Kleists „Amphitryon“ in Bochum: Von Göttern und Gatten

Ach, was für ein Schluss: Alkmenes bedeutungsvoller Seufzer am Ende des „Amphitryon“. Auf dieses letzte „Ach“ läuft alles hinaus, es ist der Höhe- und Wendepunkt – und für Alkmene der Beginn eines neuen Lebens mit einer bitteren Erkenntnis:  Der vergötterte Gatte ist in Wirklichkeit auch nur ein Mensch, der dem Idealbild selten gerecht wird. In den Bochumer Kammerspielen inszenierte Lisa Nielebock Kleists „Amphitryon“ ganz pur, klug komprimiert und temporeich auf seinen komischen Kern fokussiert.

Sascha Gross‘ Bühne macht dem Publikum schon zu Beginn klar, worum es geht: Um die Frage nach dem wahren Gesicht, dem wahren Wesen der Menschen – und Dinge. Eine riesige Spiegelwand dominiert den Bühnenraum. Sie steht auf Rollen, bald wird sie sich drehen und drehen, bis den handelnden Figuren und den Zuschauern alle Sinne verwirren. Auf der Rückseite der Spiegelwand sieht man ein stabiles, hölzernes Gerüst. Welche Seite die richtige ist, lässt sich nicht beantworten – Spiegel und Gerüst funktionieren nur zusammen.

Bei Amphitryon liegen die Dinge da schon komplizierter. Als der Feldherr der Thebaner von einer siegreichen Schlacht zurückkehrt, muss er erkennen, dass offenbar ein Doppelgänger ihm den Triumph des Sieges genommen und bereits am Vorabend mit Frau und Hof gefeiert hat. Gattin Alkmene, noch ganz berauscht von der Liebesnacht, kann und will nicht akzeptieren, dass sie den eigenen Gatten nicht erkannt haben soll, erfüllte er nach langer Abwesenheit doch genau ihre Sehnsüchte und Erwartungen.

Der Doppelgänger heißt Jupiter, gemeinsam mit seinem Götterkollegen Merkur ist er gekommen, um in Theben Herzen zu brechen und Verwirrung zu stiften. Oder kam er etwa, um den in Identitätsfragen etwas einfältigen Menschen eine Lektion zu erteilen: Du bist nicht nur, was du glaubst, sondern auch, was die anderen in dir sehen? Jupiters wahre Motive werden nicht ganz klar in der Inszenierung, die darauf abhebt, die Handlung – das Verwechslungsspiel – der Auflösung entgegen zu treiben, ohne sich von ihr treiben zu lassen.

In kurzweiligen, sogar fesselnden anderthalb Stunden kosten die Akteure jede Gelegenheit zum Witz aus: Während Alkmene und Jupiter in Amphitryon-Gestalt im Hintergrund Versöhnung feiern, wackelt und rumpelt die ganze Spiegelwand – und im Vordergrund pfeift Merkur  „Großer Gott, wir loben dich“,  sicher zur Erheiterung vieler Schüler, die diese Inszenierung hoffentlich erleben werden. Sie werden staunen, wie lebendig und modern fünfhebige Jamben klingen können.

Und die Schauspieler ziehen nicht nur sprechend alle Register. Marco Massafra als Amphitryon und Nicola Mastroberardino als Jupiter spielen die Kontraste zwischen ihren Figuren deutlich aus: Dieser eher ein pflichtbewusster, ernster Langweiler, jener ein draufgängerischer Charmebolzen. Therese Dörr zeigt, wie ihre Alkmene zwischen existenziellen Gefühlen hin und her geworfen wird: Wut und Glückseligkeit, Unsicherheit und Überzeugung, Liebe und Hass.

Extra-lauten Applaus erhielt in der Premiere Roland Riebeling als Amphitryons Diener Sosias. Seine komisch angelegte Figur bringt eine weitere Ebene in das Spiel mit Identitäten. Sosias erkennt als erster, dass die Götter Identitätsklau begehen und reagiert darauf höchst menschlich – als Wendehals, der blitzschnell bereit ist, die Seiten zu wechseln, und das sogar zu Recht: Schließlich dient er weniger einer Person als einem Funktionsträger.

Doch Menschen, sogar Götter wollen nun einmal um ihrer selbst willen geliebt werden. Ein klassischer Konflikt, der seit Kleists Zeiten nichts an Dramatik verloren hat.




Das Böse ist nur ein Gaukelspiel – Lisa Nielebock inszeniert Shakespeares „Macbeth“ in Bochum“

Bochum. In Shakespeares „Macbeth“ geht es wahrlich archaisch und blutig zu, doch das Grundmuster kommt einem gar nicht mal so unglaublich fremd vor: Lady Macbeth, jene krankhaft machtsüchtige Gattin, stachelt ihren Mann an, alle möglichen Widersacher auf dem Weg zur Königsherrschaft beiseite zu schaffen. Der anfangs skrupelhafte Macbeth steigert sich in Rausch und Wahn hinein. Und wie deutet die junge Regisseurin Lisa Nielebock die Tragödie in Bochum?

Die Bühne (Kathrin Schlecht) ist leergefegt. Nur ein paar metallische, mit Kletter-Gestänge und Türen versehene Säulen ragen da hoch auf. Reichlich Platz also, auf dem sich Phantasien und Phantome ausbreiten können. Und so geschieht’s: Wir erleben vorwiegend Geisterspiele, Alpträume, irrlichternde Kopfgeburten. Und zwar hurtig. In weniger als zwei Stunden ist die ganze Sache gespenstisch abgetan. Auch das abgründig Böse ist letztlich nur ein Gaukelspiel.

Branchenübliches, gewiss nicht mehr provokantes Verfahren: Der Text (Übersetzung von Thomas Brasch) ist zwar nicht vollends skelettiert, wohl aber arg gekürzt und teilweise umgeschichtet worden. Etliche Satz-Bruchstücke von abwesenden Nebenfiguren werden hier auf eine neue Gestalt namens „Ein Nichts“ (Agnes Riegl) gehäuft, die gleichsam als Göre den ruhelosen Kobold der Inszenierung gibt, doch auch den Jammer bis ins Opernhafte treibt. Jedenfalls: Das Nichts ist hier ein steter Gast, als sei’s ein Endzeit-Stück von Beckett.

Der Wille zur Kürze verlangt Opfer, zumal von den zuweilen ins Konzept gezwängten Darstellern. Sehr unvermittelt muss Lady Macbeth (Lena Schwarz) nach den ersten Mordtaten dem Wahn anheimfallen. Eben noch intrigant, jetzt schon nicht mehr zurechnungsfähig. Macbeth (Martin Rentzsch), von Beginn an mit blutigen Händen, hat seine verstörendste Vision (der Geist des ermordeten Banquo erscheint ihm auf schauderliche Weise) hier nicht etwa beim wirklichen Bankett. Die Gäste sind als Geisterschar nur imaginär vorhanden.

Fast schon mit kühlem ärztlichen Interesse konzentriert man sich also ganz auf Raserei und Hirnfraß. Alles gar zu offenkundig Gesellschaftliche wäre demnach wohl nur schnöde Ablenkung. Derweil scheint die Erotik des mörderischen Herrscherpaars längst erloschen, sie ist nur noch schemenhaft als dunkle, untergründige Triebkraft zu ahnen. Es ist wie bei Kindern, die mit aller schreienden Unbedingtheit ihren Willen haben wollen.

Kein Wunder, dass die drei Hexen mit ihren doppeldeutigen Prophezeiungen hier häufig, ja nahezu penetrant präsent sind. Sie geben Takt und Melodie vor, wenn sich die naturwidrige Apokalypse entfaltet. Freilich gerät das ganze mitunter ein wenig zum Budenzauber. Da maunzt und jault es auch schon mal unfreiwillig komisch. Doch zwischendurch erklingen teutonisch tiefernst die in deutschen Theatern immer gern gewählten „Einstürzenden Neubauten“ – mit der Zeile „Sehn-Sucht ist einzige Energie“. Es muss wohl etwas dran sein, man hätte allerdings gern noch etwas mehr davon erfahren.

Der einstige König Duncan (Klaus Weiss) war wie ein gutmütig verwirrter Onkel. Sein Sohn Malcolm (Marco Massafra), der schließlich nach dem Tod des Usurpators Macbeth die Königswürde erbt, kommt als routinierter Rhetoriker ohne sonderliche Moral oder Sehnsüchte daher. Er könnte ein gewiefter Politiker aus neueren Epochen sein. Doch anders als im Stück bereiten die Hexen auch ihm schon das Menetekel. Es fällt Schnee auf ihn herab. Kältere Zeiten.

Sehr herzlicher Beifall nach Bochumer Art, vereinzelte Buhrufe.

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Zur Person

  • Die Regisseurin Lisa Nielebock wurde 1978 in Tübingen geboren.
  • Nach einigen Jahren als Schauspielerin in der Freien Theaterszene (Tübingen, Stuttgart, München) studierte sie Regie an der Folkwang-Hochschule in Essen.
  • Es folgten diverse Regie-Assistenzen, etwa am Bayerischen Staatsschauspiel in München und bei den Ruhrfestspielen.
  • Seit 2005 ist sie als Hausregisseurin am Schauspielhaus Bochum engagiert.
  • Dort inszenierte sie u.a. Sarah Kanes „Phaidras Liebe“ und Henrik Ibsens „Gespenster“. Besonderen Zuspruch fand ihre Bochumer Deutung von Kleists „Penthesilea“.

(Der Beitrag stand am 9. Juni 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Ibsens „Gespenster“ in Bochum: Bodenlose Angst vor der Wahrheit

Bochum. Die Bühne ist gnadenlos grell ausgeleuchtet, das spärliche Mobiliar schimmert in edlen Weiß-Tönen. In dieser geheimnislosen Helligkeit soll sich etwas verborgen halten? Aber ja! Gespielt wird Henrik Ibsens „Gespenster“-Drama.

Das 1881 verfasste Stück trägt historische Schleifspuren. Damals galt es als Menetekel der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Lebenslügen.

Der vor Jahren verstorbene Familienvorstand Alving war ein Wüstling und trieb’s mit dem Dienstmädchen. Dem Verhältnis entspross Regine, die gegen Schweigegeld dem Tischler Engstrand als Tochter untergeschoben wurde. Alvings legitimer Sohn Osvald büßt derweil genetisch für die Sünden (bzw. die fatal eingezwängte Lebenslust) des Vaters, er leidet unter syphilitischer Paralyse.

Und wie hat Frau Helene Alving über die Jahre an der Familienschande gelitten! Nun kommt gespenstisch alles ans Licht, angetrieben vom ebenso wahrheitsfanatischen wie schrecklich naiven Pastor Manders.

Regisseurin Lisa Nielebock (Jahrgang 1978) und Bühnenbildnerin Kathrin Schlecht rücken das Geschehen in gemessene Halbdistanz. Sie liefern keine antiquarische Lesart, aktualisieren aber auch nicht drauflos. So kann das Überzeitliche, das Existenzielle aufscheinen, das dieser Stoff birgt. Längst nicht alles ist für immer erledigt.

Szenerie und Gebaren der Figuren sind entschieden stilisiert. Gottlob entspricht solchem Stilwillen auch ein Stilvermögen. Die dabei geschöpften Bilder ragen bis an die Ränder des Surrealen. Anfangs wird im forcierten Tempo gesprochen, als solle der Text verscherbelt werden. Doch je mehr bittere Fakten auf dem Tisch liegen, umso häufiger die Phasen des Innewerdens, der stillen Ahnungen, des Entsetzens. Gegen Schluss reißt Osvald seinen Mund stumm auf wie die in namenloser Angst Erstarrten auf Edvard Munchs Bild „Der Schrei“. Schon vorher ist’s geisterhaft genug: Diese Wiedergänger tasten hilflos an den Wänden nach Halt und Sinn. Stets wahren sie Abstand von den Anderen. Kommt es doch zu einer anklammernden Berührung, erschrecken sie heillos.

Höchst beachtlich und weitgehend homogen agiert das Ensemble. Ulli Maier (Frau Alving) gewinnt große Statur. Eine zuinnerst starke Frau, die wankt, aber nicht fällt. Oliver Möller als Osvald ist ein Inbild bleichen Verfalls. Markus Boysen (Pastor Manders) steht ratlos auf den Trümmern seiner Grundsätze. Thomas Anzenhofer (Engstrand) vollführt eine frivole Gratwanderung zwischen verkommener List und devoten Gesten. Karin Moog als Regine wirkt stellenweise wie an ruckenden Fäden gezogen, geradezu seelenlos.

Sehr herzlicher Beifall.

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(Die Rezension stand am 29. Oktober 2007 in der „Westfälischen Rundschau“)