Lehmbruck-Museum: Formfindungen zwischen Körper und Geist

In einem Skulpturenmuseum wirken auch solche Lautsprecher-Formationen skulpturenhaft: Blick auf die Klang-Installation „The Forty Part Motet“ (2001, hier noch in Montreal) von Janet Cardiff und George Bures Miller. (© The artists and Luhring Augustine, New York)

Im Duisburger Lehmbruck-Museum stehen für 2022 spannende Ausstellungen auf der Agenda. Das lässt jedenfalls die heutige Programmvorstellung erhoffen. Söke Dinkla, die Direktorin des Hauses, nennt als Leitlinie den Gegensatz (oder auch das Zusammenwirken) von Geist und Materie: Inwieweit bestimmen Gedanken oder eben Gegenstände unser Dasein? Es wird sich zeigen, in welcher Weise die Ausstellungen diesen Grundgedanken einlösen.

Als Skulpturenmuseum, so Dinkla weiter, befasse man sich mit der wohl materiellsten Kunstform überhaupt. Namensgeber Wilhelm Lehmbruck habe sich jedoch besonders die Gestaltung des Seelischen, nicht des Physischen zum Ziel gesetzt. Wir ahnen schon, dass man keinesfalls ohne Mischformen und Wechselwirkungen auskommen wird.

Der Reigen beginnt am 27. März – nicht mit herkömmlichen Skulpturen, sondern mit  vielgliedrig ausgreifenden Installationen von Janet Cardiff und George Bures Miller (beide Kanada), die 2020 den Lehmbruck-Preis bekommen haben. Schon ein paar kurze Filme vermitteln das Gefühl, hier in eine ganz eigentümlich wuchernde Welt einzutauchen. Markantes Beispiel: die Installation „Escape Room“ von 2021, die in Duisburg Europa-Premiere haben wird. Beim Herumgehen zwischen rätselhaften Architektur-Modellen und menschenleeren dystopischen Landschaften lösen die Besucher wechselnde Geräusche aus. Es dürfte eine geisterhafte Erfahrung sein. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass eine solche Arbeit im Verlauf der Pandemie anwachsen konnte.

Auch Installationen wie „The Paradise Institute“ (2001 – ein ins Museum verpflanztes „Kino“ ohne lineare Erzählung, dafür aber mit ortlos wandernden Stimmen) oder „The Forty Part Motet“, ein wandelbarer Klangraum mit im großen Oval angeordneten Lautsprecher-Gruppen, verheißen Erlebnisse, wie man sie eben nur mit Kunst haben kann. Vollends erschreckend ist die Aussicht auf „The Killing Machine“ (2007), die einerseits von Jean Tinguely, zuinnerst aber von Franz Kafka („In der Strafkolonie“) inspirierte Vision einer Folter- und Tötungsmaschinerie, die noch dazu – mitsamt ihren schaurigen Klängen – von Besucherinnen oder Besuchern in Bewegung gesetzt wird. Wer der Aufforderung zum Knopfdruck folgt, macht sich gleichsam mitschuldig.

Der Niederländerin Rineke Dijkstra ist die nächste Ausstellung gewidmet. Sie hat sehr einlässlich junge Menschen, zumeist Mädchen, in der Phase ihrer Selbstfindung beobachtet und hält deren entschiedene Behauptungs-Versuche fotografisch und filmisch fest, so etwa bei mit großem Ernst vollführten Gymnastik-Übungen. Keine pure Körperlichkeit, sondern eine, die letztlich ins Geistige ragt.

Extensive Körperlichkeit, die ins Geistige weist: Antony Gormley „Field“ (© Antony Gormley)

Es folgt eine Präsentation des Engländers Antony Gormley, die auch Zeichnungen umfasst. Gormley ist ein bekennender Verehrer des Lebenswerks von Wilhelm Lehmbruck. Ganz bewusst knüpft er bei dessen Konzepten einer Versenkung ins Innere an und wird sich ausdrücklich mit Lehmbrucks berühmter Figur „Der Gestürzte“ auseinandersetzen. Eine Folgerung, die man auch aus dieser Werk-Begegnung ziehen könnte: Kontemplation und Körperlichkeit sind eben keine schroffen Gegensätze.

Schließlich der Vertreter einer früheren Generation: Norbert Kricke (1922-1984), einstiger Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie. Gezeigt werden einzelne Arbeiten aus dem noch gegenständlichen Frühwerk, sodann aber vor allem abstrakte Gestaltungen, die mit ihren Lineaturen kraftvoll und denn doch geradezu körperhaft in den umgebenden Raum ausstrahlen.

Und sonst? Gibt es ein digitales, einstweilen noch etwas wolkiges „Text-Adventure-Game“ zu Leben und Werk von Wilhelm Lehmbruck sowie Aktionen zur kulturellen Teilhabe, sprich: Es sollen mehr Migranten-Kinder Freude am Museum finden.

Janet Cardiff & George Bures Miller (27. März bis 14. August)
Rineke Dijkstra (13. Mai bis 24. Juli)
Antony Gormley (25. September bis 26. Februar 2023)
Norbert Kricke (18. November bis 26. Februar 2023).

Lehmbruck Museum, Düsseldorfer Str. 51
47051 Duisburg

 




Vom Rätsel der Vollendung: Das Mandelring Quartett mit allen Schostakowitsch-Streichquartetten in Duisburg und Kempen

Das Mandelring Quartett im Duisburger Lehmbruck Museum. (Foto: Werner Häußner)

Noch schmücken sie die Gehölze, die verblassenden Farben des Herbstes, aber das Rascheln der Schritte durch das Laub verrät, dass es nicht mehr lange so bleibt. Die lichten Kronen der Bäume, die nackten Zweige der Sträucher lassen das Duisburger Lehmbruck Museum schon von weitem durch den Park leuchten.

An mehreren Abenden strahlten die Spots länger als üblich auf die Skulpturen der renommierten Duisburger Sammlung: Es gab Musik im Museum. Das Mandelring Quartett präsentierte alle fünfzehn Streichquartette von Dmitri Schostakowitsch in fünf Konzerten – zwei davon allerdings im Kulturforum Franziskanerkloster im niederrheinischen Kempen.

Die Duisburger Philharmoniker und Kempen Klassik e.V. ermöglichten damit ein Ereignis, das sonst etwa den Salzburger Festspielen (2011) oder wenigen Kammermusikzentren vorbehalten ist. Erst neun Mal, sagt die Geigerin Nanette Schmidt, habe sie einen solchen Zyklus gespielt, obwohl sich das vor 38 Jahren gegründete Mandelring Quartett seit mehr als 15 Jahren immer wieder diesen epochalen Werken des 20. Jahrhunderts widmet. Die 2011 erschienene CD-Box gilt inzwischen als eine der Referenzaufnahmen und kann den „Klassikern“ etwa des Borodin- oder des Brodsky-Quartetts auf Augenhöhe begegnen.

In diesem Fall ist eine zyklische Aufführung auch kein leistungsprotzender Musik-Marathon, bedient keinen Vollständigkeits-Fetisch und keine Marketing-Strategie. Die Konfrontation der Zuhörer mit den zwischen 1938 und 1974 entstandenen Quartetten zeigt wider erstes Erwarten nicht so sehr Linien einer Entwicklung oder gar eine Steigerung der künstlerischen Ausdrucksmittel – die beherrscht Schostakowitsch schon im ersten Quartett, das er schreibt, als er bereits durch fünf Sinfonien und seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ als führender Komponist der Sowjetunion anerkannt war und die lebensgefährliche stalinistische Kulturpolitik in eigener Person erdulden musste.

Die Faszination des Individuellen

Sondern: Hört man alle 15 Quartette in einer solchen Konzentration, ideal verteilt auf vier Tage, erschließt sich, wie individuell jedes einzelne gearbeitet ist, wie profund Schostakowitsch klassische Vorgaben und einander ähnelnde Strukturmuster immer neu variiert, aber durchaus auch, wie er noch in vorgerücktem Alter offen für Neues ist und etwa ab dem 12. Streichquartett von 1968 mit zwölftönigen Themen experimentiert.

Drei Konzerte fanden im Duisburger Lehmbruck Museum (Bild) statt, zwei in Kempen. (Foto: Werner Häußner)

Mit Vergnügen meint man wahrzunehmen, wie er sich etwa im ersten Satz des dritten Quartetts mit leiser Ironie von der gassenhauerischen melodischen und rhythmischen Erfindung distanziert. Schmunzeln lässt sich, wenn er ins Neunte Quartett die berühmte Galoppade aus Rossinis „Wilhelm Tell“ einbaut. Der Musikjournalist Jonas Zerweck wies in seinen kundigen Einführungen immer wieder auf solche aufschlussreiche Details hin. Etwa wie Schostakowitsch im ersten Satz des Zweiten Quartetts schon mit dem Titel „Ouvertüre“, aber auch mit kompositorischer Raffinesse verschleiert, dass er einen an Beethoven angelehnten – und damit in der Sowjet-Musikästhetik verpönten – Sonatenhauptsatz konstruiert hat.

Aber wichtiger als solche Detail-Reminiszenzen ist, wie Schostakowitsch seine eminente satztechnische Kunst verfeinert, expressiv schärft und in den letzten Quartetten gegen Ende seines Lebens reduziert und damit atemberaubend konzentriert. Wie erschütternd das wirkt, war an den Zuschauern abzulesen: Der Schlussgesang des Zyklus, das nur aus langsamen Sätzen bestehende 15. Quartett, nahm dem Auditorium wahrhaftig den Atem. Selten erlebt man eine solche ergriffene Stille.

Mit existenziellem Ernst musiziert

In der Ästhetik ihrer Wirkung passen die Quartette in die Jahreszeit. Selten hört man unbeschwerte Musik, nur eines endet mit einem schlagkräftigen Finaleffekt. Auch das heiter-gelöste Sechste geht ruhig-harmonisch zu Ende. Ob in jenseitigem Pianissimo verschwebende oder in ätherischer Zurücknahme ersterbende Finali: Das Mandelring Quartett musiziert in solchen Momenten mit einem existenziellen Ernst, der jede Kunst„fertigkeit“ hinter sich lässt und sich dem emotionalen Risiko des Augenblicks ungeschützt aussetzt. Genannt sei speziell das Ende des Achten Streichquartetts. Als es verklungen war, fanden sich in der Kempener Paterskirche erst nach langem, regungslosem Verharren die ersten Hände zu zögerndem Beifall zusammen.

Dass die drei Geschwister Nanette, Bernhard und Sebastian Schmidt gemeinsam mit dem Bratscher Andreas Willwohl nicht auf solche herausgehobenen Momente spekulieren, versteht sich. Aber die konstante Achtsamkeit, das gleichbleibend überragende spieltechnische Niveau aller fünf Konzerte ist alleine schon als mentale Leistung wert, herausgehoben zu werden. Am Beginn des ersten Quartetts dauert es nur wenige Augenblicke, bis sich die Vier zu gelassenem Miteinander gefunden haben. Von Auftritt zu Auftritt wächst die Konzentration, so als verlören die Musiker keine Energie aus der Anspannung der vorherigen, sondern zögen daraus die Kraft für das nächste Konzert.

Hervorzuheben ist, wie präzis sie selbst im dichtesten Geschlinge der Linien, im härtesten rhythmischen Ostinato, im zerbrechlichen Pianissimo übereinstimmen. Stets herrscht transparente Balance, stets bleibt durchhörbar, wie komplex Schostakowitsch mit dem motivischen Material umgeht. Es gibt keine klangliche Überwältigungsstrategie; alles wächst aus dem Notentext heraus.

Alle Vier sind gleichermaßen gefordert

Schostakowitsch fordert alle Vier gleichermaßen, gibt jedem Instrument ausgedehnte solistische Auftritte, sucht alle möglichen Kombinationen auszureizen. Zunächst wirken das dialogische einander Zuspielen von Motiven, das Kehraus-Temperament des Finalallegro des Ersten Quartetts, auch die harmonischen Verschränkungen des Kopfsatzes des Zweiten noch in der Tradition verankert. Die schweifend-epische Melancholie langsamer Sätze, noch verstärkt durch den dunklen Gesang der Viola, erinnert an Tschaikowsky oder an die russischen melodischen Formulierungen eines Mussorgsky. Das zelebrieren die Mandelrings mit schönster Hingabe, aber stets auch einer objektivierenden Distanz, die Sentiment außen vor lässt.

Aber im Tanz des Zweiten Streichquartetts wird es ernster: Ein wehmütiger Abglanz vom Walzer-Schwung verschärft sich grimmig. Die Repetitionen des Cello insistieren, treten gespenstische Kaskaden los, bis die Viola mit herbem Ton die stilisierte Folklore des abschließenden Variationensatzes singt. Im Vierten Quartett streichelt Bernhard Schmidt aus seinem Cello seidig-samtige Töne für die jüdischen Melodien heraus, mit denen Schostakowitsch dem weit verbreiteten Antisemitismus Paroli bot – öffentlich allerdings erst nach Stalins Tod, als das Werk endlich vor Publikum uraufgeführt werden konnte. Mal fein und leise ausgekostet, mal energisch durchgezogen werden kontrastierende Themen ineinander geflochten. Da herrscht, auch wenn’s laut werden muss, keine Extroversion, sondern eine behutsam abgestimmte Innerlichkeit.

Mit solchem spieltechnischem Rüstzeug gelingt es dem Mandelring Quartett, die eigene Prägung jedes der Werke auszuschöpfen. Im dritten Satz des Sechsten Streichquartetts zum Beispiel gelingen fabelhafte Wechsel der Klangfarben, von dunkel-samtig zu grell-brillant. Im Achten fasziniert der gedankenverlorene Gesang der ersten Violine Sebastian Schmidts, bevor im zweiten Satz mit vehementen Schlägen ein Inferno losbricht, in dem man sich schwer tut, nicht das Tackern eines Maschinengewehrs zu hören, während heftige Akkorde wie Einschläge dröhnen. Das Quartett trägt die Überschrift „Im Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges“ – und der Gedanke liegt nahe, dass Schostakowitsch beim Komponieren im Angesicht des noch zerstörten Dresden hier noch einmal die Schrecken des Krieges vergegenwärtigt.

Musik jenseits aller Verstörung

Im Kopfsatz des Fünften brillieren die Vier in einem wunderbar ausgewogenem, aufeinander bezogenem Spiel; Nanette Schmidt mit der zweiten Violine adelt eines der Duette mit der leuchtend intonierenden Bratsche von Andreas Willwohl, der sich immer wieder als ein Meister der Vielfalt auf seinem Instrument erweist. In den melancholischen Gesängen, die Schostakowitsch dem Instrument anvertraut, beschwört er die tröstende Kraft der Musik, die jenseits aller Verstörungen dieser Welt liegt und von ihnen nicht berührbar ist.

Die letzten Abende mit den Quartetten zehn bis fünfzehn versetzen in beinah meditative Betroffenheit. Sicher lässt sich bewundern, wie kontrolliert das Mandelring Quartett die heftigen Kontraste, die gellend insistierende Härte, die Ansätze zum Geräuschhaften in der Musik spielt. Oder wie souverän die unerbittliche Unruhe des Finalsatzes des Zehnten realisiert wird. Oder wie nobel verhalten Sebastian Schmidt mit seinem Vibrato den seidigen, substanzreichen, aber nie üppigen Ton der Violine gestaltet.

Aber die konzentrierte Ruhe, die verklärte Resignation, der erhabene, fast liturgische Duktus spröde konzentrierter Melodien oder die höchste Sensibilität in Ton, Dynamik und Balance reichen nicht aus, die emotionale Tiefe dieser Abschiedswerke zu erklären. Hier geschieht etwas, was der Komponist Moritz Eggert jüngst als essenziellen Teil von Kunst beschrieben hat: Hier geben sich Rätsel auf, stellen sich Fragen, bleiben Erschütterung und Verunsicherung. Wer mit solchen Gedanken in die kalte Herbstnacht hinausgewandert ist, hat aus den Konzerten das mitgenommen, worum es geht.

 




Entschieden und energisch: Der Pianist Saleem Ashkar beginnt in Duisburg einen Beethoven-Zyklus mit den 32 Klaviersonaten

Ludwig van Beethoven zu Zeiten der "Eroica". Gemälde von W.J. Mähler (1804).

Ludwig van Beethoven zu Zeiten der „Waldstein“-Sonate und der „Eroica“. Gemälde von W.J. Mähler (1804).

Unerbittlich rückt es näher, das Beethoven-Jahr 2020, und es steht zu befürchten, dass die nicht eben rudimentäre Beschäftigung mit dem populären Titanen noch intensiver und raumgreifender wird. Andere Komponisten hätten den Jubiläumsrummel nötiger, bekommen ihn aber nicht, weil sie aus Marketing-Gesichtspunkten nicht viel hergeben.

Wer möchte sich schon, um ein Beispiel zu nennen, 2019 mit Franz von Suppé befassen, wenn mit Jacques Offenbachs 200. Geburtstag ungleich mehr Aufmerksamkeit zu erhoffen ist? Nach Wagner und Verdi 2013 wird Beethovens 250. Geburtstag also der nächste musikalische Mega-Event, auch wenn sich im nächsten Jahr zu Leonard Bernsteins 100. Geburtstag schon die Feuerwerker in Stellung gebracht haben und mit Claude Debussy (100. Todestag) das Rampenlicht auf eine nicht eben unattraktive musikalische Persönlichkeit fällt.

Nun kann man – wie, glaube ich, Hans Knappertsbusch gesagt hat – Beethoven nie genug studieren. Ob es die Streichquartette sind, die Symphonien, die rätselhaften Spätwerke oder die Klaviersonaten: Immer wieder gibt es Neues zu entdecken. Es ist wie bei einem wertvollen Buch: Man liest es in jedem Lebensabschnitt, vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Welt, der eigenen inneren Entwicklung, des persönlichen Erlebnishorizonts immer wieder anders, überraschend, erkenntnisreich.

Musik im politischen Konfliktfeld – bis hin zum Krieg

Saleem Ashkar im Lehmbruck-Museum in Duisburg. Foto; Gregor Willmes/C. Bechstein

Saleem Ashkar im Lehmbruck-Museum in Duisburg. Foto; Gregor Willmes/C. Bechstein

Der Pianist Saleem Ashkar hat recht, wenn er die weltanschauliche Dimension der Klaviersonaten hervorhebt und schreibt, mit seinem Schaffen habe Beethoven „stets eine aktive Teilhabe an den politischen und sozialen Veränderungen seiner Umgebung“ impliziert.

Ashkar, der aus Nazareth stammt, weiß besser als die Zöglinge abgeschotteter Eliteschulen, was es bedeutet, wenn sich Musik in Konfliktfeldern heutiger Politik – bis hin zum Krieg – behaupten muss. Er hat Beethoven in muslimischen Dörfern, christlichen Kirchen und säkularen Konzertsälen gespielt. In solchen Situationen wächst Beethoven eine sicherlich außermusikalisch initiierte, aber in der Musik sich spiegelnde Kraft zu.

Acht Sonaten-Abende bis Mitte 2019

So könnte die Befassung mit Beethoven 2020 unter Umständen über den Marketing-Glamour und die Wiederholung des Immergleichen Bedeutung, ja Brisanz erhalten. Die Duisburger Philharmoniker, ihrer Zeit voraus, haben mit einer klassischen Aufführungsform schon jetzt den Blick auf Beethoven gerichtet: Saleem Ashkar hat im Lehmbruck-Museum in Duisburg den ersten von acht Abenden eines über zwei Spielzeiten bis Mitte 2019 gespannten Zyklus‘ gespielt. Alle 32 Klaviersonaten mit Opuszahlen werden erklingen – die drei Bonner „Kurfürstensonaten“ bleiben leider ausgespart, was sich mit einem flankierenden Konzert vielleicht ändern ließe, nicht zuletzt, um zu erfahren, dass auch ein „Genie“ nicht vom Himmel fällt.

Der erste Abend des Beethoven-Zyklus' mit Saleem Ashkar. Die Skulpturenhalle des Lehmbruck-Museums als stimmungsvoller Konzertraum war ausverkauft. Foto: Gregor Willmes/C. Bechstein

Der erste Abend des Beethoven-Zyklus‘ mit Saleem Ashkar. Die Skulpturenhalle des Lehmbruck-Museums als stimmungsvoller Konzertraum war ausverkauft. Foto: Gregor Willmes/C. Bechstein

Ashkar wählt in der Skulpturenhalle des Museums keinen chronologischen Weg. Im ersten Konzert beginnt er zwar mit der ersten Sonate (op. 2/1), geht dann über zwei Sonaten, die fantasieartige Charakterzüge tragen, zu einem Höhepunkt des mittleren Schaffens Beethovens, zur „Waldstein“-Sonate aus dem Jahr 1804. Die großen Schlusspunkte op. 109 bis 111 setzt er erst in den folgenden drei Konzerten dieser Saison.

Wollte man Ashkars Zugriff auf Beethoven kurz beschreiben, wären die Begriffe Energie, Entschiedenheit, Unbedingtheit geeignet. Der 41-Jährige ist erfahren genug, jugendliche Unbekümmertheit hinter sich zu lassen. Aber er strebt auch noch nicht in die abgeklärten Regionen hinter einer langen Lebensgeschichte mit Beethoven. Das Grübeln, das feinsinnige Modellieren, die Freiheit ergrauter Souveränität oder des alten Haudegens sind seine Sache nicht. Er macht den Eindruck eines Kämpfers, der sich mitten im Getümmel seinen Weg bahnt.

Kraftvolle Entschiedenheit, zielsicheres Timing

Das kleidet seinen Vortrag in die Aura einer kraftvollen Entschiedenheit, die nicht dröhnt, aber sich auch nicht an jedem Detail aufhält. In der Sonate Nr. 13 (op. 27/1) etwa sind die Synkopen des dritten Satzes kräftig akzentuiert, ist der drängende Rhythmus im Bass herausgestellt, stürmt das abschließende Presto mit einer ungeheuren Sogwirkung dahin, sind die oktavierten Fortissimi und die Fanfaren groß und frei formuliert, bricht das Tempo in Richtung Coda los. Ashkar schafft Beziehungen durch das Timing, steuert den Höhepunkt, der nicht das Ende ist, es aber signalisiert, zielsicher an.

Auch der e-Moll-Sonate Nr. 27 (op. 90) gibt er in den „lebhaften“ Momenten einen Zug des Drängenden, der inneren Dynamik, kann aber auch loslassen und die Anspannung lösen, ohne die Spannung zu verlieren. Das sind zumal auf dem Bechstein-Flügel bezwingende Momente, in denen die runde, milde Klanglichkeit des Instruments vorteilhaft wirkt.

Zwischen Suggestion und Belanglosigkeit

In der „Waldstein“-Sonate (op. 53) freilich wendet sich Ashkars ungestüme Energie gegen eine subtilere Sicht auf musikalische Vorgänge. Die weitreichenden Modulationen des ersten Satzes gehen im brillanten Tempo unter – wobei Ashkar zwischen dem „con brio“ des ersten und dem Prestissimo des letzten Satzes ohrenscheinlich keinen Unterschied macht. Der Anfang mit seinen Pianissimo-Achtelrepetitionen baut keine Spannung auf, das „dolce e molto legato“-Thema ist weder ausgesponnen noch führt Ashkar es über die lapidare Aussage der Töne hinaus.

Die Erregung gießt sich in brillante Verläufe, ohne Kontraste, ohne rhetorischen Akzent. Das ist ungeheuer virtuos – und der spontane Beifall zeigt die suggestive Wirkung. Aber musikalisch bleibt dieser Satz seltsam belanglos, so als gehöre er einem jener Fingervirtuosen der Beethoven-Zeit. In den gelösten Akkordfiguren des zweiten und dem schon an Schubert erinnernden Beginn des dritten Satzes ist Ashkar wieder eher dabei, der Musik Gewicht und Kontur zu geben.

Auch die Erste Sonate (op. 2/1) könnte in vielfältigeres Licht getaucht werden: Die Aufstiegs-Abstiegs-Motivik der ersten acht Takte nimmt er eher beiläufig wahr, arbeitet den dynamischen Bogen nicht heraus. Der Bass wirkt eher zufällig, die wiederkehrenden Miniaturtriolen erscheinen flüchtig formuliert. Ashkar lässt sich zu wenig Zeit; im zweiten Satz fehlt dem cantabile der Atem. Die Triolenbewegungen im vierten Satz bleiben – eine Schwäche des Raumes? – verschwommen, aber im Menuett und dem raschen Tempo des Finales zeigen sich Ashkars Stärken: Drive und innerer, in Bewegung gegossener Drang.

Der zweite Beethoven-Sonatenabend am Mittwoch, 21. Februar 2018, umfasst die Sonaten Nr. 2, 12, 24 und 31. Info: www.duisburger-philharmoniker.de, Karten: Tel. (0203) 283 62 100.

 




Fluchtpunkt Kantpark: Kunst aus Brot und alten Bäumen in Duisburg

Kleiderskulptur von Jana Sterbak im Lehmbruck-Museum. (Foto: es)

Die besten Ideen sind oft geklaut: Zum Beispiel Lady Gagas legendäres Kleid aus Fleisch. Die tschechisch-kanadische Künstlerin Jana Sterbak hatte diesen Einfall schon 1987 mit ihrer Arbeit „Vanitas.Fleischkleid für ein magersüchtiges Albino“.

Inzwischen ist die Robe etwas eingeschrumpelt, aber sie steht im Zentrum der Ausstellung Life-Size mit Werken von Jana Sterbak, die noch bis zum nächsten Wochenende (11. Juni) im Lehmbruck Museum Duisburg zu sehen ist.

Auch die anderen Objekte haben alle etwas mit dem Kult um den Körper zu tun: Stählerne Reifröcke symbolisieren das strikte Reglement, in das Frauen in früheren Zeiten eingezwängt waren – außer man nutzt sie für eine Tanz-Performance, wie das begleitende Video es vormacht. Letzte Dinge spricht das auseinandergezogene Skelett in einer Vitrine an, zum Trost ist es aus Schokolade. Überhaupt verwendet Sterbak am liebsten ganz existenzielle Materialien, sprich Lebensmittel im Wortsinn: Das große Bettgestell hat eine Matratze aus Brot.

Bett mit Matratze aus Brot von Jana Sterbak. (Foto: es)

Freiluftwerkstatt

Ich widerstehe der Versuchung, mich gleich hineinzulegen und wandere bei dem schönen Wetter lieber durch den Kantpark zur cubus Kunsthalle, denn hier wird sogar im Garten Kunst gemacht: Der syrische Bildhauer Mohamad Al Natour hat zurzeit eine Art Freiluftwerkstatt bezogen und schnitzt seine Skulpturen aus Baumresten, die einst der Sturm im Park gefällt hat.

Der Künstler Mohamad Al Natour mit seiner Skulptur im Kantpark. (Foto: es)

Vor anderthalb Jahren kam Al Natour nach Deutschland, lebte in verschiedenen Unterkünften und hat nun eine Wohnung in Duisburg-Ruhrort gefunden. Seine Skulpturen haben oft zwei Gesichter: Die eine Seite zeigt eine ganz verzerrte Visage und stehe für den Hass, erklärt er. Die andere Seite trägt weibliche Züge, eine Frau, die ihr Kind beschützt. Am Baumstamm entlang schlängelt sich eine orientalische Altstadt, von vielen Treppen durchzogen. „Das steht für die Lebensreise“, so der junge Künstler, der selbst schon eine lange Reise hinter sich hat und nun ganz neu anfängt: im Kantpark in Duisburg.

Weitere Infos:
www.lehmbruckmuseum.de
www.cubus-kunsthalle.de




Wie Werte entstehen und schwinden – „Kunst und Kapital“ im Lehmbruck-Museum

Afrikanischer Schrottsammler in Griechenland - Filmstill aus Stefanos Tsivopoulos: "History Zero" (2013), Film in drei Episoden (© Künstler, Kalfayan Galeries und Prometeogallery di Ida Pisani)

Afrikanischer Schrottsammler in Griechenland – Filmstill aus Stefanos Tsivopoulos: „History Zero“ (2013), Film in drei Episoden (© Künstler, Kalfayan Galeries und Prometeogallery di Ida Pisani)

Künstler haben manchmal so ihre Schliche, um die gängigen Praktiken des Kunstmarkts zu unterlaufen.

Mal wird nur ein wenig origineller Stempel als Signatur verwendet, so dass der Wert des zugehörigen Werkes auf einmal zweifelhaft ist. Mitunter wird gleich gezielt dafür gesorgt, dass keinerlei oder wenigstens kein einmaliges oder bleibendes Objekt vorhanden ist, an das sich zählbare Wertschöpfung knüpfen könnte.

Um solche (teilweise vertrackten) Strategien dreht sich im Duisburger Lehmbruck-Museum die Ausstellung des Akzente-Festivals. „Hans im Glück – Kunst und Kapital“ handelt davon, wie wir den Dingen Wert beimessen – auch über den Kunstmarkt hinaus, auf dem derlei Wertzuschreibungen oft vollends irrational sind.

In Grimms Märchen „Hans im Glück“ geht es bekanntlich darum, dass ein junger Mann anfänglich Gold eintauscht und nach und nach immer geringere Werte erzielt, was aber nicht beklagenswert erscheint, sondern als Befreiung von einer Last. Eine schöne, herzige Utopie der Loslösung vom schnöden Mammon. Und so hält auch die Duisburger Ausstellung hie und da Ausschau nach Tauschwerten jenseits des Geldes. Am sinnfälligsten gelingt dies Hans-Peter Feldmann, der auf runden Tabletts kleine Weizenfelder angelegt hat, die gleichsam vor den Augen der Besucher staunenswert wachsen und eine ungeheure Energie ohne sonderliches Kapital ahnen lassen.

Es herrscht aber nicht rundum Verweigerung. Selbst die Fluxus-Künstler der 60er und 70er Jahre (in der Ausstellung vertreten: Robert Filliou, Daniel Spoerri, Ben Vautier, Dieter Roth) wollten von ihrem Tun leben und haben Auflagenkunst (Multiples) hergestellt, die sich dann doch leidlich verkaufen ließ. Allerdings widersprachen sie damit bereits dem Unikat-Gedanken. Überhaupt wehrten sie sich mit oft ausgeklügelt hintersinnigen Arrangements gegen den Fetischcharakter der (Kunst)-Ware. Ohne gewisse Widersprüche ist auf diesem Spannungsfeld schwerlich zu operieren.

Apropos Widersprüche, die aber auch zu Übereinstimmungen gerinnen können: Daniel Spoerri blendete „ärmliche“ Kunstmaterialien und schieren Luxus ineins, als er einen Filzanzug à la Beuys zusammen mit einem Designeranzug à la Cardin in Goldfolie präsentierte. Um die Wirrnis der Werte zu steigern, tauschte er die Vornamen aus und nannte die Herren Pierre Beuys und Joseph Cardin. Wobei zu sagen wäre, dass Beuys’ Schöpfungen einen finanziellen Vergleich mit Cardin durchaus bestehen würden. Aus dem Ärmlichen erwuchs Reichtum…

Handel und Wandel, ganz konkret und zugleich spielerisch: Die Deutsch-Japanerin Takako Saito hat einen ganzen Shop im Museum aufgebaut, den „You and me shop“, in dem man sich zur Kunst ernannte Objekte zusammenstellen und erwerben kann. Auch ein Dutzend Duisburger Künstler darf auf Saitos Wunsch hierbei mitwirken, ohne dass Galeristen von den Verkäufen (allesamt unter 50 Euro) profitieren.

Slowenische Künstlergruppe IRWIN: "Golden Smile" (Fotografie, 2003) (© Courtesy of Galerija Gregor Podnar, Foto: Tomas Gregorič)

Slowenische Künstlergruppe IRWIN: „Golden Smile“ (Fotografie, 2003) (© Courtesy of Galerija Gregor Podnar, Foto: Tomas Gregorič)

Das slowenische Künstlerkollektiv IRWIN, das jede individuelle Schöpfung und Signatur ablehnt, enthüllt mit einigem Witz die oft irrsinnige Preisfindung für Kunstwerke. In der dreiteiligen Arbeit „Namepickers“ wird eine Kreation der berühmten (und somit besonders teuren) Marina Abramovic durch Kopie und Ent-Persönlichung sukzessive im Wert geschmälert. Ohne Überhöhung und ohne Aura, so zeigt sich, schwindet gleichsam das Kapital der Kunst. Und gar vieles ist ohnehin nur lächerliches Blendwerk, wie das IRWIN-Lächelbild mit gebleckten goldenen Zähnen vor Augen führt.

Renommierte Gegenwartskünstler sind an der gleichwohl übersichtlichen Duisburger Schau beteiligt. Felix Droese, Katharina Fritsch, Per Kirkeby und Wolf Vostell stillen ein etwaiges Bedürfnis nach Namedropping. Der griechische Biennale-Teilnehmer Stefanos Tsivopoulos ruft in einer beziehungsreichen Videoinstallation die Krise in seinem Heimatland auf. Die gleichfalls Biennale-erprobten Rumänen Alexandra Pirici und Manuel Pelmus wählen das Mittel der Performance, um der Kunst die materielle Basis zu nehmen und sie flüchtig zu machen wie vergängliches Theater. Da gibt’s nichts zu kaufen.

Salvador Dalí: "Kopf Dante" (1964), Bronze, grünlich patiniert, vergoldete Silberlöffel auf Marmorsockel (Lehmbruck Museum, Duisburg - © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto: Britta Lauer)

Salvador Dalí: „Kopf Dante“ (1964), Bronze, grünlich patiniert, vergoldete Silberlöffel auf Marmorsockel (Lehmbruck Museum, Duisburg – © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto: Britta Lauer)

Sehr weit haben sie sich somit von älteren Positionen der Moderne entfernt. Salvador Dalís Dante-Kopf, geschmückt mit vergoldeten Löffeln als Lorbeer, ist – verhaltener Ironie zum Trotz – ein eitles Sockel-Kunstwerk par excellence. Und auch Andy Warhols Waschmittel-Box („Brillo“) verdoppelte einst ja nur den götzenhaften Warencharakter; eine damals in jedem Wortsinne blendende Idee, die man freilich nicht endlos variieren sollte. Durchaus bemerkenswert, dass eine Arbeit von Man Ray heute zeitgemäßer wirkt als Warhols Warenzeichen.

Übrigens passen nicht alle Exponate so recht zum Thema der Ausstellung. Manches (zumal die schon öfter gezeigten Stücke aus Eigenbesitz) wird eher notdürftig in den Kontext gezwängt. Man muss schon sehr umständlich erklären, warum Skulpturen von Otto Pankok oder Wilhelm Lehmbruck („Bettlerpaar“) in diesen Zirkel gehören sollen.

„Hans im Glück – Kunst und Kapital“. Lehmbruck Museum, Duisburg (Friedrich-Wilhelm-Straße 40). Ab Samstag, 8. März (Eröffnung 16 Uhr) bis 22. Juni. Geöffnet So 11-18, Mo/Di nach Absprache, Mi 12-18, Do 12-21, Fr/Sa 12-18 Uhr.
Weitere Infos: www.lehmbruckmuseum.de




Vandalismus unter der Gürtellinie

Ikonoklasmus, Bildersturm: eine der absurdesten Artikulationen unserer Zeit. Passive Kulturgüter, ob aus politischer oder persönlicher Aversion, mit Gewaltakten zu zerstören, ist in aufgeklärt-demokratischen Gesellschaften schlichtweg daneben. Was jedoch heutzutage besonders bemerkenswert erscheint: das avisierte Körperteil.

Hans-Peter Feldmann: "David"

Hans-Peter Feldmann: "David" © Lehmbruck Museum

Michelangelo, dessen Statue des „Auferstandenen Christus“ in der römischen Kirche Santa Maria sopra Minerva bis heute einen pietätsgerechten Lendenschurz zu tragen hat, war gestern. Aber immerhin, diese große Bildhauerei ist ja noch vollendet, wenn auch mit Fremdslip. Unterhalb der Gürtellinie trifft’s derzeit die zeitgenössischen männlichen Figuren brutal. Schlimm steht es jetzt um eine Plastik von Hans-Peter Feldmann im Kantpark in Duisburg. Sein „David“, eine neun Meter hohe, quietschrosa Replik des Michelangelo-Originals, wurde um ihr bestes Stück gebracht. Lehmbruck-Direktor Raimund Stecker konnte noch schmunzeln, als seinem Schutzbefohlenen neulich, gleich dem klerikalen Kollegen aus Rom, ein genitaler Sichtschutz verpasst wurde.

Nun ist da nichts mehr, und das Entmannen ist beileibe kein Einzelfall: Im Mai erwischte es eine metallene Figur von Antony Gormley und Vicky Parsons aus der 100-teiligen Serie „Horizon Fields“ im Vorarlberger Lechquellengebirge, Österreich. Kastration mit dem Winkelschleifer hier, Hammerschläge dort. Nein, wir leben gerade nicht in Zeiten gesetzmäßiger oder klerikaler Schamverordnungen. Am längst ad acta gelegten Nacktheitsverbot kann es nicht liegen, dass die Vandalen unter die Gürtellinie bolzen. Hier offenbart sich die erbärmliche Spießigkeit unserer bigotten Schenkelklopfergesellschaft.




Baumängel am Duisburger Lehmbruck-Museum: Zack und vorerst dicht

„Raimund, Dir haben sie gerade das Museum dicht gemacht.“ Der Direktor des Duisburger Lehmbruck-Museums, Raimund Stecker, bekam am Tag seines Geburtstags, dem 8. März, von seiner Stellvertreterin Claudia Thümler einen Anruf mit diesem Wortlaut. Das klingt wie der Beginn eines Spielfilms, aber die Realität ist oft noch seltsamer. Stecker interpretierte die abrupte Stilllegung: „Wir sind vor vollendete Tatsachen gestellt worden.“ Denn quasi in einer Nacht- und Nebelaktion schloss die kommunale Bauordnung erst einmal die Pforten. Zum Wochenende. Das kam reichlich überraschend, zumal jetzt zwei Ausstellungseröffnungen auf dem Programm stehen. Der Vorgang der Schließung ohne Vorwarnung erscheint zunächst einmal wie eine Absurdität. Jetzt arbeiten nicht nur die Bauarbeiter am Glasdach, um so schnell alsbald mit einem Provisorium den Publikumsbetrieb wieder herzustellen. Auch die Museums-Crew sucht nach Mittel und Wegen, die geplanten Projekte bis zum 15. März zu realisieren.

 

Die Blitzsanierung der Decke im Lehmbruckmuseum, Duisburg

Die Blitzsanierung der Decke, Foto: Lehmbruckmuseum

Rin inne Kartoffeln, raus ausse Kartoffeln, oder doch nicht? Dass das Duisburger Lehmbruck Museum für eine denkmalschutzgerechte Sanierung vollständig schließen wird, ist eine Tatsache. Bis wann das dauert, kann allerdings zum heutigen Zeitpunkt niemand genau sagen. Dieses herausragende Museum für Skulpturen im Kantpark bedarf der Renovierung. Das scheint spätestens jetzt offiziell die normative Kraft des Faktischen zu sein. In der vergangenen Woche, so berichtet ein Sprecher der Stadt, habe es Kontrollen gegeben, an deren Ende die Bauordnung sich zu einer „verschärften Gefährdungsabschätzung“ hinsichtlich der Deckenplatten in der Glashalle genötigt sah. Kontrollen kündige die Verwaltung übrigens niemals groß an, und wenn aufgrund von festgestellten Mängeln die Sicherheit nicht mehr garantiert werden könne, werde auch schnell gehandelt. Zudem sei eine sichernde Maßnahme an einem Geländer nicht hinreichend ausgeführt worden. Hinzu tritt aber noch ein anderes Faktum, was die Duisburger Behörde zu besonderer Aufmerksamkeit geradezu nötigt. Die grausame Tragödie auf der Love Parade 2010 hat schließlich auch zu erhöhter Sensibilität beigetragen. Zumal Mitarbeiter wegen fahrlässiger Tötung auf der Anklagebank sitzen.

Auch die Gutachter des städtischen Immobilien-Managements Duisburgs (IMD), die sich um eine Erfassung aller notwendigen Maßnahmen bemühen, stellten diesen Montag bedauerlicherweise erhebliche Mängel an dem denkmalgeschützten Bau fest. Um die Decke in der großen Glashalle wieder instand zu setzen, sind gemäß Medienberichten 400 000 bis 450 000 Euro vonnöten. Doch das sind nur erste Schätzungen von IMD-Geschäftsführer Uwe Rohde. Nun ist es kein Wunder, dass ein Gebäude aus den sechziger Jahren irgendwann einmal Pflege benötigt. Entsprechende Maßnahmen zu avisieren und zu finanzieren hat man bislang versäumt. Denn seit der Vollendung sei kein Handschlag getan worden. Seitens der Stadt rechtfertigt man die Situation mit der angespannten Haushaltslage.

Beim allem Verständnis für die städtischen Hintergründe sollte eines nicht in Vergessenheit geraten: Trotz der Tatsache, dass bereits unter dem Dirigat von Christoph Brockhaus eine umfangreiche Mängelliste angefertigt wurde, die Raimund Stecker weitergeführt hat, ist bislang gar nichts geschehen. Das muss sich ändern, denn das Haus hat eine dauerhafte Zukunft mehr als verdient. Hinter vorgehaltener Hand wird das Verhalten auch der Politik als eine Abfolge von „Vertröstungen“ gewertet. Man habe die Causa ausgesessen und eben lange nicht reagiert. Und nun drücken die Not, das schlechte Gewissen, und es soll unbedingt vermieden werden, dass es zu einem weiteren schockierenden Ereignis kommt. Das ist natürlich vollkommen richtig, doch reicht es zu sagen, dass Geld fehle? Es ist schon erstaunlich, dass es für ein Museum von dieser Güte keinen Masterplan in Sachen Sanierung gibt. Dabei sei der Tenor bei allen in der Stadt klar: „Das Haus muss sein“, meint Stecker. Doch wie es weitergehen soll, weiß nicht nur er nicht. Der Stadtsprecher und der Kunsthistoriker erläutern quasi unisono, dass die Richtungsentscheidungen auf politischer Seite gefällt werden. Bleibt also zu hoffen, dass nun der Stein für eine ordentliche und finanziell abgesicherte Instandhaltung dieser wunderbaren Architektur endlich ins Rollen kommt.

Nachtrag, 14.3.2012: Wie das Lehmbruckmuseum und die Stadt Duisburg soeben bekannt gegeben haben, können beide Ausstellungen wie geplant, aber unter Auflagen am morgigen Donnerstag, 19 Uhr, eröffnen. Weiters bestehe Planungssicherheit auch für die darauf folgenden Projekte.




Schmuck mit Seele

Wie hat wohl die Urgeschichte der Skulptur begonnen, von welcher Art waren die frühesten Vor-Bilder? Prof. Christoph Brockhaus, Chef des Duisburger Lehmbruck-Museums, hat da eine plausibel klingende Vermutung: Amulette und magische Glücksbringer in Form von Schmuckstücken dürften von allem Anfang an gefertigt worden sein. Es birgt also seinen tieferen Sinn und Hintersinn, dass das auf Skulpturen spezialisierte Haus nun Schmuck zeigt, der von Bildhauern geschaffen wurde.

Brockhaus legt Wert auf trennscharfe Unterscheidung vom bloßen Schmuck-Design. Dabei stünden die gute (anzufügen wäre: meist eher gefällig geglättete) Form und handwerkliche Präzision im Vordergrund, während Künstler auch auf diesem Gebiet mit geistigem Anspruch antreten, zumeist auf Transzendenz aus sind und hierzu dem Material eine ureigene, möglichst unverwechselbare Handschrift aufprägen.

Manche dieser Prägemuster oder auch Markenzeichen erkennt man tatsächlich auf einen Blick, freilich wirken sie in der Schmuckform wie verfremdet. Günter Uecker treibt auch aus dem Schmuck Nägel hervor, als gelte es, stachlige Abwehr zu gewährleisten – vielleicht gegen bösen Zauber? Lucio Fontana, bekannt durch „geschlitzte“ Bilder, hat den Edelmetall-Flächen seines Schmucks gleichfalls solche Schnitte zugefügt. Louise Bourgeois hat eine Spinne zur Brosche geformt, die direkt aus einem Alptraum zu stammen scheint. Alexander Calders Armreife oder Halsbänder sind so filigran und wundersam beweglich wie seine sonstigen Werke. Man sagt nicht zu viel, wenn man feststellt: So manche dieser Schmuckstücke haben eine „Seele“, sie sind alles andere als Beiwerk.

Es geht bis in den Olymp der Kunst hinauf. Besonders zwei Namen bürgen für Gipfelglück: Pablo Picasso offenbart sich auch im Medium des Schmucks als der schier unendlich schöpferische Universalkünstler, der er nun einmal gewesen ist. Die goldenen Medaillons für seine Geliebte Francoise Gilot, versehen mit traumwandlerisch formsicher stilisierten Frauen-, Faun- oder Tier-Darstellungen, deuten wahrhaftig auf unvordenkliche Frühzeiten der Künste und der menschlichen Geschichte. Ähnlich nah an den magischen Ursprüngen bewegt sich Max Ernst mit gleichfalls in Gold getriebenen Miniatur-Masken, die als Anhänger dienten.

Die rund 185 skulpturalen Schmuckstücke, von Fall zu Fall ergänzt um Bildhauer- und Papier-Arbeiten der beteiligten Künstler, gehören überwiegend zur Sammlung von Diana Küppers aus Mülheim/Ruhr. Sie besitzt die wohl weltweit bedeutendste Kollektion von Bildhauerschmuck der Moderne. Seit 1978 hat sie ihre Schätze zusammengetragen, bisweilen im engen persönlichen Kontakt zu Künstlern wie etwa Gotthard Graubner (der auch hier seine Farbkissen-Formen aufgegriffen hat) oder Niki de Saint Phalle, deren Schmuck-Oeuvre natürlich auch (aber nicht nur) prallbunte „Nana“-Weibsgestalten aufleben lässt.

Die Duisburger Liste verzeichnet weitere Künstlernamen von höchstem Rang, beispielsweise: Hans Arp, Georges Braque, Eduardo Chillida, Jean Cocteau, Salvador Dali, Marcel Duchamp, Yves Klein, Roy Lichtenstein, Robert Rauschenberg (Brosche mit rostigem Metallfundstück), Man Ray, Frank Stella, Andy Warhol… Wer hätte gedacht, dass all diese Größen Schmuck hergestellt haben?

Oft handelt es sich um echte Unikate, die für Gefährtinnen entstanden sind. Auflagen dieser körperbezogenen Kunstwerke gab es allenfalls in geringer Stückzahl, um den Wert der Einzelobjekte nicht zu schmälern. Kunsthistorisch betritt man hier – so Christoph Brockhaus – „terra incognita“, denn der Schmuck ist meist nicht in den jeweiligen Werkverzeichnissen erfasst. Da schlummert also noch viel unerledigte Forschungsarbeit.

Von Picasso bis Warhol – Bildhauerschmuck der Avantgarde. Duisburg, Wilhelm Lehmbruck Museum, Düsseldorfer Str. 51 (Besucheradresse Friedrich-Wilhelm-Straße 40). Bis 14. Februar 2010. Geöffnet Di-Sa 11-17, So 10-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 6 Euro (ermäßigt 3 Euro), Familie 12 Euro. Katalog 25 Euro. Buchung von Führungen Tel.: 0203/283 21 95. Internet: www.lehmbruckmuseum.de




Auch Maschinen haben Humor – Duisburger Retrospektive zum Werk des Deutsch-Amerikaners Stephan von Huene

Von Bernd Berke

Duisburg. Haben Maschinen eine Seele? Haben sie gar Humor? Man möchte darauf schwören, wenn man durch die neue Ausstellung im Duisburger Lehmbruck-Museum streift. Im Geleitzug mit München und Hamburg richtet Duisburg eine längst fällige Retrospektive über den anno 2000 verstorbenen Stephan von Huene aus. Vor allem die Klangskulpturen des documenta- und Biennale-erprobten Amerikaners mit deutschbaltischen Vorfahren haben hintergründigen Charme.

1976 übersiedelte von Huene (Jahrgang 1932) aus Los Angeles nach Deutschland. Hier heiratete er 1979 die Kunstkritikerin Petra Kipphoff („Die Zeit“), mit der er in Hamburg lebte.

Schon seit Beginn der 60er Jahre schuf er jene skulpturförmigen Instrumentarien, die jedem Betrachter bzw. Zuhörer unweigerlich ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Im Frühwerk setzt sich die Mechanik ächzend per Blasebalg, Lochstreifen oder Walze in Gang. Später steuern Computer die Klang-Körper oder Klang-Möbel. Dieser Künstlerhat sich theoretisch und technisch stets auf dem Laufenden gehalten. Er war kein bloßer Phantast, sondern ein fleißiger Ergründer mit „Do it yourself‘-Fertigkeiten.

Auf Knopfdruck legt die Waschbrett-Combo los

Wenn der Strom fließt und der Schalter gedrückt ist, tritt in Duisburg beispielsweise eine ganze Waschbrett-Combo samt Glöckchen, Schlagwerk und Harmonika zum Musizieren an. Die groteske Apparatur steht auf einem hölzernen Skulpturensockel, in dessen Eingeweiden es hübsch rumort. Kaum denkt man an Zirkus, Kirmes oder Vaudeville, da legt schon eine andere Skulptur mit kopfstehender Hundefigur rasselnd los. Oder es steppen zwei einsame Beine („Tap Dancer“, 1967).

Geisterhaft spielende Xylophone, Trommeln und Orgelpfeifen sorgen für weiteres Getöse. Und eine schemenhafte „Loreley“, geformt nach geradezu „wissenschaftlich“ ermitteltem Schönheits-Ideal, kämmt ihr Goldhaar zu sirenenhaftem Sang. Dies alles tost keineswegs wild durcheinander, sondern wird jeweils zeitversetzt hörbar, damit nicht eine Arbeit die andere durchkreuzt.

Tradition ist nicht so fern: Der fröhlich-anarchische Dadaismus hat Pate gestanden. Kurt Schwitters‘ „Ursonate‘ hat von Huene in einer fremdartig klingenden Installation selbst aufgegriffen. Auch der Avantgarde-Komponist John Cage zählt zu den Anregern. Und selbst die (Alp)-Träume von Automaten-Menschen aus der romantischen Epoche dürften hier noch nachwirken.

Ein sanftmütiger Mensch, der die Wahrnehmung weckt

Stephan von Huene soll ein äußerst sanftmütiger Mensch gewesen sein, doch durch seine Kunst wollte er die Menschen aufwecken, damit sie ihre Wahrnehmung schärfen. Der Ausstellungstitel („Tune the world“) spielt auf ein Bekenntnis des Künstlers an, dem just die Feinabstimmung des Sensoriums für die Welt am Herzen lag.

Die sorgsam ausgeführten Werke standen erst am Ende langwieriger Denkprozesse, in die etliche Erkenntnisse einbezogen wurden. Projektskizzen zeugen vom Aufwand. Die Pop-Kultur gibt gewisse Grundmuster vor, Psychologie, Systemtheorie, Ingenieurskunst und manches mehr gesellen sich hinzu.

Von Huene hat gründlich analysiert, zergliedert und hernach die Teile zusammensetzt, bis eine Synthese gelang und die Objekte „wie aus einem Guss“ wirkten. Alle Elemente sind gleich wichtig und vereinigen sich zum schwellenden Akkord der Sinne: Das oft körperhaft wirkende Material (Leder-Haut, Holz als Knochen) ist zu beachten, die Bewegungsenergie (Kinetik) darf ebenso wenig vergessen werden wie der Klangeindruck.

Prinzipiell ins uferlose wuchernde Serien von Zeichnungen kommen hinzu. Figurationen von Goya bis Picasso oder aus Mythen und Märchen aufnehmend, schwelgen sie in geni(t)alen Obsessionen und rätselhaften Sprach-Fetzen. Auch hier findet sich vielfach der Gestus des Zergliederns. Die Körper zerfallen in quasi selbstständige Teile. Ganz so, als hätte ein neugieriges Kind ein Spielzeug bis ins Innerste untersuchen wollen.

Bis 30. März. Di-Sa 11-17. So 10-18 Uhr. Katalog 28 Euro




In den Zeiten der Trauer – Wilhelm Lehmbrucks Entwürfe für Grabmäler in Duisburg

Von Bernd Berke

Manchmal muss man Sammlungen nur nach anderen Gesichtspunkten sortieren – und schon erschließen sich ungeahnte Einsichten. In Duisburg hat, als vermeintlich geringfügiger Anstoß, eine vor drei Jahren überlassene Dauerleihgabe auf die neue Spur geführt.

„Die Seele“ heißt das Relief des Museums-Namensgebers und großen Plastikers Wilhelm Lehmbruck (1881-1919). Es zeigt eine ätherische Frauengestalt, die sich anschickt, gen Himmel zu entschweben. Kaum tauchte die Arbeit im Lehmbruck-Museum auf, gruppierten sich – fast wie von selbst – immer mehr Skizzen, Zeichnungen und Skulpturen aus dem reichen Fundus um sie herum. Sie haben allesamt innig mit dem November-gemäßen Thema „Tod“ zu tun.

Lukrative Einnahmequelle

Katharina Lepper, Kuratorin der Ausstellung „Wilhelm Lehmbruck: Grabmäler – Entwürfe für Leben und Tod“, fand heraus: Dieser Künstler hat nicht nur (noch mehr als vermutet) weite Teile seines Frühwerks dem Tod gewidmet, sondern auch etliche Entwürfe für Grabmäler und Gedenksteine geschaffen wie für einen Musterkatalog. Einiges wurde auf Friedhöfen ausgeführt, das meiste ist nicht erhalten geblieben. Es kann aus Relikten bestenfalls indirekt erschlossen werden.

Fest steht, dass aufwändige Grabmäler, etwa mit Figureninventar und Säulen-Architektur, seinerzeit eine äußerst lukrative Einnahmequelle waren. Umso erstaunlicher, dass der damals gerade 25-jährige Lehmbruck einschlägige Aufträge erhielt. Erfahrene Kollegen erblassten vor Neid.

Zugeständnisse an die Verwertbarkeit

Freilich musste Lehmbruck auf diesem anfangs der ökonomischen Verwertbarkeit künstlerischen Tribut zollen. Wollte er reüssieren, so hatte er sich an die enge Konvention, ja gelegentlich gar an triviale Muster zu halten. Einige bewegt sich nah am religiösen Trauer-Kitsch. Serien von Kinderbildnissen („Junge Liebe“, um 1906) oder Mutter-und Kind-Darstellungen (unklar: ob es wirklich Trauerbildnisse sind und wer gestorben war), sind recht süßlich geraten, ein Bergmanns-Relief weicht kaum vom damals üblichen Duktus ab. Keine kühne Form-Reduktion weist in Richtung Moderne.

Dennoch kann man erahnen, dass Lehmbruck seinen künstlerischen Durchbruch schon in dieser Frühzeit hatte. Nach und nach entfernte er sich von akademischen Skizzen (das Nachzeichnen von Grabmälern gehörte zur Ausbildung) und tastete sich zur eigenen Auffassung vor. Zudem changieren einige Arbeiten zwischen Traurigkeit und Lebensfeier. Wahrhaft tief Empfundenes lässt sich eben nicht festlegen. Man könnte hier leicht auf die uralte Idee zurückkommen, der Tod führe just in ein neues Leben. Eine Glaubensfrage.

Was der Schlaf bedeuten kann

Die Ausstellung bewegt sich, dem Gegenstand entsprechend, auf teils unsicherem Gelände. Zuweilen entscheidet die Präsentation eines Werks über die Deutung mit: Der Kopf einer schlafenden Frau könnte, aufrecht an der Museumswand postiert, ein normales Porträt sein. Legt man ihn jedoch auf einen Sockel, so stellt sich gleich der Gedanke an das Fragment eines Grabmales ein. Dann würde der Schlaf den Tod bedeuten.

Inwieweit das Todesthema Lehmbrucks psychischer Disposition (starke Neigung zu depressiven Phasen) entgegenkam, darüber lässt sich nur spekulieren. Schmerzlich verbürgt ist, dass der Künstler sich am 25. März 1919 das Leben genommen hat.

Bis 9. Februar 2003




Auf dem Wege zum Urbild – Alexej von Jawlensky und einige Zeitgenossen in Duisburg

Von Bernd Berke

Duisburg. Für hiesige Museumsbesucher ist Alexej von Jawlensky (1864-1941) wahrlich kein Unbekannter: 1998 gab es eine reich bestückte Retrospektive am Dortmunder Ostwall, sodann eine (wegen Fälschungs-Verdachtes) höchst strittige Schau im Essener Folkwang-Museum. Nun ist Jawlensky gleichsam noch ein Stück weiter nach Westen gewandert und im Duisburger Lehmbruck-Museum „angekommen“.

Hier hat man einen etwas anderen Ansatz gefunden, um den Meister der Klassischen Moderne zu präsentieren. Unter den 100 Exponaten stammen 48 von Jawlensky. Das ist kein Manko, im Gegenteil. Sinnfällig wird sein Werk auf den künstlerischen Kontext der Zeit bezogen. Dabei konzentriert man sich vornehmlich auf Jawlenskys Schweizer Jahre von 1914 bis 1921. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte der russische Künstler, der bis dahin in München lebte (wo er mit Franz Marc die Gruppe „Blauer Reiter“ gründete), Deutschland verlassen müssen.

Kontrast zur wilden Szene der Dadaisten

Zunächst siedelte er sich in einem Dorf bei Lausanne an, wo er in Isolation verharrte und hauptsächlich wehmutsvolle Einsamkeits-Blicke aus seinem Fenster malte. Dann aber zog es ihn in die äußerst fruchtbare Emigranten-Szene Zürichs. Vor allem die Dadaisten hatten sich dort versammelt und provozierten als eine Art wüster Spaß-Guerilla mit oft grotesken Aktionen das Bürgertum. In Duisburg beschwören u. a. phantasievolle Masken den kreativen Mummenschanz.

Über diesem quirligen Umfeld schwebte der schon etwas ältere Jawlensky als eine Art Vaterfigur, vielleicht nicht so ganz von dieser Welt. Hatte er in München noch farbglühende Landschaften und Porträts geschaffen („Spanierin“, um 1911), so begab er sich nun mit religiöser Inbrunst auf den Weg vom Abbild zum Urbild des menschlichen Antlitzes.

Asketisch schmale Lippen

Immer meditativer und ikonenhafter geraten nun die Serien der frontalen Gesichter, meist in suggestiver Nahansicht. Charakteristisch die strichförmig geschlossenen Augen und asketisch schmallippige Mundlinien. Auf früheren Bildern hatten diese erleuchteten Wesen noch gelegentlich groß geschaut (oder: das Jenseits ins Auge gefasst), doch auch da standen ihre Pupillen schon seltsam senkrecht, von mystischer Entrückung kündend.

Dies alles wäre schon eine Ausstellung wert, doch gibt es zudem erhellende Querbezüge. Bestens trifft es sich, dass der Duisburger „Hausheilige“ Wilhelm Lehmbruck damals gleichfalls eine Zeit lang in der Schweiz weilte und sich Vergleiche mit seinen Skulpturen anbieten; beispielsweise mit jener Plastik, die Lehmbruck nach dem Bilde der aussichtslos vergötterten Schauspielerin Elisabeth Bergner („Betende“, 1918) schuf.

Auch bei Lehmbruck wird ein Drang ins Jenseitige spürbar, der Impulse von Jawlensky bezogen haben mag. Vielleicht war ja unerfüllte Liebe ein beiden Künstlern gemeinsamer Sublimierungs-Quell, denn auch Jawlenskys langjährige Verbindung mit der Malerin Marianne von Werefkin gilt als zwiespältig und erotisch nebulös. Nun aber Schluss mit Spekulation und Tratsch!

Vergeistigung durch Krankheit

Fakt ist, dass die Duisburger auch einige Exponate aus dem dadaistischen Bereich (Hans Arp, Sophie Taeuber-Arp, Marcel Janco, Hans Richter) zeigen – sozusagen als fröhlich-chaotische Kontrapunkte, neben denen Jawlenskys spirituelle Wesensart umso deutlicher hervortritt.

Dem Streben Jawlenskys näher verwandt sind jene wundervoll sanftmütigen Arbeiten von Paul Klee oder die ebenfalls famosen Bilder des Schweizers Ferdinand Hodler, der z. B. immer wieder eine Freundin porträtierte – zunächst in der Blüte ihres Lebens, später von Krankheit gezeichnet. Eine tief betrübliche, vom körperlichen Verfall erzwungene Vergeistigung.

Jawlenskys Schweizer Jahre endeten 1921, als er von Ascona nach Wiesbaden umzog, weil dort seine Förderin Emmy Scheyer wohnte. Bis zu seinem Tod (1941) lebte er dort. Zunehmend von Arthrose (Gelenksteife) geplagt, konnte Jawlenksy in den 30er Jahren nur noch formal einfache Bilder hervorbringen. Keineswegs zynisch gemeint: Vielleicht kam dies seinem Hang zum stillen, frommen Schauen sogar entgegen.

Jawlensky in der Schweiz. Lehmbruck-Museum, Duisburg. Bis 9. September. Di-Sa 11-17, So 10-18 Uhr. Eintritt 6 DM, Katalog 48 DM.

 




Sprachlos im Angesicht der gequälten Kreatur – Bruce Nauman im Duisburger Lehmbruck-Museum

Von Bernd Berke

Duisburg. Fünf Tierkörper aus Aluminium hängen, teilweise kopfüber, im Gestänge des „Karussells“. Wenn es sich dreht, werden Rotluchs, Bär, Hirsch und zwei Kojoten quälend langsam im Kreis herumgeschleift. Eine Spur am Boden zeugt von all den vergangenen Umdrehungen. Ein Bild der ohnmächtigen, zutiefst geschundenen Natur, das man nicht so schnell vergisst.

Dabei ist die 1988 entstandene Installation des Amerikaners Bruce Nauman sogar ein wenig „entschärft“. Denn anders als jetzt im Duisburger Lehmbruck-Museum, prallten die träge rotierenden Leiber bei früheren Ausstellungen auch schon mal gegen die Wände und hinterließen hässliche Dellen. Es muss auf den Betrachter noch schmerzlicher gewirkt haben.

Nauman (Jahrgang 1941), seit rund-35 Jahren auf der Szene und längst weltberühmt, wird in Duisburg mit einem 46 Exponate starken Werk-Überblick gewürdigt. Der Amerikaner, der nebenher eine große Pferdezucht in New Mexico betreibt, vertritt ein klares Credo: „Die Kunst muss sofort voll da sein.“ Ohne Umschweife soll sie einen gleich packen und nicht mehr loslassen. Tatsächlich sind Nauman immer wieder Arbeiten geglückt, die diesen Anspruch erfüllen.

Für die großflächig plakatierten Wortspiele (etwa: „War“ – „Raw“, also Krieg und roh) gilt dies noch am wenigsten, sie wirken heute eher etwas lässlich. Doch Nauman, seit jeher ein großer Sprach-Skeptiker, hat seinem Zweifel in Medien-Installationen gültigen Ausdruck verliehen.

Zum Beispiel in „Good boy – bad boy“ (Guter Junge – böser Junge, 1985): Zwei Fernsehgeräte, frontal auf den Betrachter gerichtet. Man sieht einen Mann und eine Frau, die einander nicht „erblicken“, sondern vor sich hin quatschen, jeweils im isolierten Gehäuse. Ihre Texte („Ich habe Sex. Du hast Sex“) häufen sich auf Dauer zum blanken Unsinn.

Die Aggression und der Sturz ins Bodenlose

Der Tonfall wird binnen einer Stunde immer hastiger, immer aggressiver. Schließlich erscheint Sprache bloß noch als leeres Dröhnen. Verständigung zwecklos. Wer das über 60 Minuten durchsteht, ist ein harter Knochen.

Vollends löst sich das Verbale in der Video-Installation „Raw Material“ (Rohmaterial, 1991) auf. Hier sehen wir des Künstlers Gesicht, per Kamera-Dreh auf die Seite gekippt und also im Ungefähren schwebend. Verstörender noch: Der Mund auf dem Bildschirm macht immerzu nur „Brrrrrrhhh“ – bis zur Erschöpfung des Körpers und jeden Sinnes. Eine nachhaltige Irritation am Rande der Trance geht von diesem überlegten Arrangement aus. Es ist wie so oft bei Bruce Nauman: Mit genau berechneten, minimalen Mitteln erzielt er ein Höchstmaß an Wirkung.

Die Duisburger Auswahl beschränkt sich keineswegs auf Videos, sie zeigt Bruce Nauman als vielseitigen Künstler. Beispiele: Auf dem Boden liegen Metallskulpturen (ring- oder sternförmige Modelle für bizarre Tunnel, die nie gebaut worden sind). An den Wänden hängen Neon-Plastiken als Anti-Reklame (ein grell leuchtender „Taucher“ stürzt ins Bodenlose) oder Zeichnungen wie das Bewegungs-Bildnis eines Mannes, der (gleichsam in Zeitlupe) mit dem Baseballschläger einen Liegenden verdrischt – und dabei eine Erektion bekommt, als sei derlei Gewalt buchstäblich „geil“. Doch die unerbittlich zergliedernde Anatomie des Vorgangs lässt keinen Zweifel an der Abgründigkeit der brutalen Aktion.

Die Ausstellung hat kulturpolitischen Hintersinn. Sie versammelt Arbeiten aus deutschen, niederländischen und belgischen Sammlungen – aus jenem Länderdreieck also, das NRW-Ministerpräsident Clement in jeder Hinsicht aufwerten möchte. Auch kulturell könnte dieses Kräftefeld einen Gegenzug zum Gewicht Berlins ausüben.

 

Bruce Nauman. Lehmbruck-Museum, Duisburg (Friedrich-Wilhelm-Straße). Bis 2. Juli. Eintritt 6 DM, Katalog 35 DM.




Aus dem Würfel wächst das Bild der idealen Stadt – Messing-Werkgruppe von André Volten in Duisburg

Von Bernd Berke

Duisburg. Der Würfel ist ein stets gleichförmiges Ding mit ebenmäßigen Kantenlängen. Das gilt im Alltag. Doch wenn ein Künstler ins Würfel-Spiel eingreift, wird alles anders. Erst recht, wenn es sich um eine Größe wie den niederländischen Staatspreisträger André Volten (71) handelt.

Volten hat viele Zeichen im öffentlichen Raum der Städte gesetzt. Den Duisburgern bescherte er einen Stahlbrunnen, den der Volksmund „Waschmaschine“ getauft hat. Volten ist darüber nicht etwa verbittert: „Was einen Namen trägt, ist akzeptiert, ist lebendiger Besitz.“ Nun richtet ihm Duisburgs Lehmbruck-Museum bereits die zweite Retrospektive aus – eine Würdigung, die bisher nur ganz wenigen Künstlern zuteil wurde.

Als Material für seine Würfelkunst wählte Volten das sonst höchst selten verwendete Messing. Der fast bleischwere Stoff wirkt erstaunlich leicht, seine Oberfläche ist empfindlich wie dünne Haut. In unpoliertem Zustand sendet Messing einen seidig-matten Schimmer aus, der die gesamte Ausstellung durchpulst und ihr beinahe etwas Mystisches verleiht.

Doch Volten ist alles andere als ein haltloser Mystiker. Seine Kunst erwächst aus Rationalität und Präzision. Der passionierte Schachspieler und Bach-Hörer (beides deutet auf logisch-mathematische Neigungen hin) baut penible Holzmodelle, bevor er sich an die millimetergenaue Verfugung der Messing-Barren begibt. Kennt man Voltens Vorlieben, so denkt man unwillkürlich an J. S. Bachs Komposition „Die Kunst der Fuge“. Es ist wohl nicht nur ein Wortspiel…

Der Würfel dient, einem philosophischen Grundsatz oder chemischen Element vergleichbar, als Regelmaß aller Dinge. Dieses Basis-Motiv wird in rund 60 mehrteiligen Arbeiten variiert – durch Spaltungen, Schnitte, berechnete „Wucherungen“, Auftürmungen, fragile Balancen.

Museumsdirektor Christoph Brockhaus will zeigen, daß all diese Formen zur lebendigen Vielfalt der Natur zurückführen. Deshalb präsentiert er zum Vergleich einige Mineraliensteine. Tatsächlich: Die Verwandtschaft der Strukturen ist kaum zu leugnen.

Voltens Würfel-Konstruktionen addieren sich zum subtilen Inbild einer idealen Stadt, die Freiräume läßt und bewohnbar wirkt. Der großen Klarheit wächst unversehens etwas Spielerisches zu. Äußerst konzentriert wirkt diese Kunst, wie von allem Überflüssigen entschlackt – und mehr noch: in einem fast religiösen Sinne rein.

André Volten: Konstruktion und Struktur – Messingskulpturen 1965-95. Lehmbruck-Museum, Duisburg (Düsseldorfer Straße 51). Bis 5. Januar 1997. Di.-Sa. 11-17 Uhr, So. 10-18 Uhr. Katalog 25 DM.




Das große Lazarett der Vasen – Vier Museen zeigen die erstaunlichen Terrakotta-Arbeiten von Antonio Recalcati

Von Bernd Berke

Im Westen. Gleich vier deutsche Museen zeigen Vasen und Teller aus Terrakotta. Hat man sich da etwa auf breiter Front dem „Schöner wohnen“-Genre samt Luxus und Moden verschrieben? Nein, keine Sorge. In Duisburg, Marl, Köln und Hannover wird nach wie vor seriöse Museumsarbeit betrieben.

Mit den Keramik-Stücken hat es nämlich einiges auf sich. Manche dieser Vasen sehen ja von weitem einigermaßen intakt aus. Doch tritt man näher heran, so sieht man das (mal aggressive, mal beinahe verspielte) Zerstörungswerk: Die eine Vase hat Löcher, keine Flüssigkeit bliebe drinnen. Die Öffnung des nächsten Exemplars ist mit lauter tönernen „Knoten“ verschlossen, ein weiteres Exponat lappt nach oben rissig aus. Verrenkte Hälse, verzerrte Bäuche — ein wahres Vasen-Lazarett.

Die ihrer Funktion beraubten Gegenstände werden zu freien Formen, ja vielleicht zu Abbildern von Freiheit überhaupt. Gelegentlich unbehandelt, doch meist mit verschiedenen Glasuren (bis hin zum kostbaren Gold) überzogen, wirken sie wie individuelle Wesen.

Überaus erstaunlich, wie viele Vasen-Varianten dieser Künstler hervorgebracht hat. All diese Arbeiten stammen von Antonio Recalcati (54), der in den 60er Jahren zu den „Neuen Realisten“ zählte, die sich in Paris um Yves Klein, den Magier der blauen Farbe, gruppierten. Ähnlich wie Klein, der durch Körperabdrücke leibhaftig berühmt wurde, experimentierte auch Recalcati damals mit Körper- und Kleider-Spuren auf der Leinwand.

Doch das ist lang her, und der Mailänder ist ein unruhiger Geist, immer auf der Suche nach Veränderung – darin ein Spätling der Avantgarde. Jede Schaffenskrise zieht einen neuen, wieder ganz anders gearteten Werkzyklus nach sich. Derzeit arbeitet er in den Marmorbrüchen von Carrara an abstrakten Groß-Skulpturen. Doch von 1989 bis 1991 hat er sich in einen wahren Terrakotta-Schaffensrausch gesteigert. In dieser Zeit entstand ungefähr täglich eine Arbeit.

Dazu muß man wissen, daß rund ums Mittelmeer beim Anblick von Keramik ganz andere Gedanken aufkommen. Dort stellt man sofort die Verbindung zur antiken Tradition her, die auch von Künstlern wie Lucio Fontana und Giuseppe Spagnulo (kürzlich in Dortmund ausgestellt) mit neuem Leben erfüllt wurde.

Jedes der vier beteiligten Museen setzt bei der Präsentation andere Schwerpunkte. In Marl etwa hat man sich dafür entschieden, die Verfremdung des Alltags zu betonen. Man stellt Recalcatis Vasen neben Arbeiten von Beuys und Uecker. Auch Uecker machte ja, indem er ein TV-Gerät ringsum vernagelte, ein Alltagsding zur Spielform.

Marl: Skulpturenmuseum „Glaskasten“, 11. bis 25. Oktoher und 13. Dezember bis 10. Januar 1993 / Duisburg: Lehmbruck-Museum, 11. Oktober bis 29. November / Köln: Museum Ludwig, 10. November bis 3. Januar 1993 / Hannover: Sprengel Museum, gleiche Daten wie Köln. Gemeinsamer Katalog 49 DM.




Eros als Triebkraft des Lebens und als Todesbote – Graphik-Zyklus in Duisburg

Von Bernd Berke

Duisburg. Kaum zu glauben, welche Schätze in Depots und Kisten des Kölner Museums Ludwig schlummern. Da findet sich zum Beispiel – mir nichts, dir nichts – ein kompletter Graphik-Zyklus mit 156 Blättern aus Picassos letzter Schaffensphase.

Thema sind alle Schattierungen der Erotik – passend zum laufenden „Akzente“-Festival in Duisburg, das sich ganz der Liebe widmet. Da bedurfte es nur noch des glücklichen Zufalls, daß der Chef des Lehmbruck-Museums, Dr. Christoph Brockhaus, ehemals Leiter der Graphischen Sammlung im Museum Ludwig war. So fiel es ihm leicht, die seit vielen Jahren nicht mehr gezeigten Picasso-Bilder nach Duisburg zu holen.

Picasso und die Erotik – ein Universum für sich. Mit ungeheuer kühnen Stilwechseln, die sich fast kein anderer Künstler erlauben dürfte, hat sich Picasso dieses Themenkreises bemächtigt. Manchmal kontrastiert er sogar innerhalb eines Bildes mehrere Stilformen, ohne daß es wie Stilbruch wirken würde.

Vielgestaltig auch die Epochen, in denen der Künstler seine freizügigen Figuren ansiedelt. Mal kommen sie wie Steinzeitmenschen, mal antikisch gewandet, mal orientalisch oder spanisch daher. Eros ist zeitlos und allgegenwärtig, die Triebkraft allen Lebens; aber auch ein Vorbote des Todes. Daher ist die Skala der erotisch-sexuellen Lockungen in diesem Zyklus denkbar breit. Mal herrscht reinste Harmonie zwischen den Geschlechtern, dann wieder bricht die schiere Gewalt aus. Einmal ist Eros nackt und brutal, ein andermal zu höherer Liebe geläutert.

Picasso stellt seine Figuren, die sich oft zu Abbildern des (Unter-)Bewußten auftürmen oder einander umschlingen, gleichsam auf „Probebühnen“ — entweder ganz wörtlich genommen auf imaginäre Theaterbühnen oder ins Atelier, wo er die Varianten des uralten Themas „Maler und Modell‘ durchspielt. Weitere Schauplatze der Geschlechter-Begegnungen sind Zirkus-Arenen und Bordelle – immer also geschlossene, künstlich inszenierte Räume, Seelen-Käume.

Die Anwendung verschiedener Radiertechniken prägt hier sichtlich die Art des Zugriffs: Während leichte Ritzungen in weichem Wachs den Bildern etwas Fließendes verleihen, das die Figuren sanft und zärtlich umspielt, sorgt die metallische Kaltnadel-Radierung schon durch den nötigen Kraftaufwand für aggressive Linienführungen.

Natürlich fängt auch ein Weltkünstler wie Picasso mit derlei Techniken nicht am Nullpunkt an. Vorbilder scheinen durch: die Auseinandersetzung mit dem Surrealismus, aber auch der souveräne Rückgriff auf Rembrandt und Goya.

Interessant in diesem Zusammenhang, daß Picasso zwei Künstler, nämlich Rembrandt und Degas, auch mehrfach in seinen Bildern „auftreten“ läßt, und zwar als ganz entgegengesetzte Typen. Rembrandt steht für bedingungslos sich verströmende Sinnlichkeit, Degas für den distanzierten Voyeur, der sich von den Bordellhuren gleichermaßen angezogen wie abgestoßen fühlt.

Geradezu phänomenal ist der Zyklus, wenn man bedenkt, wann Picasso all diese Blätter (zwischen 1970 und 1972) geschaffen hat. Er war damals bereits 90 Jahre alt. Zyniker mögen sagen, das habe sich ein Greis „Vorlagen“ verschafft, und es mag ja all dies auch in gewisser Weise eine Ersatzhandlung gewesen sein. Mehr aber noch ist es die bewegende Bilanz eines Lebens und seiner innersten Konflikte.

Übrigens: Das Lehmbruck-Museum wird zwar eigentlich bestreikt, nicht aber der Trakt mit der Picasso-Ausstellung.

„Pablo Picasso – Liebe und Tod“. Letzte graphische Blätter. Lehmbruck-Museum, Duisburg. 6. Mai bis 14. Juni. Katalog 20 DM. Di 11-20 Uhr, Mi-So 11-17 Uhr. 




Gewagter Vergleich von Lehmbruck und Beuys in Duisburg

Von Bernd Berke

Duisburg. Das LehmbruckMuseum besitzt, wie könnte es anders sein, Zeichnungen von Wilhelm Lehmbruck (1881-1919). Es besitzt auch Zeichnungen von Joseph Beuys. Da Beuys in seinem Todesjahr 1986 den Duisburger Lehmbruck-Preis bekommen hat, fahndete Museumsleiter Christoph Brockhaus nach Verbindungslinien zwischen beiden Künstlern — und fand praktisch keine.

„Intuitiv“ habe man die von einer Tournee nach Duisburg zurückgekehrten Zeichnungen von Lehmbruck und jene von Beuys ausgewählt, um einen „Vergleich des Unvergleichbaren“ zu wagen, sagt Brockhaus selbst. Was nun als „Mentale Plastik — Zeichnungen von Lehmbruck und Beuys“ (bis 18. August) daherkommt, ist kaum mehr als umgruppierter und halbherzig ergänzter Eigenbesitz. Auch werden die Arbeiten beider Künstler nicht miteinander konfrontiert, sondern separat auf zwei Etagen gezeigt.

Nun gut. „Beseelte Linienführung“ und vielfach ein ätherisches Verblassen der Formen kann man beiden Künstlern nachsagen. Auch hat Beuys eine „Kriechende Frau“ gezeichnet, die mit der Lehmbruck-Serie der „Gestürzten“ in Beziehung gesetzt werden kann. Doch damit erschöpfen sich die „Gemeinsamkeiten“ auch schon. Lehmbruck bleibt Lehmbruck, Beuys bleibt Beuys. Sie unterscheiden sich nicht wie Tag und Nacht, aber wie Morgen und Abend.

Das alles heißt nicht, daß man keinen Kunstgenuß vorfände. Beispiel: Lehmbrucks „Macbeth“-Serie, in der es zu wahren „Körperexplosionen“ kommt. Hauchfein den Sinnen sich entziehend sind diese Figuren gezeichnet — wie Erscheinungen nah am Urzustand.




Gemeinsame Ausstellung der Kunstmuseen im Revier rückt offenbar näher – Wegweisende Idee des Hagener Osthaus-Chefs Michael Fehr

Von Bernd Berke

Hagen. Die Idee des neuen Chefs im Hagener Osthaus-Museum, Dr. Michael Fehr, die Kulturkräfte der Region mit einer gleichzeitigen Eigenbesitz-Ausstellung aller 17 Kunstmuseen des Ruhrgebietes zu bündeln, nimmt konkrete Gestalt an. Die SPD-Fraktionsvorsitzenden der Revierstädte haben sich bei einer Zusammenkunft in Duisburg für ein solches Vorhaben ausgesprochen. Interesse signalisierten auch die Regierungspräsidenten und das NRW-Kultusministerium.

Damit ist der Plan, in den auch der Kommunalverband Ruhrgebiet einbezogen werden soll, auf bestem Wege zur Realisierung. Wunschtermin: Ende nächsten Jahres.

Wie Michael Fehr gestern im Gespräch mit der WR erläuterte, könne die „Kunstsammlung Ruhrgebiet“ (Arbeitstitel des 17er-Projekts) zugleich eine große Revision der Bestände und langfristig ein Umdenken in der Sammlungspolitik einleiten. Man müsse endlich über die jeweiligen Kirchtürme hinausblicken und nicht mehr in jeder Stadt – zwangsläufig mehr schlecht als recht – alle Nachkriegs-Kunstrichtungen sammein, sondern sich spezialisieren (und somit besser profilieren). Beispiel: „Dortmund und Hagen verfügen über die meisten Werke von Expressionisten. Es wäre sinnvoll, wenn andere Museen Einzelbilder dieser Stilrichtung hierher geben“. Umgekehrt könnten sich das Dortmunder und das Hagener Muséum von Stücken trennen, die nicht zu ihren Sammlungschwerpunkten passen.

Daß derlei Tauschaktionen eine ungeheuer schwierige Sache sind, weiß Fehr. Doch immerhin hätten Dortmunder Museumsleute schon Neigung zu solchen Transaktionen erkennen lassen. Komplizierter sei es schon mit dem Lehmbruck-Museum in Duisburg und dem Folkwang-Museum in Essen, die sich ihrer bundesweiten Bedeutung höchst bewußt seien und daher das Augenmerk weniger auf die Region richteten. Fehr glaubt aber, daß mit dem Generationswechsel an der Spitze einiger Reviermuseen (neue Chefs in Dortmund, in Hagen, demächst auch in Essen) einiges in Bewegung kommt. Fehr bezieht in seine Überlegungen übrigens beide großen Dortmunder Museen mit ein, also das Museum am Ostwall und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße.

Vorerst bleiben Tauschgeschäfte der skizzierten Art Utopie. Doch der vorübergehende Wechsel von Exponaten für die Dauer der Ausstellung „Kunstsammlung Ruhrgebiet“ könnte die verhärteten Strukturen bereits lockern.

Fehr, der in Hagen mit einem Minimal-Ausstellungsbudget von 50 000 Mark im Jahr wirtschaften muß, schätzt die Kosten für das revierweite Mammut-Unternehmen auf rund 750 000 Mark und rechnet fest mit Landeszuschüssen. Er verweist dabei auf die Düsseldorfer „Kunstsammlung NRW“, die mit Millionen aus dem Landesetat aufgebaut worden sei. Ersehnter Nebeneffekt des Ausstellungs-Projekts: ein 17bändiger Bestandskatalog, also ein umfangreicher Führer durch die Kunstmuseen des Reviers.

In Sachen Katalogisierung liegt derzeit einiges brach. Fast alle Ruhrgebietsmuseen, so Fehr, sind mit ihrer Inventarisierung Mitte der 70er Jahre stehengeblieben. Die Finanzmisere ließ eine Fortschreibung bisher nicht zu. Unterdessen träumt Fehr auch schon von einem Katalog, der alle im Revier lebenden Künstler vorstellt. Der Hagener Museumsmann: „Was Köln kann, sollten wir auch können“.




Duisburg: Weltbekannte Kunst nun öfter „daheim“ – Lehmbruck-Museum gibt Einblicke in Eigenbesitz

Von Bernd Berke

Duisburg. Von nun an sollen endlich auch die Duisburger erfahren, welche Schätze „ihr“ Lehmbruck-Museum birgt. Das Haus, durch Spezialisierung auf Skulpturen und seine Verleihfreudigkeit längst international renommiert, will die durch alle Welt „gereisten“ Sammlungsbestände künftig öfter aus den Magazinen holen, um sie den Einheimischen zu zeigen. Das verspricht Museumsdirektor Christoph Brockhaus. Einige Spitzenwerke der Klassischen Moderne erhalten sogar einen ständigen Ausstellungsplatz.

Vor fast genau 60 Jahren hatte August Hoff, Duisburgs Museumsleiter bis 1933, intensiv mit dem Aufbau der Sammlung begonnen und besonders Lehmbrucks Oeuvre an Duisburg gebunden. Seit 1964 hat man in Duisburg keinen nennenswerten Einblick in die eigene Sammlung gegeben. Jetzt (3. November bis 19. Januar) macht–- als Musterfall für die Zukunft – die Ausstellung „Meisterwerke internationaler Plastik des 20. Jahrhunderts“ diesem Zustand ein Ende. Etwa 180 plastische Arheiten (von 700) können gezeigt werden: eine Parforce-Tour durch nahezu alle „Strategien“ der Dreidimensionalität in diesem Jahrhundert.

Der Blick trifft auf keine Stellwand. Dadurch ergeben sich Durch-Sichten, Kontexte. Zudem erlebt man, vor dem Hintergrund von Zeichnungen und Graphik der jeweiligen Künstler, in den plastischen Arbeiten gleichsam noch einmal die „Geburt der dritten Dimension“.

Berühmte Namen: Von Wihelm Lehmbruck, Ernst Barlach und Käthe Kollwitz über Brancusi, Giacometti, Magritte und Dalí bis hin zu Christo, Tinguely, Daniel Spoerri und Norbert Kricke reicht das Spektrum. Doch ist dies keine Anhäufung nach Maßgabe von Prominenz und Marktwert. Sinnvoll zusammengestellte Werk-Gruppen haben allemal Vorrang vor einer endlosen Namensliste. Dafür nimmt man auch Sprünge in Kauf, die sich wegen fehlender „Bindeglieder“ ergeben.

Am Beginn des Rundgangs: der Schwerpunkt „Expressionismus“. Die „Mutter mit Zwillingen“ von Käthe Kollwitz, der „Zecher“ von Ernst Barlach, eine „Panther“-Figur von Franz Marc. Über den Kubismus (u. a. Henri Laurens), den russischen Konstruktivismus (u. a. Rodtschenko) und den Surrealismus (Dalí, Magritte) gelangt man schließlich zu Beispielen des „Neuen Realismus“ und zu einer jener (wahn)witzigen Maschinen Tinguelys, in deren Gestänge ein Gartenzwerg blitzschnell um die eigene Achse rotiert.

Den Schlußakzent setzen deutsche Arbeiten seit 1945. Besonders herausgestellt: Norbert Krickes klare Linienführungen, abgesetzt vom gleichzeitigen informellen Hauptstrom. Erstmals wird in Duisburg auch der Porträtkopf „Arthur Schopenhauer“ gezeigt, 1922 geschaffen von dem Bernhard Hoetger aus Hörde (heute Dortmund). Das Museum hat die Büste quasi in letzter Minute vor dem Verkauf in die USA retten können.




Das Material ist die Botschaft – Skulpturenausstellung „Bella Figura“ in Duisburg

Von Bernd Berke

Duisburg. Konservative Kunstbeflissene haben sie unablässig gefordert – die Rückkehr zum erkennbar Figürlichen, zum Menschenabbild in den Künsten. Es scheint, daß sie erhört worden sind.

Nach allen Minimal- und sonstigen Experimenten, die allemal auf Abstraktion hinausliefen, entstehen nun wieder körperhafte, allerdings fast immer in irgendeinem Grad deformierte Skulpturen. Die Zeit der flachen Bodenplastiken – schon die Duisburger Ausstellung „dreidimensional“ hat es gezeigt – ist vorerst vorüber.

„Bella Figura“, Präsentation von 12 Bildhauern im Duisburger Lehmbruck-Museum (1. Juli bis 2. September, Katalog 20 DM), verdeutlicht den Trend noch. Der Titel führt in die Irre: Kein einziger italienischer Bildhauer ist vertreten, sondern zehn aus der Bundesrepublik und je einer aus Österreich und den Niederlanden.

In zumeist expressiver Manier erheben sich die Plastiken wieder in die Vertikale. Zugleich treten die verschiedensten Materialien und ihre Behandlung deutlich in den Vordergrund. „Botschaften“ gleich welcher Art sucht man vergebens, allenfalls findet man Privat-Mythologien wie etwa beim diesjährigen deutschen Biennale-Vertreter A. R. Penck, auf dessen rätselhaften Holzskulpturen die magischen Zeichen erscheinen, die er auch in seinen Bildern verwendet.

Penck gehört zu jener Hälfte der Ausstellung, die dem plastischen Werk bereits arrivierter Maler gewidmet ist. Hierzu zählen auch Georg Baselitz‘ grob behauene, mit Farbspuren überzogene Holzköpfe. Von Jörg Immendorff sieht man unter anderem an Totempfähle erinnernde Holzpflöcke mit eingeschnitzten Gesichtern. An einem Pfahl hängt, als schütteres Netz. die schwarzrot-goldene „Fahne“. Markus Lüpertz, weiterer „Star“, fertigt farbübersprühte, verquollene Bronzeköpfe.

Wie die nachfolgende Künstlergeneration die Anregungen der mittlerweile berühmten Vorbilder weiterverfolgt, wird in einigen Beispielen dokumentiert. Zu den Interessantesten Entdeckungen zählt wohl die „Alibi-Frau“ der Ausstellung, die in Schwerte geborene und in Köln arbeitende Rosemarie Trockel, zum Beispiel mit ihren aus Gips und Graphit geformten, hermetischen „Philosophenköpfen“, die kaum noch etwas mit dem Generaltrend „Expressivität“ zu tun haben.

Eine Überraschung auch die Arbeiten von Heinz Kleine-Klopries. Der gebürtige Mülheimer verwendet vornehmlich Pappe, die unter seinen Händen ungeheure Ausdrucksstärke gewinnt. So windet sich etwa eine Pappgestalt, höchst glaubhaft „Streßphänomene“ (Titel) demonstrierend. Die plakastivsten Beiträge sind die Figuren des Holländers Henk Visch mit ihren ausladenden Gebärden und Formen.




Duisburg schickt dreidimensionale Kunst auf Weltreise

Von Bernd Berke

Duisburg. Die Treppe zum Hauptraum hinuntergehend, sieht man die Spitze eines metallischen Geschosses auf sich gerichtet. Das überdimensionale Projektil steckt in einer zersplitterten Holzsäule. Es hätte sonst genau den Betrachter getroffen. Man ist „ganz knapp noch einmal davongekommen“.

Das Objekt stammt vom 1936 in Gelsenkirchen geborenen Wolfgang Liesen, heißt „Umformer Nr. XVII“ und gehört zur gestern im Duisburger Lehmbruck-Museum eröffneten Ausstellung „Dreidimensional – aktuelle Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland“ (bis 23. April).

Die 68 Bildhauerarbeiten und Objekte (flankiert von 120 Zeichnungen derselben 40 Künstler) gehen nach der Duisburger Ausstellung für volle acht Jahre als „Botschafter“ in Sachen Kunst auf Weltreise. Das in Stuttgart ansässige Institut für Auslandsbeziehungen, Zweig des auswärtigen Amtes in Bonn, läßt die Werke dann in fünf Container verpacken und verschiffen. Stationen: Tokio und Städte u. a. in Korea, Indien, Australien sowie Südamerika.

In Anlehnung an den Ausstellungstitel kann festgestellt werden: Die dritte Dimension ist, nachdem besonders in den 60er Jahren horizontale, flache Bodenplastiken dominierten. mit Vorstößen in die Vertikale „wiedererobert“ worden. Das lassen zumindest die in Duisburg gezeigten, von einer Fachjury ausgewählten Objekte vermuten, die einen repräsentativen Querschnitt durch die aktuelle Kunst darstellen sollen.

Eine weitere Akzentverschiebung bei den Arbeiten, die von Künstlern der Jahrgänge zwischen 1920 und 1952 stammen und fast ausnahmslos in den letzten fünf Jahren entstanden, bezieht sich auf die Wahl der Materialien. Industriell vorgefertigte Stoffe und Teile sind eindeutig von naturnäheren, wie zum Beispiel Holz, Stein und Textil zurückgedrängt worden.

Die Gestaltungsformen sind jedoch so verschieden und subjektiv geprägt, daß der Querschnitt ein fast vollständiges Kompendium der Bearbeitungstechniken illustrieren könnte. Beispiele: Franz Bernhard versetzt ein klobiges Konstrukt aus Holz und Eisen in spielerische, scheinbare Bewegung (Titel: „Tänzerisch“); Otto Boll hängt an kaum sichtbaren Fäden einen hauchdünn sich verjüngenden Stahl- und Aluminiumbogen auf, der wie aus einer anderen Welt herniederzuschweben scheint; Timm Ulrichs hat „Schlemihls Stuhl“ entworfen – ein irritierendes Spiel mit dem Schatten.




Dichte Schreckmomente der Gewalt – Skulpturen von Agenore Fabbri in Duisburg

Von Bernd Berke

Duisburg. ,,Wir sind die ,Primitiven‘ des Raumzeitalters. Wir müssen noch einmal ganz von vorn beginnen.“ Der so die Umkehr zu den Ursprüngen beschwort, heißt Agenore Fabbri und ist einer der Altmeister der italienischen Bildhauerei.

Seine Werke waren in aller Welt zu sehen, wurden aber hierzulande bisher kaum zur Kenntnis genommen. So kann sich Duisburgs Wilhelm-Lehmbruck-Museum nun rühmen, mit 50 Skulpturen und 23 Zeichnungen die erste umfassende Fabbri-Retrospektive Deutschlands zusammengestellt zu haben.

Zurück zu den Anfängen – diesen Leitspruch verwirklicht Fabbri bereits bei der Wahl seines bevorzugten Materials: ,,Ton – weil er schon von den ersten Menschen verwendet wurde“, begründet der Mann, von dem sich einst sogar Pablo Picasso in der Kunst der Tonverarbeitung beraten ließ. Handfesterer Grund: Bei einer Keramikfabrik in Albisola gab es diesen Werkstoff kostenlos.

Seine Werke seien nicht im herkömmlichen Sinne schön, erklärte der 1911 geborene Bildhauer gestern bei einem Ausstellungsrundgang. Sie stellten einen Protest gegen die von Menschen ausgeübte Gewalt dar. Dazu gehören keine ebenmäßigen Formen, sondern schmerzverzerrte Gesichter. Die meisten der von Fabbri modellierten Figuren tragen deutliche Spuren von Gewalt. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zeigen sie Verletzungen, tiefe Risse und Schnitte in der ,,Haut“. Die Haltung der meist erdfarbenen Leiber: Abwehrstellungen, verzweifelte Demutsgesten, aber auch – und dies könnte man den ,,utopischen“ Aspekt nennen – Aufbäumen und raumgreifende Bewegungen, die die unerträglich beengte Umgebung zu sprengen scheinen. Was in Fabbris Frühzeit eher sinnbildlich in Tiergestalten (Titel z.B. ,,Kriegshund“, ,,Verbrannte Katze“) gebannt ist, verdichtete Schreckmomente der Gewalt, nimmt später in Menschendarstellungen erschütternde Form an.

In den 50er Jahren, auch dafür finden sich Beispiele in Duisburg, experimentierte Fabbri mit Möglichkeiten der Abstraktion, deren Umsetzung in sehr einleuchtender und unmittelbarer Weise auf Wirkliches bezogen ist. Unter dem Eindruck von Hiroshima etwa fertigte Fabbri einen ,,Mondmenschen“ sowie apokalyptische, insektenähnliche Schauerwesen, die an Mutationen in einer atomar verseuchten Umwelt denken lassen.

Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg. Agenore Fabbri: Skulpturen / Graphiken. 16. November 1983 bis 1. Januar 1984. Di 11-20, mi bis so 11 bis 17 Uhr, montags geschlossen.