Phantasien des Gehirnchirurgen – Leon de Winters Roman „Stadt der Hunde“

Seit einigen Jahren ist es still geworden um Leon de Winter, der einst mit „Hoffmanns Hunger“, „Sokolows Universum“, „Serenade“ und „Zionoco“ die Bestseller-Liste stürmte. Nach einer fast zehnjährigen Pause kommt ein neuer Roman des inzwischen 70jährigen Autors in die Buchläden: „Stadt der Hunde“.

Früher hat de Winter, dessen Familie fast vollständig im Holocaust umkam, einen an Woody Allen erinnernden leichten, witzigen Ton gepflegt, wenn er von den Alpträumen der Überlebenden sprach und sich über antisemitische Dummheiten lustig machte. Seit dem 7. Oktober 2023 ist er schockiert vom offenen Antisemitismus. „Ich glaube“, meint er in einem Interview, „dass das jüdische Leben in Europa bis 2050 der Vergangenheit angehören wird.“

Verschollen auf der Suche nach jüdischen Wurzeln

Jaap Hollander, die Hauptfigur des neuen Romans, ist ein Genie der Gehirnchirurgie. Als Sohn armer jüdischer Eltern aus Amsterdam hat er ich empor gearbeitet zum Star am Mediziner-Himmel. Mit den jüdischen Traditionen kann er nichts anfangen. Als seine Tochter Lea mit 17 nach Israel reist, um sich ihrer jüdischen Wurzeln zu vergewissern, findet er das befremdlich. Die Reise seiner Tochter wird für Jaap zu einem schweren Schicksalsschlag. Denn Lea kehrt von einem Ausflug in die Wüste Negev nicht zurück und bleibt spurlos verschwunden. Das ist zehn Jahr her. Seitdem reist Jaap immer wieder nach Israel, um nach seiner Tochter zu suchen. Dass er dabei sich selbst und sein verdrängtes Judentum neu entdeckt, liegt auf der Hand.

Wenn der Frieden von einer Operation abhängt

Den israelischen Ministerpräsidenten hält Jaap für einen Demagogen und Populisten. Umso überraschter ist er, als ihn der Ministerpräsident bittet, eine riskante Operation durchzuführen, deren Erfolgsaussichten verschwindend gering sind, die aber das Leben einer Patientin retten und der Welt den Frieden bringen könnte. Es geht um die Tochter des saudischen Prinzen, der nicht davor zurückschreckt, seine politischen Feinde umzubringen. Noora, die Tochter des Prinzen, ist vom saudischen Königshaus auserkoren, als erste Frau den Thron zu besteigen, die Gesellschaft zu reformieren und für die Gleichheit von Mann und Frau zu sorgen. Vom Sohn armer Juden aus Amsterdam hängt es also ab, ob das Mädchen überleben und die politische Utopie umgesetzt werden kann. Das klingt kurios, ist aber von Leon de Winter so plausibel ausphantasiert, dass man fast glauben möchte, der Friede in Nahost und der demokratische Wandel in der arabischen Welt könnten mit einem scharfen Seziermesser aus dem Unfrieden der Welt und den verwirrten Köpfen der Menschen regelrecht herausgeschnitten werden.

Alles läuft auf den Alptraum vom 7. Oktober 2023 zu

Als Jaap an der Stelle in der Wüste, an der man Leas Rucksack fand, Gedenksteine niederlegt, nähert sich ihm ein Hund, der ihm auf Schritt und Tritt folgt, mit ihm redet und sagt, er könne ihn zu Lea ins Reich der Toten bringen: Spökenkiekerei, Wahnvorstellung von Jaap, der nach einem Unfall nicht mehr aus seiner Operations-Narkose erwachen mag und seinen Traum mit der Realität verwechselt.

Der wahre Alptraum kommt aber erst noch. Denn der betörend vielschichtig erzählte und verstörend eigenwillige Roman läuft auf ein Datum zu, das in unser Gedächtnis eingebrannt ist: 7. Oktober 2023.

Leon de Winter: „Stadt der Hunde“. Roman. Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer. Diogenes Verlag, Zürich. 268 Seiten, 26 Euro.




Wenn Bin Laden noch leben würde – Leon de Winters Roman „Geronimo“

Dieser Roman könnte Stoff für Verschwörungstheorien liefern: Demnach ist Osama bin Laden nicht am 2. Mai 2011 von Eliteeinheiten der CIA in seinem Unterschlupf im pakistanischen Abbottabad umgebracht worden, sondern bei dieser Geheimdienstoperation ist ein Doppelgänger gestorben.

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In Leon de Winters Roman „Geronimo“ (Codename für die Ergreifung von Bin Laden) lebt der Chef der Terrororganisation Al Kaida weiter, allerdings an einem von Militärs streng abgeschirmten Ort. Die USA und ihre Verbündeten möchten doch noch mehr über den Mann selbst, islamistische Gruppierungen sowie ihre Hintermänner in Erfahrung bringen. Es geht auch um einen geheimnisvollen USB-Stick. Der wiederum soll Informationen enthalten, dass der (scheidende) Präsident Obama in Wirklichkeit Muslim ist und nicht dem Christentum angehört.

Mal abgesehen von der Frage, wie geschickt es sich anlässt, gerade die religiöse Identität Obamas, die Rechtspopulisten immer wieder gern als Zielscheibe nutzen, in den Handlungsverlauf einzubeziehen, wirkt diese Episode auch sehr aufgesetzt und fügt den ohnehin schon zahlreichen und teils auch verwirrenden Handlungssträngen noch einen weiteren hinzu. Zudem lässt Leon de Winter auch vollkommen offen (wenn er denn schon bin Laden überleben lässt), wie es denn dann mit dem einst meistgesuchten Mann der Welt weitergegangen ist.

Der Autor bevorzugt es stattdessen, eine Geschichte zu erzählen, die den Terroristenchef als Menschenfreund erscheinen lässt. Durch Zufall trifft Osama eines Nachts, als er sein Versteckt verlässt und im Schutz der Dunkelheit Eis für seine Geliebten besorgen will, ein Mädchen namens Adana. Ihr haben Taliban (!) Ohren und Hände abgehackt, weil sie westliche Musik gehört hat, genauer gesagt Glenn Goulds Goldberg-Variationen. Die Kompositionen hat die aus Afghanistan stammende Jugendliche kennen und lieben gelernt, nachdem sie der US-Soldat Tom Johnson bei sich aufgenommen hatte. Ihre Eltern waren bei einem Angriff der islamistischen Milizen getötet worden. In die Hände der Terroristen gerät sie, weil die Taliban den US-Stützpunkt von Tom überfallen und sie mitnehmen. Adana schafft es aber, sich zu befreien und gelangt – wie es der Zufall will – nach Abbottabad. Die erste Begegnung mit Osama ist sehr spannungsgeladen, fragt er sich doch, ob er das Mädchen, das ihn trotz Verkleidung zweifellos erkannt hat, töten soll um seiner Sicherheit willen. Aber sie kann seine Sympathie gewinnen und er versteckt sie schließlich in einer Garage, versorgt sie mit Lebensmitteln.

Nachdem nun Bin Laden den Amerikanern ins Netz gegangen ist, beginnt für die junge Afghanin ein neuer und nicht weniger komplizierter Lebensabschnitt, mit dem der Autor die komplexen politischen und religiösen Gegebenheiten im mittleren Asien in den Blickpunkt rückt und zugleich auch auf internationale Verflechtungen eingeht.

Eine christliche Familie würde zwar gern Adana aufnehmen, fürchtet sich aber vor den Reaktionen einer überwiegend muslimischen Gesellschaft. Toms Bemühen, Adana außer Landes zu bringen, ist mit unüberwindbar scheinenden bürokratischen Hürden verbunden. Als er schließlich erfährt, dass sie nochmal Opfer eines Attentates geworden sein könnte, geraten alle Versuche, sein eigenes Lebensschicksal aufzuarbeiten, ins Wanken. Tom hat in Folge des Attentats von Madrid 2004 seine Tochter verloren. Und ihn plagen gegenüber Adana große Schuldgefühle, da er sie nicht ausreichend vor den Taliban hat schützen können.

Leon de Winters Buch lebt von Dynamik und Dramatik. Manchmal scheinen auch die Grenzen von Realität und Fiktion zu verschwimmen. Der Leser steht vor der Herausforderung, die Orientierung nicht zu verlieren.

Leon de Winter: „Geronimo“. Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich. 442 Seiten, 24 Euro.




Die Schwerkraft des Zufalls – Leon de Winters Roman „Malibu“

Von Bernd Berke

Vielleicht folgt das Leben ja nur einer mehr oder weniger glückhaften Physik des Zufalls, einer „Verkettung von Umständen“. Immer wieder taucht diese Wendung in Leon de Winters Roman „Malibu“ auf. Gleich eingangs macht er den Leser mit zwölf „Umständen“ vertraut, die von der Erd(beben)geschichte bis zum dürftigen Sicherheits-Zustand eines Fahrzeugs reichen.

All‘ diese Gegebenheiten verketten sich am 22. Dezember des Jahres 2000 wie Teufelswerk: Joop Koopman, aus den Niederlanden stammender und im Dunstkreis von Hollywood lebender, leidlich erfolgreicher Drehbuchautor, verliert seine soeben 17 Jahre alt gewordene Tochter Mirjam durch einen Motorradunfall. Ein Unglück, das den geschiedenen, allein erziehenden Mann aus der Bahn wirft. Ihn, der sich jetzt am liebsten für immer ins Alleinsein vergraben würde, umschwirrt schon bald ein geisterhafter Figurenreigen. Doch es geht auch um handfeste Interessen.

Leon de Winter (vorheriger Roman: „Leo Kaplan“) ist ein mit reicher Erfindungsgabe gesegneter Erzähler. Er schafft einprägsame Gestalten, über die man auch dann noch nachsinnt, wenn sie irgendwann im Gewölk der Handlung verschwinden. Sie scheinen im Romanverlauf aus dem Nichts zu kommen und wieder ins Nirgendwo zu gehen; ganz wie wir alle. Und sie behalten samt und sonders Geheimnisse bei sich. Womit für bleibende Spannung gesorgt ist.

Da ist beispielsweise der stiernackige, doch empfindsame Mike-Tyson-Typ namens Erroll, der Joop Koopman sozusagen fürsorglich belagert. Er hat die Unfallmaschine gesteuert, nun will er für den Rest seines Lebens nur noch dienstbar Buße tun. Würde Joop es wünschen, wäre Erroll gar zum Sühne-Selbstmord bereit. Oder Joops Jugendfreund aus holländischen Schultagen: Philip arbeitet mittlerweile für den israelischen Staatsschutz und will Joop, dessen jüdische Solidarität er einfordert, als Amateur-Spitzel auf den terrorverdächtigen Halb-Marokkaner Omar ansetzen. Der wurde nach einer Drogenkarriere in Holland zum Islamisten, ist aber erfreut, als er nun in Kalifornien einen anderen Niederländer trifft. Selbst dieser Fanatiker zeigt sympathische Züge. Dabei will er doch offenbar die Golden Gate Bridge sprengen…

Zudem taucht Joops erste Gespielin auf – jene Linda, mit der er es als 16-Jähriger treiben durfte. Nun, 30 Lenze später, rauscht sie mit tibetanischem Guru an, drischt esoterische Sprüche, knüpft die Beziehung zu Joop wieder neu – und hat doch üblen Trug im Sinn.

Joops Trauer, seine (übrigens nicht unerotische) Sehnsucht nach der verlorenen Tochter wird also eingebettet in einen Spionageroman und in eine Tagikomödie fortwährender Doppeldeutigkeiten. Ins vielschichtige Spiel geraten außerdem die schwelende Frage der jüdischen Identität und immer wieder die Kraftlinien des Glaubens in den diversen Religionen; bis hin zur Lehre von der Wiedergeburt.

Joop bliebe am liebsten purer Skeptiker. Doch viele Pfeile deuten hier verlockend auf ein Jenseits. Dort dürfte die Schwerkraft „verketteter Umstände“ nicht mehr gelten.

Leon de Winter: „Malibu“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich. 417 Seiten. 22.90 Eure.

 




„Leo Kaplan“ – ein Romanheld in der erotischen Umlaufbahn

Von Bernd Berke

Leon de Winter kommt rasch zur Sache. Gleich auf den ersten Seiten ertappt er seinen Roman-Titelhelden Leo Kaplan beim Wesentlichen.

Der Enddreißiger, ein Autor in seiner bislang schlimmsten Schreibkrise, kann praktisch keinen lockenden Rockzipfel ungelüftet lassen. In den Worten de Winters: „Sollte er eine Seele haben, dann saß sie bei ihm zwischen den Beinen.“ Diesmal hat’s eine Studentin „erwischt“, die eine Arbeit über sein Werk verfassen will. Alsbald erkundet sie Sinnen und Trachten des Dichters auch auf physischem Terrain.

Im weiteren Verlauf der Handlung werden sich noch etliche Damen einreihen – von der hübschen Stewardess Paula, die Leo Kaplan im Flugzeug kennen lernt, über die diebische Hure in Kairo bis hin zur abgrundtief hässlichen einstigen Mitschülerin Roosje, mit der er es in einer Art „Gnadenakt“ treibt, weil sie doch so einsam geblieben ist. Dabei erfasst den zweifach Geschiedenen selbst die Rührung. Denn letztlich ist er ebenso allein. Dieses Gefühl lässt sich auch mit Sex nicht betäuben.

Die Eine, die Wahre nämlich, mit der er vor fast zwanzig Jahren als Student zusammen gelebt hat, die bekommt er dauerhaft nimmermehr. Dieser Ellen begegnet er nach all der Zeit in Rom wieder. Er ist auf Lesereise, sie mittlerweile Gattin eines treuherzigen niederländischen Diplomaten. Ein einziges Mal gehen Leo und Ellen dort noch miteinander ins Bett, als müssten sie einen Schlusspunkt unter dieses Lebenskapitel setzen.

Unter einer Glasglocke leben

Hals über Kopf hatte Leo sie damals in Amsterdam, in den wilden 60er Jahren, verlassen. Dabei hatten sie einander ergänzt – er als Nachfahre niederländischer Juden, sie als Abkömmling von Nazi-Kollaborateuren. Beide wollten loskommen von ihrer Abstammung, „unter einer Glasglocke“ wollten sie leben und nur der Liebe pflegen.

Aber plötzlich war ihm die „Revolution“ wichtiger gewesen. Zornig hatte Ellen ihm die rabiate Lüge entgegen geschleudert: Sie habe das gemeinsame Baby abgetrieben. Nun, in Rom, schmerzt der definitive Abschied so sehr, dass es Leo offenbar endgültig in eine erotische Umlaufbahn ohne Halt und Wiederkehr katapultiert. Weiblich bevölkerte Einsamkeit, sozusagen.

Für die ständigen Dreiecksverhältnisse drängt sich hier das Bild von drei Trapez-Artisten auf: Mann, Ehefrau und Geliebter in der Manege. Wie sie da schweben, sich fassen und lassen, das ist lebensgefährlich.

Das falsche Gehabe endlich ablegen

Gar nicht verquast kommen derlei Befunde daher, sondern saftig und beherzt zupackend. Der Niederländer Leon de Winter (46), bekannt durch Romane wie „Hoffmanns Hunger“, erzählt mit vielwissender Ironie, mit Bravour und vielfach melancholisch getöntem Witz von den fatalen Täuschungen der Liebe und von einem vielleicht zutiefst verfehlten Leben.

Der Held, der dieser drohenden Erkenntnis anfangs in allerlei seelische Bastionen, in Sex und Suff, in Genie-Phantasien, Attitüden und Posen ausweicht, legt solches Gehabe zusehends ab. Gestärkt durch seine allmählich wiederentdeckte jüdische Identität (und besänftigt durch eine Millionen-Erbschaft), stellt er sich seinem Schicksal schließlich mit offenem Visier, beseelt von höherer Heiterkeit.

So sehr steigert sich Leon de Winter zuweilen in seine Fabulierkünste hinein, dass die zahllosen Episoden und Ereignis-Ketten gleichsam ihre eigenen Bahnen ziehen – fast wie der bestürzend freie Leo. Am Ende löst sich alles dermaßen unverhofft ins Flüchtige auf, als würde sich der Roman in die Lüfte erheben. Ach, wer da mitfliegen könnte!

Leon de Winter: „Leo Kaplan“. Roman. Diogenes Verlag, 544 Seiten. 46,90 DM.

In einer Veranstaltung der Buchhandlung Krüger liest der Autor heute um 19.30 Uhr im Studio der Dortmunder Stadt- und Landesbibliothek (Königswall) aus dem Roman.