Operetten-Passagen (11): Jacques Offenbachs „Pariser Leben“ – goldener Flitter in der grauen Nässe von Hagen

"Pariser Leben" von heute: Richard van Gemert (Gardefeu), Veronika Haller (Christine von Gindremarck), Boris Leisenheimer (Clochard). Foto: Klaus Lefebvre.

„Pariser Leben“ von heute: Richard van Gemert (Gardefeu), Veronika Haller (Christine von Gindremarck), Boris Leisenheimer (Clochard). (Foto: Klaus Lefebvre)

Zu ihrer Zeit waren Jacques Offenbachs Operetten topaktuell – und deswegen klappt es mit der Modernisierung meistens nicht. Zwischen laschem Historismus und bemühter Zeitgenossenschaft führt eine tückische Straße geradewegs in Belanglosigkeit, glitschig glatt gepflastert mit schalen Humor-Versuchen.

Offenbach zu inszenieren gehört in die Königsklasse, und an Figuren wie die Großherzogin von Gerolstein mit ihrer Entourage oder König Bobèche in den Gedärmen seiner Macht scheitern Regisseure unter Umständen erbärmlicher als an Parsifal oder Elektra. In Hagen ist nun unter der Hand von Holger Potocki einer der geglückteren Offenbach-Abende zu erleben.

Das Glück mag darin liegen, dass Potocki jede Form von Historismus meidet und das damals aktuelle, heute historisch-nostalgisch verklärte Paris nur als sanft ironisches Zitat zulässt. Sein Zugriff auf „Pariser Leben“ meint die französische Metropole heute, mit ihren Banlieus, ihren betongesättigten Schnellstraßengürteln, ihren Elendsquartieren und dem Innenarchitekten-Chic ihrer Luxusappartements, mit ihren Menschen aus aller Herren Länder, ihrem Mix von Religionen und dem Kampf ums tägliche Bestehen in der „bevölkerten Wüste“, wie Verdis Violetta die Stadt beschreibt. Und mit ihren Touristen, 34 Millionen pro Jahr sollen es sein, die ihre Erwartungen auf die „Stadt der Liebe“ oder die Kulturschätze zwischen Louvre und Quartier Latin projizieren.

Entlassen ins Leben von heute

Die Gondremarcks sind zwei davon – und sie werden im flotten Tempo der Eröffnungsszene gleich ins volle Pariser Leben von heute entlassen: Aus einem Taxi, das schnell das Weite sucht, retten sie nur sich selbst. Das Handy wird von einem Straßenjungen geklaut, die Handtasche mit Geld und Papieren verschwindet schon im Wagen. Da wird erst einmal auf Schwedisch gestritten, aber die Gäste aus dem Norden haben kaum eine andere Chance, als das Angebot eines vom fast food übergewichtig gewordenen Jungen anzunehmen: eine Nacht im „zufällig“ noch freien Airbnb-Zimmer. Und es zeigt sich: Vom Taxi bis zum Handyklau war alles von diesem Raoul de Gardefeu geplant …

Nur noch ein Traum: Das schwedische Touristenpaar am Bahnhof. Foto: Klaus Lefebvre

Nur noch ein nostalgischer Traum: Das schwedische Touristenpaar am Bahnhof. (Foto: Klaus Lefebvre)

Potocki aktualisiert, ohne die Rollen schrill zu überzeichnen oder ihnen Gewalt anzutun. Er schärft nur die Züge, die Offenbach und seine Librettisten Henry Meilhac und Ludovic Halévy vorgezeichnet haben und übersetzt sie – wie viele Teile des Dialogs – ins Heute. Dazu lässt er ein Panoptikum von Frankreich-Klischeefiguren kreisen, von Rokokokokotten über Karl Lagerfeld bis hin zu Obelix mit Hinkelstein, ausgestattet mit überbordender, manchmal grotesker Kostümpracht. Das mondäne 19. Jahrhundert, präsent in der vor dem vierten Akt eingeschobenen Bahnhofs-Szene des Beginns, ist im stimmungsvollen Bühnen-Setting von Lena Brexendorff nur noch ein Paris-Traum der schlafenden Baronin.

Auch ein Clochard hat sein Auftritts-Couplet unter einem Van-Gogh-Sternenhimmel – und er wird am Ende eine rührend-belehrende Rede halten, während sich zu „Oui, voilá, das ist das Pariser Leben“ noch einmal alles in den Dreh des Cancans stürzt – der Jude, der Muslim und der Christ inklusive. Jetzt erlebt das schwedische Paar im Tanz auf der Straße das „echte“ Paris mit den „echten“ Menschen. Es bräuchte diese Botschaft nicht, aber Potocki integriert sie so unaufdringlich in seine unterhaltsam und humorvoll erzählende Regie, dass sie die Illusion der Operette nicht im Lehrstückhaften verfestigt.

Kein „lustiges“ Aufdrehen

Offenbach ist also in diesem verheißungsvollen Präludium zu seinem Jubiläums-Jahr 2019 glücklich im Paris von heute angekommen – und das Hagener Publikum hätte allen Grund, die leeren Plätze im Zuschauerraum zu besetzen und sich zu unterhalten. Das gewandt spielende Ensemble trägt seinen Teil zum Amüsement bei, weil Potocki vermeidet, die Figuren „lustig“ aufdrehen zu lassen. Das Lachen will nicht mit Gags erzeugt werden, sondern ergibt sich aus dem wissenden Erleben alltäglicher Absurdität. Und wo der Unsinn seinen Triumph auskostet, auf der inszenierten „Pariser“ Party im Etablissement der Madame Quimper-Karadec, lässt Potocki seine Darsteller auch richtig aufdrehen.

Veronika Haller glänzt vor allem in den ariosen musikalischen Momenten; der Konversationston á la Hortense Schneider – der Star der Uraufführung – ist ihre Sache weniger. Aber die innere Entwicklung der Baronin Gondremarck von der kulturbeflissenen Touristin hinein in die frivolen Untiefen der „vie parisienne“ zeichnet Haller charmant nach. Ihren Gatten, den Baron, verkörpert Kenneth Mattice sehr glaubwürdig – ob er als lüsterner Nordmann arglos auf die raffinierten Fallen des amourösen Geschäfts hereinfällt oder als schwerblütiger Schwede mit dem Tempo des Pariser Liebeslebens nicht mithalten kann. Dafür sorgen mit viel Sex-Appeal Elizabeth Pilon – dünn an Figur wie an Stimme – als anziehende Pauline und Kristine Larissa Funkhauser als selbstbewusste, saftig auftretende Metella, die ihrem Ruf als „leichtes Mädchen“ eine ganz andere Realität entgegensetzt.

Korsage aus gelbem Absperrband

Marilyn Bennett als Madame Quimper-Karadec glänzt nicht nur mit dem eingeschobenen „Midnight in Paris“ – dafür muss man auf das irre komische Offenbach-Ensemble von der aufgeplatzten Naht verzichten –, sondern spielt als schriller Vamp aus der Szene in einer Korsage aus gelbem Absperrband Dominanz und Körperreiz aus, begleitet von „Gonzo“ (Thorsten Pröhln), einem devoten Leder-Subjekt an der Kette. Richard van Gemert adaptiert die jugendliche Rolle des Gardefeu mit Bravour: ein kleiner Gauner mit menschlichen Zügen, Humor und erst finanziellem, dann schwärmerisch-unbeholfen amourösem Interesse an der blonden Frau aus Schweden.

Stephan Boving ist sein ungeschickter Partner Bobinet, der bei der Organisation der Party auf die Idee kommt, den Event auf Facebook zu posten. Boris Leisenheimer hat als Clochard die Rolle des millionenschweren Brasilianers in einen weise-abgeklärten Clochard zu verwandeln, was ihm mit leicht komisch schillernder Würde auch gelingt. Das Orchester unter Andreas Vogelsberger erinnert zunächst daran, dass wir uns in Westfalen, nicht an der Place Pigalle befinden: die Töne sind nicht spitz artikuliert, der Rhythmus federt schwerfällig. Aber die Balance stimmt, und im Lauf des Abends gewinnen die Tanzformate und die kurznotigen melodischen Burlesken Elan und Energie. Da überzieht der Schimmer goldenen Flitters selbst die graue Nässe von Hagen.

Weitere Aufführungen: 27., 31. Dezember 2018 – 19., 26. Januar; 24. Februar, 23. März, 26. April, 5. und 12. Mai 2019.

Info: http://www.theaterhagen.de/veranstaltung/pariser-leben-1122/5944/show/Play/




Versöhnung im Sterben: Charles Gounods „Faust“ gelingt am Theater Hagen

Rolf A. Scheider (Méphistophéles) und Marylin Bennett (Marthe). Foto: Klaus Lefebvre

Rolf A. Scheider (Méphistophéles) und Marylin Bennett (Marthe). Foto: Klaus Lefebvre

Charles Gounods „Faust“ stand lange unter Kitschverdacht, vor allem bei literarische Gebildeten in Deutschland: Die Konzentration des komplexen „Faust“-Stoffes auf die Liebestragödie, die Abkunft von einem französischen Boulevard-Stück, der Transfer der musikalischen Diktion aus der „Großen Oper“ und die Spuren der tragischen Frauen Donizettis – all das rückte Gounods Werk in abschätziges Zwielicht, ausgedrückt auch durch den lange gebräuchlichen deutschen Titel „Margarethe“.

Seit einer Generation hat sich die Rezeption gründlich verändert, „Faust“ wird nicht mehr länger unsinnigerweise an Goethe gemessen, Gounods Musik unvoreingenommen betrachtet und geschätzt. Dafür haben die Regisseure erhebliche Probleme mit den religiösen Bezügen in der Oper des überzeugten Katholiken Gounod. Der Erlösungsschluss als befremdendes Element will nicht zu „aufgeklärten“; transzendenzfreien Deutungsversuchen passen und geht so regelmäßig schief, wird denunziert oder entwertet.

Dabei wird übersehen, wie entscheidend dieses Finale für die Konzeption der Gounod’schen Oper ist. Mephistopheles ist eben ein prinzipieller Gegenspieler des Lebens, kein Spaßmacher und auch kein bloßer Gangster. Und die „Liebestragödie“ wird, spielt man Gounods Oper komplett, zur Apotheose einer Frau, die ihre Selbstbestimmung und ihre Wahrheit auch gegen gesellschaftliche Ächtung und existenzielle Vernichtung behauptet: Sie alleine erkennt im letzten Terzett im Gefängnis – kurz vor der Hinrichtung – den wahren Charakter des Dämons, der selbst Faust in seiner ganzen Tragweite nicht aufgeht.

In Hagen hat die unspektakuläre, sorgfältige Inszenierung von Holger Potocki diese Interpretations-Leerstellen gefüllt. Potocki will das Transzendente nicht eliminieren, geht unbefangen mit christlich-religiösen Symbolen um, macht aber aus „Faust“ weder eine Predigt noch ein Moralstück. Sein „Faust“ ist die Geschichte einer Selbsterkenntnis im Moment des Todes. Das Drama einer Versöhnung eines alten Mannes mit sich selbst.

Sie beginnt in einem Krankenzimmer: Lena Brexendorff schafft einen beziehungsreichen Raum: Der alte Faust (Klaus Klinkmann) liegt, verkabelt und verschlaucht, im Bett. An der Wand ein Kreuz, im Vordergrund das Bild einer idyllischen Landschaft: die geistigen Koordinaten des Stücks, Christentum und Romantik. „Rien“ – das erste Wort Faustens, das „Nichts“, das ihn in diesem Moment erfüllt, kommt aus der Seitenbühne – ein Gedanke, in den sehnsuchtsvollen Klang des Tenors Paul O’Neill gekleidet.

Gounod schreibt kein Stück über die Last des Alters und die Freuden der Jugend, sondern eines über die Qual des Nihilismus angesichts des nahenden Todes. Das gibt dem „Gerettet“ am Ende eine gewichtige Wendung: Nicht nur Marguerite ist aus den Fängen des Bösen gerettet; auch Faust kann ruhig und versöhnt entschlafen. Ostern ereignet sich für Faust im Moment seines Todes.

Zunächst sucht der Todkranke jedoch eine andere Lösung: „Salut, dernière matin“ – der Gruß an den letzten Morgen – signalisiert die Entscheidung zur Selbsttötung. Er reißt sich die Schläuche aus. Die Krankensalbung, von einem Bischof gespendet, verstärkt nur die Zweifel: „Dieser Gott, was soll er mir?“. Mephisto schält sich aus dem Priester, ganz in Rot: die pervertierte Seite der Transzendenz.

Brexendorffs Bühne lässt nicht vergessen, dass der Traum Fausts anhält: Das Bett bleibt präsent, als übergroßes Gestell im Hintergrund, als Spielfläche, am Ende als Gefängnis Marguerites. Ein Zwischenvorhang, der in den Konturen eines Gehirns die Sicht auf die Bühne zulässt, erinnert vielleicht etwas zu plakativ daran, dass wir in der Gedankenwelt Fausts verharren. Die Videos von Volker Köster zeigen Fausts Mienenspiel in Großaufnahme, blenden bei Mephistos Lied vom Goldenen Kalb Kriegsaufnahmen und Aktienkurse ein. Das Kreuz steht in grünem Licht auf dem Kopf.

Die Begegnung von Faust und Marguerite: ein falscher Traum. Die idyllisch-romantische Landschaft des Gemäldes aus dem Krankenzimmer beherrscht nun die Szene. Der Sternenhimmel zur Juwelen-Arie ist ambivalent; er deutet ultimativen Kitsch und letzte Sehnsuchts-Erfüllung an. In der großen Klage der Marguerite wird dann der leere Bilderrahmen in der Szene schweben: Der romantische Traum ist aus.

Kristine Larissa Funkhauser (Siebel) in Charles Gounods "Faust" in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Kristine Larissa Funkhauser (Siebel) in Charles Gounods „Faust“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Potocki lässt auch in der Zeichnung seiner Figuren beziehungsreiche Sorgfalt walten. Valentin ist der Vertreter des gesellschaftlich etablierten Glaubens: Kenneth Mattice zeichnet ihn als pflichtbewusst, überzeugt und kämpferisch, aber auch unbarmherzig, dogmatisch, unversöhnlich, rechthaberisch und auf sexuelle Reinheit fixiert: Gounod wusste offenbar sehr genau, wie die düsteren Seiten des Katholizismus seiner Zeit ausgesehen haben.

Die rührende Tragödie des kindlich liebenden Siebel (Kristine Larissa Funkhauser) beleuchtet Potocki mit viel Emphase: Weihwasser machen seine Hände vom Zauber Mephistos rein, aber gegen die Juwelen – die „Ableger“ des Goldenen Kalbs – sind seine romantischen Blumen machtlos. Aber diesem sauber gescheitelten Jungen mit der Hornbrille gelingt es, seine begehrende Leidenschaft in liebevolle Freundschaft zu wandeln.

Mephisto, der Herr der Narren (und der Pfaffen) ist von Rolf A. Scheider als eleganter Verführer, aber auch brutaler Macher charakterisiert. Vor der Madonna knickt er schwächelnd ein – aber er kann die Statue auch in seinem Sinn benutzen: Im dämonischen Theater der Kathedralszene ist sie mit blutrotem Sternenkranz und böse funkelnden Rubinaugen die von Mephisto manipulierte Erscheinung einer strafenden transzendenten Macht, die dann – hart an der Grenze zum Kitsch – im Dampf der Hölle versinkt. Scheider lässt keinen Zweifel, dass dem Teufel diese Welt gehört: Der wieder in seine Jugend zurückversetzte Faust steckt in einem Anzug, der an eine Zwangsjacke erinnert. Er hat keine Wahl: Auf dem Weg zur Rettung muss er das Böse in jeder Konsequenz durchdenken.

Das Bett als Gefängnis: Veronika Haller (Marguerite) und Paul O'Neill (Faust). Foto: Klaus Lefebvre

Das Bett als Gefängnis: Veronika Haller (Marguerite) und Paul O’Neill (Faust). Foto: Klaus Lefebvre

Auch musikalisch überwiegen in Hagen die erfreulichen Aspekte: Steffen Müller-Gabriel weckt immer wieder in dem symphonisch ausgebauten Orchestersatz Gounods das Potenzial des Philharmonischen Orchesters, gestaltet dynamische Bögen, trifft die grelle, plakative Melodik der Mephisto-Ständchen, die untergründige Bosheit der Szene in der Kathedrale mit ihren „Dies Irae“-Drohungen, aber auch die schwärmerische Lyrik der vergeblichen Träume einer reinen, zukunftsfrohen Liebe. Nicht vergessen machen kann er, dass sein Orchester oft zu laut und zu vordergründig bleibt. Ein flexiblerer Umgang mit dem Metrum würde etwa der hymnischen Steigerung in der Finalszene Marguerites mehr Leidenschaft gewähren.

Der Chor von Wolfgang Müller-Salow ist diesmal in den wabernden Frauenstimmen richtig schlecht, muss im Finale aus dem Lautsprecher tönen, was den musikalischen Reiz der Szene zerstört, bringt aber die forschen Gesänge der Studenten konzentriert auf den Punkt.

Mit viel Stilempfinden und einer nahezu souveränen Stimme widmet sich Paul O’Neill der Rolle des Faust: Anfangs etwas gequetscht, singt er sich zunehmend frei, kommt in seiner Arie „Salut, demeure“ zu lyrischer Intensität und meistert die Höhe wunderbar vorbereitet und sicher gebildet. Dass er das Diminuendo nicht bruchlos verwirklicht, ändert nichts an einer großartigen Leistung, die man so auch von heute gesuchten Vertretern dieses Faches nicht so ohne weiteres erwarten darf.

Mit Kenneth Mattice hat sich Hagen einen viel versprechenden Bariton aus den USA verpflichtet: Ein attraktiver Valentin mit feuriger Mittellage und nicht ganz sattelfester, aber ungezwungener Höhe. Ein wenig mehr Eleganz in Tonbildung und Legato – und ein überzeugendes musikalisches Rollenporträt ist fertig. Rolf A. Scheider ist als Méphistophéles auch stimmlich ein direkter Sänger, der machtvolle Töne in den Raum schleudert, gut artikuliert, aber die elegante Bosheit, den heuchlerischen Kavalierston, die subtile Grausamkeit Mephistos differenzierter ausdrücken könnte.

Das bewährte Damenterzett im Ensemble des Hagener Theaters kommt auch in diesem „Faust“ zum Einsatz: Veronika Haller ist eine attraktive, die selbstbewussten Seiten der Figur herausarbeitenden Marguerite, aber ihre harte Tongebung, der Mangel an lyrischer Noblesse und Flexibilität stehen ihrem ambitionierten Rollenporträt immer wieder im Wege. Auch Kristina Larissa Funkhauser hat als Siebel stimmlich nicht ihren besten Tag: sie schluckt das Ende von Phrasen und tut sich schwer mit der geforderten Leichtigkeit und Innigkeit. Marylin Bennett hat als Marthe einen kurzen, aber wirkungsvollen Auftritt. Summa summarum hat das Theater Hagen aber wieder einmal mit einer ehrgeizigen Produktion überzeugt.

Infos: www.theater-hagen.de




Heiterkeit und Melancholie: Donizettis „Don Pasquale“ am Theater Hagen

Der Bruch der Zeiten ist überdeutlich: Norina und Ernesto, das sind zwei junge Leute von heute, Jeans, Jacket, hübsches Top. Don Pasquale lebt in einer anderen Welt, im „Damals“: Kniehosen, bestickte Weste, reich ornamentierter Hausmantel. Er sitzt in einem altertümlichen Rollstuhl und starrt in seinen herrschaftlichen Salon, in dem die Möbel mit weißen Tüchern verhängt sind. Ein gelebtes Leben.

Wer so jemanden auf seine alten Tage noch heiraten will, muss sich anpassen. Und so schlüpft Norina am Theater Hagen in eine ausladende Robe: Krinoline drunter, Stoffschichten zwischen bonbonrosa und veilchenlila drüber, Rüschen, Reffungen und Schleifchen. Kurz, eine Fassade, die dem heiratslüsternen Alten signalisieren soll: Hier kommt eine Frau, die in deiner Welt aufgehen wird, die genau in die Ausstattung deines Haushalts passt.

Schein und Wirklichkeit: Norina (Maria Klier) stellt sich Don Pasquale (Rainer Zaun) als schüchterne Klosterschülerin vor. Foto: Stefan Kühle

Schein und Wirklichkeit: Norina (Maria Klier) stellt sich Don Pasquale (Rainer Zaun) als schüchterne Klosterschülerin vor. Foto: Stefan Kühle

Kostümbildnerin Lena Brexendorff – auch für die Bühne zuständig – hat in ihren Kostümen eine der Kernfragen von Donizettis letzter komischen Oper „Don Pasquale“ sichtbar gemacht: die Frage nach Wirklichkeit und Täuschung, aber auch die Selbsttäuschung, die erst möglich macht, dass sich Don Pasquale von der Intrige seines zweifelhaften Freundes Malatesta – der Name meint einen „bösen Kopf“ – irreführen lässt. Und Annette Wolf deutet in ihrer Inszenierung an, dass die sexuellen Gelüste des Titelhelden – von Malatesta mit den bekannten, blauen Pillen angeheizt – nicht unbedingt das erste Motiv seines Treibens sind: Die Einsamkeit des Eröffnungsbildes verweist deutlich tiefer in die Psyche.

Es gab Regisseure, die „Don Pasquale“ konsequent der buffonesken Einkleidung entledigt und das Drama des einsamen, alten, grausam getäuschten Mannes herausgeschält haben. So weit wollten Wolf und Brexendorff nicht gehen: Die Tannenzapfen-Gewichte einer Kuckucksuhr hängen riesig vom Schnürboden herab in die Bühne und erinnern sachte daran, dass Donizettis Oper ihre Wurzeln in der alten „Commedia“ mit ihren mechanisch-schematisch agierenden Figuren hat. Oder eben auch an die verzopfte Puppenstuben-Welt, in der Pasquale nach dem Leben schmachtet – das mit dem Einzug der vermeintlichen, schüchternen Klosterschülerin „Sofronia“ auch einkehrt: Ein prachtvoller Hirsch wird ausgepackt und der Hausherr verlässt mit Schwung den Rollstuhl.

Doch das Verstellungsspiel funktioniert nur teilweise: Die Begegnung zwischen der getarnten Norina und dem leichtgläubigen Don Pasquale gleitet in witzig gemeinten, aber abgestandenen Klamauk ab, statt psychologisch glaubwürdig ausgeformt zu werden. Rainer Zaun ist ein Komödiant alter Schule, der sich auf die abgelebten Tricks des Genres verlässt. Maria Klier als Norina agiert heftig und kann das Blümchen, das hinter klerikalen Mauern aufgewachsen sein soll, nicht recht glaubwürdig machen. Im Publikum lacht kaum jemand: Die ollen Kamellen kommen nicht mehr an.

Nach der Pause: Das Drama spitzt sich zu

Nach der Pause spitzt Annette Wolf das Drama dann doch noch zu: Norina gibt im Leoparden-Outfit das hässliche Selbstbewusstsein einer verzogenen Wohlstandsgöre zu erkennen. Neffe Ernesto hat vorher schon den Eindruck erweckt, das „Hotel Onkel“ ziemlich bequem auszunutzen. Keija Xiong schlurft erst im Morgenmantel herein und zeigt – entsprechend seiner Rolle als schmachtender, aber wenig aktiver Liebhaber – später auch nicht viel mehr Initiative.

Die treibende Rolle besetzt Oleksandr Prytolyuk (ein stimmgewaltig dröhnender Gast aus Darmstadt für den erkrankten Raymond Ayers): ein durchtriebener Geselle, der im bürgerlichen Gewande an Mozarts Don Alfonso aus „Cosí fan tutte“ erinnert. Einer derjenigen, bei denen die Aufklärung alle Werte wegerklärt und an ihrer Stelle nur den handfesten Geldwert hinterlassen hat? Den Eindruck, an der Erfüllung einer wahren Liebe zwischen zwei jungen Menschen interessiert zu sein, weckt er nicht.

"Liebe" in Zeiten der Spielkonsole: Maria Klier (Norina) und Kejia Xiong (Ernesto). Foto: Stefan Kühle

„Liebe“ in Zeiten der Spielkonsole: Maria Klier (Norina) und Kejia Xiong (Ernesto). Foto: Stefan Kühle

Norinas durchtriebenes Spiel mit Pasquales blutleeren Alltagsidealen gipfelt in einem unerhörten Übergriff: Die Ohrfeige, die sie dem Alten verpasst, bricht das Stück endgültig ins Melancholische – eindeutig zu hören in Donizettis sensibler Musik. Für das Ende hat sich Wolf eine Überraschung ausgedacht: Das bezaubernde Liebesduett „Tornami a dir che m’ami“ verbringt das Paar mit gleichgeschalteten Bewegungen jeder für sich mit der Spielekonsole. Am Ende büchst Norina mit Don Pasquale aus: Beide verlassen ihre Lebenswelt, in der eine authentische Beziehung jenseits von Rollen- und Lebensmustern nicht möglich war. So bricht Wolf die Komödie auf, ohne Donizettis Oper ins Tragische zu ziehen: eine originelle Idee.

Auch musikalisch liegen in Hagen Heiterkeit und Melancholie nahe beieinander: Auf David Marlows Dirigat reagiert das Orchester mit wendigen Tempi und transparentem Klang, aber auch mit kantig phrasierten Melodiebögen und gepfefferter Lautstärke. Patzer und Schludrigkeiten folgen auf sensibel aufgebaute Momente in der Balance und der dynamischen Nuancierung: Theateralltag eben. Die souveräne Bühnenerfahrung gibt dem Pasquale Rainer Zauns Autorität; stimmlich zeigt er sich flexibel, wird allerdings vom Orchester immer wieder zugedeckt.

Maria Klier hat die kecken Koloraturen der Norina auf Abruf, der klanglich erfüllte Ton ist ihre Sache weniger. Keija Xiong hat ein ernstes Problem mit der Stütze seiner an sich wohltimbrierten Stimme, was vor allem in der Höhe schmerzlich bewusst wird: sie bleibt dünn und klanglos. Wolfgang Müller-Salow hat den Hagener Chor auf eleganten Klang studiert. Wozu die Choristen den berühmten Dienerchor in einer überflüssigen Großküchen-Szene singen, während sie mit Endlos-Nudeln hantieren, bleibt schleierhaft. Und das Licht ist schlichtweg Pfusch: Der Zuschauer im Parkett muss sich jedes Mal, wenn sich bestimmte Türen öffnen, vor einer grellen Scheinwerfer-Batterie schützen. Auf diese Weise blendend hat Annette Wolf ihr Konzept sicher nicht gemeint.

Die nächsten Vorstellungen: 19. und 28. Dezember 2013; weitere Termine bis März 2014 unter www.theaterhagen.de