den Mitteln des Spiels, des Schauspiels, des Theaters samt all seinen Facetten mithin anzugehen.

Die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky wird die Eröffnungsrede halten, „in ihren Texten“, wir zitieren den Pressetext, „hat sie sich der Erkundung und Überwindung der Fremde als existentielle, menschliche Erfahrung verschrieben.“

Akrobatisch, atemberaubend

Vielfalt der Menschen und Ethnien, der Stilmittel und des künstlerischen Ausdrucks prägen das Programm vor allem in den Bereichen, die mit wenig oder ganz ohne Sprache auskommen – Tanz, Musik, Zirkus. Vor allem Zirkus ist im diesjährigen Programm prominent positioniert. Mit Zirkus, im Booklet als „Neuer Zirkus“ tituliert, wird das Festival am 3. Mai, einem Freitag, starten. „The Pulse“ heißt das akrobatische, äußerst personalintensive Stück von „Gravity & Other Myths“, in dem 24 sportliche Menschenleiber nach dem Prinzip der Pyramide gleichsam lebendige Bühnengebilde formen, die, kaum daß sie entstanden sind, sich schon wieder auflösen und zu Neuem sich vereinen. Für den Soundtrack sorgt bei diesen artistischen Darbietungen der (langer Titel!) „Frauenkonzertchor der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund e.V.“. Sprachkenntnisse sind für das Verständnis des Ganzen, wie das Programmheft ausdrücklich vermerkt, nicht erforderlich.

Wolfram Koch als König Lear (Foto: Armin Smailovic/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Pommestüte

Wenn es sich nicht um eine Ausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen handelte, hätte man gewiß Probleme, den Dänen Sören Aagaard kategorisch zu verorten, der auch schon mal als überdimensionierte Pommestüte durch Berliner Freibäder tobte. „Performance“, „Aktion“ usw. würde ebenso passen wie „Kunst“. Essen und Kunst sind sein Thema. Jedenfalls verfestigt sich bei der Lektüre des Programms der Eindruck, daß hier, bei den überwiegend kleinen, eher spracharmen und meistens auch lustigen Produktionen ein Maß an Originalität zu finden ist, das anderen Programmelementen eher abgeht. So weit man das vergleichen kann.

Bewährte Produktionen

Beim Schauspiel gibt es fraglos noch Luft nach oben. Die prominentesten Produktionen in der Abteilung Schauspiel laufen bereits seit längerer Zeit an anderen Häusern – „Der Theatermacher“ von Thomas Bernhard mit der Dortmunder „Tatort“-Kommissarin Stefanie Reinsperger in der Titelrolle beim Berliner Ensemble, „König Lear“ mit Wolfram Koch im Hamburger Thalia-Theater, nicht ganz wahllos herausgepickt. Recklinghäuser Premieren wären besser; aber natürlich ist es von Vorteil, hoch gelobte Produktionen wie diese nun zu Hause sehen zu können – falls man Karten kriegt.

Late Night Hamlet: Ein Solo für Charly Hübner. (Foto: Peter Hartwig/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Eine Uraufführung, immerhin

Immerhin ist nicht alles nur eingekaufte Spielplanware. Zusammen mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg haben die Ruhrfestspiele in diesem Jahr eine Eigenproduktion auf die Schiene gestellt, die am 24. Mai in Recklinghausen ihre Uraufführung erleben wird: „Late Night Hamlet“, ein Solo mit Charly Hübner in der Regie von Kieran Joel. Wir erleben Hamlet als einen Geworfenen in der Jetztzeit, gefordert, überfordert, wie es sich für tragische Figuren gehört. Doch wird auch ein „kurzweiliges Vergnügen“ versprochen, gerade so, wie es das diesjährige Festivalmotto postuliert. Na, schau’n mer mal. Mit Charly Hübner in der Titelrolle müßte es eigentlich klappen.

Gesellschaftskritisch

Der Theaterarbeit von Kollektiven sind in etwa wohl Stücke wie „Hier spricht die Polizei“ („werkgruppe 2“ und Schauspiel Hannover) oder „DIBBUK – zwischen (zwei) Welten“ („KULA Compagnie in Kooperation mit den Ruhrfestspielen und „dasvinzenz“ München) zuzuordnen, Arbeiten mit dezidiert gesellschaftskritischem Bezug. Bei KULA arbeiten Künstler aus Israel, Afghanistan, Iran, Rußland, Deutschland, Frankreich und Italien zusammen, was eigentlich nichts Besonderes sein sollte und heutzutage leider schon ein brisantes Politikum ist.

Viele alte Bekannte

Bekannte Namen gibt es wie immer bei den Lesungen: Corinna Harfouch, Devid Striesow, Katharina Thalbach, Lars Eidinger, Peter Lohmeyer und viele mehr. Literaturkritiker Denis Scheck wird mit der Autorin Terézia Mora und dem Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah plaudern, Angela Winkler wird in der Musikabteilung zusammen mit dem „delian:quartett“ Shakespeare musikalisch-literarisch begegnen. Vier Tage lang gibt es zudem ein „Festival im Festival“: „Resonanzen – Schwarzes Interntionales Literaturfestival“. Die Eröffnungsrede hält Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo.

Der DGB will diskutieren

Die Neue Phlharmonie Westfalen bringt Mahlers Siebte zu Gehör, Konzerte, unter anderem von „SLIXS“ und „Flautando Köln“, gibt es auch in der Christuskiche, im Festspielzelt und in der Sparkasse Vest. Last but not least macht der DGB Programm. „Europa mit uns – Partei ergreifen!“ und „Reden mit…“ heißen die Veranstaltungen in der Abteilung Dialog, die noch einmal deutlich machen, daß die Ruhrfestspiele sich eben durchaus als politisches Festival begreifen. Zum Publikums-Talk haben sich unter anderem Charly Hübner, „werkgruppe 2“ und das künstlerische Team von „DIBBUK“ angemeldet.

Die Spielzeitübersicht im Programmbuch fehlt

Wer mehr wissen will, muß das Programmheft lesen oder sich im Netz schlaumachen. A propos Programm: Da hat es Olaf Kröck und seinem Team, wohl auch aus Kostengründen, wie leise angedeutet wurde, gefallen, die traditionsreiche Spielzeitübersicht von den hinteren Seiten des Programmheftes zu verbannen. Nun finden sich die Termine in tabellarischer Form auf einem separaten Leporello, „Der Festspielkalender 2024“ geheißen, den man zwar nicht mißlungen nennen kann, dem aber die Übersichtlichkeit des guten alten Überblicks gänzlich abgeht.

Gut, es gibt Schlimmeres. Freuen wir uns auf die Ruhrfestspiele 2024, im Festspielhaus und andernorts und glücklicherweise ohne Maske.




Endlich hat es geklappt: Lars Eidinger spielt „Peer Gynt“ im Großen Haus der Ruhrfestspiele

Lars Eidinger als „Peer Gynt“ (Foto: Ruhrfestspiele/Benjakon)

Jetzt endlich: Peer Gynt. 2020 schon sollte Ibsens unbotmäßiger Bauernsohn für einen Höhepunkt des Festivals sorgen, verkörpert in einem machtvollen Einpersonenstück vom Berliner Bühnenberserker Lars Eidinger. Zusammen mit dem gleichermaßen als exzentrisch geltenden Künstler John Bock hatte er diese Produktion erarbeitet, Premiere war im Frühjahr 2020 in Berlin gewesen, in Recklinghausen regte sich Vorfreude. Wie bekannt machte „Corona“ dann alles zunichte.

Der Intendant hat flott entschieden

Doch ein Jahr später nun hat es geklappt – obligatorischer Negativtest, Läppchen im Gesicht, luftige Sitzordnung, aber immerhin. Und deshalb sei an dieser Stelle schon dem Ruhrfestspiele-Intendanten Olaf Kröck dafür gedankt, daß er nicht zauderte und die Produktion ganz flott auf die Bühne seines Großen Hauses holte, sobald die Inzidenzen es ermöglichten.

Unbändiger Narzißmus

Die (Theater-) Welt liebt Peer Gynt, dieses phantasiebegabte Kind, das in die Welt zieht, lügt und betrügt und Frauen unglücklich macht, das in seinen Beziehungen zu Elfen, Trollen und anderem Bühnenpersonal Mal um Mal absehbar scheitert und die Menschen nicht erkennt, die es gut mit ihm meinen. Viele Inszenierungen haben den Ibsen-Stoff als Vehikel für eigene Botschaften verwendet, was nicht immer überzeugte.

Lars Eidingers Interpretation des Peer Gynt nun fokussiert auf dessen unbändigen Narzißmus, der das Scheitern zwangsläufig macht, und enthält sich gesellschaftlicher Erklärungsmuster. Das Stück spielt in einer Phantasiewelt, und das ist auch gut so. Aus heutiger Sicht wäre vielleicht zu kritisieren, daß ein Alptraum (nämlich: als mißratener Knopf wieder eingeschmolzen zu werden) zur Läuterung führt. Das ist mustergültig repressive „schwarze Pädagogik“, aber nicht dem Hauptdarsteller und auch nicht der Inszenierung anzulasten.

Melkmaschine von John Bock

John Bock, Aktionskünstler, der auch schon mal eine voll funktionsfähige Geisterbahn ins Museum holte und dessen Schöpfungen sich oft gern und bedeutungsreich bewegen, hat für diesen „Peer Gynt“ eine veritable Melkmaschine auf die Drehbühne gestellt, in der ein gigantisches Textilgebilde aus Patchwork-Stoffen, Bettwürsten, Kuscheltieren (oder doch zumindest Andeutungen davon) steckt. Milch ist das Lebenselixier Peer Gynts, in Flaschen, Gläsern und vor allem natürlich im verwirrenden Rohrsystem der Melkmaschine mit ihrem großen Schauglas ist sie stets zugegen. Die Stoffkugel, in die Peer Gynt nach einer Niederlage hineinkriecht, ist ein kuscheliger Ort der Regression, ein Uterus, wenn man so will, ein Euter vielleicht auch. Nimmt man nun noch das Sprachbild hinzu, daß einer Wesentliches „mit der Muttermilch aufgesogen“ habe, bleibt das Bühnenbild nicht allzu rätselhaft.

Markenzeichen Feinripp: nochmals Lars Eidinger als Peer Gynt. (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Benjakon)

Feinripp

Und wie spielt Eidinger, dessen gleichsam solistische Interpretationen von Hamlet und Richard dem Dritten an der Berliner Schaubühne legendär sind? Nun, lange Zeit bleibt er überraschend zurückhaltend, monologisiert statuarisch und, wie man vielleicht sagen könnte, unerwartet diszipliniert. Nicht, daß er sich nicht bewegte; rastlos durchstreift er die Kulisse, steht, sitzt, liegt in atemloser Folge. Immer wieder wechselt er im Laufe des Abend seine Bekleidung, schminkt sich, malt sich grün an. Lange Zeit ist die einzige Kleidungskonstante seine Feinripp-Unterhose, die man auch schon aus anderen Produktionen kennt. Definitiv ist sie ein Markenzeichen, das folgerichtig auch, in großer Zahl vernäht, als Leinwand für einige Videoeinspieler dient. Außerdem gibt es den Feinripp für neun Euro zu kaufen. Dann steckt er in einem grünen Päppchen, auf das die wichtigsten Informationen gedruckt sind und das anstelle eines Programmheftes angeboten wird. Aber das nur am Rande.

Grün macht unsichtbar

Die grüne Farbe ist natürlich kein Zufall. Die Inszenierung arbeitet nämlich mit einer „Greenbox“, in der der Protagonist von seiner Umgebung isoliert aufgenommen und in ein anderes Video hineinkopiert werden kann. Dieses „andere“ Video wurde dem Publikum als Porno angekündigt, ist aber eigentlich nur ein eher läßliches Erotik-Filmchen mit drei jungen Frauen, die im Kontext der Handlung als Elfengemeinschaft herhalten müssen. Wenn Peer durch deren traute Dreisamkeit taumelt, ahnen wir, was gemeint ist, aber es überzeugt uns nicht. Hier stößt das Prinzip des Soloabends doch recht trostlos an seine Grenzen, es geht erkennbar nicht ohne diese Mitspielerinnen.

Zwangspause steckt in den Knochen

Wenn Eidingers Spiel so unerwartet steif wirkt, dann vielleicht auch deshalb, weil ihm die Bühnenzwangspause noch in den Knochen steckt. Recklinghausen war auch für ihn das Ende einer elenden Durststrecke, wenngleich er in dieser Zeit manches für Film und Fernsehen machen konnte. Vielleicht aber auch ist es generell nicht glücklich, zwei so eigenwillige Persönlichkeiten wie ihn und John Bock eine Regiearbeit in eigener Sache machen zu lassen. Bei „Richard“ und „Hamlet“ in Berlin führte Thomas Ostermeier Regie, und das machte er gut. Man konnte Angst kriegen vor diesen Eidinger-Figuren, deren (je nachdem) Zorn ebenso grenzenlos zu sein schien wie ihre Freude, ihr Hohn, ihr Haß, ihre Brutalität, ihre Ambivalenz, all das ausgespielt in geradezu übergangslosem Wandel. Ganz wesentlich begründete sich hier Eidingers Ruhm.

Imaginäres Orchester

Nur einmal wirkt Eidinger in „Peer Gynt“ wie befreit von der Last seiner Rolle: Da dirigiert er ein imaginiertes Orchester im (gleichermaßen imaginierten) Orchestergraben, das Griegs berühmte Peer Gynt Suite spielt, scherzt zu Beginn mit der Solo-Flötistin, beantwortet das Anschwellen der Musik mit immer weiter ausholenden Bewegungen, explodiert körperlich gleichsam im Fortissimo, und obwohl er hier wirklich „alles gibt“, weiß man doch nicht, ob das nun Spaß ist oder Ernst oder Verzweiflung oder alles gleichzeitig.

Drewermann erklärt

Übrigens hat Eugen Drewermann ausgiebige Videoauftritte, in denen er sich zum einen über den Symbolismus im Roman des 19. Jahrhunderts ausläßt, zum anderen eine empathische Würdigung der Titelfigur vornimmt. Das Wort Psychoanalyse fällt nicht, aber allzu weit entfernt von einer entsprechenden Perspektive sind die Ausführungen des ebenso populären wie klugen Theologen und Psychoanalytikers Drewermann natürlich nicht. Nur wirken sie hier etwas deplatziert, weil Deutungen die Kernkompetenz der Inszenierung wären.

Die unsichtbare Kamerafrau

Zwei weitere Mitspieler dieses Soloabends müssen noch erwähnt werden. Zum einen gibt Edna Eidinger, Tochter des Schauspielers, in einem Video das „Quasi-Ich“ des grübelnden Peer Gynt, zum anderen ist da Hannah Rumstedt, die mit ihren Videokameras, meistens in nahezu unsichtbares Schwarz gekleidet (einmal aber auch von Kopf bis Fuß in Grün, als „unsichtbare“ Partnerin des Helden in der Greenbox), eine überzeugende Arbeit abliefert.

Viel dankbarer Applaus.

  • Sonntag 6. Juni und Montag 7. Juni im Programm (20 Uhr).
  • Karten ab 32 €.
  • kartenstelle@ruhrfestspiele.de
  • Telefon: 02361/92180

 




Heilsbringer in der Waschmaschine – Michael Thalheimer inszeniert „Tartuffe“ an der Schaubühne

Endlich haben alle begriffen, dass der als Heilsbringer verehrte Herr Tartuffe nur ein Heuchler ist. Ein Scharlatan, der sich in religiöser Verzückung kurios verbiegen kann und sich in leidender Jesus-Pose gefällt.

All die auf die Haut tätowierten Bibelverse und das Gerede von Schuld und Erlösung können irgendwann nicht mehr vertuschen, dass Tartuffe nur ein geldgieriger Raffzahn und notgeiler Lüstling ist, der die Familie Orgon in den Ruin treiben und es mit der Frau des Hauses treiben möchte. Plötzlich beginnt die kleine Welt der Orgons ins Rutschen zu kommen. Und die Bühne, eben noch eine mit Blattgold verzierte Mönchszelle, rotiert wie eine enthemmte Waschmaschine.

Orgon (Ingo Hülsmann, li.) und Tartuffe (Lars Eidinger). (Bild: Katrin Ribbe/Schaubühne)

Orgon (Ingo Hülsmann, li.) und Tartuffe (Lars Eidinger). (Bild: Katrin Ribbe/Schaubühne)

Das Unterste wird nach oben gekehrt, die Menschen fliegen durcheinander. Nichts und niemand gibt ihnen mehr Halt. Schon gar nicht jener feist grinsende Herr Tartuffe, der – so will es Regisseur Michael Thalheimer – zum bitterbösen Ende hin nicht verhaftet wird, sondern die Familie Orgon einfach vor die Tür setzen lässt.

Michael Thalheimer, offenbar vom interneren Machtkampf mit Platzhirsch Andreas Kriegenburg am Deutschen Theater entnervt, ist als Hausregisseur an die Berliner Schaubühne gewechselt. Dort inszeniert er jetzt Molières „Tartuffe“ als, ja, als was eigentlich? Eine ausgelassene Komödie jedenfalls ist es nicht geworden. Eher eine streng formalisierte Groteske. Ein moralinsaurer Abgesang auf die Blindheit der Menschen, die sehenden Auges in ihr Unglück rennen.

Thalheimer bleibt sich, auch am neuen Theater, treu und macht das, was er immer macht: Er entkernt den Text, bis nur noch ein ein dürres Handlungsgerippe übrig bleibt, reduziert die Menschen auf stilisiert wirkende Macken und Marotten, sperrt die Figuren – mit Hilfe seines Bühnenbildners Olaf Altmann – in ein enges Gefängnis. Ob der von allen guten Geistern und jeder Vernunft verlassene Orgon (Ingo Hülsmann), ob seine um Haus und Hof fürchtende, aber einem Seitensprung nicht abgeneigte Frau Emire (Regine Zimmermann) oder der sich mit ausgeleierten Phrasen und billiger Anmache einschleimende Tartuffe (Lars Eidinger): Sie alle müssen sich durch einen kleinen Spalt in den karg möblierten Bühnen-Schrein zwängen.

Lustig ist das nicht. Genauso wenig wie die seltsamen Grimassen, Verrenkungen und Schreiattacken, von denen Tochter Marian (Luise Wolfram), ihr Verlobter Valère (Tilman Strauß) und der Gerichtsvollzieher (Urs Jucker) heimgesucht werden. Einzig Judith Engel als gelangweiltes Hausmädchen Dorine verbreitet als Unheil verkündende Kassandra eine Komik des Schreckens.

Längst bevor die falsche Fassade einstürzt, liegen alle Lügen und alle Wahrheiten offen zutage. Atmosphärische Verdichtung erzeugt allein noch die enervierende Musik: eine schauderhaft-schöne Collage aus schwer dröhnenden sakralen Orgelklängen und metallisch klirrenden Gitarrenriffs. Das bleibt noch lange im Ohr. So wie die zur rotierenden Waschmaschine werdende Bühne sich ins Theater-Gedächtnis einschreiben wird. Aber sonst? Viel Lärm um nichts.

Berlin, Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153. Nächste Aufführungen am 9. und 10. Januar 2014. Karten unter 030/890023 oder ticket@schaubuehne.de




„Polizeiruf 110“ aus München: Stärker als die allermeisten „Tatort“-Folgen

Eine Transsexuelle stirbt in der Haftzelle. Ist sie etwa ein Opfer der eingeschworenen Truppe von der Polizeiinspektion 25 geworden? Dass man aus dieser Vorgabe einen ungemein spannenden, immens dicht gewobenen Krimi machen kann, das hat der „Polizeiruf 110“ mit dem fast poetischen Titel „Der Tod macht Engel aus uns allen“ bewiesen.

Nach diesem Film (Regie: Jan Bonny) fragt man sich abermals, ob der „Polizeiruf“ im Schnitt nicht sogar besser als die ARD-interne „Tatort“-Konkurrenz ist, bei der man sich zuletzt auf gar zu vielen Schauplätzen verausgabt hat.

München als hässliche Stadt

Gewiss: Die Tonspur war ärgerlich, man verstand zuweilen halbe Sätze nicht so recht. Vor allem aber mutete uns die neue Folge eine Menge zu – und das zum Ausklang des Wochenendes. Es begann schon damit, dass München durchweg als hässliche, ja desolate Metropole gezeigt wurde. Hiernach müsste man sich fragen, warum dort so überaus hohe Mieten fällig werden, die sich gerade normale Streifenpolizisten kaum noch leisten können.

Lars Eidinger als Transsexuelle Amandine in "Polizeiruf 110". (Foto: BR/ARD/Kerstin Stelter)

Lars Eidinger als Transsexuelle Amandine in „Polizeiruf 110“. (Foto: BR/ARD/Kerstin Stelter)

Damit hatten wir allerdings schon ein erstes soziales Motiv für die ausgesprochen ruppige Gangart auf dem besagten Polizeirevier. Ein deprimierender, allseits von Gewalt bestimmter Berufsalltag kam hinzu, der mit beklemmenden Szenen glaubhaft dargestellt wurde. Man konnte sich also – bei allem Abscheu – in den rüden Corpsgeist hineinversetzen, der da herrschte und mit Zähnen und Klauen verteidigt wurde. Überhaupt war die ganze Geschichte derart durchmotiviert, dass man alle Beteiligten „irgendwie“ verstehen konnte.

Transsexuelle ohne jede Peinlichkeit dargestellt

Auf der anderen Seite stand, nein wankte die Transsexuelle Amandine, die zutiefst um die Tote trauerte und zunächst auf Bestrafung der offensichtlich schuldigen Polizisten aus war. Wie der Schauspieler Lars Eidinger diese verzweifelt sehnsüchtige, glücksverlorene, trostbedürftige Figur ohne jede Anzüglichkeit oder Peinlichkeit spielte, das war phänomenal.

Zwischen den Fronten rieb sich Kommissar Meuffels (ebenfalls großartig: Matthias Brandt) auf, der den tödlichen Vorfall zu klären hatte und sich dabei geradezu tragisch verhedderte. Am Ende stand ein wahrhaft unkonventioneller Deal, der eigentlich jedes Gerechtigkeitsgefühl verletzte und doch etwas für sich hatte…

Reif für den Grimmepreis

Die Kamera war gleich in den ersten Szenen außerordentlich dicht am Geschehen. Gelegentlich konnte man glauben, Zeuge des wirklichen, gleichsam rohen und unbehauenen, völlig desillusionierten Polizeidaseins zwischen Drogen, Rotlicht und tödlichen Bedrohungen zu sein.

Es gab Szenen, die an knallharte US-Krimis der ersten Güteklasse erinnerten. Andere Sequenzen hätten so oder ähnlich von einem Nachfolger Rainer Werner Fassbinders stammen können. Kurzum: Wenn ein solcher Krimi mit echten Kino-Qualitäten nicht für den Grimmepreis nominiert wird, dann weiß ich auch nicht…

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen