„Ruhrgebietchen“: 36 Ansichten des Reviers

Laut Wikipedia ist das Ruhrgebiet mit 5,1 Millionen Einwohnern der größte Ballungsraum Deutschlands und der fünftgrößte Europas. Nun kommen gleich 36 Autoren daher, durchmessen mit ihren Beiträgen das Revier oder zumindest Teile von ihm. Ihr gemeinsamer Band, der im Verlag Henselowsky Boschmann erschienen ist, trägt den geradezu verniedlichenden Titel „Ruhrgebietchen“…

Da könnte man natürlich fragen, ob die Verfasser vielleicht doch die falsche Messlatte angelegt haben. Aber ihnen geht es weniger um Zahlen und Statistiken, sie erzählen vom Leben und Alltag der Menschen, von ihren Werten und Charakteren.

Überwiegend Sympathie für die Region

Mit dem Titel kommt wohl eher die Sympathie zum Ausdruck, die ein jeder, der an dem Buch mitgewirkt hat, für die Region empfindet, zumindest irgendwie. Und da man es nun mal mit dem Ruhrgebiet zu tun hat, kann ein solches Wohlwollen kaum davon abhalten, auch die Schattenseiten beim Namen zu nennen.

Denn offen und geradeheraus zu sein, gehörte lange Zeit zu den Merkmalen der Leute im Revier, wie es beispielsweise Einhard Schmidt-Kallert am Beispiel eines Bochumer Studenten herausstellt. Als besagter Erich sich 1968 (vollgesogen mit Rudi Dutschkes revolutionären Ideen) in die nächste Eckkneipe begab, wusste ihn einer der Stammgäste nach wenigen Sätzen zu erden.

In der Fremde vermisst man dann doch etwas

Dass es am und im Revier doch so manches zu bemängeln gibt und gab, daran lassen viele Autoren keinen Zweifel. Beispielsweise schreibt Heinrich Peuckmann über die Umweltschäden, die Kohle und Stahl zur Folge hatten. Die Emscher färbte sich lila, angesichts „des Zeugs“, das da hineingekippt wurde, und die Luft hing voller Rußpartikel. So schildert er Erinnerungen an seine Kindheit, in der solche Begleiterscheinungen aber wie selbstverständlich zum Leben dazugehörten. Wenn er heute schon mal mit seiner Heimat hadern sollte, dann sind es meist Situationen, in denen es allzu grobschlächtig oder prolohaft zugehe, so der Autor. Nimmt er Reißaus, merkt er jedoch andernorts schon sehr schnell, was ihm fehlt: beispielsweise die Treuherzigkeit der Menschen, die Solidarität untereinander oder die Fähigkeit zu Ironie und Selbstironie.

Immer noch Image-Defizite in Sachen Kultur 

Darüber hinaus hebt Peuckmann ein Charakteristikum des Reviers hervor, das, wie auch weitere Verfasser anmerken, in den Köpfen vieler Menschen kaum verhaftet ist: Die Region ist eine ausgeprägte Kulturlandschaft. Welche Vielfalt allein bei den Theatern im Ruhrgebiet besteht, hat Joachim Wittkowski, Gymnasiallehrer in Selm und Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut der Uni Bochum, brillant zusammengefasst. Überraschen mag an dem Aufsatz auch, dass viele Bühnen auf eine lange Geschichte zurückblicken. Das über Jahrzehnte vorhandene Bild vom Revier, in dem nur Malocher und Kulturbanausen leben, mag da überhaupt nicht mehr verfangen. Der Autor fordert dazu auf, Imagearbeit zu betreiben, damit die Stärken der Region deutlich werden. Die Chancen, die sich im Jahr 2010 geboten haben, als das Revier Kulturhauptstadt Europas war, seien nicht genutzt worden.

Love Parade, Schimanski und Zaimoglu

Mit der Tragödie der Love Parade, die Teil des Kulturhauptstadt-Programms war, setzt sich Gerd Herholz (ebenso wie Heinrich Peuckmann gelegentlich auch Autor der Revierpassagen) auseinander und bindet sie ein in die Geschichte der Stadt Duisburg und das Bild, das auch ein Kommissar Schimanski zu prägen wusste. Wie lobenswert sei es doch da, meint Herholz, dass der Schriftsteller Feridun Zaimoglu einen Roman in Duisburg spielen lässt und dazu vorher intensiv recherchierte, wie es dort denn eigentlich und wirklich zugeht.

Trinkhallen oder Buden gehören allerorten zum Ruhrgebiet. Margret Martin trägt eine Geschichte bei, die erst so gar ins Bild passen will. Die Hauptfigur, so viel sei verraten, lebt in direkter Nachbarschaft zu einer Bude und mag den Lärm nicht mehr ertragen, doch die Verfasserin bietet dem Leser eine Auflösung des Problems, die schmunzeln lässt.

Ernüchterung für Schalker und Borussen

Wer im Übrigen Schalke-Fan sein sollte und eine Antwort sucht, warum es 2001 nicht geklappt hat und auch sonst die Schale einfach nicht in die Arena will, der wird nach der Lektüre des Buches klüger sein. Herr Luca, so der Name des Autors, hat den Fußballgott befragt – persönlich. Aufmunterung oder Hoffnung für die königsblauen Fans sehen aber anders aus. Im Gegenzug wird sich auch mancher Borusse seine Gedanken machen, wenn er Udo Feists Anmerkungen zur BVB-Familie liest. Ernüchternd fällt seine Bilanz aus, zu sehr regierten Geld und Geschäft, als dass von echtem Glanz gesprochen werden könne.

Man musste schnell und billig bauen

Warum es in manchen Städten des Ruhrgebiets eher trist aussieht und oftmals auch schlichte Bauten das Bild bestimmen, erörtert Gerd Puls in seinem Aufsatz „Hammer und Schlegel, Spaten und Axt“. Arbeitssuchende aus der ganzen Republik landeten in den 50er und 60er Jahren im Revier, denn hier gab es Jobs. Die Leute unterzubringen, war eine Mammutaufgabe, die schnell, einfach und preiswert gelöst werden musste. Von allzu seligen Wirtschaftswunderjahren kann nach den Ausführungen des Autors kaum die Rede sein, gehörten doch Prügeleien und Schlägereien auch und gerade in Familien zum Alltag. Als Ursache vermutet er, dass die Männer die schrecklichen Erlebnisse auf den Schlachtfeldern nicht verarbeitet hatten.

„Urgesteine“ in den Kommunen

Zur Geschichte und Politik der Region liefern unter anderem Werner Boschmann und Thomas Rother wichtige Beiträge, indem sie so genannte „Urgesteine“ des kommunalen Geschehens portraitieren, die meist über Jahrzehnte in einer Stadt das Sagen hatten.

Klischees über das Ruhrgebiet werden Leser in dem Buch vergeblich suchen, und auch Pia Lüddeckes Geschichte über einen Taubenvater (oder Taubenvatta, um im Jargon zu bleiben) nimmt ein eher skurriles Ende.

Zusammenhalt ja, Metropole nein

Einige Autoren erzählen, wie sie, endlich flügge, das Revier verlassen haben und feststellen mussten, dass sie doch mit der neuen Heimat fremdelten und ihrem Herkunftsort verbunden blieben.

Mehr Zusammenhalt der Städte im Ruhrgebiet, das wünscht sich Sigi Domke, aber auch nicht zu viel: Städtehaufen ja, Metropole nein, eben doch ein Ruhrgebietchen.

„Ruhrgebietchen – was deine Kinder an dir lieben und was nicht“. Verlag Henselowsky Boschmann, 224 Seiten, 9,90 Euro.




Dynamik und Ästhetik – preisgekrönte Pressefotos in Dortmund

Die Afghanin Bibi Aisha. Foto: Jodi Bieber

Das Bild ist um die Welt gegangen: Bibi Aisha, Afghanin, 18 Jahre alt, gewaltsam entstellt, ohne Nase. Bestraft, weil sie aus dem Haus des Ehemannes geflohen war. Der südafrikanischen Fotografin Jodi Bieber wurde mit diesem Porträt der Preis „World Press Photo of the Year“ (2011) zuerkannt. Wohl auch deshalb, weil trotz aller innewohnenden Grausamkeit das Bild eine Ästhetik ausstrahlt, die der jungen Frau ihre Würde lässt.

Im Dortmunder Depot sind nun (bis zum 8. März) alle prämierten Fotos zu sehen, 160 an der Zahl, preisgekrönte Werke in neun verschiedenen Kategorien, sowohl Einzelaufnahmen als auch Bilderserien. Sie sind überwiegend an Brennpunkten dieser Welt entstanden, dokumentieren auf teils erschreckende Weise des Menschen Kriege, sein Unglück, sein Leid. Aber auch Skurriles ist zu sehen, neben einigen schönen Naturfotos.

So kann es wohl zum eingangs erwähnten Bild der jungen Afghanin keinen größeren Kontrast geben als das Porträt der beiden schrulligen alten Damen, die auf einem irischen Jahrmarkt in die Linse des Fotografen Kenneth O’Halloran schauen. Die eine mit kauzig-grimmiger Miene, die andere mit einem sanften Lächeln, das etwas Fürsorgliches hat. Beide haben sich, in ihrer Art, schick gemacht – das Bild lebt nicht zuletzt von den sich beißenden Farben.

Wieder ein Kontrast: Der Blick fällt auf zwei Menschen, die in großer Distanz voneinander entfernt sitzen. Es sind nicht irgendwelche Personen, sondern ranghöchste Politiker Nordkoreas: Staatschef Kim Jong-il, der nach links auf seinen Sohn und designierten Nachfolger Kim Jong-un schaut. Ein skeptischer Vater blickt in Richtung seines Sohnes, dessen bulliges Gesicht wie versteinert wirkt. Fast wollen wir glauben, es menschelt zwischen den beiden.

Zwei Damen auf einem irischen Jahrmarkt. Foto: Kenneth O'Halloran

Viele Fotos, blickt man nur genau hin, sind trotz aller Schrecknisse von einem Funken Hoffnung erleuchtet. Ein junger Mann, der in der Westsahara für die Unabhängigkeit der Saharauis streitet, blickt gedankenverloren in den hellen Sternenhimmel. Oder betrachten wir nur die Schwarze, die in einer von Wellblech umzäunten Parzelle Cello übt, als Mitglied des Kinshasa Symphony Orchestra, das inzwischen weltweit Beachtung findet.

Erwähnt werden soll aber auch der deutsche Fotograf Uwe Weber, Preisträger für ein Dokument über die Duisburger Love Parade. Menschen dicht an dicht, nackte Angst in vielen Gesichtern. Es scheint, als würde sich die Masse im Bild bewegen. Ein Beispiel für viele Aufnahmen, die eine ungeheure Dynamik entfalten. Nicht zuletzt durch die Brillanz der Farben.

Ein Tölpel im Landeanflug auf eine Brutkolonie. Foto: Thomas P. Peschak

Schließlich wollen wir aber die Schönheit dieser Welt preisen. Thomas P. Peschak gelang das beste Foto in der Kategorie Natur. Ein Tölpel im Landeanflug auf eine Brutkolonie. Die Gesichtszeichnung des Tieres ist von größter Plastizität. Peschak, in Deutschland geboren und in Südafrika lebend, macht uns staunen.

www.depotdortmund.de