Der Zeit voraus in allen Wissenschaften – Hagener Ausstellung auf den Spuren des Universalgenies Leonardo da Vinci

Von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv" (um 1490). (Galleria dell'Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Auch so ein berühmtes Bild, von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv“ (um 1490). (Galleria dell’Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Eigentlich muss man das nicht klarstellen, doch sei’s drum: Tayfun Belgin, Direktor des Hagener Osthaus-Museums, hält also spaßeshalber fest, dass in seinem Haus weder die „Mona Lisa“ noch die „Anna selbdritt“ oder „Das Abendmahl“ zu sehen sind, obwohl die neue Ausstellung doch von Leonardo da Vinci handelt.

Na, sicher: Solche weltberühmten Bilder könnte man nimmermehr ausleihen, auch wenn man weder Mühen noch Kosten scheut. Außerdem ist die Malerei gar nicht Leonardos Hauptbeschäftigung gewesen, heute werden ihm lediglich rund 20 Gemälde zugeschrieben. Den Großteil seiner Zeit auf Erden (1452-1519) hat er mit teilweise visionären Erkundungen und Erfindungen zugebracht, die ihrer Zeit sehr weit voraus waren. Genau damit befasst sich die Schau – anhand von 119 handkolorierten Faksimile-Skizzen und von 25 Modellnachbauten, die recht exakt Leonardos Entwürfen folgen.

Das Ausstellung-Konvolut stammt vom Tübinger „Institut für Kulturaustausch“ (Leitung: Maximilian Letze). Anlass des Hagener Gastspiels der Wanderschau ist der 500. Todestag Leonardos. Der Aufbau der Ausstellung wirkt nur auf den ersten Blick womöglich etwas dröge. Sobald man sich aufs Thema einlässt, entsteht ein Sog.

Nach einer Leonardo-Skizze von 1495 gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Nach einer Leonardo-Skizze gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Der 1485 skizzierte Fallschirm funktioniert tatsächlich

Und siehe da: Die allermeisten Ideen des Universalgenies funktionieren tatsächlich, sie sind staunenswert ausführbar; so etwa auch ein Fallschirm, der einen sicher zu Erde bringt. Der Fallschirmspringer Adrian Nicholas hat es anno 2000 am eigenen Leibe ausprobiert, die Ideenskizze stammt von 1485!

Leonardo hat sich seinerzeit auch Gedanken über einen Hubschrauber-Vorläufer und eine Art Flugdrachen gemacht. Wahrlich, das waren Gedankenflüge sondergleichen, wenn auch die beiden zuletzt genannten Apparaturen sich zu Leonardos Zeit noch nicht dauerhaft in die Lüfte erhoben haben. Immerhin wandelte das Genie auch hierbei auf den richtigen Wegen. Unter anderem hatte Leonardo dafür intensive Studien zum Vogelflug absolviert. Pendant im anderen Element: Bevor er sich mit Schiffen befasste, widmete er sich genauesten Untersuchungen zur Wasserströmung.

Hin und her zwischen vielen Projekten

Die Ausstellung ist zwar thematisch recht säuberlich gegliedert, doch das täuscht über die wohl ziemlich chaotische, demiurgische Arbeitsweise Leonardos hinweg, der stets an einigen Projekten zugleich arbeitete, gar vieles ergriff und zwischendurch manches beiseite legte. Es ist ja überhaupt kaum zu glauben, über welche verschiedenen Gegenstände Leonardo da Vinci fundiert nachgedacht und dabei immer wieder geistiges und technisches Neuland entdeckt hat. In der Anatomie machte er ebenso bahnbrechende Fortschritte wie im Schiffs-, Brücken- und Kanalbau. Eine weit geschwungene Brücke, die im heutigen Istanbul von Europa nach Asien führen sollte, ist freilich nie gebaut worden, sie erschien dem Sultan gar zu visionär und wohl auch zu kostspielig. Sie war übrigens so konstruiert, dass sie Erdbeben überstanden hätte.

Leonardo zeichnete sich zudem als ebenso ebenso kühner wie umsichtiger Stadtplaner aus, u. a. für Mailand, wo er ein Kanalsystem ersonnen hat, das die gar zu eng gebaute Metropole hätte entlasten sollen. Auch Müllabfuhr und Gesundheitsvorsorge gehörten zum weitsichtigen Planungsumfang. Doch er kam mit seinen vielfältigen Ideen nicht zum Zuge.

Auch die Arterien-Verkalkung entdeckt

Müßig zu erwähnen, dass Leonardo auch als Architekt und Ingenieur Maßstäbe setzte. Die damals noch nicht so exakte Zeitmessung (mit Sonnen- und Sanduhren) reizte Leonardo zur Konstruktion ausgefeilter Uhrmechanik. Sein geradezu besessener, offenbar nie ermüdender Wissensdurst trieb ihn auch zu anatomischen Studien, die etwa zur ersten Entdeckung der Arterien-Verkalkung führten, also auch die Medizin voranbrachten. Seine Zeichnungen vom menschlichen Körper und dessen Innenleben sind von bis dahin unerreichter Präzision. Gruselige Kehrseite: Er sezierte dafür gelegentlich auch die Leichen vormaliger Strafgefangener.

Modellnachbau eines „Automobils" mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Modellnachbau eines „Automobils“ mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Für Leonardo bestand kein grundlegender Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst, eins geht ersichtlich ins andere über. Erfindungen werden nicht zuletzt in ästhetischer Weise erwogen, geglückte Funktion erfüllt sich sozusagen auch im Anblick. Wenn er etwas Vorgefundenes aus der Natur zergliederte, diente dies auch der Verbesserung im Malerischen.

Ebenfalls keinen prinzipiellen Unterschied sah Leonardo zwischen Mensch und Maschine. Aufs „Funktionieren“ kam es beiderseits an. Wer weiß: Mit solchen Gedanken stünde er heute vielleicht an der Spitze einer Bewegung, die mit Nachdruck Künstliche Intelligenz erforscht und Mensch-Maschinen-Konstrukte in allerlei Abstufungen für denkbar oder gar für wünschenswert hält.

Eine Frühlingsgöttin auf dem „Automobil“

Die Modelle aus Holz und Metall, die auf der Basis von Leonardos Skizzen entstanden sind, kann man zum Teil selbst erproben, beispielsweise auch den Nachbau eines frühen „Automobils“, dessen Original sich per Federspannung (gespeicherte Kraft) immerhin rund 30 Meter weit selbsttätig fortbewegen konnte. Mit großem Pomp hatte das von den Medici in Auftrag gegebene Fahrzeug seine öffentliche Premiere, spektakulär beladen mit einer „Frühlingsgöttin“. Jammerschade, dass es davon keine Filmaufzeichnung gibt. Die entsprechende Erfindung (oder wenigstens Vorarbeiten dazu) hätte man Leonardo beinahe auch noch zutrauen dürfen. Nun gut, das ist vielleicht etwas übertrieben. Generell nahmen übrigens die Zeitgenossen manche seiner Erfindungen nicht ernst, weil sie die Tragweite nicht erkannt haben.

Je elf Läufe in drei Lagen: Modell eines Orgelgeschützes nach einer Skizze (1482) Leonardo da Vincis. (Foto: Bernd Berke)

Ein zwiespältiges Kapitel sind Leonardos Forschungen für militärische Zwecke. Obwohl im Herzen wohl eher Pazifist, erfand er beispielsweise martialische Belagerungsmaschinen oder einen fürchterlichen Sichelwagen, der durch die Reihen feindlicher Kämpfer rasen und sie massenhaft niedermähen sollte wie Gras oder Getreide. Allerdings hätten sich auch die Zugpferde schwer verletzt.

Furchtbar raffinierte Militärtechnik

Ein schon neuzeitlich anmutendes Orgelgeschütz konnte aus vielen Rohren zugleich feuern, die Geschützbatterien sollten sich durch Drehung rasch auswechseln lassen. Sogar ein trutziger Panzer, ebenfalls rundum mit Geschützen ausgestattet, zählte zu Leonardos Ideen-Arsenal. Derlei Kriegsgerätschaften beeindruckten so manchen italienischen Fürsten, der in jenen unruhigen Zeiten im Hader mit anderen lag. Auf lukrative fürstliche Aufträge war Leonardo angewiesen.

Die Skizzen sind oftmals dermaßen kleinteilig ausgeführt, dass man als Laie zumindest sehr lange hinschauen muss, um daraus halbwegs schlau zu werden – von der winzigen Beschriftung ganz zu schweigen. Verständnishilfe gibt’s an sechs Multimedia-Stationen, wo man mit mehr als 8000 Bildern etliche Einzelheiten über Leonardo und seine Zeit aufrufen kann. Mit einem allzu kurzen Aufenthalt im Museum sollte es also nicht getan sein. Erst recht nicht, wenn man am Schluss noch ein paar heutige Patente aus Hagen und Südwestfalen in Augenschein nehmen will. Erfindergeist regt sich noch, wenn auch nicht mehr im Sinne von Originalgenies.

Im Verlauf des Rundgang fragt man sich, woran ein Leonardo wohl heute arbeiten würde. Ob er sich mit Klimafragen beschäftigen würde? Oder mit etwas ganz anderem, was uns Heutigen noch gar nicht in den Horizont gerückt ist? Genügend Nahrung für Phantasie.

Leonardo da Vinci – Erfinder und Wissenschaftler. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 15. September 2019 bis 12. Januar 2020, geöffnet Di-So 12-18 Uhr. Eintritt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro. Katalogbuch erhältlich. Tel.: 02331 / 207 3138. www.osthausmuseum.de

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Direkt nebenan, im selben Kunstquartier, zeigt das Emil Schumacher Museum vom 15. September 2019 bis zum 9. Februar 2020 eine Sonderausstellung mit abstrakten Bildern von K. R. H. Sonderborg. Darauf werden wir in den nächsten Tagen zurückkommen. Infos: www.esmh.de

 

 

 




Triennale: Eiskalte Spannung – Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“

Winkler

Angela Winkler als „Mädchen“ in eisigem Blau. Foto: Julian Mommert/Triennale

Unten die plane, rechteckige, weitgehend leere, öd und unwirtlich wirkende Spielfläche. Alles umringt von steil ansteigenden Zuschauerblöcken. Dahinter schließlich haben sich Chor und Orchester platziert. Gewissermaßen als musikalische Umzingelung. Sodass die Klänge uns mal auf den Pelz rücken, mal wie aus dem Nichts entstehen, uns drangsalieren und enervieren, aber auch aufs Schönste erregen und erheben. Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern – Musik mit Bildern“ wird in einem Raum zelebriert, der bereits Teil des Interpretationskonzepts ist.

Dafür steht der amerikanische Regisseur Robert Wilson, der dieses Theaterkonstrukt als einen Operationssaal sieht. Wie passend: Denn die Geschichte vom armen Mädchen, das in der bitterkalten Neujahrsnacht keine Zündhölzchen verkaufen kann, sie anzündet, um sich für Augenblicke nur zu wärmen, das halluziniert und erfriert, wird gewissermaßen seziert, auf seelische Befindlichkeiten und körperliche Aggregatzustände hin untersucht. Mit einer überwiegend geräuschhaften Musik, die pendelt zwischen wahrhaft monströsem Suggestivklang und allerkleinstem Fragment.

Lachenmann hat dieses Märchen, das nicht zuletzt sozialkritische Züge trägt, um zwei Texte erweitert. Einer stammt von der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, ein ideologisch aufgeladenes Pamphlet gegen das „System“, in dem das Zündeln (!) als Akt des Widerstands gesehen wird. Der zweite Textzusatz ist das Höhlengleichnis Leonardo da Vincis, das einen Menschen beschreibt, der zwischen Angst und Neugier pendelnd darüber sinniert, ob er die Höhle betreten solle. Genau wie das Mädchen, schwankend zwischen Todesfurcht und Hoffnung auf ein besseres Jenseits.

Ein gutes Team: Regisseur Robert Wilson (li.) und Komponist Helmut Lachenmann. Foto: Lucie Jansch/Triennale

Ein gutes Team: Regisseur Robert Wilson (li.) und Komponist Helmut Lachenmann. Foto: Lucie Jansch/Triennale

Lachenmanns 1997 uraufgeführte „Oper“ steht im Zentrum der insgesamt sechs Wochen währenden Triennale, ragt wie ein fremder, wuchtiger, einsamer Monolith über alle bisherigen Festival-Produktionen hinaus. Weil Wilson zur Premiere in Bochums Jahrhunderthalle betörende Bilder findet: mit Hilfe von Licht, Farbe und den allseits bekannten knappen Gesten sowie mit zeitlupenhaften, in Erstarrung mündenden Bewegungen. Ganz im Dienste des Komponisten, der ja zuallererst das Zittern, Frieren und Verharren in Klänge gesetzt hat. Und dem es nicht darum zu tun war, ein Libretto linear musikalisch nachzuerzählen.

Das Mädchen, das ist Angela Winkler. Eine weißgewandete, angstvoll und stumm daherschleichende, fragile Ophelia, mit vom Eissturm gezausten Haaren. Deren stumpf blickende Augen zu leuchten beginnen, wenn sie staunend die Bilder einer besseren, warmen Welt imaginiert, die Wilson mit wenigen Requisiten und zauberhaften Licht-Spielen in Szene setzt. Winklers einziges Sprechen gilt dem erwähnten Höhlengleichnis. In expressiver, beinahe dadaistischer Manier wird der Text in seine Bestandteile, in Laute zerlegt, geht somit einher mit Lachenmanns Musik.

Anderes jedoch bleibt verrätselt: Steht doch Robert Wilson als Gestengeber oder Strippenzieher selbst auf der Bühne. So unterwirft er sich seiner eigenen Regie und leitet das Mädchen in doppeltem Sinne an. Als dessen Alter Ego, als Tod? Und was suggerieren die Menschen in dicken Mänteln, die kurz vor dem Erlösungsschluss im Halbdunkel über die Ebene stapfen?

Das freie Spiel mit Assoziationen, das Bedenken dessen, was zu sehen ist, wäre wohl ganz im Sinne Lachenmanns. Der uns mit unerhörten Klängen vom hörigen Hören, vom stets Gewohnten also, weglocken will. Dessen Musik nie brutal laut ist, sich andererseits in bisweilen ungeahnter Harmonie entfalten kann. Wort- und Gesangsfetzen, Atem-, Schleif- und Klopfgeräusche fügen sich zum fahrigen, wilden, großen Ganzen.

Üppiger Applaus, nicht zuletzt fürs Chorwerk Ruhr und das hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Emilio Pomárico.

Info über weitere Vorstellungen unter www.ruhrtriennale.de

(Der Text ist in kürzerer Form in der WAZ erschienen.)