Balthus: Zwischen Unschuld und Verführung

Halb sitzt sie noch, halb liegt sie schon. Pose und Mimik des Mädchens sind gleichermaßen traumverhangen wie lasziv. Der Ausdruck flimmert zwischen Unschuld und Verführung.

Der Blick des Malers und somit das Augenmerk Betrachters richten sich auf den weiß aufblitzenden Schlüpfer unter ihrem hochgerutschten roten Rock. The´rèse, die dem Künstler Balthus 1938 hierfür Modell saß, war damals erst zehn oder elf Jahre alt . . .

Der Franzose Balthus ist berüchtigt wegen solcher begehrlichen Lolita-Bildnisse. Mit welcher malerischen Inbrunst er sich allein schon den entblößten Knien dieser Pubertierenden gewidmet hat, die nicht mehr kindlich spielen und niemals lächeln! So fing er die halb unbewusst erwachende Erotik sinnend in sich gekehrter Nymphen ein. Das erscheint heikel, ja mitunter skandalös. Und ist skandalös gut gemacht. Fast hilflos steht man vor derlei überragender Könnerschaft.

Noch nie hat es eine Balthus-Werkschau in Deutschland gegeben. Kein einziges seiner Werke gehört hierzulande einer öffentlichen Sammlung. Das Ludwig Museum wagt sich auf Pioniergelände. Exquisite Übersicht: 70 Gemälde und Zeichnungen aus den Jahren 1932 bis 1960 sind in Köln zu sehen.

Hie und da walten zwar surrealistisch inspirierte Raumverhältnisse. Doch zur Avantgarde seiner Zeit hat Balthus (1908-2001) Abstand gehalten. Seine Anregungen reichen von der italienischen Renaissance über französischen Klassiszismus bis hin zu Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter”, dessen haltlos im Raum schwankende Figuren ein Prägemuster für etliche Balthus-Szenen sein dürften. Häufig sind auch tradierte biblische bzw. mytholgische Szenen die Folie für diese verschwiegene Sonderwelt.

„Aufgehobene Zeit” lautet der Untertitel der Schau, einen „zeitlosen Realismus” hatte Balthus im Sinn. Tatsächlich scheint der Zeitfluss in den Bildern angehalten zu sein. Immer wieder, manchmal jahrelang habe sich Balthus an dieselben Gemälde begeben, heißt es. Es mangelte ihm wahrlich nicht an Selbstbewusstsein, er legte für sich die allerhöchsten Maßstäbe an. Just deshalb war er nie vollkommen zufrieden mit den Ergebnissen. Unaufhörlich am „einzig wahren” Bild zu arbeiten, das wiederum den flüchtigen Moment zum endlos gespannten Augenblick einfriert – dies war wohl das unerreichbare Ideal.

Phantasien über
weibliche Opfer

Unerlöst, oft auch etwas unheimlich wirken diese Bilder. Manchmal auch sehr unheimlich. Ein nacktes junges Mädchen liegt als „Das Opfer” (1939-1946) mit verdrehten Gliedmaßen auf ein Bett hingestreckt. Auf dem Boden ein Messer, aber nirgendwo Blutspuren – nur scheint ein bleicher Todeshauch das Zimmer zu durchwehen. Oder: Ein Mädchen mit gewaltsam (?) geöffneter Bluse droht hinterrücks aus dem „Fenster” (1933) zu stürzen, sie macht eine abwehrende Geste. Der zuweilen schmerzlüsterne Balthus soll sein Modell mit einem Messer erschreckt haben, um ihren entgeisterten Gesichtsausdruck zu sehen.

Vorskizzen verraten es: Mit mathematischer Präzision hat Balthus seine Bildräume berechnet, auch Lage und Stellung der Körper im Raum sind genau kalkuliert – und werden dann doch ins Rätselhafte gewendet.

All dies ist ungemein delikat ausgeführt. Geradezu altmeisterliche Feinmalerei ist hier zu bewundern, bis in kleinste Schattierungen hinein. Es sind prekäre Sujets, doch sie bleiben meist in unbestimmbarer Schwebe. Keine Pornographie, sondern Kunst – im Grenzbezirk.

„Balthus – Aufgehobene Zeit”. Museum Ludwig, Köln (direkt am Hauptbahnhof). Bis 4. November. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 35 Euro.

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Info:

  • Balthus lebte von 1908 bis 2001. Er hieß eigentlich Balthazar Klossowski.
  • Nach der Trennung von seinem Vater stand Balthus‘ Mutter, die aus Breslau (heute Wroclaw) stammte, zeitweise dem Dichter Rainer Maria Rilke sehr nahe.
  • Rilke förderte den begabten Jungen und dachte sich den Künstlernamen aus.
  • Schon die erste Ausstellung geriet 1934 zum Skandal.
  • Seit den späten 50er Jahren verlegte sich Balthus auf meditative Landschaften – eine nicht mehr „anstößige” Sehnsucht.



Lockungen einer Nymphe – „Lolita“, Adrian Lynes Neuverfilmung von Nabokovs Skandalroman

Von Bernd Berke

Es ist Hochsommer, es ist heiß. Sie liegt bäuchlings und barfüßig im Gras, spielt gedankenverloren mit ihren langen Zöpfen und blättert in einem Buch. Hinter ihr plätschert ein Springbrunnen. Sprühende Wassertröpfchen haben ihr Kleid so durchnäßt, daß sich ihre erblühenden weiblichen Formen abzeichnen. Nur unschuldiger Liebreiz oder auch schon ein Hauch bewußter Verführung?

Vorsicht, vermintes Gelände! Das Mädchen auf der Wiese ist anfangs gerade mal zwölf Jahre alt und heißt Lolita. Die skandalumwitterte Figur aus Vladimir Nakobovs Roman von 1955 hat, rund 40 Jahre nach Stanley Kubricks Kinofassung, abermals einen Filmemacher inspiriert und wohl auch in gewisser Weise erregt. Diesmal ist es Adrian Lyne, der die Geschichte jenes Literaten mit dem Doppelnamen Humbert Humbert (Jeremy Irons mit verliebtem Dauer-Dackelblick) nachzeichnet.

Der Intellektuelle wird unwiderstehlich von der Nymphe Lolita (frisch drauflos: die 15-jährige Schülerin Dominique Swain) angezogen und ins bittersüße Verderben geführt. Doch wer verführt wen? Wo ist die Grenze zwischen zärtlicher Zuwendung und sexuellem Mißbrauch? Ist er berechnend, ist sie durchtrieben? Kann sie überhaupt verantwortlich sein? Jedenfalls: Halb zieht sie ihn, halb sinkt er hin. Um in Lolitas Nähe zu bleiben, heiratet Humbert Humbert gar ihre ungeliebte Mutter Charlotte (Melanie Griffith), deren Unfalltod ihn insgeheim beglückt (seinen vorherigen Mordplan am Badesee läßt der Film ganz aus).

Nun also kann Humbert mit Lolita auf eine Hotelreise quer durch die USA gehen. Ein quälendes Road Movie, ein Trip durch Paradies und Hölle. Mal benehmen sich die beiden wie ein turtelndes Liebespaar, mal gesittet wie Vater und Tochter, mal ist sie ganz unbefangenes Kind mit beträchtlichem Kaugummi- und Comic-Verbrauch, dann wieder heult sie still in ihr Kissen – oder sie spielt trotzig ihre Macht aus: Entweder doppeltes Taschengeld oder keinen Oralsex mehr. Womöglich der erste Schritt in die Prostitution?

Wie beim Wettstreit ums süßeste Girl im nassen T-Shirt

Regisseur Lyne ist vorbelastet. In „Eine verhängnisvolle Affäre“ hat er eine furienhafte Geliebte auf ein braves Ehepaar gehetzt, in „9 1/2 Wochen“ Untiefen sexueller Auslieferung und in „Ein unmoralisches Angebot“ die Mechanismen zwischen Sex und Geld geschmäcklerisch bebildert. Ein Mann mit dieser Filmographie mußte früher oder später auf „Lolita“ stoßen. In den USA hat er sich mit dem Projekt Ärger eingehandelt. Es ist ja auch ein Dilemma: Die Kamera muß, um Humberts Begehren zu beglaubigen, permanent die Reize Lolitas ausstellen und doch halbwegs diskret bleiben. So kommt es, daß vor allem Lolitas entblößte Füße die Erotik verkörpern und daß ihre frühe, von Humbert hervorgelockte Verderbtheit sich in grell geschminkten Lippen äußert. Ein neckisches Spielchen der Andeutungen.

Geistige Dimensionen, mythische Qualitäten gar, erlangt man so nimmer. Der Zuschauer fühlt sich stets ein wenig wie beim Strandwettbewerb ums süßeste Girl im tropfnassen T- Shirt. Und der Showdown mit jenem Kinderporno-Finsterling Clare Quilty (Frank Langella), der dem zuweilen faustischen Humbert und dem Lolita-„Gretchen“ als mephistophelischer Schatten folgt, erschöpft sich letztlich im Action-Gerangel um eine Pistole.

Immerhin wird deutlich, daß es hier nicht nur um pure Lüsternheit, sondern zumindest seinerseits um eine dauerhafte, wenn auch höchst prekäre Liebe geht. Denn Humbert Humbert ist zu tätiger Sühne bereit, indem er später die von einem anderen Mann schwangere, zum unscheinbaren Heimchen gewordene Lolita selbstlos umsorgen will.

Doch im Vergleich zu Nabokovs genialem Roman, dessen ungeheuer vitaler Sprachfluß von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln vermag, bleibt dieser Film Flachware. Ja, man könnte als Leser geradezu zornig werden, daß ein solcher Streifen und seine Gesichter nun den Kopf besetzt halten und sich vor die Erinnerung an das Buch zu schieben drohen.