Die Schulzeit als Geisterbahn – ein paar skizzenhafte Erinnerungen

Vor wenigen Tagen hat unser Gastautor Heinrich Peuckmann an dieser Stelle einige prägende Begegnungen aus seiner Schulzeit skizziert. Lauter kultivierte Lehrer haben sich demnach in Kamen und Unna die Klinke in die Hand gegeben. Das klang – wenigstens im Rückblick – alles sehr zielgerichtet und schicksalhaft vorherbestimmt; ganz so, als hätte es gar nicht anders kommen können, als dass Peuckmann selbst zum Lehrer und Schriftsteller wurde.

Nur als Beispiel fotografiert: ein altehrwürdiges Lehrinstitut - im Osten der Republik. (Foto: Bernd Berke)

Nur als Beispiel fotografiert: eine altehrwürdige Lehrstätte – weit im Osten der Republik; also keineswegs das im Revier liegende Institut, von dem im Text die Rede ist. (Foto: Bernd Berke)

Heinrich Peuckmann hat offenbar großes Glück gehabt. Ich glaube, dass nicht viele aus unserer Generation so gut und günstig über ihre Schuljahre sprechen können. Meistenteils war es doch ein Kreuz mit der Penne. Wir reden hier übrigens vornehmlich von den 60er Jahren. Die Grundschule und ein späteres Gymnasium in Bonn lasse ich mal beiseite, damit es halbwegs übersichtlich bleibt.

Angebliches „Elite-Gymnasium“

In medias res: Unser Institut galt innerhalb Dortmunds als „Elite-Gymnasium“. Zumindest sahen die Herrschaften des Lehrkörpers sich selbst gern so. Das Einzugsgebiet erstreckte sich bis weit in den schon damals „feineren“ Süden der Stadt. Koedukation war leider noch ein Fremdwort, also muss man es so sagen: Da gab’s schon einige Söhnchen aus begüterten Familien.

Mit solch einem gediegenen Hintergrund konnten ich (und etliche andere) nicht dienen. Ich bin im seinerzeit kleinbürgerlichen Kreuzviertel aufgewachsen, das erst sehr viel später schick und studentisch alternativ wurde. Meine Mutter war unter den Eltern der ganzen Klasse die einzige Frau, die arbeiten ging – ein Umstand, über den manche Lehrer die Nasen gerümpft haben. So beschränkt waren die Zeiten.

Wissensvermittlung Nebensache

Bert Brecht war es wohl, der sinngemäß geschrieben hat, Aufgabe eines Lehrers sei nicht so sehr die Wissensvermittlung. Vielmehr müsse sich der Pädagoge vor der Klasse möglichst schrankenlos ausleben, auf dass die Schüler verschiedene Menschentypen bis auf den Grund kennen lernten. In diesem Befund waltet Weisheit, die unter gewandelten Vorzeichen vielleicht heute noch gilt.

Anders als bei Heinrich Peuckmann, saßen bei uns neben- oder hauptberufliche Schriftsteller schon mal gleich gar nicht im Kollegium. Die Deutschlehrer mochten sich daheim in stillen Stunden von Herzen für Schiller, Hölderlin oder Rilke begeistern, wirklich gespürt haben wir derlei Leidenschaft nur in sehr seltenen Momenten. Wenn überhaupt.

Ach, Hubertus…

Eine recht junge Lehrerin, gerade dem Referendariat entronnen, besprach mit uns immerhin auch Lyrik von Enzensberger und Celan oder seinerzeit virulente Romane von Grass und Max Frisch. Damals beileibe keine Selbstverständlichkeit.

Freilich blieb auch sie der rein textimmanenten Interpretation jener Jahre verhaftet. Wenn wir über Klassenarbeiten brüteten, las sie am Pult geradezu demonstrativ die stocksolide und erzkonservative Frankfurter Allgemeine Zeitung, mutmaßlich vor allem Feuilleton-Riemen von Friedrich Sieburg oder Benno von Wiese. Ihr persönlicher Primus war ein Mitschüler mit Adelsnamen, welchen sie geradezu andächtig hauchte. Ach, Hubertus…

Als Geschichtslehrerin ließ sie am liebsten allerlei Jahreszahlen auswendig lernen. Gern hielt sie sich in frühen Epochen auf, weit von der garstigen Zeitgeschichte entfernt.

Käuze und Sonderlinge

Um schöne Nebensachen nur kurz zu streifen: Die Musiklehrer lebten auf ihrem eigenen Stern, sie waren vergleichsweise in Ordnung. Einer versuchte gar kurz, die Beatles zu thematisieren. Doch er drang damit nicht zu uns durch. Auf dem Gebiet mochten wir uns erst recht nicht von der Schule einfangen lassen.

Die beiden Bio-Lehrer waren eher groteske Käuze, irgendwie rührend in ihr Fachgebiet vernarrt. Harmlos also. Aber auch nicht allzu lehrreich. Später kam Chemie hinzu – bei einem veritablen Schleifer. Von Physik wollen wir schweigen und allenfalls andeutungsweise das Bild von der schiefen Ebene bemühen. Der Französischlehrer war eine Witzfigur, von keinerlei subtilem Geist angekränkelt.

Ostpreußische Orte suchen

Andere aber waren schlimmer. Ein froschhafter Fettmops von Mathepauker, der uns aus unerfindlichen Gründen auch in Sport quälen und trimmen durfte, krähte gern mal Sprüche wie „Häää, wer nich Schwimm‘-kann-kann-auch-keine-Mattmattik!“ Tatsächlich hatten die schlechten Schwimmer in Mathe von vornherein schlechtere Karten bei ihm. Erklären konnte er eh nix, nur abfragen und Urteile fällen. Danach suchte uns ein notorischer Säufer heim, der (im Krieg?) seinen Daumen verloren hatte und trotzdem gerade mit den Fingern jener Hand unverdrossen zählen wollte. Das Kichern zu vermeiden, glich einer Herkulesaufgabe.

Doch andere waren schlimmer. In Erdkunde hatten wir zunächst einen üblen Revanchisten, der aus Ostpreußen stammte, uns folglich immer wieder an der Landkarte der Ostgebiete strammstehen und Orte suchen ließ. Wehe, wenn man sie nicht fand… Wie? Ach ja, natürlich hat er uns vorgemacht, wie es im Schützengraben gewesen ist, als es gegen den Iwan ging. Ratatatata.

Mit der Faust ins Gesicht

Doch andere waren noch schlimmer: Der Lateinlehrer, ein Schmierlapp, der sich elend leutselig geben konnte und seinen Lieblingsschülern sogar schon mal zärtlich über den Kopf strich, konnte andererseits brutal mit der Faust zuschlagen – mitten ins Gesicht. Wenn man daran denkt, spürt man heute noch ein knotiges Unwohlsein in der Magengegend – und könnte ihm seinerseits die Fresse polieren. Warum soll ich’s vornehmer sagen? Und der Kerl hat nebenher auch noch katholische Religion gegeben. Ausgerechnet.

Gewaltausübung durch Lehrer war damals bei einigen Gestalten überhaupt an der Tagesordnung, heute müssten sich die Herren dafür hochnotpeinlich verantworten. Selbst ein Kunstlehrer (!) hatte eine üble Methode, uns heftig an den Ohren zu ziehen und selbige schmerzhaft zu zwirbeln. Möge er in Hieronymus Boschs Welten getriezt werden.

„Tack, tack, tack“ – „Werd‘ doch Friseur“

Ins Englische wurden wir gerade mal leidlich eingeführt – von einem drahtigen Schönling, der zu Zeiten der ersten Bond-Filme wie 007 Sean Connery aussah. Drum war auch der Sportunterricht seine eigentliche Domäne. Wollte er, dass wir uns beeilen, hackte er im militärischen Rhythmus mit seinem Schlüsselbund auf den Lehrertisch und rief dazu „Tack-Tack-Tack!“ In der Mittelstufe kam dann ein richtiger Englischlehrer, der über seinen Vorläufer mitleidig lächelte und sein geballtes promoviertes Wissen auf uns losließ. Er nötigte denn doch Respekt (und Furcht) ab, dachte zudem ausgesprochen elitär. Wer schlecht abschnitt, dem riet er unumwunden: „Werd‘ doch Friseur!“

Schäbige Rache der Pubertierenden

Nach all dem war es eigentlich kein Wunder, dass wir uns als Pubertierende für erlittene Unbill gerächt haben – bei den schwachen Figuren. So haben wir einen schwer zuckerkranken Erdkunde-Lehrer, der körperlich nur noch ein bedauernswerter Hänfling auf spindeldürren Beinchen war, bis zur Weißglut gereizt. Für diese feige Infamie schäme ich mich bis heute. Und nicht nur mir geht es so.

Noch immer frage ich mich, worauf eine solche Schullaufbahn (nein: Geisterbahn) eigentlich hinauslaufen sollte. Gewiss, wir haben ein paar Fakten, Formeln und Vokabeln gelernt. Doch von all dem Stoff konnte man später im Beruf ca. 95 Prozent getrost vergessen. „Non scholae, sed vitae discimus“ (Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir) war einer der lächerlichsten Sätze, die uns je untergekommen sind.




Zum Tod des Englischlehrers

Natürlich kündet es vom Nahen des eigenen Todes, wenn immer mehr Menschen sterben, die man gekannt hat. Und wieder ist einer dahin…

Es ist schon fast ein halbes Jahr her. Durch einen Schulfreund habe ich es erst jetzt erfahren.

Er war unser Englischlehrer im Gymnasium, genauer: ab der Mittelstufe. Vorher hatten wir einen, der hauptsächlich Sport gab und Englisch nur nebenher betrieb. Eigentlich ein Witz.

Dieser aber war vergleichsweise ein Geistesriese. Trug einen Doktortitel. Hat nach und nach ein paar Bücher zur Textinterpretation verfasst. Man munkelte gar, dass er von mehreren Universitäten umworben werde. Er aber blieb bis zur Pensionierung an dieser Schule. Ein Heros der Selbstbescheidung?

Relikt schwerer Schulstunden: Die ersten Seiten von Shakespeares "Macbeth" mit Randnotizen. (Foto: Bernd Berke)

Relikt schwerer Schulstunden: Die ersten Seiten von Shakespeares „Macbeth“ mit Randnotizen. (Foto: Bernd Berke)

Wenn mich die Erinnerung nicht trügt, ging zudem die Saga, er habe als Student in einem britischen Bergwerk geschuftet, um sich über Wasser zu halten. Niemand hat das je überprüft. Wie denn auch?

Im Unterricht hat er mit einem ausgeklügelten Karteikarten-System gearbeitet, das man penibel nachzuvollziehen hatte, widrigenfalls man sich auf erlesene Psycho-Qualen gefasst machen musste. Er litt unter einem speziellen Ordnungswahn. Alles musste einsortiert und kategorisiert werden. Sonderlich kreativ war er wohl nicht.

Wenn er die Klasse betrat, haben zuweilen schwere Stunden begonnen. Wer Fragen nicht beantworten konnte, musste stehen bleiben, die für diesmal Glücklicheren saßen dann schon. Und grinsten. Oder atmeten leis auf.

Für seine Schärfe haben wir uns an anderen, schwächeren Lehrern schadlos gehalten. Da haben wir uns was getraut. Es waren die Jahre, als Autoritäten ganz allmählich bröckelten und in denen manche von uns mit der Mao-„Bibel“ kokettierten, also mit den Sprüchlein des nächsten Massenmörders.

Alltagstaugliche Sprache haben wir beim besagten Lehrer nicht gelernt, nur hochliterarischen Zergliederungs-Jargon. Über viele, viele Wochen (wenn nicht Monate) hat er uns auf Shakespeares „Macbeth“ getrimmt. Später, an einer anderen Schule, in einer anderen Stadt, habe ich sehr davon profitiert. Zufällig wurde auch dort wieder „Macbeth“ – nun ja – „durchgenommen“. Und ich hatte noch all meine Notizen. Wie ich da unverdient glänzen konnte!

Auch hat er uns allerdings mit einigen wunderschönen Gedichten in englischer Sprache bekannt gemacht. Manche Verse klingen bis heute nach, beispielsweise „In a Station of the Metro“ von Ezra Pound:

The apparition oft these faces in the crowd;
Petals on a wet, black bough.

Er hat solche Zeilen mit uns interpretatorisch beinahe zu Tode geritten. Und doch war er – verglichen mit sonstigen Knallchargen des Schulbetriebs – einer, der Bleibendes vermittelt hat und den man schwerlich vergessen wird.

Der Freund, der mir die Todesnachricht überbrachte, hat sich in einen fortwährenden Hass gegen jenen Lehrer gesteigert. Ein anderer zollt ihm bis heute Respekt. Es gehört zu unserer nostalgischen Folklore, diese Kontroverse immer mal wieder neu zu zelebrieren. Sie wird ewig unentschieden bleiben.




Der Lehrerausflug – ein kleines Drama in mehreren Akten

Es gibt Tage im Leben einer Lehrkraft, da wünscht sie (die auch ein Er sein kann) sich nichts sehnlicher, als einmal einer ganz normalen Berufsgruppe anzugehören, findet unsere Gastautorin Matta Schimanski:

Ach, wäre ich doch Bäckerin geworden – oder meinetwegen Vermessungsingenieurin. Nein, es sind nicht die Schüler, sondern die Lehrkräfte selbst, die hie und da diesen Wunsch entstehen lassen. Zur Erhellung dieser Behauptung möchte ich unseren letzten Kollegiumsausflug schildern; ich finde, geneigte Leserschaft, da müssen Sie jetzt einfach mal durch. Ich musste es auch.

Erst mal eine Prügelei schlichten

Es war an einem Donnerstagmorgen. Für einen Lehrerausflug gibt es selbstverständlich nicht frei; erst die Arbeit, dann das Vergnügen, wie schon weiland mein Opa selig gerne verkündete. Also begann der Schultag wie üblich.

Ist die U-Bahn schon weg? Kommt noch eine nach? (Foto: Bernd Berke)

Ist die U-Bahn schon weg? Kommt noch eine nach? (Foto: Bernd Berke)

Nach vier Stunden Unterricht und der Auflösung einer mittleren Schülerprügelei begaben sich alle Kollegen, die sich zu dieser mehrstündigen Veranstaltung in der Lage fühlten, also 30 an der Zahl, zum …er Bahnhof, um dort die Regionalbahn nach Köln zu besteigen. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt traf das Orga-Team (bestehend aus einer weiteren Lehrerin und mir) der eine oder andere vorwurfsvolle Blick: „Es ist kalt!“ Nun ja, ich gebe zu, das war ein Schwachpunkt in der Planung.

„Die sind ja lauter als ihre Schüler“

Im zweistöckigen Zug teilten wir uns auf in Untensitzer und Obensitzer. Ich gehörte zu Letzteren, bereute meine Wahl aber bald, denn auch die Kollegen mit den besonders gut trainierten Stimmorganen saßen da. Als wir endlich in Köln ausstiegen, war die Erleichterung in den Gesichtern der Mitreisenden nicht zu übersehen, und ich hörte noch, wie eine Dame hinter mir zu ihrer Nebensitzerin sagte: „Die sind ja lauter als ihre Schüler!“ Peinlich, peinlich! Aber wenigstens hatte noch keiner eine Flasche Bier geöffnet (was sich ändern sollte).

Zuerst war eine Führung durch Kölns römische Unterwelt angesagt, die auch ganz gut ablief; nur vereinzelt gab einer den Besserwisser, und die meisten hörten auch zu. Aber danach ging ’s dann richtig los.

Wir hatten nicht verraten, wo es hingehen sollte, was schon im Vorfeld zu Irritationen und Gemecker bis hin zu Boykott-Ankündigungen geführt hatte, denn meine Mitstreiterin und ich sind ganz offensichtlich nicht vertrauenswürdig (wobei mir schleierhaft ist, was die anderen sich so vorgestellt haben).

Eine Frage der Pünktlichkeit

Nach einer halben Stunde „Freizeit“ war nun also Treffen auf der Domplatte und Weiterfahrt zur Überraschung verabredet. Nur, dass die Kollegen nicht kamen. Jedenfalls nicht alle. Die letzten drei – sonst Verfechter absoluter Pünktlichkeit – kamen 10 Minuten zu spät: Sie hatten noch im Café gesessen, mit ausgezeichnetem Blick auf den Treffpunkt und die sich dort im Nieselregen versammelnde Gruppe, die inzwischen wieder völlig durchfroren war. Die U-Bahn Nr. 18, die wir hätten nehmen müssen, war weg. Na ja, die nächste folgte bald, und wir hatten mit ein bisschen „Luft“ geplant, kamen also nur 7 Minuten zu spät zum gebuchten „Dinner in the Dark“.

„Im Dunkeln essen – das mach‘ ich nicht!“

Als wir unter großem Hallo (Jahahaa – die Überraschung!) das Restaurant betraten, schnauzte mich ein Kollege an: „Im Dunkeln essen – das mach‘ ich nicht! Dann fahre ich lieber wieder nach Hause!“ Sprach’s und verließ das Etablissement. Ich rannte gleich hinter ihm her und versicherte ihm, man müsse nicht unbedingt ins Dunkle gehen, man könne auch im hellen Gastraum bleiben. Dann schnell wieder rein und den Wirt gefragt, ob ich da nicht zu viel versprochen hatte. Hatte ich glücklicherweise nicht, also wieder raus und den Kollegen beschworen, doch wieder reinzukommen, was er dann auch tat. Und es fanden sich drei Damen, denen das Ganze ebenfalls nicht geheuer war und die mit ihm im Hellen blieben. Puh!

Handys aus – oder doch nicht?

Das Essen war ganz OK, und alles war so zubereitet, dass man es ohne Schwierigkeiten (jedenfalls ohne größere) auch ohne zu sehen zu sich nehmen konnte, also – wir haben nur geringfügig herumgesaut. Glauben wir zumindest. Es war tatsächlich stockdunkel, absolut schwarz. Der Kellner („Arthur“), der wohl blind ist, bediente uns souverän. Wer aufs Klo musste oder zu trinken nachbestellen wollte, musste ihn immer rufen, alleine aufstehen war tabu. Hätte man auch gar nicht gewollt, man wäre ja völlig orientierungslos gewesen.

Handys mussten aus sein, auch wegen der Display-Beleuchtung, wie in der Schule – und wie dort hielten sich nicht alle dran. Es ist erstaunlich, dass vor allem die Kollegen, die bei Schülern vehement auf unbedingte Einhaltung der Regeln pochen, das selbst nicht schaffen. Aber das war nur einmal ganz kurz. Ehrlich!

Die Witze, die der Kellner schon kennt

Jedenfalls war Arthur beinahe freundlich, und das Menü – man hatte die Wahl zwischen Rind, Geflügel, Fisch oder vegan – war beinahe heiß. Und nur eine Kollegin hatte ein Problem damit, sich etwas in den Mund zu stecken, das sie nicht sah. Alle anderen hatten Spaß und machten die üblichen Witze, über die Arthur schon lange nicht mehr lachen kann.

Als wir nach dem Essen auf die Straße kamen, regnete es richtig. Egal – die Bahn war ja nicht weit weg. Nur: Sie kam nicht. Wir standen im Regen, es wehte ein wilder Wind, man fror. Die Bahn kam immer noch nicht. Einer huschte schnell über die Straße zur Bude an der Ecke und holte ein paar Flaschen Bier – Fortsetzung des im Restaurant begonnenen Gelages.

„Wo gehen wir hin?“ – „Weiß nicht“

Auf einer Anzeigentafel erschien die Nachricht, dass die Strecke durch ein Auto auf den Gleisen blockiert sei und man auf Ersatzbahn oder -bus umsteigen solle. Man konnte in der Ferne auch das Blaulicht sehen. Also zogen wir durch den Regen über die große Kreuzung zum Bus, ach nee, lieber zu der anderen Bahn, ach nee – ja, wo sind die denn jetzt? Die einen waren hierhin, die anderen dorthin geeilt. „Wo gehen wir denn hin?“ „Weiß nicht.“ „Wer kennt sich denn aus?“ „Weiß nicht.“ „Wer hat denn gesagt …?“ „Weiß nicht.“ „Schluss – wir steigen jetzt hier in diese Ersatzbahn, hol‘ mal die anderen, die sind da an der Bushaltestelle.“ „OK.“

Schließlich saßen alle in der Ersatzbahn, allein sie fuhr nicht. Nach 10 Minuten hieß es: „Die 18 fährt wieder, steht auf der Tafel.“ Gut, alle wieder raus, rüber zur 18, die tatsächlich fuhr – uns vor der Nase weg! Wir waren nass, wir froren. „Na, dann nehmen wir eben die nächste.“ Aber sie kam nicht. Erneut blinkte in der Ferne ein Blaulicht. Nun wollten sich vier ausklinken, ein Taxi nehmen und auf eigene Faust zurückfahren; der Nicht-im-Dunkeln-essen-Woller war natürlich darunter. Da sie keine fünfte Person für ihr Gruppenticket fanden, blieben sie doch bei uns, mehr als missmutig.

Nur noch hysterisches Gelächter

„So, jetzt gehen wir zum Bus!“ Gesagt, getan, nur dass der Bus gerade abfuhr, als wir über die Kreuzung trabten. „Dann nehmen wir jetzt doch die Ersatzbahn, die steht ja noch da!“ Neues Bier an neuer Bude beschafft, dann zurückgeeilt, Leib und Leben beim Überqueren der belebten Straße riskiert, nur um die Ersatzbahn gerade abfahren zu sehen. Wir waren nass, wir froren, wir wollten ZURÜCK ZUM HAUPTBAHNHOF! Unser einziger Trost war, dass die SchönerTagTickets (!) bis 3 Uhr morgens des Folgetages gelten … Inzwischen hatten wir das Stadium erreicht, in dem man nur noch hysterisch über alles lacht. Wir müssen einen etwas befremdlichen Eindruck gemacht haben.

Irgendwo – irgendwie – irgendwann

Zu guter Letzt sind wir einfach in irgendeine Bahn gestiegen in der Hoffnung, sie werde schon irgendwohin fahren, und irgendwie würden wir irgendwann den Hauptbahnhof erreichen. Und so war es dann auch. Die freundliche Fahrerin erklärte uns, wo wir umsteigen mussten (und neues Bier holen konnten), und kaum waren wir losgefahren, kippte eine der Kolleginnen um. Super! War ja bis dahin ziemlich langweilig gewesen.

P.S.: Natürlich kamen wir am Ende mehr oder weniger wohlbehalten zurück nach …, zwei Stunden später als geplant, aber ohne größere Blessuren, und der wackeligen Kollegin ging ’s auch wieder besser.

Etliche waren ja sehr zufrieden mit der Veranstaltung, aber andere wieder nicht; einige hatten schon vorher an allem rumgemeckert. Wir fahren zu früh, wir fahren zu spät, wir fahren zu lang, wir fahren zu teuer, wir fahren ins Unbekannte (wie bedrohlich!) – ein bunter Strauß an qualifizierten Kritikäußerungen, ein Feuerwerk der guten Laune! Der nächste Lehrerausflug, das schwöre ich, wird von anderen organisiert!




Schuljahre mit Schweinepünktchen

Es ist schon ein paar Tage her, wir müssen etwa elf Jahre alt gewesen sein. Sextaner oder Quintaner, wie das damals hieß. Unser ziemlich langer Schulweg führte am altehrwürdigen Dortmunder Stadion Rote Erde („Kampfbahn“) vorbei – zum Max-Planck-Gymnasium an der Ardeystraße.

Auf den Rückwegen ins Kreuzviertel gab es ein Ritual, das Klaus (mein alter Freund seit Grundschultagen, der Himmel hab’ ihn selig) und ich sehr ernst genommen haben, als wären wir beim Statistischen Bundesamt. Ich rede von dem, was wir liebevoll „Schweinepünktchen“ nannten!

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Ihr fragt, was das denn gewesen sei? Ich will es euch sagen.

Durchaus gewissenhaft

Nicht völlig unparteiisch, jedoch durchaus gewissenhaft führten wir eine Liste der Lehrer, die sich tagsüber bei uns besonders unbeliebt gemacht hatten. Lebhaft debattierten wir über die Punktvergabe und kürten so – bestens begründet, wie wir fanden – das Schwein des Tages, addierten die ermittelten Werte zur Wahl des Schweins der Woche und riefen schließlich feierlich auch ein Schwein des Monats und des Jahres aus. Irgendwie musste man ja den Schulfrust bewältigen.

Ich kann mich natürlich nicht mehr Wort für Wort erinnern. In den besten Momenten müssen es allerdings veritable Rezensionen der aktuellen Lehrerauftritte gewesen sein, Theaterkritiken mithin, insofern auch kleine Vorübungen fürs wahre Leben, vermutlich nachhaltiger als so manche Deutschstunde. Und so mancher Befund hätte vielleicht als Grundlage eines Gutachtens für den Schulrat dienen können. Schon Bert Brecht hat geschrieben, die wahre Aufgabe eines Lehrers sei nicht die Stoffvermittlung, sondern die, sich vor den Schülern auszuleben. Wir haben es erlitten.

Pädagogisches Symposium

Hin und wieder schlossen sich Mitschüler unserer Debatte an, mit denen wir einen Teil des Weges gemeinsam hatten. Dann wurde es geradezu ein Symposium über Aspekte der Pädagogik und Psychologie; unter besonderer Berücksichtigung des Schülerinteresses, versteht sich.

Es war eine Zeit, in der man es noch nicht gewagt hat, einem Lehrer mit offener Kritik entgegenzutreten. Auch standen damals die allermeisten Eltern – ganz anders als heute – im Konfliktfalle prinzipiell auf Seiten der Lehrer. Man musste sich anders behelfen, musste gleichsam sublimieren.

Warum ich mich gerade jetzt daran erinnere? In letzter Zeit habe ich bei diversen Anlässen erwogen, die Schweinepünktchen unverzüglich wieder einzuführen. Derzeit führt unangefochten ein Notar die Liste an, über den ich natürlich keine weiteren Andeutungen machen will. Er möge allerdings schleunigst zur Hölle fahren. Seine vielen Pünktchen darf er mitnehmen.