Warum das 100-Meter-Finale der Männer keinen richtigen Spaß mehr macht

Ach nein, es macht keinen richtigen Spaß mehr. Nicht so wie früher, als man an wirkliche Leistungen, an den Lohn für Talent und Trainingsfleiß geglaubt hat. Ich spreche vom 100-Meter-Finale der Herren, das heute die Leichtathletik-WM in Moskau krönen sollte. Doch vor einem bestenfalls halb ausverkauften Stadion erlebte man eine sehr gedämpfte Show.

Der Jamaikaner Usain Bolt, der den Endlauf in 9,77 Sekunden (bei Regen und Gegenwind) geradezu selbstverständlich gewann, wirkte für seine Verhältnisse sehr zurückgenommen. Seine berühmte, himmelwärts gerichtete Bogenschützen-Geste vollführte er nur noch wie eine Pflichtübung. Auch ihm selbst scheint die einst unbeschwerte Freude abhanden gekommen zu sein.

Eiertanz des ZDF-Kommentators

Für den ZDF-Kommentator Peter Leissl geriet das Ganze zu einem verbalen Eiertanz. Einerseits will man das Ereignis, das man da (für viel Gebührengeld) überträgt, möglichst nicht kleinreden. Andererseits kommt man nicht umhin, über den Doping-Verdacht zu reden, der mittlerweile fast über allen Disziplinen schwebt und die Wettbewerbe schleichend (oder auch rasend) vergiftet.

Der vorher zum Showdown „Einer gegen alle“ hochgejubelte Lauf erwies sich – im Schatten des allgegenwärtigen Verdachts – als ziemlich glanzlos. Ein Merksatz hieß „Bolt gehen die Gegner aus“, denn einige, die ihm bislang nahezu das Wasser reichen konnten, sind in letzter Zeit wegen Dopings disqualifiziert worden. Außerdem gibt es ja neuerdings noch jene Studie, die den Argwohn auch auf frühere Zeiten, andere Sportarten und Recken vieler Nationen ausweitet. Es ist schon niederdrückend.

Ein Rennen, das keiner gewinnen kann

Reporter Peter Leissl etikettierte die Veranstaltung denn auch als „Rennen um Glaubwürdigkeit“, das eigentlich nicht zu gewinnen sei. Wie denn auch? Laufen sie zu langsam, geraten alte Spitzenleistungen unter Verdacht, laufen sie zu schnell, misstraut man ihnen hier und jetzt umso mehr.

Norbert König, der altgediente (und meist servile) Interviewer am Rande der Laufbahn, traute sich erst gar nicht, im gehetzten Kurzdialog mit Bolt das leidige Thema anzusprechen. Denkbar auch, dass Bolt sich solche Fragen vorab verbeten hatte. Sonst wäre er vielleicht nicht zum ZDF-Mann gekommen. Vielleicht ist er ja auch einfach genetisch im Vorteil…

Was darf man noch für bare Münze nehmen?

Früher habe ich schon mal ganze Nachmittage lang Leichtathletik im Fernsehen verfolgt. Doch diese Zeiten sind vorbei. Bei Licht betrachtet, gibt es reichlich Leerlauf zwischen den einzelnen Auftritten, die meist nur mit Zusammenschnitten überbrückt werden. Es mag sein, dass man unduldsamer geworden ist. Vor allem aber weiß man nie, ob man das, was man da sieht, überhaupt noch für bare Münze nehmen kann.

Ach ja, richtig: Der Zehnkämpfer Michael Schrader hat übrigens Silber im Zehnkampf geholt, es war die erste Medaille für den Deutschen Leichtathletik-Verband in Moskau. Also bitte, nun freuen wir uns mal. Ganz verhalten.




Hundert Meter: Bolt usw.

Ich gehöre zu einer Generation, die weiß, wie betulich Leichtathletik-Sportfeste oder Länderkämpfe (gibt’s die überhaupt noch?) früher mal verlaufen sind. Stadionsprecher, so etwa auch in der Dortmunder „Roten Erde“, verkündeten beispielsweise gravitätisch „Programm Seite 29 – 100 Meter-Lauf der Herren…“ Und dann ging alles seinen vergleichsweise gemächlichen Gang.

Naja, immerhin lief Armin Hary damals auch schon 10,0 Sekunden über die Strecke. Jetzt sind die Deutschen gar nicht mehr gut zu Fuß. Sie fahren lieber Formel 1.

Abfotografiertes ZDF-Fernsehbild

Abfotografiertes ZDF-Fernsehbild

Heute schaue ich mir nur noch sehr selten solche Wettkämpfe im Fernsehen an. Das Ganze ist mir längst unheimlich geworden. All diese monströsen Muskelberge, das einstudierte Repertoire der zur Schau gestellten Imponiergesten (fast egal, ob nun lächelnd, locker, cool oder finster), der immerzu schwelende Dopingverdacht…

Eine Ausnahme ist Olympia, da gucke ich bei den Sprintkönigen mal wieder ´rein – gemeinsam mit schätzungsweise 1 Milliarde Menschen auf dem Globus. Die Medien hatten das Finale über 100 Meter seit Wochen zum Duell der Giganten hochgejubelt, zum Duell der Gegensätze stilisiert: Usain Bolt vs. Yohan Blake. Die Kommentatoren des ZDF, das heute an der Reihe ist, nutzen weidlich die Gelegenheit, um Satzfetzen wie „Das haben sie irgendwie im Blut, die Jamaikaner“ vorzubringen. Irgendwie.

Dennoch: Ich kann mich der Faszination nicht gänzlich entziehen. Man ist schließlich Zeitgenosse, wie widerspenstig und unwillig auch immer. Man möchte aber lieber nicht wissen, wie manche der 80 000 im Stadion an ihre Karten gekommen sind – bei angeblich 1 Million Anfragen.

…und dann gewinnt halt doch wieder Usain Bolt in 9,63 Sekunden. Vor Blake (9,75 sec.) und Gatlin (USA – 9,79 sec.).

Wir schalten zurück in die angeschlossenen Funkhäuser.