Als Robert Walser von Christian Morgenstern gerügt wurde – eine digitale Dortmunder Fachtagung zum Thema „Korrigieren“

Dortmund. Das haben wir nicht alle Tage: dass von Dortmund aus eine literatur- und medienwissenschaftliche Diskussion angeregt wird und es dazu eine hochkarätige Tagung gibt – in diesen Zeiten freilich digital und virtuell. Wir reden von einer zweitägigen Fachdebatte zum bisher weithin unterschätzten Thema des Korrigierens in vielen Schattierungen. Das Spektrum reicht von der Lektorierung literarischer Texte bis hin zur oft so vermaledeiten Autokorrektur-Software – und ragt in einige andere Bereiche hinein.

Etwas unscharfer Screenshot von der Videokonferenz-Tagung: Prof. Thomas Ernst beim einleitenden Kurzvortrag, in der Bildleiste darüber weitere Tagungs-Teilnehmer(innen).

Wie noch nahezu jedes Thema, so lässt sich auch dieses im Prinzip unendlich auffächern und in allerlei Feinheiten zergliedern. Was abermals zu beweisen war und sich heute schon zu Beginn der Tagung angedeutet hat. Im Folgenden „schenken“ wir uns sämtliche Professoren- und Doktortitel, praktisch alle Beteiligten tragen den einen oder anderen. Und übrigens: Fast alle zeigten sich den Webcams vor üppig gefüllten Bücherregalen.

Eingeladen hatte das von Iuditha Balint geleitete Fritz-Hüser-Institut (FHI) für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, das in der Nachbarschaft des Dortmunder LWL-Industriemuseums Zeche Zollern residiert. Mitorganisator ist Thomas Ernst (Amsterdam/Antwerpen), weitere Wissenschaftler*innen werden aus Bern, Hamburg, Berlin, Saarbrücken, Mannheim, Leipzig, Essen und Bochum zugeschaltet, die Kommunikation erfolgt via Zoom-Konferenz.

Machtverhältnisse und aufklärerisches Potenzial

Iuditha Balint legte in ihrer kurzen Einleitung dar, dass Korrekturen u. a. auch Ausdruck von Machtverhältnissen sein können (wer darf wen wie weitgehend „verbessern“?) und sozusagen ein Gegenstück zum Konzept von genialer oder auktorialer Autorschaft darstellen. Thomas Ernst führte aus, dass das Korrigieren zudem – schon in der Schule, wenn etwa Klassenarbeiten durchgesehen und bewertet werden – normative Funktionen erfülle. Auch Zensoren übten quasi eine Art „Korrektur“ aus. Am anderen Ende der Skala befördere das Korrigieren allerdings auch Formen kollektiver Zusammenarbeit und könne als Instrument der Aufklärung gelten. Wie wissenschaftliche Erkenntnisse sich überhaupt im Dialog und durch ständige Revisionen (also: Korrekturen) konstituieren, habe sich jüngst auch bei der Diskussion virologischer Themen vielfach erwiesen. Da war er, der aktuelle und buchstäblich virulente Bezug. Hier aber gilt’s den Geisteswissenschaften.

Die „Affenliebe“ zum eigenen Schreiben

Den ebenso anspruchsvollen wie interessanten Eröffnungsvortrag hielt sodann Ines Barner aus Essen. Sie skizzierte eine übergreifende Systematik zum Thema der Tagung und verwies dabei auf zwei konkrete Beispiele aus den Gefilden der literarischen Hochprominenz. So hat kein Geringerer als der Lyriker Christian Morgenstern – einer der frühen Lektoren im deutschsprachigen Literaturbetrieb – zeitweise die Betreuung des Romanautors Robert Walser („Geschwister Tanner“) übernommen. Anfangs höchst angetan vom kurz zuvor neu entdeckten Walser, schrieb Morgenstern ihm vor der Drucklegung einen ziemlich harschen Brief. Walsers „Affenliebe“ zum eigenen Text müsse nun endlich aufhören, er schreibe viel zu „weitschweifig“ und „selbstgefällig“, ja nahezu trivial. Sprach’s und strich kurzerhand ganze oder halbe Seiten aus dem ursprünglichen Text… Just solche „Störstellen“ (Ines Barner) hat Robert Walser hernach aufgegriffen, um sie eigenständig umzuarbeiten.

Peter Handke zwischen den Extremen

Anders gelagert war der Fall bei Peter Handke, dem Elisabeth Borchers als Lektorin des Buchs „Langsame Heimkehr“ zur Seite gestanden hat. Handke wusste nicht recht, wie er das Buch enden lassen sollte und steigerte sich in eine regelrechte Schreibkrise hinein, in deren Verlauf er Elisabeth Borchers freie Hand gab, den Text nach Belieben zu ergänzen, was einer Mitautorschaft gleichkam. Ein durchaus ungewöhnliches Verfahren. Handke hat seine Großzügigkeit denn auch später bereut, sich von Borchers als Lektorin getrennt und fortan umso entschiedener auf Unantastbarkeit seines Schreibens bestanden. Von einem Extrem ins andere…

Schon diese beiden Beispiele des Umgangs mit Korrekturen auf dem Felde der Hochliteratur lassen ahnen, wie spannend und vielfältig die Stoffe der Dortmunder Tagung sind. Es werden noch etliche weitere Aspekte in Betracht kommen, beispielsweise: Korrekturen und Lehrerurteile anhand deutscher Abituraufsätze in den 1950er Jahren (Sabine Reh), Korrekturprozesse bei der Verfertigung von Friedrich Nietzsches „Die fröhliche Wissenschaft“ (Stavros Patoussis / Mike Rottmann), „Zur Figur des Korrigierens bei Thomas Bernhard“ (Justus Fetscher), „Korrigieren mit der Schere“ (Marie Millutat) oder auch „Sprachliche Normen und Korrekturimpulse in automatisierten Korrekturprozessen“ (Ilka Lemke / Katrin Ortmann).

Schade nur, dass die Teilnehmerzahl auf rund 100 Leute begrenzt ist. So bleibt die Wissenschaft erst einmal unter sich. Doch Verlauf und Resultate der Tagung sollen später noch publiziert werden; zunächst in einigen Wochen als Zusammenschnitt (auf der Instituts-Seite fhi.dortmund.de), im nächsten Jahr dann als Tagungsband.

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P. S.: Auch dieser Beitrag wurde noch einer Korrektur unterzogen. Nur gut, dass er nicht gedruckt vorlag.

 

 




Kleistiana (3): „Die Hermannsschlacht“

Wie zu lesen sei / Kleists „Hermannsschlacht“ in neuer Lesart
Zu: Barbara Vinken: „Bestien / Kleist und die Deutschen“, Merve Verlag Berlin 2011 (8,00 €)

Dass der von mir in anderen seiner Werke von früh an so sehr verehrte Heinrich von Kleist auch das Drama „Die Hermannsschlacht“ geschrieben hat, hat mich – zugegeben – immer schon etwas gestört und ich habe es – nur von der damaligen Zeitsituation her betrachtet, gleichsam wie aus mildernden Umständen heraus – immer etwas widerwillig als „Leider-auch-ein-Werk-Kleists“ hingenommen. Der andere Blick der Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken kommt mir nun im Sinne einer Ehrenrettung Kleists innerlich entgegen. Kein Wunder daher, dass ich gleich zugriff, als mir ihr neuestes, nicht sehr umfangreiches Buch unlängst in einer Essener Buchhandlung in die Augen fiel, das ja, wie schon beim Blättern rasch erkennbar, eine andere triftigere Lesart als die geläufige anzubieten sich anschickt.

Von ihrer Ausgangsthese, die sie recht akribisch und recht einleuchtend (unter Einbeziehung der römischen Geschichte, ihrer Rezeption im Deutschland und Frankreich des 18. und frühen 19 Jahrhunderts sowie der neueren und älteren Kleist-Forschung) darlegt und mit Gründen und Belegen entfaltet, gelingt es ihr, auch mich als keineswegs unkritischen Leser weitestgehend zu überzeugen. Weder als nationalistisches Hassstück noch als Propagandastück im Sinne eines Partisanenkriegs, im Sinne der „Befreiungskriege“ also, sei Kleists Drama angemessen zu verstehen, ja, überhaupt nicht als ein Stück, das maßgeblich politisch eingreifen will, sondern als ein Werk der dramatischen Analyse. „Hermann ist nicht das Sprachrohr Kleists. Die Hermannsschlacht ist weder ein Aufruf zum totalen Krieg noch eine Anweisung zum Partisanenkrieg. Kleist zeigt nicht, dass der Zweck der Befreiung der deutschen Lande vom französischen Usurpator jedes Mittel heiligt. Das Deutsche ist am Ende nichts als entstellte Fratze des Römischen, Überbietung der römischen Perfidie.“ (Vinken, a.a.O., S.92f.)

In der Schwellenregion „an der Lippe“ spielt sich der ganze dramatische Hergang der Kleistschen „Hermannsschlacht“ ab: unter Einbeziehung auch vorausgegangener Forschungsbeiträge macht Barbara Vinken auf die geopolitischen, geschichtlichen und zeitgeschichtlichen, sowie erotischen und gewalttätig geschlechtsbetonten Konnotationen aufmerksam: insbesondere an Hand zweier Schlüsselszenen des Dramas: a) der „Halali Hally“ -Szene und b) der Thusnelda-Ventidius-Bärinnen-Szene.

Auf der letzten Seite ihres Buches fasst Barbara Vinken noch einmal zusammen:
Kleists Drama „Die Hermannnsschlacht“ „zielt nicht auf politische Wirksamkeit.
Es ist vielmehr eine Analyse der historischen Situation, die das Ende der Hoffnungen der Französischen Revolution besonders in der schillersch-republikanischen Version besiegelt. Es wird keine „translatio republica“ nach Deutschland geben.“
(…)
„Die Befreiungskriege sieht Kleist nicht als „translatio republica“, sondern als eine „translatio tyrannis“. Sie führen die römischen Bürgerkriege fort. Deutsche und Franzosen sind gleich: brüderlich in einer Gewalt entzweit.“ (ebd., S.93)

Dass ich Kleists von mir vielleicht etwas vorschnell abgetanes Drama nun neu lesen möchte, hat die Verfasserin unleugbar erreicht. Ebenso drängt es mich danach, jenen mir als erschreckend in mein Gedächtnis eingegrabenen „Katechismus der Deutschen, abgefaßt nach dem Spanischen zum Gebrauch für Kinder und Alte“ daraufhin neu zu lesen und mit all den verwandten bzw. benachbarten Texten Kleists und z. T. auch anderer zusammenzusehen. Diesen „Katechismus“ habe ich auszugsweise schon mit 13 gelesen; in einer recht seltsamen Anthologie („Die Selbstbefreiung des deutschen Geistes“) fand er sich, und mit einem gewissen Stolz erinnere ich mich noch daran, dass mich schon damals (ohne jeden Einfluss von Erwachsenen) der wiederholt nationalistisch hasserfüllte Ton und Charakter des vom „Vater“ gelenkten (Schein-)Dialogs mit seinem „Kinde“ recht befremdet und sehr heftig abgestoßen hat.