Der Weg zur Synthese: Yuja Wang und Leonidas Kavakos mit einem Duoabend im Konzerthaus Dortmund

Im „Allegro brusco“ fallen die Fesseln. Brusco, das bedeutet auf deutsch barsch oder grob. Und so hämmert Yuja Wang dreimal den Ton C in den Konzertflügel, stanzt ihn kraftvoll ins Bassregister des Instruments. Leonidas Kavakos antwortet auf seiner Stradivari mit der gleichen, lustvoll aggressiven Energie. Schrubbt Akkorde in die Saiten, deren grelle Dissonanz einer Attacke auf Ohren und Nerven gleicht.

Sergej Prokofjews 1. Violinsonate, gewidmet dem legendären Geiger David Oistrach, scheint den beiden berühmten Interpreten Befreiung zu bringen. Die radikale, ja anarchische Kraft, mit der sich das Genie des Komponisten hier Bahn bricht, führt ihr Spiel im Konzerthaus Dortmund auf einen ersten Gipfel.

Kavakos dreht sich für das heroische Seitenthema stärker dem Publikum zu, die brennende Intensität seines Violintons zu voller Glut steigernd. Dieser Klang wirkt umso stärker, als der Geiger das einleitende Andante assai nur wenige Minuten zuvor mit eiskalt rieselnden Läufen beendet hatte: mit gespenstisch fahlen Tonleitern, die dem Willen des Komponisten nach einem Wind gleichen sollten, der über einen Friedhof streicht.

Grabesdunkel also, abgelöst von unirdisch weißem Licht. Träumerisch zarte Melodien und wild tobende Motorik. Derlei Kontraste fegen die vornehme Eleganz davon, mit der Wang und Kavakos zu Beginn die Sonate B-Dur 454 von Wolfgang Amadeus Mozart interpretieren. Gleichwohl kündet ihre Lesart nicht allein von heiter-verspieltem Rokoko, sondern auch von Abgründen, wie Mozart sie zum Beispiel in seinem „Don Giovanni“ aufriss. Als wollten die Künstler der beseelten Idylle des Andante nicht recht glauben, treiben sie die Musik mit unterschwelliger Nervosität voran. Der Violinton klingt zuweilen gläsern. So leichtfüßig Läufe und Triller auch dahin perlen mögen, streifen zuweilen doch Schatten vorüber.

Seit ihrer 2013 aufgenommenen Brahms-CD (siehe Cover-Abbildung) treten Leonidas Kavakos und Yuja Wang immer wieder zusammen auf. Sie deswegen ein Duo zu nennen, scheint gleichwohl gewagt ob des weltweiten Ruhms, den beide als Solisten genießen – und angesichts der Tatsache, dass Enrico Pace als Kavakos‘ langjähriger musikalischer Partner gilt.

Gleichwohl finden die glamouröse Chinesin und der stets mit einem Schuss reservierter Strenge auftretende Grieche nach der Pause zu bemerkenswerter musikalischer Einheit. In Béla Bartóks Rhapsodie für Violine und Klavier Nr. 1 steigern sie tänzerische Rhythmik und feurigen Volksliedton, bis alles nur noch wirbelnde, rauschhafte Virtuosität ist. Darf Kavakos hier nachgerade zigeunerisches Temperament ausspielen, so kommen die viel gerühmten „fliegenden Finger“ der Yuja Wang in der Violinsonate von Richard Strauss zum Zuge. Was der 23-jährige Komponist der Pianistin abverlangt, gleicht einem halben Klavierkonzert: rauschhafte Tonkaskaden und Arpeggien, kapriziöse Einsprengsel und plötzliche Beleuchtungswechsel in voller Fahrt.

Aber eine Yuja Wang hat dergleichen souverän im Griff. Wie im Gleitflug segelt sie durch den vertrackt schweren Part, trumpft grandios auf, ohne die Violine zu übertönen. Im Gegenteil blüht der Ton von Leonidas Kavakos noch einmal auf, dass es zum Staunen ist. Süffig und schwelgerisch tönt uns das Jugendwerk entgegen, dem Vorbild von Johannes Brahms noch nahe. Beide Künstler wirken nun vollkommen gelöst, finden in dieser Freiheit aber zur packenden, über jeden Zweifel erhabenen Synthese.




Besessene Musizierlust: Leonidas Kavakos und Enrico Pace in der Philharmonie Essen

Leonidas Kavakos, geboren 1967 in Athen, zählt zu den gefragtesten Geigern unserer Zeit. (Foto: Decca/Daniel Regan)

Leonidas Kavakos, geboren 1967 in Athen, zählt zu den gefragtesten Geigern unserer Zeit. (Foto: Decca/Daniel Regan)

Kein Glamour, kein Starkult, kein Spektakel. Leonidas Kavakos blickt beinahe ein wenig mürrisch drein, als er die Bühne der Philharmonie Essen betritt. Der berühmte griechische Geiger wirkt wie ein Mönch der Musik.

Über seiner schlichten schwarzen Kleidung hebt sich ein Gesichtsoval ab, das neben Konzentration auch die Skepsis eines Menschen spiegelt, der in der Kunst nach Wahrheit sucht. In der Hand hält er die kostbare „Abergavenny“-Stradivari, erbaut im Jahr 1724, benannt nach einem walisischen Örtchen, dessen Domherr einer der Vorbesitzer des Instruments war.

Seit drei Jahren lebt und arbeitet Kavakos mit dieser Violine. Auf ihr hat er die Gesamtaufnahme von Beethovens Violinsonaten eingespielt, für die er Anfang Oktober 2013 den ECHO-Klassik als „Instrumentalist des Jahres“ entgegen nahm. Die kongeniale Leistung seines Klavierpartners Enrico Pace fiel bei der Einteilung in diese Kategorie freilich unter den Tisch. Wie ungerecht das ist, kann jeder erfassen, der das Duo jetzt in Essen erlebt hat. Kavakos und Pace musizieren wie eine unzertrennliche Einheit. Ihr Spiel erreicht eine Dichte, die viel mehr ist als der Zusammenklang zweier Teile. Ihre furiose Detailbesessenheit wird nie zum Selbstzweck, sondern zielt auf eine Interpretation, die diesen Namen verdient.

So wird Ludwig van Beethovens 7. Violinsonate c-Moll zu einem Dokument vehementer Bedrängnis. Kavakos lädt das Kopfthema mit einer bebenden, schier atemlosen Intensität auf. Pace lässt die hastigen Wechselnoten in der Bassregion dazu flackern wie fernes Wetterleuchten. Stets lauert Explosives hinter dem Lyrischen, droht sprühender Esprit umzuschlagen in ruppigen Ingrimm. Aber dann ist da das Adagio cantabile, das Kavakos und Pace ganz sotto voce gestalten, introspektiv und mit großem Atem. Die Mittellage der Stradivari enthüllt dabei eine warme Goldfarbe nach der anderen. In den Schlusstakten aber haucht Kavakos die Melodie dahin, als sei sie vom ersten Frost überzogen. Pace entrückt die begleitenden Läufe zu einem feinen Murmeln.

Maurice Ravels „Sonate posthume“, ein Klangwunder voll träumerischer Farben, strömt bei Kavakos und Pace dahin wie ein langer Sommerabend. Violinton und Klavierklang vermischen sich, bis sublimste Stimmungen und Bilder entstehen. Lichtstrahlen lösen sich ins Ätherische auf, Blätter wiegen sich sanft in der Brise, der Himmel zeigt jedes nur erdenkliche Farbspiel. Kavakos und Pace begegnen dem französischen Raffinement mit größtem Fingerspitzengefühl. Mag vieles noch so einschmeichelnd samtig, rauchzart und schwärmend klingen, so fährt zuweilen doch ein herber Windstoß dazwischen, der von Kühle und Dunkelheit kündet. In Claude Debussys Sonate gesellen sich quecksilbrige, zuweilen auch eisige Töne hinzu. Das Duo glänzt hier mit koboldhafter Beweglichkeit, die unberechenbar ist und zuweilen nicht ohne Drohung.

Eine Rarität des Repertoires gönnt uns das Duo zum Abschluss mit Ottorino Respighis Sonate h-Moll für Violine und Klavier: ein seltsam zerklüftetes Werk, das sich wie taumelnd durch die Tonsprache der Spätromantik bewegt. Es braucht fürwahr Interpreten mit Überblick, um in diesem Gewirr nicht den Weg zu verlieren oder ins Sentiment abzugleiten. Noch einmal spielen Kavakos und Pace ihre ganze Meisterschaft aus. Ihre überlegene und intelligente Gestaltungskraft hilft, das sperrige Werk zu erschließen. So unvermittelt Momente düsterer Vehemenz auch neben Inseln der Ruhe stehen mögen, dieses fantastische Duo hat nie ein Glaubwürdigkeitsproblem. Nie wird sein Klang dick und undurchsichtig; zu keiner Zeit lässt seine besessene Musizierlust den Hörer los. Das setzt Maßstäbe: unglamourös, aber unverrückbar.




Gesang im Blut: Gewandhausorchester Leipzig gastiert in der Philharmonie Essen

Leonidas Kavakos kommt mit einer Art Maß-Schlafanzug aufs Podium. Wer so ein Designer-Stück trägt, will auch Aufmerksamkeit darauf lenken – denkt man. Doch noch bevor man irgendeinen weiteren Gedanken an den Robenschöpfer verschwendet hat, nimmt die Musik gefangen. Und anders als bei manchem geigenden Girl stellt sich die Verpackungsfrage nicht mehr. Denn mit den ruhig gelösten ersten Takten von Dmitri Schostakowitschs Violinkonzert a-Moll hat der griechische Geiger alle Aufmerksamkeit auf die Musik gezogen. Und da bleibt sie – bis zur expressiven Kadenz des vierten Satzes.

Kavakos setzt nicht auf das Spektakel, für das Schostakowitschs Musik selbst in diesem Konzert gut wäre. Der meditativ-schweifende Charakter des ersten Satzes, „Nocturne“ bezeichnet, ist in selten glücklicher Einigkeit mit dem Gewandhausorchester und seinem Chef Riccardo Chailly phrasiert: Dem Italiener liegt das „Singen“ im Blut, das hat schon er als junger Aufsteiger in den siebziger Jahren mit grandiosen Verdi-Dirigaten am Teatro alla Scala bewiesen. Kavakos zeigt, wie ein ebenmäßiger Geigenton differenziert werden kann, ohne dem Klang Gewalt anzutun. Es gibt keine Drücker, keine harschen Geräusche, keine dünnen Stellen, auch kein wallendes Pathos.

Die Musiker des Leipziger Traditionsorchesters folgen dieser polierten, aber keinesfalls belanglosen Schönheit des Tons: ob Kontrafagott und Horn in sacht beigemischter Farbe, ob das tiefe Blech im Pianissimo oder die Streicher in einer kaum mehr vernehmbaren Grundierung für Bassklarinette und Harfe. Den zweiten Satz, das gerühmte „Scherzo“, rücken Kavakos und Chailly nicht auf die dämonische Nachtseite, wie eine Beschreibung des Uraufführungs-Solisten David Oistrach nahe legt. Die zackigen Staccati und knackigen Mini-Motive wirken eher sarkastisch, vom schillernden Humor eines gefährlichen Kobolds ausgespien.

Brillante Polyphonie und kontrastreiche Beleuchtung des Orchesterparts finden wir in Johannes Brahms‘ Dritter Symphonie. Der Beginn mit dem kraftvollen Blechbläserakkord und der regelgerechten Vorstellung der Themen ist nicht ganz gelungen; Chailly baut zu wenig Spannung auf und das Orchester klingt pauschal. Doch gerade als sich der Eindruck festigen will, nun eine urdeutsche Version der Symphonie des grämlich gründelnden Greises, wie Brahms auf Bildern oft erscheint, absitzen zu müssen, ändert sich die Atmosphäre. Da bilden weite Phrasierungen die Architektur der Sätze nach und überspannen das motivisch variantenreiche Detail-Geschehen; da zeigt sich intime Vertrautheit mit der Musik in gelassener Souveränität des Spiels.

Die Musiker des Gewandhausorchesters, derzeit mit Chailly auf Europa-Tournee, lassen Brahms glänzen und strahlen – und trotz aller Vorsicht vor derartigen Verknüpfungen von Biografie und Werk ist man geneigt, die freundliche Heiterkeit der Tage zu spüren, während derer Brahms im Wiesbaden des Sommers 1883 die Symphonie geschrieben hat. Der leuchtende Schluss nach Dvořák-Art war nicht das Ende des Konzerts in der Philharmonie: Das setzte Riccardo Chailly, spürbar gut aufgelegt, mit der umjubelten „Akademischen Festouvertüre“.