Schonungsloser Blick auf Missstände seiner Zeit: Vor 150 Jahren starb der englische Schriftsteller Charles Dickens

Zeitgenössische Illustration zu Charles Dickens‘ Roman „Oliver Twist“ – von George Cruikshank (1792-1878): Oliver Twist wird bei einem Einbruch verletzt. (Wikimedia public domain /gemeinfrei – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Oliver_Twist_-_Cruikshank_-_The_Burgulary.jpg)

Sein Blick war unbestechlich und schonungslos: Der englische Schriftsteller Charles Dickens hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, ein ausgestoßenes, misshandeltes Kind zu sein. Die trüben Erfahrungen im gnadenlosen Kapitalismus des viktorianischen England ließ er in seine Romane einfließen.

Keine erbauliche Lektüre also, was er in Welterfolgen wie „Oliver Twist“ oder „David Copperfield“ festgehalten hat. Am 9. Juni 1870, vor 150 Jahren, ist der scharfsichtige und mit manchmal grotesker Ironie gesegnete Autor auf seinem Landsitz Gads Hill in Higham bei Rochester in England an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben.

Charles Dickens gehörte weder der englischen High Society an noch hatte er eine universitäre Erziehung genossen. Mit sieben Geschwistern wuchs er im Haushalt eines nahezu mittellosen Schreibers im Dienste der englischen Marine auf. Als Charles 12 Jahre alt war, ließen Gläubiger den Vater 1824 ins Schuldgefängnis stecken, weil er die hohen Lebenshaltungskosten in der expandierenden Großstadt London nicht mehr aufbringen konnte. Mit Kinderarbeit musste der Junge den Lebensunterhalt für die verarmte Familie verdienen. Er schuftete in einer Lagerhalle und einer Fabrik.

Zwei Jahre konnte er zur Schule gehen, nachdem sein Vater freigekommen war. Bildung erwarb sich der anfangs kränkliche, wissbegierige Junge durch einige Bücher aus seines Vaters Besitz und durch Besuche im British Museum. Als Schreiber bei einem Rechtsanwalt konnte er Menschen studieren: grausame, selbstsüchtige Typen, gütige und mildtätige Charaktere. Sie flossen in seine späteren Werke ein. In den „Sketches by Boz“ (sein Pseudonym), für verschiedene Londoner Blätter geschrieben, hielt er Stimmungen, Charaktere und soziale Verhältnisse der Metropole fest. Der 24-jährige weckte erste literarische Aufmerksamkeit, als er sie 1836 als Buch veröffentlichte: „Londoner Skizzen“ ist der deutsche Titel.

Bekehrter Geiz: „Eine Weihnachtsgeschichte“

Eine Geschichte, die auch durch mehr als 30 Verfilmungen bekannt geworden ist, erschien 1843: „A Christmas Carol“ („Eine Weihnachtsgeschichte“) verbindet die Kritik an den sozialen Missständen in der Industrialisierung in England mit der Schilderung eines kaltherzigen Eigenbrötlers. Ebenezer Scrooge kennt weder Mitleid noch Einfühlungsvermögen, hält die Feier des Weihnachtsfestes für Humbug und Spenden für Arme für überflüssig. Vom Kampf seines kärglich bezahlen Angestellten Bob Cratchit um den Unterhalt seiner Familie und die Gesundheit seines behinderten Kindes Tim nimmt er keine Notiz.

Dickens bricht den Realismus der Erzählung auf: Der Geist von Scrooges verstorbenem Teilhaber erscheint in der Christnacht, warnt den Geizhals vor den Folgen seiner Geldgier und kündigt drei Geister der Weihnacht an. Sie zeigen Scrooge schonungslos die Folgen seines Handelns – für die Familie von Cratchit, für sich selbst und für sein Schicksal nach dem Tod. So wandelt sich Scrooge zu einem Menschen, der erkennt, dass auch er selbst durch Freundlichkeit und Großzügigkeit ein besseres Leben führen würde. Die Weihnachtsgeschichte wurde u.a. 1983 als Zeichentrickfilm mit Disney-Figuren wie Onkel Dagobert als Scrooge und Mickey Mouse als Cratchit produziert; neun Jahre später entstand eine Version mit  Charakteren aus der „Muppets Show“ als Hauptdarsteller.

Kinderarbeit und Elend: „Oliver Twist“

Zu den bedeutsamsten Romanen des gesamten 19. Jahrhunderts wird „Oliver Twist“ gezählt. Der überwältigende Erfolg erschien 1837 bis 1839 in Fortsetzungen in einer Zeitschrift, wurde aber auch kritisiert – etwa wegen der idealisierten Charakterdarstellung seines Helden, wegen der unverblümt grausamen Schilderungen der sozialen Realität oder eines gewissen Zugs zum Melodramatischen.

In „Oliver Twist“ flossen die eigenen Erfahrungen ein, die Dickens mit Kinderarbeit, Elend, menschlicher Niedertracht und grausamem Verbrechen gemacht hatte. Der Waisenjunge, der aus dem Armenhaus flieht, gerät in die Fänge eines skrupellosen Gauners, der ihn zum Kriminellen ausbildet, lernt Mord und Misshandlung kennen, taucht tief in die menschlichen Abgründe ein, die sich bei den Ausgestoßenen, den Elenden, den Hoffnungslosen auftun. Aber Oliver erfährt auch Fürsorge und Liebe und lebt zuletzt dank einer Kette glücklicher Fügungen in geordneten Verhältnissen. Der soziale Realismus der Schilderungen hat damals in ganz Europa Aufsehen erregt und gab in England den Anstoß zu sozialpolitischen Reformen.

Vom Handlanger zum Schriftsteller: „David Copperfield“

Erfahrungen aus seinem Leben spiegelt auch Dickens‘ Roman „David Copperfield“, der ab 1849 entstand – ein Buch über die Entwicklung eines gedemütigten und misshandelten Kindes zu einem erfolgreichen Schriftsteller. Das Werk mit stark autobiographischen Bezügen wird unter die wichtigsten englischsprachigen Romane des 19. Jahrhunderts gezählt. Dickens selbst bezeichnete ihn als seinen „Lieblingsroman“. Auch der unmittelbar nach „Oliver Twist“ 1839 erschienene Roman „Nicholas Nickleby“ ist ein kritischer Gesellschaftsroman, der Dickens unter dem Pseudonym „Boz“ vor allem in Deutschland populär gemacht hat.

Seinen literarischen Ruhm begründete der zunächst als Parlaments-Stenograph, später als Journalist arbeitende Charles Dickens 1836/37 mit den humorvollen „Pickwick Papers“, zu Deutsch „Die Pickwickier“, erschienen ursprünglich als Zeitschriften-Fortsetzungsroman und geschickt an Interessen und Reaktionen der Leser angepasst. Seit 1842 begab sich Dickens immer wieder auf Reisen, zunächst in den USA, dann in England, bei denen er aus seinen Werken vorlas. Bei seinem Tod hinterließ er ein beträchtliches Vermögen, mehr noch aber einen literarischen Ruhm, der bis in die Gegenwart nicht verblasst ist.




Schrecken und Schönheit der Natur – Münster zeigt grandiose Landschaftsbilder von William Turner

William Turner: „Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour's Mouth..." (Schneesturm – Ein Dampfschiff...), 1842, Öll auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856 - Inv.-Nr. N00530)

William Turner: „Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour’s Mouth…“ (Schneesturm – Ein Dampfschiff…), 1842, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Da weiß man gar nicht mehr, wo vorn und hinten, oben oder unten ist: In seinem Ölbild „Three Seascapes“ (Drei Seeansichten, um 1827) hat der englische Maler William Turner (1775-1851) Zustände des Meeres – und des Himmels? – aufeinander geschichtet, miteinander überblendet. Man könnte es fast für ein Farbfeld-Werk des 1970 verstorbenen Mark Rothko halten. War Turner, der doch in der Romantischen Epoche lebte und wirkte, etwa schon ein Abstrakter avant la lettre, also bevor man Abstraktion als solche definiert und bezeichnet hat?

Die Kuratorin Judith Claus, die das Konzept zur Turner-Ausstellung im Münsteraner LWL-Museum für Kunst und Kultur entwickelt hat, hält dagegen: Turner habe niemals abstrakt gedacht. Erst recht nicht habe er angestrebt, die Gegenständlichkeit hinter sich zu lassen, sie zu „überwinden“. Das sei nur unsere rückblickende Auffassung – im Wissen um die seither entfaltete und auch schon wieder historisch entrückte Moderne.

William Turner: „Three Seascapes (Drei Seeansichten)", um 1827, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856. Photo © Tate, 2019)

William Turner: „Three Seascapes“ (Drei Seeansichten), um 1827, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Man möchte freilich bezweifeln, dass einem reflektierten und belesenen Künstler wie Turner derlei Bilder gleichsam unwillentlich unterlaufen sind. Vielleicht ist ja die Abstraktion eine der Urformen künstlerischer Entäußerungen, die – unabhängig von der Epoche – hin und wieder aufgeleuchtet haben, bevor sie in einen breiten Zeitstrom eingeflossen sind? Ein weites Feld für Fragen und Erwägungen…

Auswahl aus einem riesigen Fundus

Erfreuliche Tatsache ist jedenfalls, dass Münster nun mit rund 80 Werken des berühmten – nennen wir nur einmal den vollen Namen – Joseph Mallord William Turner glänzen kann.

David Blayney Brown, Kurator für britische Kunst an der Tate in London, hat die Werke aus einem riesigen Turner-Fundus (rund 30.000 Arbeiten auf Papier, etwa 300 Gemälde und 280 Skizzenbücher) ausgewählt, den der Maler selbst einst der britischen Nation vermacht hat. Man könnte Dutzende von Turner-Ausstellungen bestreiten – mit immer wieder anderen Schwerpunkten. Jede Auswahl wäre ein anderes, ein weiteres Statement über diesen genialen Künstler.

Manche erinnern sich: Anno 2001/02 hat das Essener Folkwang-Museum mit Turner geprunkt, seither war in unserer näheren Umgebung praktisch nichts Wesentliches mehr von ihm zu sehen. Diese Münsteraner Schau, die anschließend in Nashville und Quebec gastieren wird, ist im Kern eine Übernahme aus dem Kunstmuseum Luzern (Schweiz). Dort hat man, nur zu verständlich, besonderen Wert auf Turners Reisebilder aus schweizerischen Gefilden gelegt. In Münster rückt dieser Aspekt etwas beiseite. Man hat hier zusätzlich 30 Werke von Vorbildern und Zeitgenossen Turners beschafft, darunter etwa Caspar Wolf, John Martin und John Constable. Hier kann man folglich – bei dezent gedämpftem Licht und auf Wänden in aparten Blau- und Petrol-Tönungen – vergleichen, kann eine Ahnung davon bekommen, was Turners Kunst eigentlich ausmacht.

Ungeahnte Erscheinungen aus Licht und Farbe

Wenn es noch einer Beweisführung bedurft hätte: Wo andere Künstler den romantischen Konventionen mehr oder weniger verhaftet blieben, hat Turner – nach einem gleichfalls „romantischen“ Frühwerk – der Kunst vordem ungeahnte, faszinierende Sphären erschlossen. Wie überaus duftig und schwebend zart sind seine Aquarelle, wie allseits entgrenzt viele seiner Landschaften. Da geht es nicht mehr um konkrete Konturen, sondern um subtile Stimmungswerte und ja: um manchmal geradezu überirdische Erscheinungen des Lichts und der Farbe. Es ist dies eine Ausstellung zum Schwelgen und zur bleibenden Erinnerung.

William Turner: „The Fall of an Avalanche in the Grisons" (Der Niedergang einer Lawine in Graubünden, 1802, Exhibited 1810, Graphit, Kreide, Aquarell und Gouache auf Papier (© Tate: Accapted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

William Turner: „The Fall of an Avalanche in the Grisons“ (Der Niedergang einer Lawine in Graubünden), um 1810, Graphit, Kreide, Aquarell und Gouache auf Papier. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Phänomene, die zuvor allenfalls Beiwerk waren, hat Turner beherzt in den Vordergrund gerückt. Man schaue etwa das Bild „The Fall of an Avalanche in the Grisons“ (Der Niedergang einer Lawine in Graubünden, um 1810) an. Bereits in diesem recht frühen Werk löst sich jede fassbare Wirklichkeit in ein ungeheures Toben der Elemente auf. Der Untertitel der Ausstellung heißt denn auch „Horror and Delight“, also etwa Schrecken und Freude, die einen angesichts der gewaltigen Natur erfassen können. Zuweilen dies, zuweilen das, manchmal beides zugleich oder abwechselnd. Das Begriffspaar „Horror and Delight“ stammt aus dem Konzept des Erhabenen (englisch: sublime) des britischen Schriftstellers Edmund Burke (1729-1797), dessen Gedanken die Epoche der Romantik und somit auch Turner geprägt haben.

Im Sommer reisen und skizzieren, im Winter malen

Turner reiste (nach Napoleons gegen Großbritannien verhängter Kontinentalsperre – Insel vs. Kontinent ist beileibe nichts Neues) in den Sommermonaten immer wieder durch Europa, und zwar teilweise sehr beschwerlich und unbequem, auch schon mal mit dem Maulesel durchs Gebirge. Er fertigte, vorzugsweise in der Schweiz und in Italien, zahllose Skizzen an, deren Essenzen er hernach im Atelier während des englischen Winters zu Gemälden ausarbeitete. Er war also (auch mangels farbtechnischer Möglichkeiten) noch kein Freiluftmaler wie später die Impressionisten. Dennoch dürfte er auch dieser Richtung Wege gewiesen und geebnet haben.

William Turner: „Peace – Burial at Sea" (Frieden – Bestattung auf See), 1842, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

William Turner: „Peace – Burial at Sea“ (Frieden – Bestattung auf See), 1842, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Er ist zwar im Sommer gereist, soll aber stets dann freudig erregt gewesen sein, wenn schlechtes und schweres Wetter herrschte. Extreme unter dramatisch bewölkten Himmeln kamen ihm entgegen. So verwundert es auch nicht, dass Turner ein Meister der stürmischen Seestücke gewesen ist. Ein grandioses Beispiel dafür ist ein Bild des Spätwerks mit schier endlosem Titel, das wir der Einfachheit halber mit dem ersten Wort als „Schneesturm“ (1842) bezeichnen wollen: Man sieht ein Dampfschiff („Ariel“) auf offenbar höchst gefährlicher Fahrt, es sendet Leuchtsignale aus.

Was ist schon der „Inhalt“ eines Bildes?

Doch solch nüchterner Beschreibungsversuch erfasst keineswegs ein Bild, auf dem alle Umrisse in ein gleißendes Irgendwo zerstoben sind; wie man denn überhaupt beim späten Turner Probleme bekommt, wenn man den „Inhalt“ eines Bildes schildern möchte. Allein auf die Atmosphäre kommt es an. Im länglichen Bildtitel war es Turner übrigens wichtig zu betonen, dass er selbst diesen Sturm erlebt habe. Die von ihm verbreitete Legende, mit der sich allerdings auch andere Maler bei ähnlicher Gelegenheit schmückten, besagt, dass er sich beim Unwetter sogar an einen Schiffsmast angebunden habe, um das Tosen der See am eigenen Leibe zu erfahren…

Der als wortkarg, in eigener Sache aber auch als eloquent geltende William Turner war eben ein geschickter Selbst-Vermarkter, der keine Chance ausließ, seine Werke auszustellen. Bereits mit 32 Jahren erhielt er an der Royal Academy School of Arts in London eine Professur – just für Perspektive, die er als Künstler so entschieden und nachhaltig auflöste. Der aus einfachen Verhältnissen stammende Turner war damit recht bald ein gemachter Mann.

Schon mit 14 Jahren an der Kunst-Akademie

Die Academy war damals quasi noch eine Neugründung, Turner gehörte zur ersten Generation, die dort ausgebildet wurde, schon mit 14 Jahren studierte er dort. Erstaunlich genug: gleich in einem Pionier-Jahrgang der vielleicht allergrößte, nachher schwerlich übertroffene Künstler. Hatte er denn gar keine Schwächen? Nun ja. Er war so klug, sich sogleich auf Landschaftsmalerei (damals noch ein unterschätztes Genre) zu verlegen, als Porträtist oder überhaupt als Darsteller menschlicher Figuren wäre er hingegen wohl nicht zu solchem Ruhm gelangt.

Etliche Bilder, zumal im Spätwerk, gelten als „unvollendet“, doch in manchen Fällen ist es kaum auszumachen, ob Turner wieder unterwegs zu ganz neuen Ufern war oder ob er ein Bild aufgegeben hat. Vor allem sein Spätwerk überforderte die Auffassungsgabe vieler Zeitgenossen, Karikaturisten verspotteten ihn. Den Hämischen galt er als „Kleckser“, der die Farbe wild und willkürlich verteilte – auf einer furchtbar witzigen Zeichnung ging er gar mit einem Wischmop auf die Leinwand los. Welch eine gehässige Verkennung!

Die Sintflut – und der Morgen danach

Zum Finale hebt die Ausstellung geradewegs ins Metaphysische ab. Da finden sich etwa Bilder, mit denen Turner geisterhafte Meeresungeheuer beschwört. Solche Visionen steigern sich schließlich ins Universelle: Turner unternimmt 1843 nichts Geringeres, als den Abend des Weltuntergangs durch die Sintflut darzustellen, ein mystisches Licht erstrahlt über der Finsternis – und er zeigt auf einem zweiten Bild den Morgen danach, an dem aus kreisender Bewegung in verheißungsvoller Helligkeit etwas gänzlich Neues zu entstehen scheint.

William Turner: „Light and Colour (Goethe's Theory) - the Morning after the Deluge – Moses Writing the Book of Genesis" (Licht und Farbe (Goethes Farbenlehre) – der Morgen nach der Sintflut – Moses schreibt das Buch Genesis), 1843, Öl auf Leinwand. (©Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

William Turner: „Light and Colour (Goethe’s Theory) – the Morning after the Deluge – Moses Writing the Book of Genesis“ (Licht und Farbe (Goethes Farbenlehre) – der Morgen nach der Sintflut – Moses schreibt das Buch Genesis), 1843, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Hochinteressanter Hintergrund: Damals waren Weltuntergangs-Bilder auch bei Künstlern wie John Martin sozusagen en vogue, weil allenthalben große gesellschaftliche und existenzielle Verunsicherung herrschte. Die Französische Revolution hatte vieles zuoberst und zuunterst gekehrt, die beginnende Industrialisierung weckte bis dahin unbekannte Ängste, ein katastrophaler Vulkanausbruch in Indonesien bescherte Europa einen weitgehend sonnenlosen Sommer. Ein baldiger Weltuntergang galt damals als wahrscheinlich. Kommt uns solch eine Zeitstimmung denn nicht bekannt vor?

Apropos Endlichkeit: William Turner hat über seine Lebenszeit hinaus gedacht, er war vehement auf Nachruhm aus. Der britischen Nation vermachte er seinen Nachlass unter der Bedingung, dass die 1824 gegründete National Gallery eigens eine Raumflucht für seine Werke errichtet und zwei seiner Bilder direkt neben Arbeiten seines großen Vorbildes Claude Lorrain (1600-1682) gehängt werden. All das ist eingetreten, er selbst hat eine Ehrengrabstätte in der St. Paul’s Cathedral zu London bekommen. Und das mit dem bleibenden Nachruhm ist ganz offensichtlich auch Wirklichkeit geworden.

„Turner. Horror and Delight.“ – 8. November 2019 bis 26. Januar 2020. Münster, LWL-Museum für Kunst und Kultur, Domplatz. Geöffnet Di-Do 9-18, Fr 10-20 Uhr, am zweiten Freitag im Monat bis 24 Uhr (dann auch freier Eintritt ab 18 Uhr). Sonst: Eintritt 13 Euro, ermäßigt 6,50 Euro, freier Eintritt bis 17 Jahre. Besucherdienst: 0251 / 5907 201. Katalog in der Ausstellung 27 Euro (im Buchhandel 39,80 Euro).

Weitere Infos: www.lwl-museum-kunst-kultur.de

Unter www.turner2019.de gibt es ein neuartiges „Digitorial“, sprich: einen virtuellen Ausstellungsrundgang zur Vor- oder Nachbereitung des Besuchs.




Befürchtungen vor der Münsteraner Turner-Ausstellung: Was der Brexit für kulturellen Austausch bedeuten könnte

Deutsch-britisches Museumsteam: Kuratorin Dr. Judith Claus, Münsters Museumsleiter Dr. Hermann Arnhold (Mi.) und David Blayney Brown, Senior Curator of British Art der Londoner Tate. (Foto: Bernd Berke)

Deutsch-britisches Ausstellungs-Team mit Brexit-Befürchtungen: Kuratorin Dr. Judith Claus, Münsters Museumsleiter Dr. Hermann Arnhold (Mi.) und David Blayney Brown, Senior Curator of British Art der Londoner Tate. (Foto: Bernd Berke)

Münster lockt ab 8. November (bis zum 26. Januar 2020) mit einer Ausstellung über den ruhmreichen britischen Maler William Turner (1775-1851). Das LWL-Museum für Kunst und Kultur zeigt 75 Leihgaben aus der Tate London, ergänzt um einige Werke von anderen Künstlern jener Zeit. Wir werden darauf zurückkommen. Doch jetzt erst einmal zu einem anderen Thema. Um einen legendären Monty-Python-Spruch anzuwenden: „…and now to something completely different.“

Denn: Moment mal! Da war doch was? Etwas, was man eigentlich schon gar nicht mehr hören mag? Richtig: der unvermeidliche Brexit. Bei der heutigen Pressekonferenz im Vorfeld der Turner-Schau wurde deutlich, was der EU-Austritt Großbritanniens auch in kultureller Hinsicht bedeuten könnte. Nämlich nichts Gutes. Also doch kein völlig anderes Thema, sondern ein (fataler) Zusammenhang.

Strenge Grenzkontrollen und Zölle auch für die Kunst?

Museumsleiter Dr.  Hermann Arnhold ergriff die Gelegenheit, um seine Besorgnis auszudrücken. Er befürchte einen großen Rückschritt für den kulturellen Austausch mit Großbritannien. Mit Blick auf das ursprünglich vorgesehene Brexit-Datum (31. Oktober 2019) habe man alles daran gesetzt, sämtliche Bilder schon vor diesem Stichtag in Münster zu haben. Andernfalls hätten langwierige bürokratische Grenzkontrollen und diverse Zölle gedroht. Renommierte Kunstspeditionen haben sich für die Zukunft schon auf derlei Fährnisse eingerichtet, und zwar auch für den Fall eines geregelten Brexit; vom Chaos eines ungeregelten Austritts ganz zu schweigen. Oder sollte es doch noch ein paar Fünkchen Hoffnung für einen Verbleib geben? Das wäre ja…

Europa besteht nicht nur aus der Wirtschaft

Europa, so Arnhold weiter, sei eben nicht nur ein gemeinsamer Wirtschafts-, sondern auch ein Kulturraum. Gerade Menschen, die mit Kultur zu tun hätten, seien meistenteils überzeugte Europäer. David Blayney Brown, als Senior Curator of British Art der Londoner Tate für die Turner-Auswahl zuständig, pflichtete dem deutschen Kollegen bei, wobei gleichsam leise Seufzer mitklangen. Es kämen schwere Zeiten auf Großbritannien zu. Umso erfreuter zeigte sich Brown, jetzt noch diese bedeutsame Kunst-Kooperation mit Münster ins Werk zu setzen.

Das von Arnhold geleitete Haus am Münsteraner Domplatz hat in den letzten Jahren regelmäßig Ausstellungen mit britischer und US-amerikanischer Kunst gezeigt, u. a. „Das nackte Leben – von Bacon bis Hockney“ sowie Retrospektiven zu Henry Moore und Sean Scully. Die Planungs- und Vorlauf-Zeiten für solche Schauen müssten künftig – im Schatten des Brexit – länger veranschlagt werden. Trotz alledem oder jetzt erst recht hat man bereits mit den Vorbereitungen für eine Ausstellung begonnen, die 2023/24 zu sehen sein soll. Thema? Noch geheim. Aber es hat gewiss etwas mit England zu tun. Denn das kommt ja nun hoffentlich gar nicht in Frage: auf Kunst von der Insel zu verzichten.




Nicht nur zum Ende der Zechen-Ära eine Erinnerung wert: August Siegel, Bergmann und Gewerkschafts-Pionier

Gastautor Horst Delkus erinnert – nicht zuletzt aus Anlass der bald endenden Zechen-Ära im Ruhrgebiet – an den Bergmann und Gewerkschafter August Siegel (1856-1936), einen Pionier der Arbeiterbewegung des Reviers:

Die Heilige Barbara – Schutzpatronin der Bergleute – muss mit dem Kopf geschüttelt haben, als sie erfuhr, wie die katholische Geistlichkeit gegen den neu gegründeten Verband der Bergarbeiter hetzte: Gewerkschaftlich organisierte Bergarbeiter, hieß es da von der Kanzel herab, seien Mordbuben, der Auswurf der Menschheit.

August Siegel - Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Deutsches Bergbau-Museum / montan.dok / Sammlung Delkus)

August Siegel – Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Sammlung Delkus)

Ein Pfaffe hatte sogar das Bündnis des Bergarbeiterverbandes mit der Hölle entdeckt. „Wo die ‚Bergarbeiterzeitung‘ auf dem Tische liegt“, predigte er den Frauen der Bergarbeiter, „da sitzt der Teufel unterm Tisch.“ Und die ‚Tremonia‘, die katholische Zentrums-Zeitung des einflußreichen Dortmunder Verlegers Lambert Lensing, mahnte: „Wehe unserem Arbeiterstande, wenn er sich in die Hände der Sozialdemokratie begibt.“

Panikmache anno 1889. Denn die organisierte Sozialdemokratie war damals im Ruhrgebiet noch eine Sekte; ihre heimlichen Hauptstädte hießen Leipzig, Hamburg oder Berlin. Auf den Bergarbeiterstreik im Mai hat sie wahrscheinlich nicht mehr Einfluß gehabt, als die Apo 70 Jahre später auf die Septemberstreiks 1969. „Sie ist mit dem Ausbruch desselben gerade so überrascht worden, wie die übrige Welt“, schrieb einer, der es wissen mußte: August Bebel.

Er galt als bester Agitator der Gründungszeit

Einfluss im Bergarbeitermilieu des Ruhrgebiets hatten um 1889 vor allem drei Sozialdemokraten: die mit dem Nimbus der „Kaiserdelegierten“ versehenen Bergleute Ludwig Schröder, Friedrich Bunte und August Siegel. Ein zeitgenössischer Chronist über diese „Volksverführer und Hetzer“: „Schröder, der Älteste, wird als ‚mehr erfahren‘, ‚offen‘ und ‚gutmütig‘ im Gegensatz zu dem hinterhältigeren Bunte geschildert. Siegel scheint der geistig Beweglichste zu sein. Er scheint auch für weit greifende Organisationspläne und für die eigentlichen Lohnkämpfe mehr eingenommen als die zwei anderen.“

Alle drei waren an der Gründung und am Aufbau der Bergarbeitergewerkschaft maßgeblich beteiligt. In der Phalanx der Gewerkschaftsführer aber sind sie – im Gegensatz zu Hue, Sachse, Husemann und Schmidt – in Vergessenheit geraten. Immerhin ist einer von ihnen im Internationalen Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens von 1932 noch mit einer Kurzbiographie vertreten: August Siegel. In ihm, heißt es da, „verkörpert sich ein Stück Geschichte des Verbandes der Bergarbeiter, war er doch in der Gründungszeit sein bester Agitator“.

Mit elf Jahren täglich zwölf Stunden auf der Kohlehalde

Geboren wurde August Siegel am 1.April 1856 in Zwickau. Sein Vater war Bergmann, starb jedoch fünf Monate vor Augusts Geburt. Die Witwenrente reichte für die neunköpfige Familie nicht aus. August besuchte die Armenschule, unternahm Bettelstreifzüge aufs Land. Über seine Kindheit schrieb er später: „Bei den Bauern konnte ich manchen Überfluss entdecken, der mich dazu zwang, Vergleiche anzustellen mit der furchtbaren Not, die bei uns zu Hause herrschte. Warum ist es so? Warum kann sich nicht jeder satt essen, wenn er Hunger hat? Das waren meine ersten philosophischen Gedanken.“

Zwölf Stunden täglich arbeitete er bereits mit elf Jahren täglich auf der Kohlenhalde. Als ein älterer Bruder beim Rangieren der Kohlenwaggons schwer verunglückte, stand für seine Mutter fest: Mein Sohn soll kein Bergmann werden! Er wurde Sandformer in einer Chemnitzer Maschinenfabrik. Hier ergaben sich die ersten Kontakte zu Sozialdemokraten. Mit 16 Jahren trat er der Partei bei. Nach dem Chemnitzer Metallarbeiterstreik 1872 folgte Siegel seiner älteren Schwester von Sachsen nach Westfalen. In Dortmund und Umgebung fand er Arbeit auf verschiedenen Zechen.

„Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden…“

Siegel in seinen Erinnerungen: „Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden, ist kaum zu beschreiben. Warum, wird man fragen, haben die Leute die betreffende Zeche nicht verlassen und auf einer anderen Grube gearbeitet? Das ist leichter gesagt als getan. Viele von der Belegschaft waren Kleinhauseigentümer und hatten ohnehin schon einen weiten Weg zur Arbeitsstelle. Bei einem Arbeitswechsel mußten sie noch weiter laufen. Zumal fanden sie das, was sie auf der einen Zeche verlassen hatten, auf der anderen getreulich wieder.“ Streiks ohne eine Organisation im Rücken erschienen wenig aussichtsreich.

Als Vorsitzender eines nichtkonfessionellen freien Knappenvereins arbeitete Siegel bald mit anderen Dortmunder Bergarbeiterführern zusammen und agitierte mit seiner kräftigen Stimme die Bergleute auf zahllosen Versammlungen. In seinen Lebenserinnerungen, 1921 als Serie für die Jugendzeitschrift des Bergarbeiterverbandes verfasst, schreibt er später: „Wie oft wunderte ich mich in jenen Tagen, wenn die bürgerlichen Zeitungen schrieben, daß die sozialdemokratischen Agitatoren von den Schweißtropfen der Arbeiter lebten. Nicht einen Pfennig bekamen wir. Fahr- und Zehrgeld, wie alles, was wir sonst noch ausgeben mußten, ging aus unserer Tasche. Hin und wieder verspielten wir noch dazu eine Schicht. Das hielt uns aber nicht ab, unserem Ziel treu zu bleiben. Unsere Arbeit war auch keineswegs umsonst. Es kam etwas mehr Leben in die ruhig dahinbrütenden Knappen.“

Streikführer für wenige Minuten zur Audienz beim Kaiser

Alle in Deutschland existierenden Bergarbeitervereine erhielten für den 2.Juni 1889 eine Einladung zu einem Delegiertentag der Knappenvereine nach Dortmund-Dorstfeld. Zentraler Tagesordnungspunkt: Wie die miserable Lage der Bergarbeiter in Deutschland zu beseitigen sei.

Doch wegen des Massenstreiks im Mai, bei dem rund 100.000 Bergarbeiter die Arbeit niederlegten, wurde die Versammlung verschoben. Während dieses Streiks schickten die Dortmunder Bergarbeiter Bunte, Schröder und Siegel zum Kaiser nach Berlin, um ihm die Forderungen der streikenden Ruhrkumpels vorzubringen: Wiedereinführung der Acht-Stunden-Schicht, Lohnerhöhungen und Abschaffung der Schikanen auf den Zechen. Als die drei zur Kaiser-Visite aufbrachen, bröckelte der Streik rasch ab. Die Audienz dauerte nur wenige Minuten und gipfelte in der Drohung Wilhelms II., alles über den Haufen schießen zu lassen, falls der Streik unter den Einfluß der Sozialdemokratie geriete.

Nach erfolglosem Streik auf die Schwarze Liste gesetzt

Nach diesem erfolglosen Streik wurden Siegel und die anderen Streikführer gemaßregelt. Sie kamen auf die Schwarze Liste. Mit Hilfe von Spendengeldern aus der Parteikasse konnten sie sich jedoch eine bescheidene Existenz aufbauen. August Siegel wurde Flaschenbierhändler und später hauptamtlicher Agitator des Bergarbeiterverbandes, den 200 Zechendelegierte und Knappenvereinsvertreter am 18.August 1889 in Dorstfeld gegründet hatten. Einige Klagen wegen „indirekter Aufreizung zum Ungehorsam“ und Beleidigung (unter anderem hatte er die Knappschaftsältesten in einer Bergarbeiterversammlung unfähige „Strohköpfe“ genannt und ihnen vorgehalten, sie würden ihre Stellung nur zum eigenen Vorteil ausnutzen) brachten ihm mehrere Gefängnisstrafen ein.

Der alte Friedrich Engels hilft dem nach London geflüchteten Siegel

Anfang Januar 1892 sollte Siegel eine neunmonatige Haftstrafe im Zuchthaus Siegburg, einer ehemaligen Irrenanstalt, antreten. Fünf weitere Anklagen standen noch aus. Ludwig Schröder riet seinem Freund zur Flucht. Am 12.Januar 1892 machte sich Siegel aus Dorstfeld davon. Erste Station seines Asyls: London. Hier halfen dem mittlerweile steckbrieflich Gesuchten Friedrich Engels und Julius Motteler bei der Übersiedlung nach Schottland, wo Siegel im Bergbau Arbeit fand und bald seine Familie nachreisen lassen konnte.

Beim alten Engels hat Siegel einen guten Eindruck gemacht: „Das ist doch mal wieder ein deutscher Arbeiter, mit dem man sich vor allen anderen Nationen sehen lassen kann.“ Er empfahl Siegel eindringlich die englische Sprache zu lernen und „täglich, wenn nicht stündlich“ Kontakt zu den schottischen Arbeitern zu halten.

Als Mitglied der Bergarbeitergewerkschaft und der sozialistischen Independent Labour Party (ILP) beteiligte sich August Siegel an zahlreichen Streiks der britischen Bergarbeiterbewegung. Auch hier wurde er als Streikführer gemaßregelt. Als deutscher Asylant verlor er während des Ersten Weltkrieges seinen Arbeitsplatz. Bald folgte die Ausweisung als „lastiger Ausländer“.

Ausweisung und Rückkehr ins Ruhrgebiet

Im Januar 1919 kehrte Siegel ins Ruhrgebiet zurück. In Bochum, in der Hautpverwaltung des Bergarbeiterverbandes, arbeitete der humorvolle Graubart noch bis zu seiner Pensionierung 1929. Er starb im Alter von 80 Jahren am 5.Oktober 1936.

Geprägt durch die Aufbruchstimmung der frühen Sozialdemokratie sowie etlicher Arbeitskämpfe verkörperte August Siegel die Gründergeneration der heutigen Gewerkschaften. Sein Leben umfaßt eine Periode der Arbeiterbewegung, die vom Sozialistengesetz, dem ersten Massenstreik 1889 und den ersten stabilen Gewerkschaftsorganisationen bis zur kampflosen Zerschlagung der Gewerkschaften durch den Faschismus reicht. Ein Gewerkschaftsbeamter, ein Apparatschik ist August Siegel nie geworden. Weil die Gewerkschaft als Organisation erst mit ihm aufgebaut wurde und weil für ihn die Sache selbst wichtiger war als die eigene Karriere.

Durch und durch Sozialist und Idealist

Bernhardine Gierig, 88 Jahre alt, hatte Siegel in den zwanziger Jahren über ihren Vater persönlich kennengelernt. Tief beeindruckt erzählt sie heute noch: „Siegel war ein richtiger Mensch. Er machte kein Theater daraus, daß er gelitten hat für die Bewegung; er wollte keinen Profit aus der Sache schlagen. Er war sozialistisch gesonnen durch und durch. Ein wirklicher Idealist.“

Die Heilige Barbara wird an diesem Pionier der Bergarbeiterbewegung sicher ihre helle Freude gehabt haben.




Vorzeige-Ruhri kann auch anders: Grönemeyer traut Journalisten nicht über den Weg

Vor Äonen hat der Rock- und Popsänger Herbert Grönemeyer mal eine Langspielplatte mit dem Titel „4630 Bochum“ herausgebracht. Doch halt! Wir wollen nicht gleich gar so polemisch sein, es war im August 1984. Noch nicht so lang her, wenn man’s mal erdgeschichtlich betrachtet…

Seither gilt der Mann, der in grauer Vorzeit vorwiegend musikalisch am Bochumer Schauspielhaus gewirkt hatte, jedenfalls als Vorzeige-Ruhrgebietler. Wenn es hier ums große Ganze der Region geht, kommt er immer wieder ins Spiel. So auch am 9. Januar 2010, als er zur Eröffnung des Europäischen Kulturhauptstadt-Jahres seine Revier-Hymne „Komm zur Ruhr“ schmetterte.

Kaum einer, so scheint es, gilt gegenwärtig als „ruhriger“. Dabei hat der mit vielen Preisen dekorierte Grönemeyer der Gegend längst den Rücken gekehrt und seit vielen Jahren hauptsächlich in London gelebt. Es sei ihm natürlich gegönnt, aber was genau ist daran jetzt so ruhrverbunden?

Steht diese Bank etwa an dem Weg, über den Grönemeyer den Journalisten nicht traut? Keine Ahnung. (Foto: Bernd Berke)

Steht diese Bank etwa an dem Weg, über den Grönemeyer den Journalisten nicht traut? Keine Ahnung. (Foto: Bernd Berke)

Doch das nur nebenbei. Auch dass ich – ehrlich gesagt – seine Gesangskünste nur selten sonderlich gemocht habe, soll hier zwar erwähnt werden, aber hübsch im Hintergrund bleiben. Es tut nichts zur folgenden Sache.

Beim Pressetermin fand ich ihn vor Jahren menschlich recht sympathisch und entspannt. Doch er und sein Management können auch anders. So jedenfalls muss man wohl die schmallippige Mitteilung der WAZ-Kulturredaktion verstehen, die ihm vorwirft, er wolle auf ungebührliche Weise in die Berichterstattung der Medien eingreifen.

Das behauptet die WAZ: Anlässlich einer Vorab-Pressekonferenz über einen Grönemeyer-Auftritt (27. Mai 2016, Arena Gelsenkirchen) sollten Journalisten unterzeichnen, dass Zitate vor Veröffentlichung durchgehend autorisiert (also von ihm und seinen Presseleuten gestattet) werden müssten; nicht nur im Interviewtext (wie gelegentlich vor allem bei brisanten Politthemen üblich), sondern auch „in der Überschrift und in Bildunterschriften“. Ein starkes Stück. Überdies wollte Grönemeyer laut WAZ kontrollieren, welche Fotos in der Berichterstattung verwendet werden. (Drum verwenden wir hier ein ganz und gar unverfängliches Foto aus völlig anderem Zusammenhang, hehe!).

Angesichts solcher Ansprüche bzw. Zumutungen verzichtete die WAZ auf einen Bericht über das Hintergrundgespräch. Gut so. Sich auf Grönemeyers Bedingungen einzulassen, hätte bedeutet, einen möglichen Eingriff in die redaktionelle Unabhängigkeit hinzunehmen. Gegenbeispiel: Die „Rheinische Post“ hatte damit anscheinend weniger Probleme und berichtete wohlwollend.

Man fragt sich, was Grönemeyer so Weltbewegendes zu erzählen hat. Soweit mir bekannt ist, ist er weder Kanzler noch Minister der Bundesrepublik Deutschland, ja nicht einmal Präsident oder König des Ruhrgebiets. Man würde seine Worte gewiss nicht allzu sehr auf die Goldwaage legen. Er selbst scheint das allerdings anders sehen zu wollen. Da kann man nur appellieren: Komm zur Ruhe.

Grönemeyer scheint derzeit auf Krawall gebürstet zu sein. Soeben hat er den NDR harsch kritisiert , weil der Sender beim ESC-Schlagerwettbewerb doch nicht an Xavier Naidoo festhalten mochte (ansonsten kein Wort mehr über den insgesamt verkorksten Vorgang). Er wird bestimmt nicht den vergifteten Kampfbegriff „Lügenpresse“ im Munde führen. Dann soll er aber auch bitte nicht den Eindruck erwecken, die Journalisten würden ihm allzeit das Wort im Munde herumdrehen.




Endlich! Ein völlig objektiver Vorbericht zum Finale der Champions League

Hier nun ein paar völlig objektive, hochkulturelle Zeilen zum Spiel der Spiele: Nein, dieses Match lässt sich – um es mit einem legendären Lapsus aus Kickermund zu sagen – wirklich nicht mehr weiter „hochsterilisieren“.

Wenn am kommenden Samstag um 20.45 Uhr MEZ im Londoner Wembley-Stadion Borussia Dortmund und der FC Bayern München das Finale der Champions League austragen, dann fiebert natürlich alle Fußballwelt mit. In Dortmund herrscht allenthalben Ausnahmezustand. Um es vorsichtig zu formulieren. Wenn (sehr frei nach Peter Handke) das Wünschen bei der Kartenvergabe noch geholfen hätte, so würden Hunderttausende in Schwarzgelb nach London kommen.

Laube in einem Dortmunder Kleingartenverein, abgelichtet am 22. Mai 2013. (Foto: Bernd Berke)

Laube in einem Dortmunder Kleingartenverein, abgelichtet am 22. Mai 2013. (Foto: Bernd Berke)

Exaltierte Leitmedien wie „Spiegel online“ bringen seit vielen Tagen den immer mit neuen Gerüchten und Parolen gefütterten Countdown bis zum Anstoß. Jede halbgare Äußerung aus beiden Lagern, jede Blessur wird da im bebenden Tonfall vermeldet und breit ausgewalzt. Der Ausfall des verletzten Mario Götze wird vollends als Tragödie von shakespearschen Dimensionen dargestellt; wie denn überhaupt der bevorstehende Götze-Transfer von Dortmund nach München das Weltgebäude hat wanken lassen. Naja, wenigstens hat offenbar die eine oder andere Redaktion gewackelt. Schlimmer noch: Heute bemächtigt sich auch eine seltsam besetzte Talkshow des Themas.

Das Feld der Emotionen besetzt

BVB-Trainer Jürgen Klopp erklärt Borussia Dortmund gleich zum spannendsten Fußballprojekt der Welt und wirbt flammend um die Herzen aller echten Fans auf dem Globus. Der Wahlspruch des Vereins, „Echte Liebe“, besetzt – zwischen Leidenschaft und Marketing – das emotionale Feld, während der Widersacher aus dem Süden vorwiegend mit Geld, Geld und nochmals Geld assoziiert wird und darum vielfach gern „Buyern München“ genannt wird. Ja, ja, ja, auch in Dortmund werden ein paar Groschen umgesetzt – und doch besteht da ein Unterschied.

Glaubt man der wahnwitzig ausufernden Vorberichterstattung, so ist ganz Deutschland gespalten in Schwarzgelb und Rot. Es wäre interessant zu erfahren, wie die Sympathien international verteilt sind. Eins ist klar: Die meisten Polen halten schon mal zu Dortmund. Doch die frischgewagte, husarenhafte BVB-Spielweise unter Klopp hat überdies neue Anhänger auf dem ganzen Kontinent gewonnen. Die bloße Vorstellung, dass sie in Lokalen von Rio, Buenos Aires, Tokyo oder Peking ein Dortmunder Tor bejubeln, ist herzerwärmend.

Sich heraushalten? Geht kaum!

Wer sich übrigens aus all dem heraushalten will, verhülle am besten sein Haupt, lasse die Rollos herunter, schalte alle Geräte ab oder begebe sich gleich für eine Zeit ins Kloster. Doch wer weiß, was sie dort am Samstag machen?

Bei nüchterner Betrachtung der Fakten (doch wer wird denn da nüchtern bleiben?) gehen die Bayern als haushohe Favoriten ins Finale. Sie können wahrscheinlich ihre Bestbesetzung aufbieten, während bei Dortmund nicht nur Götze fehlt, sondern zwei Verteidiger, Mats Hummels und Lukasz Piszczek, angeschlagen sind. Auch haben die Bayern eine nahezu makellose Saison hingelegt, so dass man sich fragt, was der künftige Trainer Pep Guardiola dort eigentlich noch richten soll.

Aber warten wir’s ab. Es gibt – sehr frei nach William Shakespeare – Dinge zwischen beiden Strafräumen, die sich unsere Schulweisheit nicht träumen lässt.

Im Fall eines Bayern-Sieges würde man sich drunten etwas freuen und dann bald zur Tagesordnung übergehen. Es wäre sicherlich kein Vergleich zu dem, was in und um Dortmund los wäre, wenn…

Warten wir’s ab. Es gibt Dinge zwischen Auslinien, Pfosten und Eckfahnen, die sich unsere…

Aggression und Zurückhaltung

In München kassiert man Titel ein und hakt sie ab. Viele Anhänger sind schlichtweg saturiert. Das „Mia san mia“-Denken ist weit verbreitet, die entsprechende Denkungsart des (anderweitig „angeschlagenen“) Bayern-Präsidenten Uli Hoeneß kommt einem fast schon gemütlich-folkloristisch vor, wenn man sie mit der unerbittlich aggressiven Stoßrichtung des Matthias Sammer vergleicht.

Demgegenüber wirkt die Zurückhaltung des Dortmunder Präsidenten Reinhard Rauball, des Geschäftsführers Hans-Joachim Watzke und des Sportdirektors Michael Zorc geradezu nobel. In der angeblichen Proletenstadt zeigt man inzwischen deutlich mehr Stil als an der Isar. Nur Jürgen Klopp darf schon mal gepflegt ausrasten. Jawohl, Kloppo darf das.

Ich gebe zu: Sollte Sammer am Samstag aus gutem Grund zornig mit den Zähnen knirschen, so würde mich das doppelt und dreifach er-götzen!




Deutsche Gotik in London oder: Was gilt der Prophet denn im Heimatland?

Vor vielen Jahren bin ich mal nach London gefahren und dort ins Nationalmuseum gegangen, weil ich unbedingt die gotischen Malereien aus Deutschland sehen wollte.

Nach der Auflösung der Klöster durch den Reichsdeputationshauptschluss zu Beginn des 19. Jahrhundets waren viele ländliche Pfarreien verarmt und hatten ihre wertvollen Schätze an Kunsthändler und Sammler verramschen müssen, zum Beispiel den berühmten Liesborner Altar oder auch die wunderschönen Bilder aus der Kirche meiner Kindheit, der Klosterkirche St. Christina in Herzebrock bei Gütersloh.

Diese Bilder hängen also nun in London, und ich war tief beeindruckt. Auch im New Yorker Metropolitan Museum of Art finden sich solche Werke, zum Beispiel eine Kreuzigungsszene vom „Meister des Berswordt-Altars“, die vom Altar der Neustädter Marienkirche in Bielefeld stammt.

Der Berswordt-Altar in der Marienkirche Dortmund.

Bei Berswordt horchen manche Dortmunder auf, findet sich doch in der Marienkirche jener Berswordt-Altar, der das Wappen der Stifterfamilie enthält und von dem der Name des anonymen Künstlers abgeleitet wurde. Es gibt in Dortmund auch die Berswordt-Halle, und so mancher Kultur-Interessierte weiß um den Hintergrund, aber an die Berühmtheit eines BVB-Spielers kommt das so herausragende Kunstwerk bei weitem nicht heran.

Ich bin zwar kein Dortmunder, aber manchmal habe ich den Eindruck, dass viele Bewohner dieser schönen Stadt gar nicht zu schätzen wissen, welch großartiges Erbe sie da in ihrer Mitte aufbewahren. Dazu gehört natürlich auch die romanische Madonna in der Marienkirche. Der Prophet gilt eben in der Heimat oft nicht das Allermeiste.




„Merlin“ – Isaac Albéniz‘ wirrer Opernschinken in Gelsenkirchen

König Arthur (Lars-Oliver Rühl) hält das Schwert des Mächtigen. Foto:MiR/Beu

Endlich mal keine „Carmen“, „Traviata“ oder „Zauberflöte“ – allesamt Opernhits, die landauf, landab heruntergenudelt werden. Dafür bekommen wir „Merlin“. Das ist der Zauberer aus der Artus-Sage. Das ist hehrer Stoff, große Oper, ja großes Kino. Da hat sich schon Richard Wagner prächtig bedient, haben sich unzählige Literaten, später Filmemacher inspirieren lassen.

„Merlin“ also. Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) lädt zur Deutschen Erstaufführung einer Oper, die indes schon über 100 Jahre alt ist. Sie stammt von dem Spanier Isaac Albéniz. Geschrieben auf das Libretto eines reichen Briten namens Francis Burdett Money Coutts. Ein exzentrischer Kauz und glühender Wagnerianer, der sich im wahnhaften Wetteifern mit dem Bayreuther Meister an einer Artus-Trilogie abarbeitete.

Albéniz wiederum, als meisterlicher Pianist in Europa eine Größe, als Komponist vor allem mit Klavierwerken glänzend, wollte in den 1890er Jahren die Oper für sich entdecken. Vielleicht war auch da ein wenig Geltungsbedürfnis im Spiel, der unbedingte Wille, als Spanier im Konzert des mitteleuropäischen Musikdramas mitzumischen. In London jedenfalls fanden Albéniz  und der „Literat“ zusammen. Leider: Denn dieser Begegnung bedurfte es in der Musikgeschichte nun wirklich nicht.

Das Ergebnis nämlich war „Merlin“: schrecklich unbeholfen im dramaturgischen Verlauf, unsäglich das Libretto, krude und wüst in der musikalischen Gestaltung. Albéniz serviert uns Wagner light in Verbindung mit übersteigertem Verismo. Eine Melange, die oft in pur Plakativem mündet. Offenbar hatte der Komponist wenig Gespür dafür, die Szenerie klanglich differenziert zu zeichnen. „Merlin“ ist ein wirrer „Schinken“, der an Richard Strauss’ wenig später erschienene „Salome“ nicht mal kratzen kann.

Trotz allem hat sich das MiR an die Ausgrabung gewagt, acht Jahre nach der Uraufführung in Madrid. Hat das Werk mutig eingekürzt auf drei konzentriert gefasste Akte. Und hat sich an diesem „Schatz“ gehörig verhoben. Regisseur Roland Schwab präsentiert Archetypen, keine Charaktere. Ausstatter Frank Fellmann zeigt im wabernden Nebel oder mystischen Blau eine Straße ins Nirgendwo, einen gestrandeten Wagen. Merke: Die Sehnsucht nach dem Sagenhaften ist auch der Moderne nicht fremd.

Blonder Racheengel: Nivian (Petra Schmidt) tötet Merlin (Björn Waag). Foto: MiR/Beu

Die Ritter kommen hingegen ritterlich daher (Kostüme: Renée Listerdal), wenn Artus, wie ein tumber Siegfried, das Schwert aus dem Stein zieht und König wird. Nach dem Krieg mit den Anhängern der grundbösen, verräterischen Morgan sehen wir aufgespießte Köpfe. Im Schlussakt plötzlich Merlins Ende, blutig gerichtet von seiner Sklavin Nivian.

Wahn, überall Wahn. Die Regie hat den Figuren vor allem aufgesetzte, exaltierte Posen verordnet. Bjørn Waag (Merlin), Lars-Oliver Rühl (Arthur) und Majken Bjerno (Morgan) singen überwiegend am oberen Ende der Ausdrucksskala, was den Stimmen nicht bekommt.  Einzig Petra Schmidt (Nivian) verströmt bisweilen lyrische Wärme in differenzierter Dynamik. Dirigent Heiko Mathias Förster wiederum führt Chor und Neue Philharmonie Westfalen einigermaßen unfallfrei durch die wüste Partitur.

Am Ende haben wir gegen zehn Uhr die Oper verlassen und wähnen uns um die Mitternacht. Wir hören „Iberia“ – wunderbarer Albéniz.

 




Attacke auf Hitler-Wachfigur

Kommentar:

Reichlich wirr

Von Bernd Berke

Ganz gleich, ob es nun eine Wette war oder ob wirklich politische Motive mitgespielt haben: Der 41-jährige Mann, der am Samstag der Berliner Wachsfigur von Adolf Hitler den Kopf abgerissen hat, muss ein reichlich wirrer Zeitgenosse sein. Gewiss verbirgt sich auch eine persönliche Misere dahinter.

Niemand kann ernsthaft glauben, dass eine Aktion dieser Sorte irgend etwas am schrecklichen Lauf der Geschichte ändert. Ja, selbst als noch so gut gemeintes antifaschistisches Signal für die Gegenwart taugt diese Handlung nicht. Dazu ist der Vorgang einfach zu lächerlich. Ein Spektakel, das der Berliner Tussauds-Filiale zu allem Überfluss auch noch unfreiwillige Werbung beschert.

Es knüpft sich jedoch eine weitere Frage an den Zwischenfall: Warum muss man überhaupt eine Wachsfigur Hitlers für exorbitante 200 000 Euro anfertigen lassen und sie derart zur Schau stellen? Der bloße Anblick sagt nichts, aber auch gar nichts über die Verbrechen Hitlers aus. Er verniedlicht die Gestalt des NS-Diktators zum Erlebnismoment für Touristen.

Zwar ist es offiziell verboten, sich im Wachsfigurenkabinett neben der Figur fotografieren zu lassen. Doch wer will dies eigentlich verhindern, wenn schon der rabiate Zugriff am Samstag nicht unterbunden werden konnte? Am besten wäre es daher wohl, wenn das beschädigte Stück nicht repariert und nicht mehr gezeigt würde, wenn also künftig eine (vielsagende) Leerstelle bliebe.

Bemerkenswert, dass es auch in Hamburg und London „Hitler in Wachs“ gibt. In der Hansestadt ist seit 48 Jahren nie etwas passiert, die Figur in London wurde hingegen schon mehrfach beschädigt. In Berlin und London wiegt die wahrhaft zwiespältige Symbolwirkung einer solchen Darstellung schwerer als andernorts. Somit ist das Ganze denn doch ein schauriges Lehrstück über die anhaltende, manchmal geradezu unheimliche Kraft des Symbolischen.




Wenn das Gebirge kippt, gerät die Wohnung ins Rutschen – Werke des berühmten Briten David Hockney in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Wie kommt Hamm zu einer Ausstellung des berühmten David Hockney? Man pflegt die passende Städtepartnerschaft.

Seit nunmehr 30 Jahren ist Hamm mit dem englischen Bradford verbandelt. Just dort wurde Hockney 1937 geboren. Unter Partnern – noch dazu im Jubiläumsjahr – leiht man großzügiger aus.

In Bradford befinden sich umfangreiche Bestände des selten gezeigten Hockney-Frühwerks um 1955. Der Künstler, der mit fleißigen Anatomie-Studien (Schädel, Skelette) begonnen hatte, malte damals recht konventionell. Doch die Stimmung seiner frühen Ölbilder nimmt einen gefangen. Es sind melancholische, vollkommen ereignislose Stillstands-Momente aus der englischen Provinz. Leere Augenblicke dehnen sich wie Ewigkeiten.

Diese Bilder sind ein Kernthema der Schau. Außerdem liegt einiges Gewicht auf graphischen Zyklen. Unter anderem hat Hockney Motivstränge von Picasso, William Hogarth (Schurken-Geschichte „The Rake’s Progress“) sowie dem griechischen Dichter Konstantin Kavafis aufgegriffen. Und er hat Märchen der Gebrüder Grimm („Fundevogel“) eigenwillig „illustriert“: Da nimmt die Magie einfacher Gegenstände Gestalt an.

Sprung ins grelle Jetzt von Swinging London

Zu Beginn der 1960er Jahre springt Hockney sozusagen aus dem späten 19. Jahrhundert geradewegs ins grelle Jetzt von Swinging London. Auf einmal sind Dinge und Farben geborsten und zerstoben. Aber man kann die realen Ursprünge dieser furiosen Zeichen noch erkennen. Zusehends gibt Hockney das Versteckspiel mit seiner Homosexualität auf, die in den frühen 60ern noch strafbar war. So tauchen Worte wie „Queer“ oder „Queen“ als Signale für die schwule Szene anfangs nebelhaft, später plakativ in den Bildräumen auf. Schließlich entstehen ganze Serien zur Männerliebe.

Hockneys Übersiedlung ins sonnige Kalifornien belebt die Farbpalette. Keine Angst mehr vor jedweder Buntheit. Hier entstehen auch sattblaue Swimmingpool-Bilder. Eines ist in Hamm zu sehen, es besteht aus gepresstem Papierbrei. Erfasst ist der dynamische Moment des Sprungs ins Wasser: Platsch!

Postmoderne avant la lettre

Hockney ist geradezu berüchtigt für ungeheuren Stilpluralismus. Er meint, man dürfe sich stilistisch nach Belieben in der Historie oder bei Zeitgenossen bedienen. Er ist „postmodern“, bevor der Begriff marktgängig wird. Auf ein und demselben Hockney-Bild finden sich oft verschiedenste Ansätze zwischen Zentralperspektive und flächigen Ornamenten. In dicht gedrängter Nachbarschaft wird das Formenvokabular bis hin zum Comic buchstabiert. Bisweilen ist’s vertrackte Kunst für Kenner.

In solch simultanen Puzzle-Ansichten findet das Auge des Betrachters keinen eindeutigen Halt, es irrt ruhelos zwischen den diversen Aspekten hin und her. Ein Wohnungs-Interieur gerät dabei ins Rutschen, und ein grandios gemalter Gebirgs-Ausschnitt des Grand Canyon kippt zwischen Fern- und Nahsicht hin und her. Die Welt als unruhige, nervöse Vexierbild-Collage ohne festen Standpunkt.

Manche Bilder wirken eh schon wie flirrende Auftritte. Kein Wunder, dass Hockney nebenher als Bühnen- und Kostümbildner fürs Theater gearbeitet hat. Hamm zieht auch dafür den Vorhang auf.

2. April bis 2. Juli im Gustav Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstr. 9. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 6 Euro, Katalog 24,90 Euro.




Emigrant zwischen Entsetzen und Idylle – Bilder von Oskar Kokoschka in Bielefeld

Von Bernd Berke

Bielefeld. Auch wenn man gern lebt, wo man lebt, wird einem manchmal die eigene Welt zu eng. Dann muß man hinaus ins Weite. Man kann den Reisedrang des Künstlers Oskar Kokoschka (1886-1980) also verstehen, der schon in jungen Jahren aus der vermeintlichen Starre Wiens ins damals so bewegte Berlin flüchtete und den es dann auch in Dresden nicht hielt.

Seine späteren Fluchten (nach Prag und London) wurden ihm allerdings von den Nazis aufgezwungen. Doch Kokoschka wurde mit der Situation seelisch besser fertig als andere Emigranten. Vor allem um diese Zeit geht es jetzt in einer Ausstellung der Bielefelder Kunsthalle.

In den frühen 30er Jahren ergeht sich Kokoschka noch in schieren Idyllen: „Mädchen mit Blumen“, „Mädchen mit Gans im Korb“, „Mutter und Kind“ – Motive und Ausführung könnten einem Hausbuch deutscher Innerlichkeit entnommen sein. Unverkennbar der Hang, die Farbe im Wortsinne „dick aufzutragen“. Es wirkt, als sei der Künstler noch etwas unsicher gewesen und als habe er dieses Manko mit selbstbewußten Gebärden überspielen wollen.

Als er vor den NS-Machthabern, die ihn auf der schrecklichen Liste „Entarteter“ Künstler führten, nach Prag emigrierte, gewann sein Werk nicht sogleich an Schärfe. In der „goldenen Stadt“ widmete er sich ausgiebig dem Genre des Stadtporträts und suchte dabei nicht Hinterhöfe auf, sondern bevorzugte Postkarten-Perspektiven auf die Moldau, deren Ufer von Türmen und Brücken gesäumt wurden.

Manche Arbeiten durchflutet noch weiches Impressionisten-Licht, dann jedoch steht man vor „Prag – Blick von der Villa Kramár“ (1934/35). Hier hat sich die Szenerie gewandelt, der Himmel über Prag erscheint schrundig aufgerissen, als stünde das Jüngste Gericht bevor. Aus den Farben ist jede Lieblichkeit gewichen wie Blutröte aus einem entsetzten Gesicht.

Das „rote Ei“ und die Politik

Doch Kokoschka ist kein ausschließlicher Künder des Unheils geworden. Er schildert weiterhin auch die hellen Seiten des Lebens. Bilder wie „Nymphe“ und „Aktstudie“ (1938) belegen es. Vier Jahre bleibt er in Prag. 1938 kann er gerade noch vor den anrückenden deutschen Truppen nach London flüchten. Erneut malt er dort Stadtansichten, nur daß es diesmal die Themse ist, die unter den Brücken hindurch fließt. Machtvoll gehen die Blicke von oben herab in die Ferne, als schaue ein Herrscher auf seine Ländereien.

In London findet Kokoschka dennoch zu einer für ihn ganz neuen Ausdrucksform: der politischen Allegorie, also der bildhaften Darstellung sprachlicher Begriffe. Da steht etwa eine absurde Tischgesellschaft, bei der „Das rote Ei“ (1940/41) auf dem Teller liegt, für die Machenschaften beim „Münchner Abkommen“, mit dem England – zum Schaden der Tschechoslowakei – Hitler „besänftigen“ wollte.

Kokoschka greift nun häufig auf karikaturistische Mittel zurück, was seinen späteren Porträts zugute kommen wird: Er hat Illusionen verloren und kommt der inneren Wahrheit näher.

Oskar Kokoschka. Emigrantenleben – Prag und London, 1934-1953. Kunsthalle Bielefeld. 20. November bis 19. Februar 1995. Katalog 59 DM.




C. D. Friedrich – Bildvergleich wäre viel zu aufwendig / Experte: London kann kein Interesse an Klärung haben

Von Bernd Berke

Dortmund/Münster. Die ersten Wogen in Sachen Caspar David Friedrich haben sich gelegt: Nachdem – wie berichtet – die Londoner National Gallery Friedrichs „Winterlandschaft“ für 4,6 Mio. DM in Monaco ersteigert hat und das Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte nachdrücklich einen Vergleich mit seinem Zwillings-Exemplar forderte, sollte jetzt die Wissenschaft das Wort haben – wenn sie es überhaupt bekommt.

Denn, so ein Experte des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) gestern zur WR: „In London kann man doch gar kein Interesse mehr an einem eingehenden, naturwissenschaftlichen Vergleich haben – jetzt, nachdem man so viel Geld für das angeblich echte Bild ausgegeben hat“. London habe sich riskanterweise auf eine rein stilkritische Analyse gestützt, also nicht auf naturwissenschaftliche Methoden zurückgegriffen.

Welche Methoden kämen da eigentlich in Frage? Neben Stilkritik und Analyse der Maltechnik könnten z. B. Art und Beschaffenheit der Leinwand, der Grundierung, der Bindemittel (Leinöl usw.) und der Farb-Pigmente untersucht werden. Die winzige Pigmentprobe etwa, die durch einen kleinen (später optisch nicht wahrnehmbaren) „Stich“ in das Bild genommen wird, wird in einem komplizierten Verfahren verdampft. Dabei kann das jeweils ganz spezifische chemische Spektrum der Farbpartikel fotografiert werden. Weitere Verfahren sind z. B. Röntgen- und Infrarotaufnahmen.

Nur: Bei allem Fortschritt der Technik stellt sich die Sache gerade bei Bildern aus dem Umkreis der Romantik und ganz besonders beim Werk C. D. Friedrichs kompliziert dar. Der LWL-Experte, der „um Gottes Willen nicht genannt sein möchte“, da „das Verfahren schwebt“, meinte zur WR, im Grunde müsse man das gesamte (!) Werk C. D. Friedrichs erst einmal Revue passieren lassen. Erst nach einem solchen Überblick könne man wirkliche Vergleichskriterien für die beiden „Winterlandschaften“ gewinnen. Über Friedrichs‘ Werk gebe es aber bislang noch gar keine größeren und aussagekräftigen Reihenuntersuchungen. Wer aber könnte und wollte dieses Riesenpensum auf sich nehmen? Sicher nicht die National Gallery, und die Dortmunder – schließlich würde das Unsummen kosten – wohl auch nicht.

Im übrigen, so der Münsteraner Experte, kenne er das Dortmunder Bild ziemlich gut und habe „keinerlei Zweifel“, daß es sich zumindest um das Werk eiries Friedrich-Zeitgenossen handle. Da liege überhaupt ein Schwachpunkt in der Argumentation des Berliner Professors Börsch-Supan, der das Dortmunder Bild für eine Kopie hält. Börsch-Supan habe in seinen Gutachten seinen Kopie-Begriff gar nicht geklärt. So könne eine Kopie zum Beispiel eben zeitgenössisch und mit Friedrichs Zustimmung entstanden sein, oder aber sehr viel später. Falls es sich um einen Zeitgenossen handele, helfe auch Sie ganze chemische Analyse nicht viel weiter. Dann könne es keine Klärung über „echt“ und „kopiert“ geben. In diesem Fall werde man nämlich nur auf die Information stoßen, daß beide Bilder im selben Zeitraum entstanden sind.