„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ – Daniela Kriens Roman jetzt endlich auf der größeren Bühne

Das Alte ist in sich zusammengebrochen, das Neue hat noch keine feste Form. In Stein gemeißelte Gewissheiten und Ideologien sind zerbröselt. Wo eben noch alles klar war und die Zukunft rosig schien, herrschen jetzt chaotische Unübersichtlichkeit und nervöse Angst. Manche lecken ihre Wunden, andere wissen nicht, wie es weitergeht.

Maria, die bald 17 wird, die Liebe entdeckt und vor einem kurzen Sommer der Anarchie steht, ist hin und her gerissen zwischen heller Euphorie und dunkler Depression, lautem Aufbruch zu neuen Ufern und schmerzlichem Verlust von Heimat und Herkunft. Ihr Vater hat sich vor Jahren in die Sowjetunion abgesetzt und wird den Kollaps des Kommunismus gut verdauen. Die volkseigene Fabrik ihrer Mutter hat den Fall der Mauer nicht überstanden. Seitdem döst sie im Gartenstuhl vor sich hin und will nur noch weg von hier. Raus aus dem Leipziger Allerlei, wo die Zukunft schon vorbei ist, bevor sie richtig begonnen hat.

Was soll Maria jetzt machen? Weiter zur Schule zu gehen, dazu hat sie keine Lust. Lieber zieht sie zu ihrem Freund Johannes, einem Bauern-Sohn, der noch auf dem Hof der Eltern lebt, aber ständig mit einer Foto-Kamera in der Gegend herum läuft und lieber Künstler werden möchte als Kuhställe auszumisten. Maria mag den sensiblen Johannes. Aber auf dem Hof gegenüber, da haust Henner, ein Eigenbrötler und Außenseiter, notorischer Trinker und begnadeter Büchernarr. Die großen Epen der russischen Dichter kennt er auswendig, natürlich auch Dostojewskijs „Brüder Karamasow“, den Roman, in den Maria gerade eintaucht, um die Irrungen des Lebens, die Verwirrungen der Liebe und ihre von geheimnisvollen Bedürfnissen und dunklen Ahnungen begleitete Selbstfindung in Zeiten der gesellschaftlichen Verwerfungen besser zu verstehen.

„Unbedingt werden wir auferstehen, unbedingt werden wir uns wiedersehen und heiter, freudig einander alles erzählen“, sagt Alexej, der jüngste der Karamasows, zum Schluss. Daran muss Maria oft denken, später, nachdem sie durch einen Tunnel der Ekstase und Erkenntnis getaumelt ist. Dann ist es Zeit für die Wahrheit, denn: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen.“

Als die in Leipzig lebende Daniela Krien mit dem Roman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ 2011 in einem Kleinverlag debütierte, bescherte ihr das einen Achtungserfolg bei der Kritik. Dass die aufwühlende Geschichte der Maria, die im Sommer 1990 vom jungen Mädchen zur erwachsenen Frau wird und (während um sie herum der Staat und alle Gewissheiten zerfallen) existenzielle Erfahrungen macht, zu den wichtigsten literarischen Verarbeitungen der Wendezeit gehört, wurde von den Lesern aber nicht hinreichend gewürdigt

Inzwischen wird die Autorin von einem großen Verlag betreut und ist mit „Die Liebe im Ernstfall“ und „Der Brand“ zur Bestseller-Autorin avanciert. Wenn jetzt der Roman noch einmal neu erscheint, wird ihm das wohl die Aufmerksamkeit bescheren, die er verdient.

Maria kämpft mit ihren widerstreitenden Gefühlen genauso wie mit den Ungereimtheiten der Sprache und den Abgründen ekstatischer Liebe. Die erotischen Experimente, die Maria mit dem doppelt so alten Henner vollführt, gleichen einem sexuellen Schlachtfeld. Das geht bisweilen an die Grenze des Erträglichen. Maria wird den Rausch bis zur bitteren Neige auskosten, den Wahnsinn dann aber abwerfen wie eine alte Haut und endlich bereit sein, sich nicht mehr zu belügen – und uns alles zu erzählen.

Daniela Krien: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen.“ Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2022, 260 S., 25 Euro.




Operetten-Passagen (5): Ausflug ins alte Ägypten – Nico Dostals „Prinzessin Nofretete“ kommt in Leipzig ans Tageslicht

Altägyptische Romantik: Lilli Wünscher als Prinzessin Nofretete. Foto: Ida Zenna

Altägyptische Romantik: Lilli Wünscher als Prinzessin Nofretete. (Foto: Ida Zenna)

Die altertümliche Bahnhofsuhr mahnt zur Eile. Junge Damen und Herren in adrettem Dress händigen Tickets und Reiseunterlagen aus – und los geht’s zu einer fantastischen Reise nach Ägypten. „Am schönen blauen Nil, da gibt es Mädchen viel“ heißt es in der Operette von Nico Dostal, die nun (80 Jahre nach ihrer Kölner Uraufführung) an der Leipziger Musikalischen Komödie wieder ausgegraben wurde. Und das schönste Mädchen ist weltberühmt: Die Büste der Nofretete, heute in Berlin, strahlt bis heute einen magischen Reiz aus. Die Geschichte der rätselhaften Pharaonentochter gab der Operette ihren Namen: „Prinzessin Nofretete“.

Wie kam es dazu? Bloße Lust am Exotischen? Ein Essay von Christian Geltinger im Programmheft klärt auf: Das Thema war 1936 ziemlich aktuell; drei Jahre vorher hatte Hitler durch ein Machtwort den Streit um den Verbleib der archäologischen Kostbarkeit entschieden: Niemals werde er „den Kopf der Königin aufgeben“. Nofretete, erst 1924 erstmals öffentlich zu sehen, war also ein Politikum.

Unklar bleibt nach wie vor, warum Dostals Operette gleich wieder verschwand, nie wieder aufgeführt wurde und lange Zeit als verschollen galt. Denn die Nazis hatten gewaltigen Bedarf an unterhaltsamen Stücken. Die jüdischen Librettisten, Komponisten und Interpreten waren vertrieben, ihre beliebten Werke durften nicht gespielt werden. Ersatz musste her, sollte doch die saubere, anständige deutsche Operette die „entarteten“ Produkte schnell vergessen machen.

Ägyptische Prinzessin fällt in Ungnade

Dostal tat sich offenbar nicht schwer, die neuen Machthaber zu bedienen: Seine „Ungarische Hochzeit“ sollte Emmerich Kálmáns „Gräfin Mariza“ ersetzen, seine „Monika“ anstelle des beliebten „Schwarzwaldmädels“ von Leon Jessel gespielt werden. In Dortmund hatte 1937 „Zauberin Lola“ von Eduard Künneke Premiere, dort wurde sogar die erste „Kraft durch Freude“-Operette des Reiches uraufgeführt – aus der Feder eines gewissen Hugo Lämmerhirt.

Nofretete jedenfalls fiel – aus welchen Gründen auch immer – in Ungnade. An Rudolf Köllers und Nico Dostals Text kann es wohl kaum gelegen haben, denn der Ironiepegel bleibt unter der Wasserkante des Goebbels-Geschmacks. Allenfalls die starken Frauen des Stücks, die sich gegen so autoritäre wie trottelige Vaterfiguren verbünden, passen nicht zur blondierten Unterwürfigkeit der idealen deutschen Frau von damals. Und der Pharao Rhampsinit – den gibt’s in antiken Quellen wirklich, nämlich bei Herodot – ist auch kein schnarrender „Föhrrer“, sondern eher ein politischer Schwächling.

Der Pharao und seine Tochter. Foto: Kirsten Nijhof

Der Pharao und seine Tochter. (Foto: Kirsten Nijhof)

Wie auch immer: In Leipzig haben Franziska Severin als Bearbeiterin und Regisseurin auf der Bühne von Frank Schmutzler eine opulente musikalische Komödie in schwelgerischen Kostümen von Sven Bindseil gestaltet. Sie beginnt mit einem Seitenhieb gegen den Herdentrieb des Massentourismus und findet ihren Höhepunkt in Bildern, die einer Hollywood-Aida entlehnt sein könnten.

Die gewollt absurde Handlung verblendet eine Liebesgeschichte aus dem Ausgräberlager mit einer parallelen Schmonzette aus Altägypten: Während in der „Jetztzeit“ der spleenige Archäologe Lord Callagan und die energische Matrone Quendolin Tottenham mittels Heirat von Tochter Claudia und Neffe Totty „zwei Aktienpakete zusammenlegen“ wollen, soll im Pharaonenreich Nofretete einen arroganten Prinzen Namens Thototpe ehelichen, liebt aber einen unbekannten Sänger, der sich später als kleiner Offizier in einer unbedeutenden Grenzfestung entpuppt.

Der Pharao hat aber noch ein Problem: Ein Dieb sucht nächtens seine Schatzkammer heim, der sich einfach nicht stellen lässt. So wird Nofretete ausersehen, eine Nacht alleine in dem Gewölbe eingesperrt zu werden – als Lockvogel für den Eindringling …

Cakewalk, Marsch und Dramolett

Bis sich die richtigen Liebespaare ganz nach Operettenart sortiert haben, gibt es zwei Akte und ein Zwischenspiel lang jede Menge Verwicklungen und Anlässe für gediegen gearbeitete Musik – vom kessen Cakewalk über sehnsuchtsvoll lyrische Melodie-Ergüsse, vom flotten Marsch bis zum unheimlichen Dramolett, vom spritzigen Duett  über den fidelen Schlager bis zu den melismatischen Schlangenlinien orientalisch durchtränkter Ballettmusik.

Dostal, zweifellos ein Könner seines Fachs, hat der „Prinzessin Nofretete“ zwar keine Melodie mitgegeben, die man auf der Stelle nachpfeifen könnte. Aber aufs zweite Hören funkeln die Einfälle wie Edelsteine im Zwielicht. Die Pharaonenhymne klingt verdächtig nach Reichsparteitag, aber das verpönte Saxophon hat auch seinen Auftritt.

Die Regie nutzt die Vorlage, ohne ihr einen Subtext unterzujubeln oder einen Überbau aufzusetzen: Severin verlässt sich auf die unterhaltsame Story, auf ihre animierten Darsteller und auf gekonnte, nur selten ins Klamaukige abrutschende Übertreibungen. Die drei Stunden im alten Ägypten verfliegen, als habe eine Zauberhand die Uhr vorgedreht.

Man amüsiert sich über absurde Reime („Nofretete, wo hast du deine Kette“) und über grenzwertige Sprüche („Jede Frau ist ohne Mann nur ein Fragment…“), lässt wohliges Schaudern zu, wenn sich das Tonnengewölbe des Zuschauerraums in die Decke der Schatzgruft verwandelt, riesige Käfer, Asseln und Spinnen drüberkrabbeln und sich der Meisterdieb vom Balkon auf die Bühne abseilt.

Charme in Stimme und Spiel

Buhuu ... gleich wird's gruslig: Wer ist der böse Dieb in der Schatzkammer? Foto: Kirsten Nijhof

Buhuu … gleich wird’s gruslig: Wer ist der böse Dieb in der Schatzkammer? (Foto: Kirsten Nijhof)

Die beiden Frauen, die das „Schicksal“ selbst in die Hand nehmen, sind die Archäologentochter Claudia und die Reiseführerin Pollie Miller. Die eine kennt, wie sie in einem wehmütigen Lied bekennt, die Liebe „nur aus Romanen“, setzt sich aber mit weiblichem Witz gegen ihren Vater durch – sei er nun Lord oder Pharao. Lilli Wünscher zeigt dabei viel Charme in Stimme und Spiel. Die andere steht auf den „Goldjungen“ Totty und erfüllt am Ende – zur Reporterin mutiert – die Aufgabe der seriösen Presse, die Wahrheit ans Licht zu bringen: Die Aktien-Vermähler müssen klein beigeben.

Nora Lentner zeigt Spielwitz als halb verzweifelnde Touristen-Bändigerin und energische stimmliche Qualitäten in den buffonesken Duetten mit ihrer früheren College-Liebe Totty. Dem muss mit einem schmissigen Chor („Ran, junger Mann“) erst mal etwas nachgeholfen werden; dann aber zeigt Andreas Rainer, wie der leicht linkische Millionenerbe dem familiären Gespinst seiner Tante allmählich entkommt und zu seinen wirklichen Gefühlen durchbricht.

Romantisch-resignativer veranlagt ist der archäologische Assistent des großmächtigen Professors, der sich im ägyptischen Zwischenspiel in den mittellosen Soldaten Amar verwandelt: Radoslaw Rydlewski, mit arg grellem Tenor, erreicht schließlich dank weiblicher Schlauheit auch sein Glück. Da hilft weder die subversive Energie seiner Tante (untergründig komisch: Angela Mehling) noch die geschichtsklitternden Winkelzüge seines Chefs und künftigen Schwiegervaters (Patrick Rohbeck genau auf der Bruchkante zwischen witzig und gefährlich).

Stefan Klingele versucht, mit dem Orchester der Musikalischen Komödie in der üppig instrumentierten Musik statt überbordender Lautstärke gezähmte Eleganz zu erreichen. Das gelingt anfangs nicht, im Lauf der Vorstellung aber immer überzeugender. Dostals ironische Orientalismen und seine farbenreiche Instrumentierung kommen, wie seine rhythmischen Ideen, immer vergnüglicher zur Geltung. Um bei Dostal zu bleiben: Für drei Stunden schenkt uns die Operetten-Fantasie ein Glück, das uns im Wachen nie gegeben werden könnte.

Vorstellungen am 29. und 30.  April, 6., 16. und 30. Juni, 1. Juli, 9. und 10. September, 25. und 26. November, 30. und 31. Dezember 2017. Karten: (0341) 12 61 261, www.oper-leipzig.de




Wagner-Jahr 2013: „Die Feen“ in Leipzig, Kühnheit eines Zwanzigjährigen

Ob Wagner oder Verdi: In beider Jubilare Fall verlassen sich die Theater im Repertoire auf das Übliche. Die Opern der Anfangszeit kommen selten zum Zuge. Und leider setzt sich diese Linie auch im Jubiläumsjahr 2013 fort. Während sich selbst mittelgroße Häuser wie Cottbus, Darmstadt, Dessau oder Halle auf den „Ring“ stürzen, bleiben Wagners aus dem Bayreuth-Kanon ausgeschlossene Opern am Rand: Ein einziger neuer szenischer „Rienzi“ in Krefeld (Premiere am 9. März), das „Liebesverbot“ in Meiningen und in Radebeul – und „Die Feen“ nur in Wagners Geburtsstadt  Leipzig: Das ist die magere Bilanz des „Wagner-Jahres“ auf deutschen Bühnen.

"Die Geister schreiten hinein ins Leben...": Szene aus Richard Wagners "Die Feen" in Leipzig. Foto: Tom Schulze

„Die Geister schreiten hinein ins Leben…“: Szene aus Richard Wagners „Die Feen“ in Leipzig. Foto: Tom Schulze

Bei Verdi sieht’s noch trüber aus: Niemand bewegt sich über die bis zum Überdruss regielich gebeutelten Traviaten, Rigolettos und Troubadoure hinaus. Würde das Aalto-Theater in Essen nicht Verdis „I Masnadieri“ spielen, würden sich nicht das Theater an der Wien und die Festspiele Sankt Gallen des „Attila“ annehmen: Im deutschsprachigen Raum wäre das Verdi-Jahr ein kompletter Ausfall. Kein „Ernani“, kein Blick auf den kühn-düsteren „Corsaro“, nicht einmal ein „Stiffelio“. Für Opern wie „Jérusalem“ oder  die seit Jahrzehnten nicht mehr inszenierte „La Battaglia di Legnano“ zeigt kein Theater Interesse: Große Häuser bedienen das geschäftige Karussell der Dirigenten- und Regie-Stars und lassen die immer gleichen Stücke „neu befragen“, den kleineren scheint in Sachen Verdi die Intendanten- und Dramaturgen-Fantasie ausgegangen zu sein.

Wenigstens die Leipziger Verantwortlichen haben diese Lücke schon vor Jahren erkannt und – in Kooperation mit Bayreuth – für 2013 weltweit einzigartig die Trias der vor dem „Holländer“ entstandenen Wagner-Opern szenisch ins Programm genommen. Den „Rienzi“ hat die Leipziger Oper seit ihrer Wiedereröffnung 2007 im Repertoire, „Das Liebesverbot“ wird nach seiner Premiere in Bayreuth in der Spielzeit 2013/14 folgen – und jetzt, kurz nach Wagners Todestag, kam „Die Feen“ auf die Bühne.

Das Werk ist Wagners zweite Oper. Die erste, „Die Hochzeit“, vernichtete er nach einem ungünstigen Urteil seiner Schwester, nur eine Introduktion plus Septett blieb durch Zufall erhalten. 1833 geschrieben, wurde die „Große romantische Oper“ erst 1888 in München uraufgeführt. „Die Feen“ blieb trotz damaligen Erfolgs ein Bühnen-Exot – nicht zuletzt wegen der beharrlichen Versuche aus Bayreuth, den „Kanon“ der zehn „gültigen“ Werke zu zementieren.

Pionierarbeit für „Die Feen“ in Wuppertal

Seit Friedrich Meyer-Oertel 1981 in Wuppertal – und 1989 am Gärtnerplatztheater München – die moderne Rezeptionsgeschichte einleitete, gab es nur wenigen Inszenierungen, so 2005 in Würzburg – dem Entstehungsort der „Feen“ – und in Kaiserslautern. Diese erwiesen Wagners erhaltenen Erstling jedoch als erstaunlich lebensfähig: Kurt Josef Schildknecht entmythologisierte in Würzburg die Romantik des Dualismus von Feen- und Menschenwelt und inszenierte das Stück als einen gegen die junge Generation gerichteten Triumph beharrenden patriarchalen Strebens nach Machterhalt. Johannes Reitmeier – jetzt Intendant in Innsbruck – deutete in Kaiserslautern die Hoffmann’sche Seite der „Feen“ negativ, als Scheitern von Wagners Konzept der erlösenden Liebe und der Künstler-Utopien.

Der Bürger und die Fee: Christiane Libor und Arnold Bezuyen. Foto:Kirsten Nijhof

Der Bürger und die Fee: Christiane Libor und Arnold Bezuyen. Foto:Kirsten Nijhof

In Leipzig setzte man mit dem kanadisch-französischen Duo Renaud Doucet (Regie) und André Barbe (Bühne und Kostüme) auf eine Richtung, die weniger dem deutschen Regietheater als einer sinnenfroh dekorativen Opernwelt zuneigt. Die beiden Künstler beschreiben das Ziel ihrer Arbeit denn auch eher harmlos: Sie wollten zeigen, wie die Kraft der Musik die Fantasie anregen kann, heißt es im Programmheft. Schauplatz ist eine gutbürgerliche Altbauwohnung, vielleicht im Nachwende-Leipzig. Eine Familie sitzt beim Nachtmahle. Dann ziehen die jungen Leute los. Auch das Elternpaar trennt sich: Der Mann mit orangefarbener Weste um den Bauch schaltet seine Stereoanlage ein, die Frau packt die Tasche für Sport oder Sauna. Eine Rundfunkübertragung beginnt: Es sind „Die Feen“ aus der Oper Leipzig …

Was dann geschieht, folgt der Beschreibung E.T.A. Hoffmanns in seiner programmatischen Schrift „Der Dichter und der Komponist“  ziemlich genau: „Die Geister schreiten hinein in das Leben und verstricken die Menschen in das wunderbare, geheimnisvolle Verhängnis, das über sie waltet.“ Über der Wohnung öffnet sich das Feenreich: In einem Riesenbaum mag man Wagners Weltesche erkennen, die Kulissen atmen Natur-Idyll, die Feen selbst tragen neckisch-verspielte Biedermeier-Kostüme der Zeit Wagners. Die Welten durchdringen sich; der Bildungsbürger des 21. Jahrhunderts mutiert – die Musik mit der Hand mitdirigierend – allmählich zu Arindal, dem Helden Wagners.

Mittelalter in der Bildwelt des 19. Jahrhunderts

Das ist ein verheißungsvoll erdachter Ansatz, zumal er das „Romantische“ im ursprünglichen Sinne ernst zu nehmen versucht. Er setzt sich auch im Bühnenbild des zweiten Aktes fort, der in die kriegerische Welt eines imaginären Mittelalters führt, in der ein fremder, böser König Arindals Reich bedroht, seine Schwester Lora tapfer die Stellung als starke, sanfte Kriegerin hält (Lässt da nicht Wagners verehrte Schwester Rosalie grüßen?) und der von seiner geliebten Fee Ada getrennte Königssohn in passiver Depression zu kämpfen außerstande ist. Täuschung, Trug und Zauber spielen eine Rolle bis zur finalen Katastrophe.

Szenenbild Zweiter Akt der Leipziger "Feen". Foto: Kirsten Nijhof

Szenenbild Zweiter Akt der Leipziger „Feen“. Foto: Kirsten Nijhof

Barbes Bühne löst jetzt die Wohnung in Bruchstücke auf, die er in bewusst naiv gemalte Kulissen eines Mittelalters in der Bildwelt des 19. Jahrhunderts integriert. Moritz von Schwind lässt grüßen, der byzantinisierende Saal der Wartburg auch, und die Kostüme könnten einer Schulaufführung entstammen, die unbeholfen die Ritterzeit nachstellen will: Bewusst spielt Barbe auf das historisierende Mittelalter des Stücks an, das Wagner ja auch in „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ auf die Bühne holt – und das, nebenbei bemerkt, auch Verdi oft als Camouflage diente.

Doch jetzt sackt die Regie ab: Doucet bewältigt mit einer konventionellen Aufstellung von Solisten und Chor die szenische Herausforderung etwa des groß angelegten Finales nicht. Weder das Wunderbare noch das Überraschende, weder die gespielte Imagination noch die innere Durchdringung der Welten vermitteln sich überzeugend. Und der „coup de théâtre“, bei dem Ada ihre und Arindals Kinder in einen „Feuerschlund“ stößt, ist einfach nur billiges Machwerk, wo er doch als perfekt inszenierte Feen-Gaukelei zwar trugvoll, aber zugleich auch überwältigend erscheinen müsste.

Wagner schwebt ein: Schlussbild der Oper "Die Feen" in Leipzig. Foto: Tom Schulze

Wagner schwebt ein: Schlussbild der Oper „Die Feen“ in Leipzig. Foto: Tom Schulze

Der dritte Akt begnügt sich mit Regie-Effekten von der Dilettanten-Bühne und überzeugt auch szenisch mit einem gemalten Fahrstuhlschacht in die Unterwelt des Feenreiches nicht mehr. Dass am Ende Wagner, von einem Schmetterling gehalten, einschwebt und die Moral der Geschicht‘ verkündet, ist ein gelungen ironisierender Moment. Das bürgerliche Ehepaar sitzt nach Operngenuss und Saunabesuch glücklich vereint auf dem Sofa. Erlösung heißt, im Wagner’schen Klavierauszuge zu blättern. Verwirklicht sich die Liebes-Utopie Wagners in der traulichen Zweisamkeit auf den Kissen? Wagners hochfliegende Ideen, mit leiser Ironie geerdet.

Musik mit Makel

Musikalisch stand es in Leipzig leider nicht zum Besten: Die Bläser verfehlen schon in der Ouvertüre ständig Einsätze, das Gewandhausorchester spannt über die mendelssohnisch lichten Feenmusik-Akkorde keinen blühenden Bogen. Wie schon in „Parsifal“ oder den „Meistersingern“ treibt Ulf Schirmer zu kompakter Lautstärke an. Das macht den Sängern das Leben schwer, verdickt den dichten Orchestersatz unnötig und trivialisiert die Pauken-Bläser-Tuttischläge, die Wagner als Zwanzigjähriger noch etwas zu ausdauernd liebte.

Ulf Schirmer, Generalmusikdirektor der Oper Leipzig seit 2009/10. Foto: Tom Schulze

Ulf Schirmer, Generalmusikdirektor der Oper Leipzig seit 2009/10. Foto: Tom Schulze

Luftiger, leichter und im Tonfall sehrender gespielt, würde die Musik ihre Qualität unbezweifelbarer offenbaren. Denn Wagner beherrscht – manchem in Kritiken vollmundig verkündetem Unfug über die „schlechteste Oper des 19. Jahrhunderts“ zum Trotz – die musikalische Sprache auf der Höhe seiner Zeit, braucht sich vor keinem Kreutzer, keinem Spohr, keinem Schumann zu verstecken, weiß auch sehr wohl, die Vorbilder von Marschners „Vampyr“ bis zu Beethovens heroischem „Fidelio“ oder der Spielopern wie Aubers „Maurer und Schlosser“ für sich zu nutzen. Und einen Zwanzigjährigen, der ein ausgreifendes Finale wie das des zweiten Akts der „Feen“ schreibt, den mag die Musikgeschichte erst einmal suchen!

Für seine Hauptpartien hatte der junge Wagner wohl konkrete Vorbilder im Kopf: Unschwer lässt sich vorstellen, wie er bei den hochgespannten Arien der Fee Ada sein Ideal Wilhelmine Schröder-Devrient vor Augen hatte, die dem Sechzehnjährigen in Leipzig im „Fidelio“ das Schlüsselerlebnis seiner Jugendjahre bescherte. Dass er bei Arindal an seinen Bruder Albert dachte, der seinerzeit in Würzburg von Rossinis Almaviva bis Webers Freischütz-Max, von Masaniello in Aubers „Die Stumme von Portici“ bis Beethovens Florestan alles sang, liegt nahe. Albert soll dem Jung-Komponisten ja prophezeit haben, dass ihn die Sänger für seine Partien verfluchen würden.

Enorme Forderungen an die Sänger

Arnold Bezuyen, dem Leipziger Arindal, mag sich ein solcher Fluch öfter auf die Lippen gedrängt haben, als er sich mit der vertrackt hohen und dramatischen Partie abmühte: beklemmt stemmt er die Töne, sucht die Höhe, verliert das Legato, quetscht die Spitzen. Christiane Libor als Ada muss zwar auch manchmal forcieren und drückt dann die Töne zu hoch, liefert aber insgesamt ein famos stimmlich abgesichertes Rollenporträt der Fee, die um ihre Sterblichkeit – und damit um ihre Menschlichkeit – kämpfen muss.

Mit Viktorija Kaminskaite und Jean Broekhuizen sind die Feen Zemina und Farzana aus dem Leipziger Ensemble ansprechend besetzt. Eun Yee You hat für die Lora eine zu undramatische, in der Konzentration des Tons oft überforderte Stimme. Jennifer Porto und Milcho Borovinov  als Drolla und Gernot liefern sich im zweiten Akt ein köstliches Rededuell, das bedauern lässt, dass Wagner geplante Ausflüge in die deutsche Spieloper nicht realisiert hat.

Detlef Roth singt sich mit gedecktem Bariton durch die Partie des getreuen Morald, Guy Mannheim zeigt, wie sich Wagner in der Rolle des Gunther an den drolligen Figuren eines Heinrich Marschner („Der Templer und die Jüdin“) orientiert hat. Roland Schubert lässt sich nicht verleiten, die kleine Rolle des Harald nicht ernst zu nehmen. Blass und fistelig in der Höhe bleibt Igor Durlovski als Zauberer Groma. Auch im Chor Alessandro Zuppardos klappert es öfter – aber bis zum (konzertanten) Gastspiel der „Feen“ in Bayreuth im Mai 2013 ist ja noch Zeit für einige ergänzende Proben.

Immerhin hat Leipzig wieder einmal gezeigt, was für eine theatralische Kraft in Wagners „Feen“ steckt, wenn sie durch eine sensible Regie geweckt wird. Das Stadttheater Regensburg hat für 2014 eine weitere Neuinszenierung angekündigt; würde das Wagner-Jahr wenigstens ein Signal für eine vertiefte Beschäftigung mit den Jugendopern geben, wäre ein wichtiges Ziel erreicht.




Glaskunst in Leipzig: Fenster des Bottroper Bauhaus-Künstlers Josef Albers rekonstruiert

Leipzig/Bottrop. Er war zweifellos einer der einflussreichsten Bauhaus-Künstler, vor allem, weil er die Ideen dieser Weimarer und später Dessauer Bewegung in den USA verbreitete: Josef Albers, 1888 in Bottrop geboren, unterrichtete nach seiner Emigration 1933 spätere Größen wie John Cage, Robert Rauschenberg, Merce Cunningham oder Richard Serra. In Bottrop erinnert das Josef Albers Museum im Quadrat an den Künstler, der seiner Heimatstadt einen großen Teil seines Nachlasses schenkte. Derzeit ist – nur noch bis 15. Januar – dort die Ausstellung „Gotthard Graubner. Gespräch mit Josef Albers“ zu sehen.

Doch seit Dezember gibt es eines der großen Glaswerke Albers wieder sinnlich zu erleben. Dazu muss man nach Leipzig fahren. 1926 hatte Albers für den damals hochmodernen, expressionistischen Bau des Grassi-Museums Glasfenster entworfen, strenge geometrische Konstruktionen im „Thermometerstil“. Sie waren, so versichert das Grassi-Museum, die größte Flachglasarbeit eines Künstlers der Dessauer Bauhauszeit. Albers war damals bereits ein bekannter Glaskünstler. 1925 als erster Bauhaus-Absolvent zum „Meister“ berufen, hatte er bereits eine Reihe von Fenstern entworfen, daneben auch Möbel und Haushaltsgeräte.

Die Leipziger Fenster fielen dem Krieg zum Opfer und wurden später durch einfaches Fensterglas ersetzt. Doch 1996 entdeckte man im Firmenarchiv der Berliner Glasmalerei-Firma Puhl & Wagner, G. Heinersdorff – erhalten in der Berlinischen Galerie – die 1:1 Kartons und Fotografien der Entwürfe der Fenster wieder. Diese hatte die Entwürfe von Albers 1927 realisiert. Dank des Fundes war es möglich, die Komposition der Scheiben bis ins kleinste Detail nachzuvollziehen.

Die Albers-Fenster bei einbrechender Dunkelheit, vom Mittelhof aus gesehen, 2011
Die Albers-Fenster bei einbrechender Dunkelheit, vom Mittelhof aus gesehen, 2011

Vor allem gelang es auch, die ausgefeilte Technik von Albers präzise zu analysieren. So verwendete er mundgeblasenes Doppelüberfangglas. Es besteht aus einem klaren Trägerglas mit einem opaken weißen Überfang und einem grünlichgelben Farbüberfang. Der doppelte Überfang bewirkt unter anderem, dass bestimmte Partien von innen betrachtet dunkel, von außen gesehen hingegen hell erscheinen. Akzentuiert wird das Glas durch flächig aufgetragenes Schwarzlot und Silbergelb sowie horizontale und lineare Schliffe.

Unter den baugebundenen Projekten von Josef Albers kommt den 18 Fenstern im Haupttreppenhaus des Grassi-Museums eine zentrale Rolle zu, heißt es in der Mitteilung des Hauses. Ermöglicht wurde die Rekonstruktion durch das Engagement der Ostdeutschen Sparkassenstiftung und der Sparkasse Leipzig. Die Ausführung der Fenster lag in der Hand des traditionsreichen Paderborner Glasmalereibetriebes Peters.

Die Mittelgruppe der Fenster in Verbindung mit der Treppenhausarchitektur, 2011, Foto: Uli Kühnle, Halle/Saale
Die Mittelgruppe der Fenster in Verbindung mit der Treppenhausarchitektur, 2011
Fotos: Uli Kühnle, Halle/Saale

Der Besuch im Grassi-Museum lohnt sich jedoch nicht nur wegen der rekonstruierten Albers-Fenster: Das Museum für Angewandte Kunst ist ebenso sehenswert wie die fabelhafte Musikinstrumenten-Sammlung. Und im Museum für Völkerkunde – ebenfalls im Grassi – lässt sich derzeit moderne Malerei aus Haiti bewundern.




Well established? Mäßige Ware beim Spinnereirundgang

Die Zeiten des Undergrounds sind vorbei. Die Leipziger Baumwollspinnerei ist gentrifiziert und im allgemeinen Kunstbetriebseinerlei angelangt. Vergangenes Wochenende bewies der Rundgang am Ort der Verheißungen abseits der Bundeshauptstadt, die mit ihrem Gallery Weekend wieder Rekorde brach, dass in Plagwitz die Luft raus ist.

Nicht, dass es in Berlin besser sei, aber: Langeweile bei Judy Lybke, der am Samstag Nachmittag nicht an der Spree weilte, sondern seiner Heimatstadt den Vorzug gab. Er zentriert sein Angebot um eine Arbeit von Carsten Nicolai, „pionier I“. Die Gallerina am Eingang sagt mit Wimpernaufschlag: „In fünf Minuten geht’s los“, als ob im Zoo die Pinguinfütterung begänne. Hatte aber vorher schon gesehen, dass eine Windmaschine einen weißen Fallschirm blähte. Das bisweilen zappelige Ding solle laut Handzettelprosa „im übertragenen Sinne als Metapher für die unsichere Balance zwischen Ordnung und Entropie“ dienen. Abgesehen davon, dass man sich mal diesen Satz auf der Zunge zergehen lassen sollte (was ist eine Metapher im übertragenen Sinn? Der scheinbare Gegensatz zwischen Ordnung und Entropie!), destillierte sich die Bedeutungslosigkeit jenes Objekts zum Sinnbild der maximal denkbaren Banalität künstlerischer Inkompetenz – dies, um auch mal ein wenig zu schwurbeln.

Matthias Kleindienst offerierte eine Personale von Tilo Baumgärtel. Nun gut, seine Narrationen kennt man ja ebenfalls. Was soll man noch dazu sagen, zu diesen postsurrealen Albdrücken? Wenn nur die Malerei ein wenig schmackhafter wäre. Die flauen Oberflächen wirken ein wenig lieblos in ihrer Machart. Auch der Laden für Nichts hat schon bessere Zeiten erlebt. Kathrin Thieles „Weiße Lügen“. Von ihr habe ich in der Vergangenheit spannendere Bilder gesehen. Das alles kommt gedruckt im Katalog ganz gut, jedoch im Original? Fragwürdig.

Thomas Sommer (maerzgalerie) hingegen weckte, sieht man von den Objektkästen aus der „C“-Serie ab, mit seinen teils apokalyptischen Landschaften gelegentlich das müde Auge. Am meisten beeindruckte noch Hartwig Ebersbach in der Dogenhaus Galerie. Seine „Tötende Madonna“, mit dem Fuß gemalt, ist großartig und sowohl satter Stoff fürs Auge als auch genug Anregung fürs Hirn. Selbst wenn die Hochformate mehr als die Queren überzeugen. Kunterbuntes dann in der Werkschauhalle. 14 internationale Galerien präsentierten Schlaglichter aus ihrem Programm. Lustig: Ein Typ, mit dicker Fototasche bepackt und in Begleitung einer ziemlich schönen Frau, beide im Gespräch mit dem Düsseldorfer Gastgaleristen Michael Cosar, schaut auf sein Handy und skandiert zwischen den Betrachtern plötzlich peinlich laut dreimal „Meister“. Ja, die bewegenden Ereignisse des Tages fanden andernorts statt.

Gut, dass das Wetter so prima war. Draußen eine Bratwurst plus Pils. Danach noch ein Blick in die Halle 14. Und wieder ein Ärgernis. „Changes“ heißt die international hochkarätig besetzte Gruppenschau. Robert Longo, Nina Berman, Harun Farocki und weitere mit Werken über 9/11 und wie das Ereignis den Planeten veränderte. Erstaunlicherweise zu einem Zeitpunkt, als die Ermordung Osama bin Ladens kurz bevor stand. Bermans „Marine Wedding“, ein Schock! Diese Fotografin ist sensationell. Ja, auch Magnum-Altmeister und „Bilderfabrikant“ gemäß Selbstbeschreibung, Thomas Hoepker lohnt. Wenn man aber ein Foto wie „Blick von Williamsburg/Brooklyn auf Lower Manhattan New York 11. September 2001“ aufs Ruffsche Format aufbläht, ist es ein Frevel am Werk. Dieses sensationelle Foto leidet unter der Bürde, aus dem Magazinkontext ins museale Groß verwachsen worden zu sein.

Vor Boesners Künstlerbedarfsladen ein einziger silbergrauer Porsche SUV vom Shuttlesponsor. Sinnbild des Zustands heuer. Security-Personal bewacht mittlerweile die Zufahrt, Rasen dort, wo man vormals noch parken konnte. Die Luft ist raus, Großsammler wurden nicht gesichtet. Aber dennoch gibt es kaum ein Ambiente mit einer derart angenehmen Stimmung. Die Hoffnung verebbt jedenfalls nicht. Denn die Kunst in den Räumen wechselt, der Charme der Spinnerei jedoch bleibt.

http://spinnereigalerien.de

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Ostverlage fühlen sich über den Tisch gezogen – Lamento beherrscht deutsch-deutsche Buchszene

Von Bernd Berke

Frankfurt. Die ehemaligen DDR-Verlage fühlen sich im deutschen Einigungsprozeß mächtig „über den Tisch gezogen“. Hatte die vorige Frankfurter Buchmesse noch mit gewissen Blütenträumen just am Tage der Vereinigung (3. Oktober 1990) begonnen, so mehrten sich jetzt bei einer Diskussion an gleicher Stelle die enttäuschten Stimmen.

Fast alle Privatisierungen ostdeutscher Verlage seien – als Rücküberführungen in West-Besitz – nach dem „Übernahme-Modell“ gelaufen, beklagte Elmar Faber, bis vor wenigen Tagen Geschäftsführer des Aufbau-Verlages (Berlin/Weimar). Der soeben von der Treuhandanstalt bestätigte Aufkäufer des „Aufbau“-Verlages, ein (kunstsinniger und mit Buchmarktexperten zusammenarbeitender) Frankfurter Immobilienmakler, wird Faber vermutlich wieder einstellen.

Die West-Verlage, so etwa Reclam (Stuttgart) bei Reclam (Leipzig), mußten also in den meisten Fällen nur noch zugreifen, wobei besagtes Kooperationsmodell dem Leipziger Part immerhin noch eine gewisse Eigenständigkeit beließ. Insgesamt aber, so der Rostocker Verleger Konrad Reich, habe es seit der Vereinigung eine „grandiose und groteske Wettbewerbsverzerrung zugunsten des Westens“ gegeben. Millionenkredite seien hauptsachlich „an alte Seilschaften geflossen“. Damit seien nur „Zusammenbruchskonzepte“ finanziert worden, echte Chancen zu vernünftigen Weiterführungen im Rahmen der Marktwirtschaft hätten da kaum bestanden.

Zudem, so Stefan Richter, bis vor kurzem beim Leipziger Zweig des Reclam-Verlages, hätten die Verlage aus den alten Bundesländern ostdeutsche Buchhändler mit einer unübersehbaren Flut dort kaum verkäuflicher Titel überschwemmt – offenbar nur, um ihre übervollen Lager zu leeren. Doch auch der Nachholbedarf in Sachen westlicher, Trivialliteratur (Konsalik & Co.), so Stefan Reich, sei im Osten spätestens seit Weihnachten 1990 erschöpft. Nun könnten sich Ost-Verlage mit eigenständigen Programmen wieder besser profilieren. Im Westen allerdings könne man wohl erst auf lange Sicht Verkaufserfolge erzielen.

Empörung sowohl bei dieser Diskussion mit ostdeutschen Verlagsleuten als auch bei der Buchmesse-Pressekonferenz des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) erregte ein anderer, zumindest denkbar unsensibel getimter Vorgang: die staatsanwaltschaftlich angeordnete Durchsuchung des „Aufbau“-Verlages (Berlin) ausgerechnet zum Buchmesse-Auftakt.

Auflagenschwindel zugegeben

Der VS-Vorsitzende Uwe Friesel mochte sich nicht zum Anlaß (Lizenzbetrug) äußern, wohl aber zu Zeitpunkt und Form der Aktion, die mit rund 25 diskret bewaffneten Beamten doch reichlich überzogen gewesen sei. Dem Protest des „Aufbau“-Autorenrates (unterzeichnet u. a. von Christa Wolf und Christoph Hein) schließe sich der VS „vollinhaltlich“ an, man sei „sehr beunruhigt“ über den Vorfall.

Am Abend gab dann allerdings der bisherige Geschäftsführer des Aufbau-Verlages, Elmar Faber, zu, daß bei Lizenzverträgen mit westlichen Verlagen höhere Auflagen verkauft wurden als vereinbart. Solche Praktiken habe es auch in anderen Verlagen gegeben. Faber: „Von Betrug kann in keiner Weise die Rede sein, vielmehr handelte es sich um eine Art von Staatskriminalität.“ Die sogenannten Plus-Auflagen seien vom Staat sanktioniert, die dabei gewonnenen Devisen vom Ministerium für Kultur eingezogen worden. Westlichen Autoren und Verlagen seien Schäden zugefügt worden.

Zum ThemaAusladung iranischer Verlage durch die Buchmesse bekräftigte Uwe Friesel erneut seine Position, diese schade mehr den iranischen Oppositionsautoren als dem Regime, dessen Kulturpolitik sich übrigens jüngst liberalisiert habe. Noch während Friesel seine Ausführungen machte, wurden Flugblätter des bayerischen Landesverbandes und der Übersetzer-Sparte im VS verteilt, die die Nichtteilnähme Irans für richtig befanden, solange der Mordbefehl gegen Salman Rushdie nicht widerrufen sei.

Szenenwechsel: Von einem „geordneten Nebeneinander“ der Frankfurter and der Leipziger Buchmesse war in Frankfurt bei einer gemeinsamen Pressekonferenz beider Messeleitungen die Rede. Auf gut Deutsch bedeutet diese Formel, daß Frankfurt die Weltmesse bleiben will und Leipzig sich mit Frankfurter Hilfe (sprich: Börsenverein des Buchhandels) Nischen zu suchen hat.




Der „Tangospieler“ hat Heimweh nach der Zelle – Christoph Hein schildert groteske Zustände in Leipzig

Von Bernd Berke

Dallow hat so gut wie nichts angestellt, trotzdem ist er für zwei Jahre ins Gefängnis gekommen. Sein „Verbrechen“ wird in diesem Roman denn auch gar nicht großartig benannt, sondern erst spät und eher beiläufig erwähnt: Bei einem mäßig kritischen Studentenkabarett hat er an einem einzigen Abend als Ersatz-Pianist Tango gespielt. Die falschen Leute haben zugehört.

Wir sind in Leipzig, die Geschichte spielt im Jahr 1968. Der „Prager Frühling“ und sein Ende unter tätiger Beihilfe von DDR-Truppen grundieren die Handlung mit einer Atmosphäre zwischen Hoffen, Bangen und Resignation. Die Stadt Leipzig und das Leben dort erscheinen in illusionslosen Schilderungen als gesichts- und beziehungslos, leer, mitunter verroht.

In knapper, präziser Sprache, spannend zu lesen, schildert DDR-Autor Christoph Hein die Situation Dallows nach der Entlassung aus dem Gefängnis. Dallow, 36 Jahre alt und ohnehin vor der vielbeschworenen Krise in der Lebensmitte stehend, hatte durch das Gerichtsurteil seine Dozentenstelle als Historiker an der Uni verloren.

Ohne Halt und Ziel irrt er nun herum, hat allzu viel Zeit nachzudenken, läßt sich treiben. Mehrfach lehnt er ein durchsichtiges „Job-Angebot“ des hartnäckigen Staatssicherheitsdienstes ab. Eltern, ehemalige Freunde und Bekannte kommen ihm fremd vor, er fühlt sich wie aus der Zeit gefallen. Irgendwann, nach einigen nichtigen Abenteuern in Bars und Betten, stellt er entsetzt fest, daß er eigentlich längst „Heimweh nach der Zelle“ hat und unfähig zur Freiheit ist. Einer, dem einfach nicht mehr zu helfen ist? Oder einer, der sich an der Welt wieder reiben will, aber überall abgleitet?

Die Wirklichkeit gleicht einem schlechten Witz: Ebenso lachhaft wie zuvor der Grund für Dallows Verhaftung, sind schließlich die Umstände seiner Rehabilitierung. Lachen und Verzweiflung sind am Ende eins – fast wie in den besten Büchern des Exil-Tschechen Milan Kundera. denen Christoph Heins Roman durchaus ebenbürtig ist.

Christoph Hein: „Der Tangospieler“. Luchterhand-Verlag. 217 S., 29,80 DM.