Der Mann mit den wuchtigen Meinungen – Zum Tode von Marcel Reich-Ranicki

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (Foto: Dirk Vogel / http://www.vogelgrafie.blogspot.de)

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (Foto: Dirk Vogel / http://www.vogelgrafie.blogspot.de)

Prägnante Szene bei einer schon länger zurückliegenden Frankfurter Buchmesse: Am Stand der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) wird Marcel Reich-Ranicki von Bewunderern umlagert wie ein Popstar. Einer ruft ihm die (wahrhaft müßige) Frage zu, wer denn wohl der größte russische Autor aller Zeiten sei. Von ihm hat man eben literarische Urteile wie von einer höchstrichterlichen Instanz erwartet.

Jetzt wird diese Instanz für immer fehlen. Marcel Reich-Ranicki, der mit Abstand prominenteste Literaturkritiker deutscher Zunge, der sogar vielen Banausen ein flüchtiger Begriff war, ist heute im Alter von 93 Jahren gestorben.

Der „Großkritiker“ ließ sich damals in Frankfurt – wie üblich – nicht lange bitten, mochte sich freilich in jenem Falle nicht so recht festlegen: Tolstoi sei ein ganz Großer gewesen, aber auch Gogol, Puschkin und Dostojewski hätten „sehr gut geschrieben“. Aha! Aus derlei Frage- und Antwort-Spielchen hat er zuletzt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Rubrik bestritten, bei deren Lektüre man sich zuweilen an den Kopf fasste.

Entweder herrlich oder grrrrrrässlich

Bei Licht betrachtet, waren die Maßstäbe des höchst belesenen, im Literaturbetrieb ungemein beschlagenen Reich-Ranicki recht simpel: Entweder gefiel ihm ein Buch – oder es langweilte ihn „grrrrrässlich“; zuweilen schon dann, wenn es im „falschen“ Land spielte, zu umfangreich geraten oder zu unkonventionell erzählt war. Manchmal hat man sich schon gewundert, wie es jemand mit einem solchen Raster so weit hat bringen können. Doch natürlich war er auch in der Lage, differenzierte Rezensionen zu schreiben, an denen man seine helle Freude haben konnte; besonders dann, wenn er Autoren hoch schätzte, wie etwa den ewigen Leitstern Thomas Mann. Mit seinen Verrissen war Reich-Ranicki allerdings oftmals ungerecht schnell bei der Hand.

Marcel Reich-Ranicki hat seine stets glasklaren, selten von Selbstzweifeln angekränkelten Meinungen mit solcher Wucht und Verve vertreten, dass man schwerlich dagegen ankommen konnte. Er war bestens „vernetzt“ und verstand es wie kein Zweiter, die Klaviatur der literarischen Einflussnahme zu bedienen. Auch stillte er wohl eine gewisse Sehnsucht nach eindeutigen, leidenschaftlichen, zuweilen auch etwas groben Stellungnahmen. Welt und Literatur waren ansonsten unübersichtlich genug. Da sollte mal einer Schneisen schlagen – notfalls mit der Machete. Den Beinamen „Literaturpapst“ wurde er jedenfalls nicht mehr los, auch wenn er auf seine älteren Tage schon mal unumwunden zugegeben hat, nicht „unfehlbar“ zu sein.

Bewegende Biographie

Rund 1,2 Millionen Exemplare wurden von seiner bewegenden Autobiographie „Mein Leben“ verkauft. Eindringlich schilderte Reich-Ranicki seine Kinderheit in Polen und Berlin, sein unvorstellbar schwieriges Leben in der NS-Zeit, von dem er 2012 auch in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag Zeugnis abgelegt hat. Reich-Ranickis Eltern wurden im KZ umgebracht, er selbst musste sich vor den Nazi-Schergen versteckt halten. Wer wollte es ihm da ernsthaft verübeln, dass er später vorübergehend dem polnischen Geheimdienst angehörte und der KP beitrat? Bald aber wandte er sich ab und wurde wegen „ideologischer Fremdheit“ aus der Partei ausgeschlossen.

1958 kam er wieder nach Deutschland. Ab 1960 schrieb er für die „Zeit“, von 1973 bis 1988 war er Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Doch erst „Das Literarische Quartett“ (1988 bis 2001) im ZDF hat Reich-Ranickis Entertainer-Qualitäten vollends zur Entfaltung kommen lassen. Nach den Sendungen mussten die Bestsellerlisten immer flugs umgeschrieben werden. Man möchte lieber gar nicht wissen, was die Verlage angestellt haben, um dort besprochen zu werden. Jedenfalls musste ein Mann wie Reich-Ranicki einfachs ins Fernsehen, wo er so manche schwankende Seele für die Literatur gewonnen haben dürfte. Wie hat man sich seinerzeit amüsiert, als er seine öffentlich-rechtlichen Bücherstreits mit Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und Jürgen Busche ausfocht. Manchmal war’s herrliches Kasperltheater mit anderen Mitteln…

Grass und Walser haderten mit ihm

Deutschlands bekannteste Schriftsteller wendeten sich freilich vielfach mit Grausen – mit Ausnahme von Siegfried Lenz. Literaturnobelpreisträger Günter Grass war Reich-Ranicki gram, seit der den Roman „Ein weites Feld“ (1995) verrissen und auf dem legendären „Spiegel“-Titelbild regelrecht zerfetzt hatte. Als Reich-Ranicki die Hand zur Versöhnung reichen wollte, schlug Grass sie aus. Und damals wusste man noch nichts von Grass’ Waffen-SS-Vergangenheit in den finsteren Zeiten…

Auch Martin Walser (umstrittener Schlüsselroman: „Tod eines Kritikers“) gehörte beileibe nicht zu Reich-Ranickis Verehrern. Selbst mit dem langjährigen Freund Walter Jens war Reich-Ranicki zwischenzeitlich heillos zerstritten. Die Einsamkeit des Kritikers, allen Mitstreitern und Medienmächten zum Trotz.

Heimat Literatur, Zuflucht Teofila

In mehr als einer Hinsicht war dies tragisch, hat Reich-Ranicki doch bekannt, wie er sich seit den schrecklichen Erlebnissen im Warschauer Ghetto ohnehin stets als Außenseiter gefühlt hat – selbst in den Redaktionen von „Zeit“ und FAZ. Als wahre Heimat hat er hingegen immer die (deutschsprachige) Literatur begriffen.

Und es gab noch eine sehr dauerhafte Zuflucht: Über 70 Jahre lang lebte er mit (der 2011 verstorbenen) Teofila zusammen, die er unter schlimmsten Umständen im Ghetto kennen gelernt hatte. Auch wenn er gelegentlich damit kokettierte, auf erotische Nebenwege erpicht zu sein – nehmt alles nur in allem, so ist er wohl sicherlich treu gewesen. Und jetzt, wer weiß, kann sie vielleicht „dort droben“ seine harmlosen kleinen Eskapaden mit jenem weisen, wissenden Lächeln quittieren, das ihr zu eigen war.




„Anrührend, mitreißend, feinfühlig“ – die Prospekt-Prosa der Buchverlage

Klappentexte tendieren bekanntlich dazu, noch das vertrackteste Werk in rasch konsumierbare Formeln zu pressen. Da sind nicht selten Meister der gerade gängigen Floskeln am Werk. Ein lesenswerter „Zeit“-Artikel hat das Genre jüngst wieder aufgegriffen.

Ganz ähnlich, ja zuweilen wortgleich ergießt sich der Schwall aus der Prospekt-Prosa der Buchverlage. Ob nun Testimonials oder lobhudelnde Pressezitate ausposaunt werden, oder ob der Marktjubel direkt aus den PR-Abteilungen tönt – vieles scheint abrufbereit auf den Sicher-Hole-Tasten zu liegen. Manchmal hört sich das an wie auf dem Hamburger Fischmarkt, dann wieder raunt und säuselt es so filigran feingeistig, dass einem Rilke die Tränen kämen.

Die folgende kleine Kollektion aus Originalzitaten wird ganz bewusst ohne Ansehen der Einzelbücher präsentiert, es geht ja allgemein um den Sound solcher Werbung. Die Beispiele entnehme ich den aktuellen Herbstkatalogen einiger bekannter Verlage, wobei ich in kursorischer Durchsicht ausschließlich bei der Belletristik nachgeblättert habe. Mehr wäre über meine Kräfte gegangen.

Wie bitte? Doch, doch. In kleinen oder größeren Feuilletons finden sich immer mal wieder ähnliche Formulierungen. Es ist halt nicht leicht, dem jeweils waltenden Jargon zu entgehen. Und so wage niemand zu sagen, er wäre gänzlich frei davon. Als Essenz dieser laufenden Saison empfehlen sich übrigens Satzmuster, in denen wahlweise von bewegender, funkelnder oder schonungsloser Sogwirkung die Rede sein müsste. Oder so ähnlich.

Hier nun ein paar Beispiele, hilfsweise einsortiert:

Aufhebung der Gegensätze
„Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll, aber das macht nichts. Das Komische und das Tragische sind hier in höchster Form vereint.“ (Wagenbach)
„Ein Feuerwerk aus Mord und Schönheit“ (Galliani)
„Ein zeitdiagnostisches und ein Warnbuch also und doch auch ein Buch der Courage und der Glückserfahrung…“ (Suhrkamp)

Zielgruppenarbeit
„Ein herrlich lakonisches Buch für Rotweinliebhaber, in die Jahre gekommene Motorradfreaks, Geschiedene, Gelegenheitsphilosophen und Lebenskünstler…“ (Wagenbach)
„700 000 glückliche Leserinnen freuen sich“ (Knaur)

Dreifacher Ausruf
„Sogwirkung! Psychohölle! Grausige Faszination!“ (Droemer)
„Rasant, waghalsig, schonungslos“ (Hoffmann und Campe)
„Anrührend, mitreißend, feinfühlig“ (Kiepenheuer & Witsch)

Die Kunst des Vergleichs
„Der britische Philip Roth!“ (Daily Mail-Zitat bei DVA)

Schneller, höher, weiter
„Der härteste…, den es je gab“ (Grafit)
„Der ungewöhnlichste erotische Roman, den Sie je gelesen haben“ (Rowohlt)
„Der schönste Roman, den…je geschrieben hat“ (Hoffmann und Campe)
„Einer der lustigsten Romane aller Zeiten“ (Daniel Kehlmann-Zitat bei Suhrkamp)
„…läuft zur Höchstform auf“ (Kindler)

So sind sie, die Schriftsteller
„Wie kaum ein zweiter versteht er es, Spannung mit Tiefgang zu erzeugen, indem er Seelen in all ihren Schattierungen auslotet. Dabei erweist er sich zudem als schonungsloser Chronist unserer Zeit.“ (Grafit)
„…ist ein großer Kenner der Menschen und ihrer Einsamkeit“ (SZ-Zitat bei Suhrkamp)
„…ist ein Meister der Ambiguität und setzt mit seiner präzisen, schlichten Sprache Katastrophen wirkungsvoll in Szene“ (Wagenbach)
„…vibriert das Temperament einer wirklichen Erzählerin“ (Kunstmann)

Unverwüstliche Klassiker / Retro-Stil
„Eine bewegende Lebens- und Liebesgeschichte in Zeiten von Krieg und Revolution“ (Insel)
„Ein überraschendes Buch eines außergewöhnlichen Künstlers“ (Aufbau)
„Ein verstörender Roman, der wie ein konventioneller Thriller beginnt und sich langsam in einen surrealen Albtraum verwandelt.“ (Kunstmann)
„…tief anrührende Parabel über das Leben und die Liebe, das Schreiben und den Tod.“ (Kiepenheuer & Witsch)
„…klanglich genau komponierte und einen heimlichen Sog ausübende Gedichte“ (Luchterhand)
„Ihre Erzählungen sind von geradezu elementarer Wucht“ (Diogenes)

Ein weites Feld
„Natur- und Landschaftsbilder von äußerster Konzentration und eigentümlicher Stille“ (Suhrkamp)
„Ein groß entfalteter und bewegender Roman über die Möglichkeit des Bösen und die Unmöglichkeit einer Liebe“ (Insel)
„Ein Roman, der sich den Lesern in einem unausweichlichen Sog tief ins Gedächtnis gräbt“ (Rowohlt)

Tröstungen
„Dieses Buch dementiert die weitverbreitete Meinung, angesichts des Todes sei alles sinnlos.“ (Suhrkamp)
„…schlägt…einen großen Bogen von tiefer existentieller Qual zu Hoffnung und Versöhnung.“ (Luchterhand)

Alles drin, alles dran!
„Überdosis Leben. Der schonungslose Roman…über eine Generation zwischen Freiheit und Gleichgültigkeit“ (Rowohlt Berlin)
„Sex, Gewalt, Unschuld und die unbestimmte Sehnsucht nach Leben“ (Eichborn)
„…und liefert zugleich ein flirrend lebendiges, atmosphärisch beeindruckendes Zeitporträt“ (Kiepenheuer & Witsch)
„…als Zeitdokument, als anrührende Autobiographie und als sinnlicher Roman“ (Diogenes)

Der besondere Ratschlag
„Dieses Buch sollte man mehrmals inhalieren“ (Gary Shteyngart-Zitat bei Eichborn)

Das Gottesurteil
„Günter Grass ging beim gespannten Zuhören die Pfeife aus“ (FAZ-Zitat bei Rowohlt)

Was sonst noch unsortiert im Baukasten herumliegt
Kultstatus, unwiderstehlicher Sog, eines der schönsten Bücher des Jahres, die literarische Sensation des Herbstes, einer der besten spanischen Romane, der wahrscheinlich interessanteste Autor seiner Generation in der französischen Gegenwartsliteratur, Kultbuch aus Griechenland, der wichtigste Roman eines Amerikaners dieser Generation, ist in einem Atemzug mit dem großen Halldór Laxness zu nennen, das wohl persönlichste Buch des großen Erzählers, packender historischer Justiz-Thriller, beängstigend realistischer Politthriller, der Weltbestseller, es gibt keine Steigerung, herzerwärmender Roman, ein außergewöhnlicher Roman, sein letzter Roman, funkelnde literarische Kleinode, geschichtensatter großer Roman, aufrüttelndes Buch, ein literarisches Meisterwerk, einfach brillant, große deutsche Literatur, ein Frauenroman im allerbesten Sinne, kommt ein neuer Ton in die deutsche Literatur, taumelnde Allegorie, erzählt bei aller journalistischen Nüchternheit von berührenden Schicksalen, herzzerreißend komischer Roman, Lesevergnügen der amüsanten Art…

Bonus-Track: Debütanten
Berührender Debütroman, ein aufregendes Erzähldebüt, erfrischendes Romandebüt, ein begeisterndes Debüt, ein erstaunliches Debüt, umwerfendes Debüt, „Ein Debüt, das funkelt, flirrt und fiebert“