Mach mal Pause? Der Literaturpreis Ruhr auf Schlingerkurs

2019 soll die seit 1986 jährlich stattfindende Verleihung des Literaturpreises Ruhr ausfallen – ein Neustart mit „geschärftem Profil“ wird für 2020 angekündigt. Was könnte diese Nachricht bedeuten?

Gruppenbild von der (vorerst) letzten Preisverleihung mit (v. li.): Oliver Driesen (Förderpreisträger), Ingrid Kaltenegger (Förderpreisträgerin), Dietmar Dieckmann (Kulturdezernent Bochum), Elke Heinemann (Hauptpreiströgerin), Ulli Langenbrinck (Laudatorin), Monika Simshäuser (Vorsitzende im RVR-Kulturausschuss), Hanns Krauss. (Foto: RVR/Tack)

Gruppenbild 2018 von der (vorerst) letzten Preisverleihung mit (v. li.): Oliver Driesen (Förderpreisträger), Ingrid Kaltenegger (Förderpreisträgerin), Dietmar Dieckmann (Kulturdezernent Bochum), Elke Heinemann (Hauptpreisträgerin), Ulli Langenbrinck (Jurymitglied/Laudatorin), Monika Simshäuser (Vorsitzende im RVR-Kulturausschuss) und Hannes Krauss (Jurymitglied). (Foto: RVR/Tack)

Als bei der Verleihung des Literaturpreises Ruhr 2016 im Gladbecker Martin Luther Forum das Grußwort des Regionalverbandes Ruhr aufgesagt wurde, verkaufte Jörg Obereiner, der grüne Repräsentant des Ausschusses für Kultur und Sport, ganz nebenbei als Erfolg, dass der Literaturpreis Ruhr in Zukunft nur noch zweijährlich vergeben werde.

Hinter den RVR-Kulissen war zuvor sogar zu hören, dass man diskutiere, den Preis zugunsten des Journalistenpreises „Lorry“ ganz abzuschaffen. Nur interner wie öffentlicher Druck verhinderten diese Pläne. Der RVR ruderte wieder einmal zurück und erhöhte ab Herbst 2018 – erstmals nach 14 Jahren – den Preis-Etat generös um ein paar Tausender.

Gala statt Prosa

Mit der Neubesetzung des Literaturbüros Ruhr und der Aufstockung des Personals wurde dann ab Juni 2018 unter dem Logo „Alles neu!“ auch eine Umgestaltung des Literaturpreises und seiner verstaubt scheinenden Verleihungsmodalitäten angekündigt. Aus der Preisverleihung sollte eine „Verleihungsgala“ werden, man lud Jörg Thadeusz als Moderator des Abends ein und die Zucchini Sistaz als sexy Trio fürs Auge und Easy-Listening-Act fürs Ohr: „Mit Netzstrümpfen und falschen Wimpern katapultieren uns die drei frechen Damen in die goldene Swing-Ära.“

Nur wollte dies alles so gar nicht zur literarischen Arbeit der Hauptreisträgerin Elke Heinemann passen, von der die Laudatorin Ulli Langenbrinck sagte:
„Die Jury würdigt mit Elke Heinemann eine beharrlich widerständige Autorin, die ebenso virtuos wie ironisch gesellschaftliche Klischees, die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche und menschlicher Bedürfnisse, die Glaubenssätze und vermeintlichen Gewissheiten unserer Gegenwart seziert.“

Hauptpreisträgerin, geehrt?

Die Verdrängung von Literatur zugunsten von Talk & Trubel, Self-Marketing des RVR/Literaturbüros Ruhr, öden Grußworten und Gratis-Buffet fand ihren Höhepunkt darin, dass Jörg Thadeusz ohne Absprache das geplante Gespräch mit der Hauptpreisträgerin ausfallen ließ, auch für die von ihr vorbereitete „Selbstauskunft“ sollte es keinen Raum geben. Ein Affront. Geplant allerdings war als „Neuerung“ eine Lesereise mit der Hauptpreisträgerin. „Erstmalig hat das Literaturbüro Ruhr mit Unterstützung des Literaturnetzwerks literaturgebiet.ruhr eine Lesereise für den Hauptpreis organisiert“.

Mal davon abgesehen, dass das Literaturbüro Ruhr auch zuvor mit Hauptpreisträgern oft über viele Jahre zusammengearbeitet hat, kam es bei der Organisation der Lesereise zwischen dem Literaturbüro und Elke Heinemann zu allerlei Querelen. Als die Hauptpreisträgerin sich über unzureichende Organisation und ungeklärte Zahlungsmodalitäten beschweren musste und um verbindlichere Infos bat, sagte das Literaturbüro Ruhr die Lesereise am 1. Februar 2019 kurzerhand ab. Mittlerweile haben Elke Heinemann und engagierte Partner im Ruhrgebiet die Lesereise ohne Litbüro/RVR organisiert.

Drucksache

Alljährlich werden Haupt- und Förderpreise des Literaturpreises Ruhr vom Literaturbüro Ruhr/RVR ab Mitte Januar online ausgeschrieben; die Print-Ausschreibung erfolgt etwas später. In diesem Januar geschah dies nicht – und heute konnte man der WAZ (Seite „Kultur & Freizeit“) entnehmen, dass der Preis 2019 gar nicht ausgeschrieben werden soll. Der RVR selbst – unbeholfen wie oft – schreibt zuvor in einer „Anlage zur Drucksache Nr. 13/1372: Weiterentwicklung des Literaturpreises Ruhr“:

„Durch eine Weiterentwicklung soll der Literaturpreis Ruhr stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Ziel der Weiterentwicklung ist es, dass die Autorinnen und Autoren wirksamer von der Auszeichnung profitieren und der literarische Nachwuchs stärker eingebunden wird. Zudem soll das Profil des Preises geschärft sowie auf (sic, GH) aktuelle Entwicklungen angepasst werden.
Das Literaturbüro Ruhr und der RVR möchten gemeinsam und unter Einbeziehung der Jury eine weiterentwickelte Konzeption für den Literaturpreis Ruhr erarbeiten. (…) Dieses noch zu entwickelnde Konzept soll dem Kultur- und Sportausschuss im Frühjahr 2019 vorgelegt und anschließend umgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund wird vorgeschlagen, den Preis im Jahr 2019 pausieren zu lassen, um im RVR-Jubiläumsjahr 2020 und zu seinem 35-jährigen Bestehen neu und gestärkt an den Start zu gehen. In Zukunft soll der Preis weiterhin jährlich vergeben werden.“

Weiterentwicklung oder Hornberger Schießen?

Wird hier mit der schon bekannten, aber ins Leere gelaufenen Ankündigungsrhetorik vom Herbst 2018 erneut versucht, einen misslungenen Neustart doch noch in einen geplant-fundierten Relaunch des Literaturpreises Ruhr umzumünzen? Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein.

Unterm Strich bleibt heute festzuhalten: Falls die Verleihung des Literaturpreises Ruhr 2019 ausfällt (im RVR-Deutsch: „pausiert“), was geschieht dann mit dem Budget der Preisverleihung und der Preissumme von 15.110 Euro, die alljährlich an Autorinnen und Autoren vergeben wird? Verfallen sie? Das Literaturbüro jedenfalls wird dieses Geld nicht ins Haushaltsjahr 2020 hinüberretten können, weil das Land NRW sonst seinen 2020er-Fehlbedarfszuschuss ans Literaturbüro um genau diesen Betrag kürzen müsste. Und was – um Himmels willen – spräche eigentlich dagegen, den Literaturpreis Ruhr 2019 zu vergeben und parallel dazu die Neuausrichtung des Preises zu diskutieren?

Bleibt zu hoffen, dass aus der Pause und „Weiterentwicklung des Literaturpreises Ruhr“ nicht doch noch seine Verschleppung oder schleichende Abwicklung werden. Misslungene Versuche dazu hat der RVR schon des Öfteren unternommen.




Hat Literaturförderung eine Zukunft? Oder: Ein Interview als Selbstversuch

Zum 1. April 2018 habe ich im Literaturbüro Ruhr e.V. als wissenschaftlicher Leiter gekündigt. Kein Wunder, dass ich des Öfteren gefragt werde, ob ich zum vorzeitigen Abgang ein Interview gäbe. Angeregt durch die Sammlung „Unmögliche Interviews“ des Wagenbach Verlags und David Foster Wallaces „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ habe ich mich heute endlich dazu entschlossen, mich – mir nichts, dir nichts – selbst zu interviewen. Denn, so sagt Novalis, „Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.“

Beim „Kaputten Abend 1“ im Maschinenhaus der Zeche Carl – Maria Neumann (Theater an der Ruhr), geschultert von Gerd Herholz; Foto: Jörg Briese

Drei Jahrzehnte Literaturbüro Ruhr? Wie hält man das aus?
Sie hatten doch intelligente Fragen versprochen. Naja …
Heute scheint tatsächlich jeder verdächtig, der sich über längere Zeit einer Sache widmet. Die Beschäftigung mit Literatur in all ihren Facetten aber bleibt ein Leben lang  inspirierend und bereichernd. Man kann übrigens hier- und dennoch nicht zurückbleiben.

Empfinden Sie Wehmut zum Abschied?
Mut und Weh zugleich. Von Meister Eckhart stammt der Satz: „Wer werden will, was er sein sollte, der muss lassen, was er jetzt ist.“ Da stimme ich gottloser Humanist dem begnadeten Mystiker zu, spät und wahrscheinlich auch zu spät.

Wahrlich mystisch! Das heißt konkret?
Innehalten. Es braucht Muße, um wieder zu sich zu kommen. Als Rollenspieler im Hamsterrad der Literaturförderung war ich zu oft außer mir, eingespannt bei der Suche nach Fördermitteln, medialer Aufmerksamkeit, Publikum, aber auch in die bitter notwendige Kritik öffentlicher Kulturpolitik, war also Teil eines zwar noch nicht rasenden, aber rasanten Stillstands. Die Literatur, das Lesen, das Dem-Gelesenen-Nachsinnen, all das kommt eindeutig zu kurz. Ein Literaturbüro ist zwar immer auch ein Biotop für Literaturbekloppte, aber eben viel zu selten.

Hate Poetry-Abend des Literaturbüros im Essener Katakombentheater – u.a. mit Hasnain Kazim & Doris Akrap; Foto: Jörg Briese

Das war’s jetzt mit dem Weh?
Nein. Weh tut im Moment des Abschieds, dass es so scheint, als ob die Zukunft des Literaturbüros als Komplize literarischen Eigensinns verramscht würde. Da machen gedankenlose Vordenker  wohl schon länger obskure Planspiele zum Um- oder Abbau des Trägervereins, ohne dessen Vorstand und Mitglieder oder mich als Leiter des Büros überhaupt zu informieren. Insbesondere aus dem Umfeld des Regionalverbands Ruhr hört man, dass sich das Literaturbüro Ruhr mehr zu vernetzen habe, umzustrukturieren, vielleicht seine Landeszuschüsse in ein neues „Literaturzentrum“ überführen, sich gar einen neuen Standort außerhalb Gladbecks suchen solle.

Wäre denn Veränderung so schlecht?
Die behutsame Entwicklung des Literaturbüros, sein Ausbau wären mir lieber. Die Selbstständigkeit des Vereins, seine Souveränität müssen geachtet werden. Ich lege seit vielen Jahren beharrlich, aber vergeblich auch dem RVR Konzepte dazu vor, wie ein Literaturhaus, ein Literaturnetz Ruhr, Residenzen/Stadtschreiberstellen und der Literaturpreis Ruhr zukünftig aussehen könnten.

Programmveröffentlichung bei der lit.RUHR.
(von rechts nach links): Rainer Osnowski (Festivalleiter lit.RUHR), Jolanta Nölle (Mitglied des Vorstandes Stiftung Zollverein), Dr. Traudl Bünger (Künstlerische Leiterin lit.RUHR), Daniela Berglehn (Pressesprecherin der innogy Stiftung),Eva Schuderer (Programm lit.RUHR),Bettina Böttinger (Moderatorin), Dr. Thomas Kempf (Mitglied des Vorstandes der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Tobias Bock (Programm lit.RUHR)
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Der RVR allerdings zeichnete sich bisher nicht durch eine ideenreiche und die Region vehement unterstützende Literaturförderung aus, im Gegenteil: Er hat sie eher verschleppt. Noch planloser sind nur die großen Stiftungen des Ruhrgebiets. Sie geben ab 2017 jährlich eine halbe Million Euro an Kölner Veranstalter, um von dort aus jeweils im Herbst die lit.RUHR organisieren zu lassen. Diese ‚lit.KOLONE‘ ist aber nichts weiter ist als eine schlichte Kopie der lit.COLOGNE: Das Ruhrgebiet – ein starkes Stück Köln! Am grünen Planertisch der hiesigen Eliten-Darsteller denkt man leider nur noch in Kategorien wie Kulturtourismus, Veranstaltungstaumel oder „Dachmarkenmarketing“ – und landet eher bei einem Dachschaden-Marketing.

Das klingt ziemlich aggressiv und verbittert.
Aggression, das heißt auch: sich auf etwas zubewegen. Meinen kleinen Zorn möchte ich mir bewahren. Den Anschein von Einstimmigkeit zu durchbrechen, das macht auch Spaß.
Verbittert? Nein. Aber enttäuscht, vor allem extrem gelangweilt von der immer gleichen größenwahnsinnigen Kulturkampagnenpolitik im Ruhrgebiet, die nicht einmal nach der Loveparade-Katastrophe gründlich infrage gestellt wird. Ich muss mir aber auch selbst vorwerfen, dass ich mich angesichts der kargen Mittel des Literaturbüros Ruhr und der fehlenden kulturpolitischen Unterstützung verschlissen habe bei dem Versuch, Literatur- und Leseförderung auf möglichst hohem Niveau zu gestalten. Man kommt sich vor wie ein Bastard aus Sisyphos, Don Quichotte und Freigänger.

Textrevolte – eine Reihe des Literaturbüros Ruhr

Wie sieht die Zukunft der Literaturförderung im Ruhrgebiet aus? Hat sie überhaupt eine?
Ein Großteil des geistigen Lebens im Alltag der Region wird auf der Strecke bleiben, wenn die Sparpolitik bei der kulturellen Infrastruktur – etwa bei den öffentlichen Büchereien – so fortgesetzt wird. Das dürfte hier aber kaum jemandem auffallen.
Die vielen selten subventionierten Enthusiasten und kleinen Initiativen wird es weiter geben. Solides ehrenamtliches Engagement gegen anämische Festivalitis und Eventitis. Ansonsten: Die hoch bezuschusste lit.RUHR als Festivalzirkus der Beliebigkeit wird das große Geld und vieles an Energie binden. Also immer öfter: Promis als Programm, Kunstsimulation als Konzept. So etwas kann man aber auch von den Ruhrfestspielen sagen: ein Kessel Buntes, Culture-to-go.

Dem Publikum scheint’s zu gefallen.
Man kann dennoch versuchen, nicht populistisch zu werden, wenn man Populäres macht. Und es gibt ein Publikum, das wünscht sich auch im kleineren Rahmen des Alltags das gekonnte Gespräch, den Vortrag guter Literatur auf der Bühne, neue Formate und vor allem politisch-kulturelle Intervention – abseits allen Talkshow- und Marketing-Gesumses. Stattdessen wird es seit Jahren vor allem von der Krimi-Flut überrollt. Ein Wellenreiter wie Sebastian Fitzek wird dabei tatsächlich als Schriftsteller gehandelt und ist doch bloß einer, der in Serie Sprache killt. Allerdings sieht man auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten auch viele Kulturpolitiker und –‚manager‘, sogenannte Intendanten, Experten, Hobby-Moderatoren, Dichterdarsteller, die sich so vor die gekonnte Literatur, die Literaten schieben, dass man diese gar nicht mehr sieht.

Wieso setzt sich die Festival-Blase überall durch, wenn sie doch nur einfallslose Mono-Kultur bietet?
Es gibt – wie gesagt – die Begierden der Festivalmacher, immerhin agieren sie in sehr gut bezahlten Jobs. Dazu jede Menge offene und verdeckte Politik-, Verwaltungs- und Sponsorinteressen. Alle wünschen sich den Abglanz glitzernder Kunst-Fassaden, den Imagetransfer. ‚Social washing‘: Da lässt sich halt ein Kulturfestival von ‚Gönnern‘  wie VW oder Mercedes sponsern und die Auto-Patriarchen sind erfreut, sich für ein paar Peanuts abseits aller Abgas- und Affenversuchsskandale in veritable ‚Kultur‘ einzukaufen – eine Kultur, die sie selbst nicht besitzen. Und während des Festivals wird dann dreist von Literatur als Widerstand gesprochen, ein Widerstand, der längst verraten und verkauft wurde. Das Großformat erstickt per se aufrechte Haltung und Integrität.

Und wenn man von der öffentlichen Hand gefördert wird, dann bleibt man sauber?
Mitnichten. Öffentlich geförderte Einrichtungen werden nicht nur ins Abseits gespart, sondern zunehmend mit Zielvereinbarungen, Evaluationen usw. gegängelt. Die Landesrechnungshöfe würden im Gegenzug für öffentliche Förderung gern Mindestzahlen beim Publikumsbesuch fixieren. Quotenwahn statt künstlerischer Freiraum. Um so Quote zu machen, werden Kulturförderer sich schlechtem Massengeschmack weiter anpassen müssen und ihn damit selbst immer neu erzeugen. Das wäre die Selbstaufgabe kritischer Literatur- und Leseförderung. So hechelt sie dem Markt nur noch hinterher, statt dessen Korrektiv zu sein und Freiheitsübungen zu ermöglichen.

Harald Welzer plädiert für eine offene Gesellschaft; Foto: Jörg Briese

Denken ist ein großes Vergnügen, meinte Brecht, aber eben auch anarchisch und gefährlich. Dieser ganze sinnentleerte Kulturtrubel, der nur noch dem Profit, den Zuschauerzahlen und der Standortkonkurrenz verpflichtet ist, das ganze sich totlaufende Eventkarussell als austauschbare Fun-Fassade scheinen mir gewollt. Da sollen sich die Leute zu Tode amüsieren, statt über die Zukunft des Gemeinwesens zu diskutieren.

Wüssten Sie ein Gegengift?
Manchmal wünsche ich mir, ein zweijähriges Moratorium, wie es Hans Magnus Enzensberger 1993 in der FAZ gefordert hat, würde endlich umgesetzt und wir lassen den ganzen hypernervösen, von Sponsoren und öffentlichen Förderern abgerichteten Literaturbetrieb zwei Jahre ruhen, um Literaturförderung neu auszurichten. Das Geld sollte stattdessen dem Erhalt und Ausbau der Bibliotheken zugutekommen. Wer dennoch Literatur auf die Bühne bringen will: okay! Aber das soll man bitte aus der eigenen Tasche oder der der Zuhörer zahlen. Wie viel Zeit wir gewinnen würden fürs Lesen, Nachdenken und für Gespräche!




Et hätt noch immer jot jejange: Die eitle „lit.COLOGNE“ und ihr Festival-Ableger „lit.RUHR“ (Update)

Nur mal so als Beispiel: Wilhelm Genazino am 23. Oktober 2015 bei einer Lesung des Literaturbüros Ruhr in der Duisburger Stadtbibliothek. (Foto: Jörg Briese)

Eines von Hunderten Beispielen für eine Veranstaltung ohne Kölner Entwicklungshilfe: Wilhelm Genazino am 23. Oktober 2015 bei einer Lesung des Literaturbüros Ruhr in der Duisburger Stadtbibliothek. (Foto: Jörg Briese)

Verwundert rieben sich manche am 27. Januar die Augen, als die WAZ auf ihrer „Kultur & Freizeit“-Seite titelte: „Die ‚lit.COLOGNE‘ kommt als ‚lit.RUHR‘ ins Revier“. Vom 4. bis zum 8. Oktober soll es 2017 losgehen, mit 75 Lesungen in Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund.

Muttis Mini im Pott

Wie praktisch: Jovial kürte Rainer Osnowski, lit.COLOGNE-Geschäftsführer, das nur 60, 70 Kilometer entfernte Ruhrgebiet zum Gewinner des Rennens um einen heiß begehrten „Ableger der ‚lit.COLOGNE‘“, an dem auch andere Regionen großes Interesse gezeigt hätten. Er sei beeindruckt „vom unbedingten Willen und vom absoluten Wohlwollen der Reviervertreter“, so Osnowski in der Kölnischen Rundschau. („Reviervertreter“? Wohl eher Zahlmeister aus der Region!) Das Programm werde allerdings erst am 31. August auf der Zeche Zollverein vorgestellt.

Kesse Ankündigungsrhetorik, die in der Kölnischen Rundschau noch selbstbewusster klang als in der WAZ. Die lit.COLOGNE bleibe zwar „die Mutter aller Festivals“, stellte Osnowski dort klar, allerdings eine mit Nachwuchs. Im Oktober beginne „in Essens Philharmonie die fünftägige lit.RUHR mit 40 Veranstaltungen für Erwachsene und 35 für Kinder“.

Alles Gute kommt von oben?

Stolz gab Osnowski bekannt, dass fünf Ruhr-Stiftungen das 500.000 Euro schwere Budget des neuen lit.RUHR-Festivals absichern: die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die Brost-Stiftung, die RAG-Stiftung, die innogy-Stiftung und die Mercator-Stiftung. In der WAZ war am selben Tage noch von sechs Stiftungen die Rede, dazu von einem Landesministerium und fünf Unternehmen, die als Premium-Unterstützer fungieren. Die Funke Mediengruppe und der WDR 5 wurden als Medienpartner genannt.
In der Pressemitteilung der lit.RUHR selbst heißt es, das neue Festival werde „veranstaltet von dem gemeinnützigen Verein lit e.V.  Die Initiatoren des Festivals verantworten auch das Internationale Literaturfestival lit.COLOGNE“ – das allerdings cool über eine GmbH geführt wird.
So oder so: Was soll da – so gepudert & gepampert – noch schiefgehen? Alles too smart to fail.

In Duisburg! Unglaublich! Roger Willemsen (im Bühnengespräch mit Gerd Herholz). Wir vermissen ihn & seine intellektuelle Brillanz – nicht nur in Köln! (Foto: Jörg Briese)

Zu spät! Die ahnungslose Auster-isierung des Ruhrgebiets

Traudl Bünger, Programm-Macherin der lit.COLOGNE, versprach in der WAZ tapfer, dass man an der Ruhr keine kleine Kopie der lit.COLOGNE implantieren wolle, dass vielmehr das Ziel sei, „das Festival an die Besonderheiten des Reviers anzupassen“. Gebetsmühlenartig heruntergeklappert kennt man solche Sprüche bereits von jedem neuen TRIENNALE-Chef. Zum Verwechseln ähnlich schwärmte dann auch Bünger schicklich vom „Schmelztiegel Ruhrgebiet“ – so als ob Berlin, Frankfurt oder der Großraum Köln selbst keine Melting Pots wären.

Osnowski ließ da in der Kölner Berichterstattung Plumperes hören: Da die lit.RUHR vor der lit.COLOGNE SPEZIAL und der Frankfurter Buchmesse stattfinde, erhoffe er sich, Autoren wie Paul Auster zum Beispiel sowohl in Köln als auch in Essen auftreten zu lassen.

Finanziell wie organisatorisch wäre dies ganz sicher ein Vorteil für das erfolgreiche Literatur-Business aus und in Köln. Paul Auster könnte in Köln logieren, der Renault-Limousinenservice führe ihn an die Ruhr und … nähme ihn nach der Lesung gleich wieder mit: zu Interviews mit dem Kölner WDR oder dem Deutschlandfunk. Und die Ruhris hätten Auster immerhin auch einmal gesehen…

Was allerdings nicht das erste Mal wäre: Paul Auster, Don DeLillo oder Siri Hustvedt waren bereits in den 90er-Jahren im Grillo-Theater anregende Gäste des Essener Schreibhefts. So wie später auch Stewart O’Nan, Louis Begley u.v.a. Gäste des Literaturbüros Ruhr e.V.  waren. Aber woher soll man das bei der lit.COLOGNE wissen? Es gibt den rasant Heranwachsenden ja erst seit März 2001.

Literaturdiaspora Ruhr – Missionare aus Colonia

Osnowski in der Kölnischen Rundschau munter weiter: „Im Ballungsraum Ruhrgebiet mit rund fünfeinhalb Millionen Einwohnern sollen ‚erstmals Autoren auftauchen, die daran bislang vorbeigegangen sind“. Das interessiere auch jene Verlage, „für die das Ruhrgebiet bislang noch Diaspora ist.“

Alain Mabanckou (Paris) und Angela Spizig (aus Köln, achherrje!) lachen sich kaputt – beim Abend des Litbüros Ruhr im Centre Culturel in Essen. (Foto: Jörg Briese)

Ja sicher, jedem Jeck jefällt sing Mötz. Aber solches Gerede darf endgültig als hoch subventioniertes, gründlich misslungenes Revier-Marketing aus Olle-Kamelle-Kölle bezeichnet werden. Sollte Osnowski wirklich nicht wissen, dass Literaturveranstalter im Revier wie die Buchhandlung Proust, das Schreibheft, die beiden Literaturbüros, das Deutsch-Französische Kulturzentrum, das Literaturhaus Herne-Ruhr, das Literaturhaus Dortmund, die (deutsch-türkische) Buchmesse Ruhr, die Literatürk, der Verein für Literatur und Kunst in Duisburg, die Exile Kulturkoordination seit Jahrzehnten mit allen guten Verlagen in Deutschland kooperieren und mit vielen internationalen sowieso? Na gut, Salman Rushdie war noch nicht hier, Goethe kann nicht mehr kommen, aber sonst? Some of the best are yet to come – auch ganz ohne lit.COLOGNE.

Wenn die Kölner übers vermeintliche Kuckucksnest Ruhrgebiet weiter so hinwegfliegen, wie sie zurzeit darüber hinwegplappern, helfen auch keine 500.000 Euro, von denen Osnowski ganz bescheiden meinte: „Damit können wir aber gut arbeiten: Wir fangen ja gerade erst an.“

Kleinmut und Mittelmaß

Unterm Strich bleibt aber auch eine andere Fehlleistung festzuhalten. Im Ruhrgebiet haben es sowohl Stiftungen, Unternehmen als auch öffentliche Kultur- bzw. Literaturpolitik in Kommunen oder beim RVR jahrzehntelang versäumt, die regionale Literaturförderung beherzter und intelligent so auszustatten, dass sich hier mehr gute Ideen bis zur Bühnenreife hätten entwickeln lassen. An Konzepten wie dem zum Europäischen Literaturhaus Ruhr oder zum Literaturnetz Ruhr (wichtiger Literaturveranstalter) ist hierzulande niemand interessiert.

Geldgeber an der Ruhr misstrauen Ideen und Programm-Machern, die aus der Region kommen, sowieso. Vielleicht, weil ihnen selbst Mittelmaß so vertraut ist? Warum zum Teufel in der Region Innovatives behutsam aufbauen, wenn man erfolgreichen Mainstream für den Kulturtourismus viel einfacher abkupfern kann? Also ab nach Köln oder anderswo zum Shoppen und eingereiht ins austauschbare Event- und Marketingbusiness der großen Festivals. Und dann demnächst noch dreist von „Alleinstellungsmerkmal“ schwafeln.
Dass allerdings die geschäftstüchtige lit.COLOGNE diese Geistlosigkeit und Marketinggeilheit an der Ruhr nutzt, um an neue Töpfe zu kommen, darf man ihr nun wahrlich nicht vorwerfen.

„Mangel an Großstadtsubstanz“

Dies alles erinnert sehr an Erik Regers Reportage „Ruhrprovinz“ aus „Die Weltbühne“ von 1928: „Eine chaotische Landschaft, in der Handelskammern, Gewerkschaften, Industriellenverbände, Bürgervereine, Pressechefs und Kulturdirektoren am gleichen Strang ziehen, um den düstern Alltag zu verschönern und das barbarische Konglomerat der Einwohner mit Kultur zu beglücken“ (…) Der Mangel an Großstadtsubstanz verursacht jene innere Unsicherheit, die in fieberhaftem Betätigungsdrang einen Ausgleich sucht.“

Und weiter: Im Ruhrgebiet sei man „aus Mangel an eigenen Ideen darauf angewiesen (…), Berlin zu kopieren. Nichts erscheint erstrebenswerter als die Imitation der Weltstadt-Mondänität.“