Weg der Qual ohne Erlösung: Lars von Triers „Dogville“ am Theater Krefeld

"Dogville" am Theater Krefeld: Die Bühne von Gabriele Trinczek zitiert die "Versuchsanordnung" des Films aus dem Jahr 2003. Foto: Matthias Stutte

„Dogville“ am Theater Krefeld: Die Bühne von Gabriele Trinczek zitiert die „Versuchsanordnung“ des Films aus dem Jahr 2003. Foto: Matthias Stutte

Das Stück handelt von unverdienter Gnade, vom Unsinn von Barmherzigkeit. Vom Scheitern eines Lebensprinzips, das dem Weg Jesu folgt, in einer Gesellschaft, die man als „kleinbürgerlich“ bezeichnen könnte, die aber über jenes schiefe Etikett weit hinausreicht und für die Menschheit als Ganze stehen könnte. Lars von Triers „Dogville“ spielt wie kaum einer anderer Film mit christlich-biblischen Bezügen. Aus dem Film wurde ein Bühnenstück, das jetzt am Krefelder Theater Premiere hatte.

Eigentlich sind solche Adaptionen überflüssig. Warum sollte man einen nahezu perfekten Film nahezu eins zu eins ins Theater übertragen? Es gibt Tausende von Dramen, die auf der Bühne und nur da wirken. Wozu also dieses Wiederkäuen? Und die Frage lässt sich erweitern auf die modische Bearbeitung von großen Romanstoffen in handlichem Zweieinhalb-Stunden-Format. „Buddenbrooks“ oder „Zauberberg“ im Schnelldurchlauf – ein Tribut an die ungeduldige Kurzatmung unserer Zeit?

Vielleicht eher die Schwäche eines Theaters, dessen Lebenskern in den Gehirnwindungs-Labyrinthen endloser, selbstreferentieller Reflektion zerstoben ist. Das sich schwer tut, bedeutungsvolle Geschichten zu erfinden und zu erzählen. Das sein reiches Erbe in verstiegener Lust zwischen privatistischen Exzessen und gesuchter Originalität übersieht.

Voilá – mit einem Filmstoff darf man dann ungeniert erzählen, ohne das schlechte Gewissen des Regie-Originalgenies klopfen zu hören. Matthias Gehrt lässt sich in Krefeld darauf ein – zum Glück ohne schlechtes Gewissen. Und ohne den Zwang, unter allen Umständen etwas „Neues“ zu erfinden, dem etwa Karin Henkel in ihrer „Dogville“-Version in Frankfurt gefolgt ist.

Wir sehen in Krefeld eine Bühne, von Gabriele Trinczek gestaltet wie die Spielfläche des Films von 2003. Wir sehen treffende Kostüme von Petra Wilke, die in das verlorene Dörfchen der Dreißiger Jahre am Fuß der Rocky Mountains passen. Die Wände der Häuser sind angedeutet durch weiße Linien, nur die Möbel stehen dreidimensional und gegenständlich in den Zimmern. Diese nach außen durch die Natur isolierte Gemeinschaft ist total durchsichtig. Jeder weiß vom anderen alles, auch peinliche Geheimnisse wie den monatlichen Animierdamen-Besuch des täppischen Lastwagenfahrers Ben (Paul Steinbach).

Eine vermeintlich kleine, geordnete Welt: Szene aus "Dogville" am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Eine vermeintlich kleine, geordnete Welt: Szene aus „Dogville“ am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Ein abgeschlossenes Biotop, genau richtig für die gesellschaftlich-moralischen Erkundungen des jungen Möchtegern-Schriftstellers Tom Edison. Jonathan Hutter verkörpert ihn als intellektuelles Bürschchen in abgetragenem Sakko, eifrig erfüllt von seiner Mission. Aufklärung, so tönt er, löse jahrhundertealte Konflikte. Die Fremde, die auf der Flucht in das Dorf gerät, ist für seine Predigt über „Geben und Empfangen“ genau das pädagogische Versuchstier, das er braucht.

Das fremde Opfer, von einer zunächst kaum greifbaren Macht verfolgt, heißt Grace. Nele Jung verkörpert sie im modischen Blondinen-Look, in der eleganten Garderobe einer städtischen Oberschicht. Grace heißt „Gnade“: Die junge Frau muss sich ihr Bleiben in der Gemeinschaft verdienen – und sie bietet den Bewohnern ihre Hilfe an. Keiner braucht sie, keiner will sie annehmen, doch die behutsame Art von Grace, genau das zu suchen, was den Menschen fehlt und es ihnen unaufdringlich zu gewähren, durchbricht die Selbstgenügsamkeit. Nele Jung spielt das souverän und mit einer teilnahmsvoll weichen Diktion.

Die Parallele zur von Gott gewährten „unverdienten Gnade“ ist überdeutlich. Grace befreit die Menschen von Selbsttäuschung und dem Gefangensein in sich selbst: Die bildungsbeflissene Vera (verhärmt, abgearbeitet und im entscheidenden Moment gnadenlos grausam: Esther Keil) kann Vorträge in der Stadt besuchen. Der halbblinde alte Edison (Bruno Winzen) gesteht sich endlich die Wahrheit ein: Er kann nicht mehr sehen.

Ausbruch der Gewalt: Nele Jung als Grace, Adrian Linke als Chuck. Foto: Matthias Stutte

Ausbruch der Gewalt: Nele Jung als Grace, Adrian Linke als Chuck. Foto: Matthias Stutte

Der Bruch bahnt sich an, als die kleine Gemeinschaft mit Macht konfrontiert wird, mit dem unheimlichen, nicht fassbaren „Außen“. Ein Sherriff erscheint, klebt ein Plakat an. Grace wird als vermisst gesucht, gerät noch mehr in die Defensive, als eine Fahndung wegen einiger Banküberfälle nachgeschoben wird – die sie freilich nicht begangen haben kann, da sie in der fraglichen Zeit in Dogville war.

Dennoch: Der drohende Zugriff der Macht, die Angst, vor ihrem Gesetz inkorrekt zu sein, offenbart die andere Seite der Menschen – jene, die in den moralischen Tiraden von Tom angedeutet und in der bösen Rede von Chuck (Adrian Linke) konkretisiert wird. Sie wandelt die Menschen des Orts zu boshaften Ausbeutern, zu zynischen Vergewaltigern, zu gnadenlosen Seelenschändern. Und der Mann, der Grace liebt – Tom Edison junior – wird zum Verräter. Wenn sich Grace, mit einer Kette an einen Kanaldeckel gefesselt, zur Arbeit und dann zu Bett schleppt, um von den Männern Dogvilles missbraucht zu werden, denkt man unmittelbar an Händels „He was despised …“ aus dem „Messiah“.

Lars von Trier treibt die Parallele zum jesuanischen Modell von Gnade, Erbarmen und Vergebung in der Person Graces bis an die Grenze des Erträglichen – um es dann in einem Finale von alttestamentarischer Wucht zu kippen. Dieses Ende ist wie ein verzweifelter Aufschrei des zum Katholizismus konvertierten Lars von Trier: Das Konzept der Liebe ist zum Scheitern verurteilt, es ist sinnlos in einer schlechten Welt. Es bleibt nur die Rache und die Vergeltung, das „Aug‘ um Aug‘“ des zornigen Gottes aus dem alten Israel.

"The Big Man" Joachim Henschke in Lars von Triers "Dogville" am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

„The Big Man“ Joachim Henschke in Lars von Triers „Dogville“ am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

In Krefeld fehlt dem Finale die archaische Komponente der grausam ausgleichenden Gerechtigkeit. Es wirkt wie der Showdown einer mittelmäßigen Gangstergeschichte. Ansonsten verwendet Matthias Gehrt viel Sorgfalt auf die Charaktere: Ronny Tomiska und Henrike Hahn etwa als Geschwisterpaar Henson, hinter deren einfacher Glasschleifer-Existenz die Gier lauert, das Opfer Grace selbst mit ihren erbärmlichen Mitteln noch die Überlegenheit spüren zu lassen. Eva Spott trifft Ma Gingers opportunistische Gehässigkeit; Helen Wendt Marthas angstbesetzte Bigotterie. Dem „Großen Mann“ – Graces Vater – gibt die imposante Erscheinung und die amorphe Diktion von Joachim Henschke einen Zug ins Abgründige; Intendant Michael Grosse schlendert als jovialer Erzähler durch die Szene.

Bezeichnenderweise ist es ein Kind (Jason: Nikolas Jahnelt), das mit einer Erpressung das Kesseltreiben gegen Grace einleitet: Das Böse ist sozusagen im Urzustand dieser Menschen verankert. Und bezeichnenderweise ist der Hund „Moses“ der einzig Überlebende: Wie der alttestamentliche Patriarch hat das nichtmenschliche Lebewesen die Chance zum Exodus, zum Aufbrechen ins „Gelobte Land“. Viel Beifall und ein spürbar beeindrucktes Publikum.

Info: www.theater-kr-mg.de




Unsere kleine Stadt im Bann der Macht: „Dogville“ am Schauspiel Köln

Foto: David Baltzer

Foto: David Baltzer

Ich bin ein später Fan des Regisseurs Lars von Trier: In seine abgründigen Film-Welten bin ich erst bei „Antichrist“ eingetaucht, dann kam „Melancholia“ – großartig! Bei „Nymphomaniac I“ schlug die Besessenheit allerdings schon wieder in Ödnis um, so dass ich mir den zweiten Teil sparte. Dafür hole ich die älteren Filme jetzt im Theater nach: In der letzten Saison zeigte das Theater Essen Manderlay, adaptiert für die Bühne und inszeniert von Hermann Schmidt-Rahmer. Nun eröffnet das Schauspiel Köln die neue Spielzeit mit „Dogville“.

Zugegeben: Dieses Trier-Werk eignet sich besonders fürs Theater, weil bereits der Film theatralische Mittel nutzt. Nicht verwunderlich, dass Bastian Krafts Inszenierung nun seinerseits filmische Mittel einsetzt und das ziemlich raffiniert: Wie ein Spiegel hängt eine Aluwand über der Bühne und reflektiert das Geschehen in Großaufnahme, das gleichzeitig von zwei Live-Kameras aufgezeichnet wird. Ein Erzähler (Guido Lambrecht) fungiert dabei als eine Art Multimedia-Regisseur, der wie auf einem überdimensionalen Touch-Screen die Häuser der Bewohner Dogvilles als Projektion fürs Publikum sichtbar macht. Trotzdem drängt sich die ganze Technik nicht auf, sondern wirkt irgendwie pur, vor allem da sie von den schlichten Landei-Kostümen der Dorfbewohner kontrastiert wird.

Und die Story? Es geht um Macht. Genauer: Was macht Macht über andere Menschen mit Menschen? Grace (Katharina Schmalenberg) strandet im glitzernden Abendkleid in dem verschlafenen Kaff Dogville mitten in den Bergen. Nicht freiwillig: Sie wird erst von Gangstern, dann von der Polizei verfolgt und Tom (Gerrit Jansen), ebenso gutmütiger wie naiver Schriftsteller, überredet die Dorfbewohner, sie aufzunehmen. Als Gegenleistung soll sie arbeiten. Was für Grace als ländliche Idylle beginnt, endet im modernen Sklaventum. Sie schuftet, wird vergewaltigt und letztlich gefangen genommen – einfach weil die Dorfbewohner entdecken, dass sie ihnen ausgeliefert ist. Psychologisch genau zeichnet Bastian Kraft diese Entwicklung nach. Nette, wortkarge Teddy-Charaktere werden zu gefühllosen Sex-Bestien, freundliche, einfältige Frauen zu giftigen Hyänen.

Foto: David Baltzer

Foto: David Baltzer

Aber der alte Zyniker von Trier hat sich dazu einen überraschenden Schluss ausgedacht, bei dem das Opfer zum Täter wird, bzw. eigentlich schon immer der Täter war. Im filmischen Werk von Triers schließt daran nun die Geschichte von „Manderlay“ an, einer Plantage, die Grace von der Sklaverei befreien will: In Essen wird die Inszenierung in dieser Saison wieder aufgenommen. Für „Dogville“ muss man nach Köln fahren: Der Weg lohnt sich.

www.schauspiel-essen.de
www.schauspielkoeln.de




Demokratie und Peitsche: „Manderlay“ nach Lars von Trier am Schauspiel Essen

Foto; Martin Kaufhold/Schauspiel Essen

Foto; Martin Kaufhold/Schauspiel Essen

Wenn ein Mensch ausgepeitscht wird, ist das ein barbarischer Akt. Dabei zuzusehen und vor allem zuzuhören, wie das Folterwerkzeug auf die nackte Haut klatscht, das Opfer schreit und sich rote Striemen auf dem Rücken bilden, löst Scham aus. Darüber, dass man nicht eingreift und so die Züchtigung stillschweigend billigt. Darüber, dass man sich den Schmerz vorstellen kann, er aber jemand anderem zugefügt wird.

Als Auftakt für die Dramatisierung von Lars von Triers Film „Manderlay“, die Hermann Schmidt-Rahmer für das Schauspiel Essen inszeniert hat, setzt diese Szene einen starken Akzent und führt mitten in das Herz des Stückes: Kann man ein autoritäres System in ein gewaltfreies, demokratisches Miteinander überführen?

Manderlay ist eine Plantage und sie liegt im Süden der USA. Obwohl die Sklaverei eigentlich schon seit Jahrzehnten abgeschafft ist, herrscht dort noch das alte Unterdrückungssystem. Die eigenen Gesetze und Regeln der Farm sind in einem Buch von Mam, der ehemaligen Besitzerin, niedergeschrieben. Dort hat sie ihre Sklaven auch klassifiziert und je nach Charakter in Kategorien eingeteilt. Grace, die neue „Chefin“ auf Manderlay will die Sklaverei abschaffen und die Demokratie einführen. Sie hasst dieses „rassistische“ Buch zutiefst.

Doch aus abhängigen Menschen freie, selbstbestimmte Wesen zu machen, gestaltet sich als schwierig: Sie sind es nicht gewohnt, selbst zu entscheiden oder sich für eigene Ziele einzusetzen. So bleibt die Arbeit ungetan, die Felder liegen brach und die wirtschaftliche Existenz aller ist plötzlich gefährdet. „Gutmensch“ Grace (Floriane Kleinpaß) gerät in ein Dilemma, das auch in der globalen Politik zu beobachten ist: Kann bzw. soll man die Menschen zu Freiheit und Demokratie zwingen, obwohl ihnen selbst diese Lebensform total fremd ist? Ist der Zwang zur Freiheit nicht per se unfrei? Sind demokratische Werte absolut zu setzen und in jeder Gesellschaft einzuführen, wenn nötig mit Gewalt? Der aktuelle politische Bezug könnte nicht offensichtlicher sein.

Ästhetisch haben Hermann Schmidt-Rahmer und sein Bühnen- und Kostümbildner, der Künstler Thomas Goerge, der auch mit Christoph Schlingensief am Operndorf in Burkina Faso gearbeitet hat, die Geschichte nach Afrika verlegt. Aus Benzinkanistern und Wohlstandsmüll gebaute Puppen repräsentieren die Figuren und nur an diesen kann man erkennen, wer schwarz oder weiß ist.

So erhält die Inszenierung neben einem gewissen Multikulti-Lokalkolorit zugleich den Charakter eines sozialen Experiments: Es geht um Macht in einer Gruppe, wer sie ausübt und mit welchen Mitteln er das tut. Die Hautfarbe ist dabei nur das Vehikel der Unterdrückung. Genauso gut könnte es Armut oder ein irgendwie anders bestimmter Makel sein – nichtsdestotrotz vermischen sich in der Realität Rassismus, soziale Benachteiligung und Gewalt auf unheilvolle Weise.

Foto: Martin Kaufhold/Schauspiel Essen

Foto: Martin Kaufhold/Schauspiel Essen

Die Realität ist es denn auch, die Graces Utopie scheitern lässt: Obwohl das Schicksal der Farm schon (völlig untypisch für Lars von Trier) auf ein Happy End zusteuert, weil trotz aller Widrigkeiten die Ernte eingebracht, die Schule geründet und das demokratische Abstimmungswesen verstanden ist, geht zum Schluss noch alles schief. Graces Liebhaber Timothy verspielt den Gewinn der Ernte beim Poker und beweist damit, dass Mam in ihrem rassistischen Buch doch recht hatte, ihn als unzuverlässigen Sklaven einzustufen.

Die aufgeklärte Chefin im ökologisch korrekten weißen Leinenkleid greift selbst zur Peitsche, um Timothy zu bestrafen. Und so kommt es, dass der Schauspieler Daniel Christensen an diesem Abend zum zweiten Mal öffentlich gezüchtigt wird. Aua.

Karten und Termine: www.schauspiel-essen.de




„Melancholia“ – Poetischer Weltuntergang auf leisen Sohlen

Im ersten Teil des Films, „Justine“ (gespielt von Kirsten Dunst), befinden wir uns im eleganten Clubhaus eines Golfplatzes, wo ihre Hochzeit mit Michael (Alexander Skarsgard, Sohn vom berühmten Stellan, der in jedem skandinavischen Film präsent ist, und auch hier mitspielt) gefeiert werden soll. Arrangiert wurde die Fête von Schwager John (Kiefer Sutherland), der nicht aufhören kann zu betonen, wieviel Geld er für dieses Fest ausgegeben hat. Alle Freunde, Verwandte und Kollegen warten schon seit langem auf die Braut. Aber zwei Stunden zu spät – der wedding planner (Udo Kier) ist ein Nervenbündel – betritt sie lächelnd den Saal, und das Festessen kann beginnen. Tafel und Gesellschaft erinnern an „Festen“ von Thomas Vinterberg, allerdings nur optisch.

Es wird bald klar, dass Justine sich irrational verhält. Sie verlässt scheinbar grundlos den Tisch, sie spaziert auf den Greens herum, nimmt ein Bad, schläft ein Ründchen, aber zwischendurch kommt sie auf einen Happen, auf einen Schluck, auf einen Tanz, zurück in den Saal. Sie tanzt mit dem Vater (John Hurt), wechselt ein paar Worte mit Mutter (Charlotte Rampling), Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg) und deren kleinem Sohn Leo (Cameron Spurr). In Justines Gesicht erkennt man eine gewisse Ratlosigkeit, in ihrem Verhalten Rast- und Ruhelosigkeit. Sie bricht unvermittelt in Tränen aus. Sie schaut durch ein Teleskop, sieht den zusätzlichen Planeten. Sie ist besorgt, will funktionieren, will glücklich sein und glücklich machen, will das Richtige tun. Monumentale Aufgaben, die ihre Depression vorantreiben?

Es kommt zu einem Eklat, und sie flieht die Feier.

Der zweite Teil, „Claire“, spielt im Haus von Justines Schwester, wo sie Unterschlupf gefunden hat. Immer wieder schweift ihr Blick zum näherkommenden Planeten. Das Familienleben mit Schwester, Schwager John und Neffen Leo ist nicht einfach. Die Beziehung von Justine und Claire ist nicht einfach. Claire fürchtet sich vor dem Planeten, fürchtet um ihr Leben und das von Leo. John tut die Gefahr eines Zusammenstoßes mit dem Hinweis „It’s a fly-by“ ab. Je besorgter Claire wird, desto ruhiger wird Justine. „I know things“ sagt sie.

Das Thema Weltuntergang war mir bisher nur aus Science-Fiction-Filmen bekannt. Mit viel Getöse, special effects und fulminanten Feuersbrünsten. Nicht so in „Melancholia“. Der Mikrokosmos dysfunktionale Familie ist der Untergang. Die Depressionen, die Melancholie, die Angst.

Der Titel des Films ist der Name des Gestirns, das auf die Erde zusteuert, und die Melancholie ist Thema.

Lars von Trier hat ja seit einigen Jahren von den meisten Vorgaben für die sogenannten Dogma-Filme Abstand genommen, aber ein bisschen was ist immer noch geblieben. Zum Beispiel die Handkamera. Stative oder Rollkameras sind was Schönes, und Regisseure wie Fassbinder haben geniale Sachen damit gemacht. Sie haben sie schweben, tanzen oder im Kreis rum fahren lassen. Sie haben sie starr stehen lassen, oder wie ein menschliches Auge benutzt. Lars von Trier bevorzugt die Handkamera. Das mag manche Menschen schwindlig machen, mich macht’s zum Teil des Geschehens. Diese Kamera schaut genau dahin, wo ich auch hinschauen würde. Ich fühle mich mittendrin.

Und grad wenn mir der Kopf anfängt zu schwirren vom Partygeschehen, kommen unvermittelt dazwischengeschobene, standbildhafte, gemäldeartige Ruhemomente. Zum Verweilen, Eintauchen, Erholen. Justine treibt ruhig auf einem Waldsee, ein Bild von der Schönheit eines Monet-Gemäldes. Personen stehen weit voneinander auf einer geheimnissvoll beleuchteten Wiese. Die Oberfläche des bedrohlichen Planeten strahlt in freundlichem Blau.

Die Besetzung hätte besser nicht sein können. Kirsten Dunst, die es noch nie auf meine top-ten Liste geschafft hatte, ist perfekt für diese Rolle. Die anderen sind keine Nebenrollen, es sind alles kleine Hauptrollen. Es ist ein Film voller „Wow“-Momente, voller „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält“-Momente. Der malerisch schöne Anfang, der verstörende Verlauf, und die opulenten Bilder des Endes.

So merkwürdig das klingt: es ist trotz des düsteren Themas ein wunderschöner Film. Eine Augenweide, und wegen des wunderbaren Soundtracks auch eine Ohrenweide.




Nichts mehr sehen von dem Schmerz der Welt – Lars von Triers Film „Dancer in the Dark“

Von Bernd Berke

Man sitzt im Kino, und es bleibt einige Minuten lang vollkommen schwarz auf der Leinwand. Wann fängt der Film denn endlich an?

Er hat begonnen. Die musikalisch untermalte Dunkel-Passage gehört schon dazu. So wird man eingestimmt auf die Geschichte einer Frau, die allmählich ihr Augenlicht verliert und sich langsam damit abfindet: „Noch mehr von der Welt sehen zu wollen, wäre Gier“, redet sie sich ein.

Die Isländerin Björk, bislang vor allem als höchst kreative Popsängerin gerühmt, spielt in Lars von Triers 138-Minuten-Film „Dancer in the Dark“ (Goldene Palme in Cannes) jene ärmliche Fabrikarbeiterin Selma. Kann sie das?

Björk als bedauernswerte Fabrikarbeiterin

Und ob! Wie dringlich und mutig sie spielt, als ginge es wirklich ums ganze Leben! Daneben verblasst sogar Catherine Deneuve als Fabrikkollegin und besorgte Freundin. Diese Selma ist (ähnlich wie Emily Watson in von Triers bewegendem „Breaking the Waves“) eine jener seltsam entrückten „Heiligen“, eine wie von ganz weit her gesandte Gestalt: bestürzend elend, einsam, erdhaft, nahezu pflanzlich vegetierend, jeder Unbill schutzlos ausgeliefert – jedoch kraft ihrer Leidensfähigkeit und ihrer nie ganz versiegenden Hoffnung geradezu überirdisch erhoben.

Wegen ihrer Sehschwäche bekommt die junge Frau, die aus Tschechien in die USA(hier ein Niemandsland der fahlen Farben) eingewandert ist, Probleme mit der Bedienung der scharfkantigen Maschinen. Doch die allein Erziehende will den Knochenjob um jeden Preis behalten, sie hängt gar Überstunden an. Denn sie muss ja sich selbst und ihren Sohn ernähren, muss die Miete für den schäbigen Wohnwagen zahlen. Wichtiger noch: Sie weiß, dass der Sohn ihre Augenkrankheit geerbt hat. Doch bei ihm wäre durch eine teure Operation noch etwas zu retten. Dafür schuftet sie, dafür spart sie und versteckt das Geld in einer Keksdose im Küchenschrank.

Beim bunten Musical den Alltag vergessen

Ihr einziger Trost sind die abendlichen Musicalproben eines Amateurtrüppchens. Da spielt sie endlich mal eine tragende Rolle. Und sie phantasiert immer wieder Szenen des grauen Alltags zu großen bunten Musical-Auftritten um: Auf einmal tanzen – hinreißend gefilmt, perfekt geschnitten – alle Fabrik-Arbeiter im Rhythmus der Maschinen. Doch eines Tages sieht Selma so schlecht, dass sie sich auf der kleinen Bühne nicht mehr zurechtfindet. Schluss mit Gesang und Tanz, mit himmelwärts schwebenden Tönen. Es ist zum Heulen.

Außerdem betritt nun der Leibhaftige die Szenerie – in Gestalt ihres Vermieters, eines verdrucksten Polizisten. Weil er das Luxusleben seiner Frau nicht mehr bezahlen kann, stiehlt er heimtückisch Selmas Spardose und somit den Hort ihrer Hoffnung. Überdies kehrt er den Spieß um und beschuldigt Selma so ungeheuerlich, dass sie sich zu einer wahnsinnigen Bluttat hinreißen lässt: Aufschrei der gequälten Kreatur, Riss in der ganzen Welt! Diese Szenen treffen einen wie Hammerschläge.

Eine haltlos taumelnde Handkamera

Dass sich Lars von Trier einmal mehr der wackligen Handkamera nach Art der „Dogma“-Filme bedient, hat man in aller Atemlosigkeit längst vergessen – mehr noch: Dieser rohe Stil passt so genau zur Geschichte, dass er die Wirkung steigert. Haltlos taumelt die Kamera durch den Abgrund zwischen den Menschen.

Nun erleben wir ein Gerichtsdrama: So perfide wird die des Mordes bezichtigte Exil-Tschechin als hinterlistige „Kommunistin“ verunglimpft, dass man am liebsten laut protestieren möchte. Doch natürlich lautet das Urteil der Jury: schuldig!

Nachdem der Pflichtverteidiger versagt hat, will ein anderer Advokat sie noch aus der Todeszelle retten – für viel Geld. Doch ihre Entscheidung steht fest: Lieber den Augenarzt für den Sohn bezahlen als den eigenen Anwalt…

Jeder ihrer 107 Schritte zum Galgen wird am Ende schmerzlich zelebriert. Eine lodernde Anklage gegen die Todesstrafe und ihre dumpfen Verfechter.




Die verrückte Liebe einer Heiligen – Lars von Triers Film „Breaking the Waves“

Von Bernd Berke

Die Geschichte spielt Anfang der 1970er Jahre, doch sie hat Züge einer Heiligen-Legende. Lars von Triers Film „Breaking The Waves“ ist ein erstaunliches und bewegendes Werk, das ganz quer zu unserer Zeit steht. Es handelt von Unmaß und Kraft der Liebe, Keuschheit, verzweifelter Hingabe und teuflischer Versuchung.

Bess lebt im abgelegenen Norden Schottlands. Sie ist noch Jungfrau und verströmt ihre ganze „aufgesparte“ Liebe, als sie jenen Jan kennenlernt, einen herzlich-rauhen Burschen, der auf einer Ölbohrinsel draußen auf dem Meere arbeitet. Wie glücklich Bess bei der alsbaldigen Heirat lacht, wie unschuldig ihre Augen leuchten! Bei den Szenen der Hochzeitsfeier gerät die Handkamera ins Taumeln, sie irrt mit heftigen Reißschwenks von Gesicht zu Gesicht, als könne auch sie das Glück gar nicht fassen.

Wahrhaftig, Bess hat etwas von einer verklärten und freudvollen, aber auch seltsam „verrückten“ Heiligen, die ihre Hochzeitsnacht wie ein Sakrament vollzieht. Doch die schöne Zeit ist bald vorüber, als Jan für viele Wochen auf die Bohrinsel zurückkehren muß. Dort geschieht das Schreckliche: Das bedrohlich mahlende Gestänge trifft ihn am Kopf – und er wird gelähmt bleiben. Physisch kann er Bess fortan nicht mehr glücklich machen.

Bess, über die wir erfahren haben, daß sie wegen einer psychischen Störung behandelt worden ist, hatte so innig ersehnt, daß Jan (Stellan Skarsgard) bald heimkehren möge. Er kommt ja wirklich nach Hause, jedoch als halbtoter Mann per Rettungshubschrauber.

Bess fühlt sich schuldig, schuldig, schuldig; Als habe ihr Wünschen das Unglück heraufbeschworen. Sie pflegt Jan, und sie führt beständig naiv-innige Zwiesprache mit Gott. Diese Gebete aber wirken wie schizophrene Schübe. Und dann brütet dieser Jan auf seiner Bettstatt eine ungeheuerliche Idee aus: Er drängt Bess dazu, mit anderen Männern zu schlafen und ihm dann zu berichten. Auf diese Weise könnten sie beide wenigstens noch den Geist der Erotik für sich destillieren.

Bess opfert sich aus lauter Liebe. Sie wird zur „Maria Magdalena“, zur heiligen Hure. Kaum zu glauben, wie die großartige Emily Watson (eines der besten Debüts der letzten Jahre!) diesen Wandel und die inneren Kämpfe spielt. Wie sie, zutiefst angewidert und erleuchtet zugleich, in den Landbus steigt und einen schäbigen alten Mann auf den hinteren Sitzen mit dem Munde befriedigt – nur, um Lars davon erzählen zu können.

Ihr Leidensweg ist lang. Schließlich, als sie im Dorf längst von der Kirche ausgestoßen und von Kindern mit Steinen beworfen worden ist, gibt sie sich, vollends selbstlos und opferbereit, gar einem sexuellen Sadisten in die Hände. Und siehe: Sie stirbt, Jan aber gesundet gegen alle medizinische Voraussage. Ist also ihre Selbstverleugnung vom Himmel belohnt worden? Eine überirdische Geschichte.

Der Regisseur formt, ohne Berührungsängste vor vermeintlichem Kitsch, ein überwältigendes Epos, das einem die Tränen in die Augen treibt. Die Kapitel des über zweieinhalbstündigen Films werden jeweils von grandiosen Naturbildern eingeleitet – und von Popsongs jener Jahre. Beim ersten Hinhören wirken diese Musik-Einschübe deplaziert, zu gering für das Geschehen. Doch vielleicht will Lars von Trier uns bedeuten: Seht, mit welchen schalen Reizen ihr eure Zeit vertan habt, während andere so lebten und litten.