Der Mensch ist nur ein flüchtiger Schatten – Lars Gustafssons letzte Gedichte: „Etüden für eine alte Schreibmaschine“

Es ist, als solle einen schon der Titel unserer Zeit entrücken: „Etüden für eine alte Schreibmaschine“ heißt der (erst) jetzt bei uns erschienene Lyrikband von Lars Gustafsson. In Schweden ist das schmale, doch gehaltvolle Buch bereits 2016 herausgekommen, also im Todesjahr Gustafssons, der am 3. April 2016 gestorben ist. Diese Gedichte sind kein großes Vermächtnis, sondern wirken wie ein letzter, elegischer, wissend lächelnder Abschiedsgruß, der eben schon auf andere Sphären verweist.

Das erste Gedicht „Der Mann, der Hund, die Schatten“ lässt vage, schattenhafte Erscheinungen vorüberhuschen. Auch die weiteren Seiten enthalten vielfach Zeilenfolgen, die sich beinahe im Nichts verlieren und entschwinden, vor allem in nächtlichen und winterlichen Landschafts-Kulissen.

Etliche Gedichte sind so federleicht wortsparsam wie Haikus. Bloß nichts Überflüssiges hinsetzen! Unscheinbar, bescheiden, ja nahezu demütig und wie nebenher verfasst kommen einige dieser kleinen Schöpfungen daher. Aber das kann ja nicht stimmen. Der Dichter hat gewiss noch einige Mühen darauf verwendet. Das lyrische Ich sucht dabei nicht zuletzt Orte der Kindheitserinnerungen auf. Wie es gegen das Ende hin so zu sein pflegt.

Auf den Titel des Bandes kommt ziemlich früh das äußerlich fassbarere Gedicht „American Typewriter“ zurück. Es beschwört den länger zurückliegenden Augenblick, in dem am Metropolitan Desk der New York Times eine einsame Remington-Schreibmaschine betätigt wurde, nein: „…in einer Kaskade von Anschlägen aufbrauste“. Sodann heißt es:

„Es war eine Zeit,
als man die Menschen
noch denken hörte.“

Ja, es war noch eine ganz andere Materialität im Spiel, als beim vergleichsweise „lautlosen“ Geklapper auf Computern, bei dem freilich inhaltlich oft genug Getöse herauskommt.

Ansonsten geht es luftiger zu. Da erahnen wir beispielsweise: Verlassene Dinge, vorzugsweise in der schwedischen Provinz, von denen die Farbe abgeblättert ist; den Möglichkeits-Moment, bevor ein Solist im Konzert den ersten Ton spielt; die längst „erledigten“, niemals eingelösten Verheißungen abgelaufener Kalender; die Buchstelle, die ein vergilbtes Lesezeichen von 1929 noch markiert und hinter der vielleicht eine ganze Lebensgeschichte aufscheint…

Mehrfach werden Grenzgelände erwähnt: Grenzen des Erzählens, Grenzen der Galaxis, des Universums gar. Hinaus, hinaus ins Endlose? Im allerletzten Gedicht, dem „Epilog für die Ratlosen“, lesen wir jene Aufforderung, die in eine andere Welt führen könnte:

„Komm, müder Körper!
Komm, müde Seele!“

Und wie vergänglich waren Tun und Trachten im Leben! Gustafsson resümiert sein Metier, seine viele Jahrzehnte währende, wahrlich fruchtbare Autorenschaft im lyrischen Zuschnitt so lakonisch:

„Ich habe mein Leben damit verbracht
die Buchstaben des Alphabets
auf verschiedene Arten zu ordnen.“

Mehr noch: Einem anderen Gedicht zufolge scheint die ganze – ziemlich groteske – Geschichte der Philosophie sozusagen hinter Schneegestöber zu verschwinden. Ist denn alles Geistige nur ein Sortiervorgang oder flüchtige Illusion? Sollte auch jeder Mensch nichts als ein letztlich einsamer Schatten sein, wie es im Gedicht „Solipsismus“ heißt?

Kein Wunder, dass in diesem Band entscheidende Fragen angeschnitten werden, die (eventuell) letzten Dinge betreffend, allerdings mit Drall zur Komik:

„Ich frage mich:
Wenn man also in der Hölle ankommt, woher weiß man, dass man wirklich in der Hölle angekommen ist?
Und nicht nur in einer Ecke des Üblichen?“

Lars Gustafsson: „Etüden für eine alte Schreibmaschine“. Gedichte. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Carl Hanser Verlag. 80 Seiten, 18 Euro.




Ein Hochstapler als Philosoph: Lars Gustafssons letzter Roman „Doktor Wassers Rezept“

Lars Gustafsson sagte über sich selbst, er fühle sich als Philosoph, dessen Werkzeug die Literatur sei. Wie etliche seiner Werke unterstreicht auch sein letzter Roman „Dr. Wassers Rezept“ dies eindrücklich.

Gustafsson war einer der bekanntesten und bedeutendsten Autoren Schwedens, er verstarb im April diesen Jahres im Alter von 80 Jahren. Erst im letzten Jahr erhielt er den Thomas Mann Preis. Seine Dankesrede zur Verleihung ist noch auf seinem Blog nachzulesen. In dieser Rede bekennt er, dass er Thomas Mann auch deshalb bewundere, weil Mann die Trivialität des absurden Lebens aufheben und ihn in eine ganz andere Sphäre versetzen konnte. Diese Worte muten nun nach Gustafssons Tod an, als hätte sich ein Kreis geschlossen. Umso mehr, als mit seinem letzten Buch ausgerechnet die Geschichte eines modernen Felix Krull zu seinem Vermächtnis wurde.

GustafssonDrWasser

Denn Gustafssons „Dr. Wasser“, der seine medizinische Laufbahn als Generaldirektor einer Klinik beendete und sich einen Namen in der Schlafforschung machte, ist gar kein Doktor med. Er ist „nur“ Bo Kent Andersson aus den schwedischen Wäldern, Fensterputzer und Hilfskraft in einer Reifenwerkstatt.

Zu klug für seine kleine Welt

Der junge Bo Kent merkt früh, dass er klug ist, genau genommen: zu klug. Zumindest für das kleine schwedische Karbenning. In der Welt, in die er hineingeboren wurde, hilft ihm Klugheit nicht. Eigentlich müsste für ihn eine andere Welt her. Da findet er eines Tages die Leiche eines schon vor Monaten tödlich verunglückten Motorradfahrers – und dessen Papiere, die den Verunglückten ausweisen als Dr. Kurth Wolfgang Wasser, DDR-Flüchtling und approbierter Mediziner. Dieser Fund gibt ihm einen zufälligen Moment der Freiheit und er verwandelt den „eigentümlich durchsichtigen, fast unsichtbaren schmalen Typ aus Karbenning, die gläserne Mücke“ in einen angesehenen Wissenschaftler.

Er entschied sich für den Identitätswechsel „nicht, weil ich mir besonders viel von diesem anderen versprach, sondern weil die Verführung, die von der Idee eines eigenen freien Willens ausging, unwiderstehlich war“. Nun verbringt er seinen Lebensabend als Gewinner, zumindest legen das die Ergebnisse seines Hobbys – Preisausschreiben in allen erdenklichen Formen – nahe. Aber hat er auch in seinem Leben gewonnen? Das ist die Frage, die ihn nun mit dem nahenden Lebensende vor Augen umtreibt. Kann es ihm wirklich reichen, dass er sich heiter fühlt und nicht unzufrieden?

„Doktor Wassers Rezept“ ist weit mehr als ein Schelmenroman über einen gewieften Hochstapler. Gustafsson erzählt mit der Geschichte seines Helden eine Geschichte über riskante Lügen, sinnliche Lieben und fragile Identitäten. Er folgt dabei allerdings keiner stringenten Chronik. Die Erzählung folgt – ganz Gustafssons Selbstverständnis entsprechend – einzig und alleine seinen philosophischen Gedankengängen. Die Versatzstücke des Lebens des Dr. Wasser werden dabei fragmentarisch nur zur Untermauerung der philosophischen Überlegungen gebraucht.

Dem Leben einen Sinn geben

Doch auch wenn die eigentliche Romanhandlung immer wieder unterbrochen wird, der doch man neugierig folgen möchte, ist „Dr. Wassers Rezept“ ein ungeheuer spannendes Buch. Spannend schon alleine wegen der Fragen, die das Buch aufwirft. Fragen, die sich wohl jeder zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens stellt. Die ganz existentiellen Fragen darüber, wer man ist, wie man zu dem wird, der man sein möchte, ob man überhaupt die Freiheit hat, selber zu bestimmen, wer man ist und welche Verantwortung man damit übernimmt. Noch spannender, weil Gustafsson sich nicht scheut, zumindest in Teilen Antworten zu geben: „Nein, einen Sinn hat das Leben nicht. Aber man kann ihm einen Sinn geben, vielleicht war es das, was ich tat“.

Ganz besonders spannend ist noch eine ganz andere Frage, die der Roman allerdings nur am Rande aufnimmt: Wie konnte Dr. Wasser damit eigentlich durchkommen? Wieso hinterfragte nie einer die doch so offensichtlichen Diskrepanzen in seiner Geschichte? Selbst die, die ihn aus seiner Kindheit noch als Bo Kent kannten, schluckten die phantastische Geschichte von der Adoption durch ein DDR-Ehepaar und fragten nie weiter nach.

Wen kennt man eigentlich wirklich?

„Niemand war wirklich daran interessiert, die Fäden zu entwirren“. Gustafsson findet auch darauf eine Antwort: „Die Menschen füllen Lücken gerne aus. Das ist eigentlich nicht so merkwürdig. Leben ist eine sinnstiftende Aktivität. Leben heisst zu deuten.“ Eine Antwort von bestechender Logik, die eine weitere Frage aufwirft: Wen von unseren Mitmenschen kennen wir eigentlich wirklich und wollen wir ihn überhaupt wirklich kennenlernen? Reicht uns nicht vielmehr das Bild, das wir uns von diesen machen?

Immerhin muss man Dr. Wasser zugute halten, dass er gut war auf seinem Gebiet der Schlafforschung. Er hatte diesen Beruf nicht gelernt, aber er war seine Berufung geworden. Sein Fachgebiet hatte er sich schnell ausgesucht, schien es ihm doch eines der wenigen medizinischen zu sein, auf dem er keinen Schaden anrichten konnte. Hat man auch nicht alle Tage – einen Hochstapler, der keinem je geschadet hat. So zeichnet Gustafsson ganz en passant noch das Bild eines Menschen, auf den ihn in Ansätzen durchaus die Bezeichung „Psychopath“ zutrifft, dem man aber seinen friedlichen, verkreuzworträtselten Lebensabend dennoch gönnt.

Lars Gustafsson: „Doktor Wassers Rezept“. Roman. Hanser Verlag. 144 Seiten, €17,90.




Wer das große Nichts umkreist – Lars Gustafssons philosophischer Thriller „Der Dekan“

Von Bernd Berke

Manche Klappentexter aus Buchverlagen sollte man etwas zügeln. „Lars Gustafssons bester Roman“ – so wird „Der Dekan“ auf dem Einband angekündigt. Waren also alle bisherigen Bücher schlechter? Und: Welche volltönende Anpreisung gibt’s denn beim nächsten Werk?

Schwamm drüber. Jetzt geht es erst einmal um diesen „Roman“, der das Genre-Etikett nicht so recht einlöst. Denn es sind fragmentarisehe, ja streckenweise fetzenhafte Aufzeichnungen, mit denen uns der seit vielen Jahren in Austin/Texas lebende, für sein bisheriges Werk verehrungswürdige Schwede konfrontiert. Hinzu kommt ein alter Literaten-Trick: Die Texte werden als gerettete, teilweise beschädigte Überbleibsel „aus Spencer C. Spencers Papieren“ ausgegeben.

Zu allem Überfluss herrscht Konfusion beim fiktiven Urheber. Immer wieder betont dieser Spencer, dass er gar nicht mehr wisse, wo anfangen und aufhören mit seinen Aufzeichnungen. Kurzum: Das Ganze fasert dermaßen aus, dass man vor manchen Rätseln steht. Vor welcher schrecklichen Erfahrung ist Spencer in eine Pension am Rande der Wüste geflohen?

Rätsel und Mysterien zuhauf

Bis dahin war er jedenfalls Philosophie-Professor just in Austin – und zuletzt rechte Hand des mächtigen Dekans der Fakultät. Um Letzteren werden nun einige Mysterien gewoben: Er ist an den Rollstuhl gefesselt, scheint aber allgegenwärtig (und allwissend) zu sein. Doch immer, wenn’s konkreter werden könnte, verlieren sich die Spuren, weil Spencers Manuskript beschädigt ist, mittendrin abbricht – und überhaupt, weil alles unbegreiflich zu sein scheint.

Sodann kommen dunkle schamanistische Praktiken ins (vor allem gedankliche) Spiel, mitsamt bewusstseinserweiternden Rausch-Pilzen. Der Dekan scheint in irgend einer geheimen Verbindung zu derlei Dingen zu stehen. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Immerhin erfahren wir, dass der Dekan früher im Vietnamkrieg gekämpft hat – auf mörderischste Art. Nun also philosophiert er mit Spencer zuweilen stundenlang über das Gute und Böse, Gott und die Welt, Hölle und Paradies. Auch von einem faustischen Pakt ist irgendwann die Rede, den ein Fußballtrainer mit dem Teufel schließt, damit sein Team endlich mal gewinnt. Wenn Goethe das geahnt hätte!

Gustafsson umkreist in seiner wildwüchsigen Kreuzung aus Campus-Geschichte und Philosophie-Thriller das große Nichts und die umfassende Leere. Sowohl die Mathematik (Erfindung des „Null“-Wertes) als auch die Natur werden zu Zeugen aufgerufen, dass solche Leere gleichsam der Normalfall des Daseins sei. Ein nahezu nihilistischer Zustand, in dem dann fast alles möglich ist…

Zwischen Spannung und Düpierung

Auf anderer Ebene geht es um steinreiche Mogule der Technologie-Branche, die in Marmor-Palästen göttergleich auf den Bergen thronen. Einer von ihnen ist Spencers Cousin Derek, der seinem Verwandten einst keinen Cent fürs Studium leihen mochte und ihm hernach die Geliebte ausspannte. Den Kerl müsste man beseitigen, denkt Spencer. Und auch der Dekan hat einen solchen Feind. Vielleicht helfen ja schamanistische Mittel?

Gustafsson lässt die drohende Leere auch formal fühlbar werden. Man mag ihm diesmal nicht durch alle Windungen willig folgen, eben weil sie vielfach ins frustrierende Nichts führen. Doch man bleibt, obwohl öfters ins Vakuum geleitet, bis zur letzten Zeile dabei – geradewegs zwischen Spannung und Düpierung.

Lars Gustafsson: „Der Dekan“. Roman. Hanser Verlag. 190 Seiten. 17,90 Euro.




Konkursrichter über das eigene Leben – „Die Sache mit dem Hund“ von Lars Gustafsson

Von Bernd Berke

Konkursrichter lenken für gewöhnlich die (Lebens)-Pleiten anderer Leute in juristische Bahnen. In Lars Gustafssons neuem Buch „Die Sache mit dem Hund“ muß ein solcher Richter über die eigene Biographie befinden.

Der Ich-Erzähler lebt, wie übrigens der schwedische Autor seit Jahren auch, bei Austin (Texas/USA). Er steht kurz vor seiner Pensionierung und hat somit Anlaß zur Zwischenbilanz. Von seiner Frau, die dem Alkoholismus zuneigt, lebt er in gemessener Alltagsdistanz. In ihrer beider Haus am Strom, der manchmal bedrohlich über die Ufer tritt, erlebt er buchstäblich den Fluß der Zeit. Während dies allmähliche Verrinnen die Stimmung des Buches elegisch grundiert, kommt es zu deutlicheren Konflikten.

Der rätselhafte Tod des vor langer Zeit aus Holland zugewanderten Nachbarn und Philosophie-Professors Van de Rouwers bringt es an den Tag: Der Denker, seit vielen Jahren ein Leitstern des Konkursrichters, war nicht als Widerstandskämpfer gegen die Nazis in die USA emigriert, sondern ganz im Gegenteil, weil er den NS-Rassismus durch Zeitungsartikel unterstützt hatte.

„Die Grausamkeit hat große Reserven“

Für den Konkursrichter bricht eine Welt zusammen: An einem solchen Unmenschen hatte er sich geistig orientiert! Nach seinen Gerichtssitzungen streunt der Konkursrichter nun durch fremde Gegenden und versucht, mit sich ins Reine zu kommen. Wir erfahren zudem, daß er in wütender Aufwallung einen anderen Streuner, nämlich einen Hund, erschlagen hat – diese „Sache mit dem Hund“ bringt seine Gedanken noch weiter aus dem gewohnten Gleis. Ein Satz, der vielfach aufgegriffen wird, rückt dies in die existentielle Dimension: „Die Grausamkeit hat große Reserven“, sinniert der Richter – und findet plötzlich überall Beispiele des in der Welt waltenden Bösen. Auch bei sich selbst.

Gustafsson siedelt sein in ganz kurze Streiflicht-Kapitel unterteiltes Buch in einer seltsam zwiespältigen Atmosphäre an. Einerseits geht das texanische Kleinstadtleben seinen Kriechgang täglicher Korruption, andererseits dämmert „political correctness“ herauf, jene stets sprungbreite moralische Empörung im Namen aller möglichen Minderheiten. Weder das eine noch das andere „schmeckt“ dem Richter, eigentlich fühlt er sich durchweg unbehaglich. Konkurs eines Lebens – oder einfach die mürrische Einsicht, mit zunehmendem Alter immer mehr „von gestern“ zu sein? Jedenfalls ein Buch, das einen so schnell nicht in Ruhe läßt.

Das allmählich nachlassende Gedächtnis des Richters spiegelt sich in häufigen Wiederholungen von Satz- und Sinnfetzen, so als wisse die Hauptfigur gar nicht mehr so recht, was sie bereits berichtet hat. Zugleich sorgt dies Stilmittel für erhellende Querbezüge. Gustafsson erzählt in täuschend leichtem Plauderton mit jener großen Gelassenheit, die man von ihm kennt und die so schätzenswert ist.

Lars Gustafsson: „Die Sache mit dem Hund“. Roman. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Hanser Verlag, München, 240 Seiten, 34 DM.




Zwei alte Männer warten auf Sinn und Erlösung – Lars Gustafssons „Nachmittag eines Fliesenlegers“

Von Bernd Berke

Welch eine banale Titelfigur: ein Fliesenleger! Was der schon an einem Nachmittag erleben? Ein Badezimmer vollenden – und dann fertig. Stoff für einen Roman? Aber ganz gewiß doch. Wenn ein Autor wie der Schwede Lars Gustafsson sich des Themas annimmt.

Gustafssons „Held“ heißt Torsten Bergman. Seit dem Tod seiner Frau ist das Leben des Fliesenlegers gleichsam wie eingefroren, er weiß so gut wie nichts mehr vom Alltagsleben anderer Leute. Sein Leben hat sich seit langem verloren. Seine „gesammelten Werke“, Kachelreste aus allen Nachkriegsepochen, schimmeln im kaltfeuchten Keller vor sich hin.

Nur noch ab und an in Schwarzarbeit tätig, erhält er eines Tages einen telefonischen Tipp: Nach langer Zeit mal wieder ein Auftrag. Mißmutig macht er sein klappriges Uralt-Auto flott und fährt los.

Er gerät in eine durchaus seltsame Situation: das halbverfallene Haus ist gespenstisch leer – wie ein Ort für Geister. Kein Bauherr, kein richtiger Auftrag, gar nichts. Trotzdem macht sich Torsten ans Werk. Wahrend der Routine-Arbeiten gerät seine erinnernde Phantasie in Gang. Mal kommen ihm Gedanken an seine Kindheit und Jugend in den 30er Jahren, an sein Leben, das offenbar mit der Zeit immer schlechter geworden ist; mal ergeht er sich in wildesten Vermutungen über etwaige Bewohner des Hauses (Dealer? Terroristen?). Die völlig unklare Arbeitssituation und die Leere um ihn herum erzeugen eine Art Gedankensog, eine Gedankenreise durchs eigene Leben.

Um neues Material zu sorgen, begibt er sich für kurze Zeit in die „Wirklichkeit“ die letztlich eben auch sehr unwirkliche Realität eines Industriegeländes mit Baumärkten, wo es furchtbar überorganisiert, eilig und geölt-gegenwärtig zugeht. Dort trifft er seinen alten Vetter Stig. Beide reden von der Vergangenheit, über Menschen, die sie gekannt haben – und kehren ins leere Haus zurück, wo sie nun gemeinsam arbeiten. Zwei alte Männer in einem leeren Haus, eine Situation fast wie in Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Warten auf „Erlösung“, Warten auf Sinn – bis eine junge Frau auftaucht, die samt Kindern von ihrem Mann ausgesperrt wurde. Noch so eine Ausgesetzte…

Mehr sei hier nicht verraten. Das sehr unaufdringlich und scheinbar unaufwendig geschriebene Buch hat, wie bisher noch jedes von Gustafsson, eine ganz eigene Atmosphäre: Leise Trauer über allmählich vergehendes Leben, einen melancholischen Anflug von Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit auch. Mitunter konzentriert und verdichtet sich die Geschichte dermaßen, daß in zwei oder drei Sätzen die ganze sanfte Tragik einer Lebensgeschichte aufscheint.

Lars Gustafsson: „Nachmittag eines Fliesenlegers“. Roman. Carl Hanser Verlag. 140 Seiten, 25 DM.