20 Jahre Konzerthaus Dortmund (II): Beethovens „Apotheose des Tanzes“ fehlt der scharfe Blick auf den Rhythmus

Wenn schon die spritzige Eingangsfloskel zwischen Klavier und Trompete so nadelspitz akkurat gelingt, kann eigentlich nichts mehr schief gehen in Dmitri Schostakowitschs Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester op.35.

Andris Nelsons dirigiert das Gewandhausorchester Leipzig. (Foto: Björn Woll)

Der junge japanische Pianist Mao Fujita – eingesprungen für die erkrankte Yuja Wang – und der Trompeter Gábor Richter sticheln dieses ironische Zitat aus Beethovens „Appassionata“ so gekonnt in den Raum, dass für die folgenden drei Sätze kein Zweifel an ihrer Klasse aufkommt.

Der 23-Jährige am Flügel beginnt sein Eingangssolo eher lebensfroh beschwingt als im beiläufigen Improvvisando, steigert sich dann fulminant in die typischen atemlosen Repetitionen und schrägen Gassenhauer-Melodien, verliert sich im Lento – Moderato zu den delikat abgestimmten Streichern des Gewandhausorchesters in traumtrunkener Meditation, bevor er sich im Finalsatz in einen befeuerten Wettstreit mit der Trompete begibt, der auch einmal durch einen knallig dissonanten Akkord unwirsch beendet wird.

Mao Fujita beim Eröffnungskonzert der Saison im Komzerthaus Dortmund. (Foto: Björn Woll)

Fujita zeigt sich in all diesen so unterschiedlichen Ausdrucksmomenten voll bei der Sache, allenfalls die verträumte Gelassenheit des zweiten und der satirische Biss des vierten Satzes könnten noch pointierter formuliert sein. Gábor Richter ist in seinen Signalen punktgenau und in den wenigen Momenten, in denen die Trompete sogar einmal „singen“ darf, voll Poesie mit von der Partie. Am Pult geht Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons mit den Solisten mit; das Orchester verströmt eher seinen herrlich samtigen Klang als die herben und grellen Momente Schostakowitschs mit Humor zu zelebrieren. So bleiben die Bratschen zu weich und die rhythmische Finalknallerei eher wuchtig als messerscharf.

In Schostakowitschs Kammersinfonie op. 110a, einer mit Zustimmung des Komponisten von Rudolf Barschai erstellte Bearbeitung des Achten Streichquartetts, ist dieser Klang eher angebracht. Das melancholisch gestimmte Werk nimmt Nelsons in seinen drei Largo-Sätzen verhalten und breit, lässt die Streicher ihre vorzügliche Qualität im Legato ausspielen und den Ton nach einem ätherischen Violinsolo im Pianissimo verwehen. Der Allegro-Ausbruch im zweiten Satz, die explosiven Tutti-Schläge und der sardonische Walzer vertrügen eine spitzere Artikulation, um nicht allzu befriedet zu klingen.

„… in trunkenem Zustand komponiert“

Mit dieser Ästhetik nähert sich Andris Nelsons der Siebten Sinfonie Ludwig van Beethovens und liefert eine problematische Interpretation. Was dieser – nach Wagner – „Apotheose des Tanzes“ fehlt, ist eben jener scharfe Blick auf den Rhythmus, der im ersten Satz als konstitutiv entwickelt wird, und der sich in wechselnder Form durch die vier Teile zieht – als Marsch im zweiten, als impulsiver Drive im Scherzo und als grimmige Ausgelassenheit im Finale, von dem Friedrick Wieck argwöhnte, es könne nur in trunkenem Zustand komponiert sein.

Das Sostenuto des Anfangs wird zwar ausgekostet und die warm strömenden Holzbläser dürfen funkeln und schimmern. Aber das breite Tempo ermöglicht keinen Spannungsaufbau, das Pulsieren des Rhythmus bleibt gebremst. Der Sog der rhythmischen Struktur will sich nicht einstellen – und dann lässt Nelsons die Pauken losdonnern, als sei er bereits im Finale angelangt. So sind späteren dynamischen Gipfeln schon die Spitzen abgeschlagen, ehe sie erklommen werden. Der Mangel an rhythmischem Pep nimmt der Musik ihre Beredsamkeit; Nelsons agiert von Stelle zu Stelle statt Zusammenhänge herzustellen. Auch das Vivace gewinnt keine frühlingshafte Frische, keine spritzige Eleganz.

Dem Orchester ist das nicht anzulasten: Bis auf ein paar Artikulationsflüchtigkeiten im zweiten Satz sind die Violinen entwaffnend schön; die Bläsersoli makellos; das Orchesterpiano von selten gehörter Delikatesse. Die dröhnende Selbstbestätigung im Scherzo müsste nicht sein; das Finale bräuchte Brio und Exzess – aber der hat ja bereits im ersten Satz stattgefunden. Dennoch Jubel. Beethoven geht halt immer.




Ernst, streng und abgeklärt: Evgeny Kissin mit reinem Beethoven-Programm beim Klavier-Festival Ruhr

Konzentration und abgeklärter Zugriff: Evgeny Kissin interpretiert Beethoven. Foto: Sven Lorenz

Evgeny Kissin galt als Wunderkind. Er selbst hat diese Bezeichnung freilich abgelehnt. Sie roch ihm zu sehr nach Drill, vordergründiger Brillanz. Und doch: Wenn ein 12Jähriger beide Chopin-Klavierkonzerte hintereinander öffentlich aufführt, wenn er damit nicht nur, ja, brilliert, sondern zugleich Zeugnis beseelter Musikalität ablegt, wenn ihm dazu technisch fast alles gelingt, kann die Bezeichnung Wunderkind nicht ganz abwegig sein.

Allerdings ist schon mancher junge Stern am Pianistenhimmel schneller als gedacht verglüht. Nicht aber Kissin: Der Russe ging seinen Weg so kontrolliert wie konzentriert, behutsam erarbeitete er sich zunächst das romantische Repertoire, gewann Schritt für Schritt an Ausdruckskraft und technischer Souveränität. Die Entwicklung mündete schließlich in der meisterhaften Beherrschung der Klangwelten eines Konzertflügels.

So fand er schnell sein Publikum in den berühmten Sälen der Welt, eroberte sich geradezu eine Fangemeinde zumeist russischsprachiger Natur. Kissin bezauberte, überwältigte, riss die Menschen schon nach den ersten Stücken von den Sitzen. Legendär sind seine Zugabenblöcke, ausufernd, kaum enden wollend, getragen von wahren Anfeuerungen aus dem Auditorium. Nun, bei aller Seriosität, ein bisschen Zirkus durfte es bei Kissin schon sein.

Ernster Blick, seriöse Aura: Kissin am Klavier. Foto: Sven Lorenz

All dies Beschriebene ist ein Blick zurück. Tritt der Pianist heute auf, umgibt ihn eine Aura von unbedingter Ernsthaftigkeit, künstlerischer Reife bis hin zur Abgeklärtheit, nicht zuletzt von Strenge. Der nunmehr 47Jährige hat alles Jungenhafte hinter sich gelassen, verlangt vom Publikum mehr als nur berauschten Taumel, verknappt die Zugaben. Entsprechend mag sich das alte Kissin-Feeling auch während seines diesjährigen Klavierfestival-Auftritts nicht mehr einstellen. Dabei spielt  freilich die Programmauswahl eine Rolle: Der Russe konzentriert sich allein auf Sonaten und Variationen Ludwig van Beethovens.

Lange hat Kissin gebraucht für die Annäherung an den Komponisten. „Beethoven fand ich viele Jahre sehr schwer“, bekannte der Pianist in einem Interview. Kein Wunder, dass er nun, in Essens Philharmonie, mit gehörigem Respekt vor dem Klassiktitanen ans Werk geht, Überzeichnungen ebenso meidet wie die große Geste. Gleichwohl wird es ein spannungsreicher Abend, bereichert durch traumschön poetische Momente. Im Wechselspiel von Klang und Motorik stößt Kissin eine Tür auf,  die den Blick freigibt auf die musikalische Romantik und Moderne.

Seien es die gravitätisch schreitenden Einleitungsakkorde der „Pathétique“ oder die sanften Arpeggien, die am Beginn der „Sturm“-Sonate aufleuchten – die Verdichtung der Klänge erinnert an nahezu impressionistische Farbspiele. Abrupte Stimmungswechsel, ausgelöst durch dynamische Eruptionen oder motorisches Hämmern, reißen uns jedoch schnell los von allem Schwelgen. Beethovens Werk ist eben geprägt von drangvoller Nervosität, nicht selten auch von energiegeladener Wucht.

Am Ende gibt’s Blumen für den Solisten und drei Zugaben fürs Publikum. Foto: Sven Lorenz

Gefordert ist ein ebenso sensibler wie kraftvoller Interpret. Der zudem das Virtuose beherrscht, ohne damit sinnfrei glänzen zu wollen. Dafür ist Kissin die richtige Adresse. Wie er die sich immer mehr verquirlenden Eroica-Variationen meistert, wie er manch improvisatorische Passage auskostet und die finale Fuge (Beethovens Verneigung vor Bach) ausdrucksvoll gestaltet, zeugt von großer Klasse.

Dabei entpuppt sich der Pianist als ökonomischer Gestalter, der auch in den teuflisch schweren Momenten der Waldstein-Sonate nie den Überblick verliert. Sauber und klar konturiert erklingen die pochenden Staccati zu Beginn, ohne Hast perlen die Figurationen. Das Adagio bekommt eine nahezu grüblerische Note, die sich auflöst im poetischen Thema des Finales. Und so sehr Kissin all die Sprünge, Trillerketten oder wuchtigen Ausbrüche dieses Rondos beherrscht, so geschmeidig, ja fast elegant formt er die Sonate als Ganzes.

Ein ungewöhnliches Hörerlebnis in einem außerordentlichen Konzert. Und am Ende gibt es dann doch den großen Jubel im ausverkauften Saal. Freilich ohne die sonst schon ritualisierte frenetische Ausgelassenheit. Kissin wiederum belässt es bei drei Zugaben. Die Abende mit ihm haben sich gewandelt. Sie sind toll, vor allem aber anspruchsvoll. Auf der Stuhlkante haben wir einst jedenfalls öfter gesessen.




Mit Leoš Janáček in die neue Spielzeit: Die Essener Philharmoniker eröffnen die Reihe ihrer Sinfoniekonzerte

Er tritt für die Musik seiner Heimat ein: GMD Tomáš Netopil stand am Pult beim ersten Sinfoniekonzert der Spielzeit 2018/19. Foto: Hamza Saad.

Er tritt für die Musik seiner Heimat ein: GMD Tomáš Netopil stand am Pult beim ersten Sinfoniekonzert der Spielzeit 2018/19. Foto: Hamza Saad.

Mit einer Aufführung der „Glagolitischen Messe“ von Leoš Janáček und von Ludwig van Beethovens gerne vernachlässigter Zweiter begann Generalmusikdirektor Tomáš Netopil die Serie der zwölf Sinfoniekonzerte der Essener Philharmoniker.

Mit Janáčeks „Glagolitischer Messe“ stellt Tomáš Netopil ein weiteres wichtiges Werk aus dem hierzulande viel zu wenig bekannten Repertoire seiner tschechischen Heimat vor. Eine Serie, die hoffentlich in den nächsten Jahren – Netopils Vertrag wurde bis 2023 verlängert – weitere Begegnungen ermöglicht. Die Messe trägt ihren Namen, weil der glühende Panslawist Janáček den Messtext im uralten Kirchenslawisch vertont hat.

Liturgisches Werk oder Konzertmusik?

Im Westen wurde die Komposition nie richtig heimisch: Ihr hing wie so manch anderer wertvoller Musik östlicher Nachbarn das zweifelhafte Prädikat des „Nationalen“ an. Nicht für die Liturgie geschaffen und selbst für semiprofessionelle Chöre sehr schwer, dazu weder schmeichelnd melodisch noch offensichtlich fromm, passte sie als merkwürdiger Zwitter weder in die kirchliche Musikpflege noch in den bürgerlichen Konzertbetrieb.

Das hat sich durch einige verdienstvolle Einspielungen – von Rafael Kubelik bis Pierre Boulez – zum Glück geändert. Aber die aufgelockert besetzten Reihen im Alfried Krupp Saal belegen, dass die Messe das Publikum nicht anzieht – ein Schicksal, das sie kurioserweise mit Beethovens Zweiter Sinfonie teilt. Dabei spart Janáček nicht mit hymnischem Überschwang: in den Fanfaren des Beginns etwa, die sich am Ende wiederholen, aber auch im aufgewühlten Credo, das die slawische Glaubensformel „Vĕruju“ stets aufs Neue wiederholt.

Vielfältige Farben der Blechbläser

Dazwischen nimmt Janáček die Musik oft zurück. Aber der raue Samt flächiger Violinen und die dunklen Bläser-Piani werden kontrastiert von Paukensoli und heftigen Orgelakkorden (Friedemann Winklhofer). Die Farben der Blechbläser setzt er vielfältig ein, kontrastiert filigrane Streicher mit der tiefen Glut von Posaunen und Tuba. Die heftigen rhythmischen Akzente, die ostinat wiederholten Figuren, das drängende, oft atemlose Tempo ist als expressives Mittel aus seinen Opern wohlbekannt.

Netopil lässt die Philharmoniker die spröden Seiten des Klangs nicht überbetonen, sondern sorgt für eine eher weiche, aber nicht glattpolierte Artikulation. Almuth Herbst bietet unter den Solisten trotz ihrer nur marginalen Aufgabe den schönsten, weich grundierten Stimmklang. Carlos Cardoso mit kräftig-festem Tenor und Almas Svilpa mit muskulösem Bass sind ihren Partien gewachsen; Andrea Danková zeigt harte Tongebung und flackerndes Vibrato, das dem Kern ihres Soprans dennoch nicht hilft, das Orchester zu überstrahlen.

Alle Anzeichen panischer Gottesfurcht

Patrick Jaskolka und Jens Bingert haben ihre Chöre vorzüglich einstudiert: Die Sängerinnen und Sänger pflegen eine weitgehend klare Aussprache des fremden Idioms. Die Lobpreisungen des „Gloria“, die Glaubenssätze des „Credo“ fasst Janáček nicht in die Form feierlicher Hymnen oder erhabener Anrufungen: Sie erklingen wie hervorgestoßene Aufschreie, atemlos, hektisch, erregt und grell. Da äußert sich keine balsamische Glaubensgewissheit, sondern eine fast panische Gottesfurcht. Der kirchenskeptische Janáček schreibt, ähnlich wie Giuseppe Verdi in seiner „Missa da Requiem“, eine Musik des Zweifels, aber auch der existenziellen Hoffnung am Rande des Nichts. Die Hoffnung, am Ende möge doch nicht alles umsonst gewesen sein, verbindet Janáčeks Messe mit Beethovens Ouvertüre zu Goethes „Egmont“, die den Abend eröffnete, voll Wehmut und Passion.

So haydnisch heiter wie oft beschrieben klingt Beethovens Zweite Sinfonie an diesem Abend auch nicht: Die Violinen artikulieren frisch und markant im ersten Satz, im Scherzo trifft das Orchester die Eleganz á la Haydn, aber auch die unwirschen Akzente und dynamischen Überraschungen, die über die Surprisen des älteren Meisters hinausgehen.

Während Netopil die Einleitung genüsslich ausbreitet, findet er im Allegro con brio des ersten Satzes den forschen Schritt, der gleichwohl nichts überhetzt, gibt im zweiten Satz mehr Atem als Zeit und macht so aus dem „Larghetto“ kein „Largo“. Der letzte Satz wird erhitzt getrieben und hält die Spannung bis zum Ende. So gespielt steht die Zweite keineswegs in der zweiten Reihe der Sinfonien Beethovens.

Saisonausblick: Dominanz des Bewährten

Mit dem Schlagzeug steht in der beginnenden Saison ein Instrumentarium im solistischen Vordergrund, das erst im 20. Jahrhundert zu derartigen Ehren gekommen ist: Alexej Gerassimez, inzwischen in die führende Riege der Schlagzeuger aufgestiegen, widmet sich „Sieidi“, einem Konzert des Finnen Kalevi Aho. Dieses Konzert ist auch in einem neuen „Einsteiger-Abo“ mit vier Konzerten enthalten, mit dem die Vorteile eines fest gebuchten Platzes schmackhaft gemacht werden sollen.

Die weiteren Konzerte bis Juli 2019 bieten Neues oder Überraschendes nur in homöopathischen Dosen, verlassen sich auf die Dominanz des Bewährten und eine Prise von Randständigem: Tschaikowsky etwa zieht immer und kommt mit seiner Fünften, kombiniert mit dem Violinkonzert mit Julian Rachlin als Solist und Dirigent, am 14./15. Februar zu Ehren. Dazu tritt am 11./12. Juli das b-Moll-Klavierkonzert mit Boris Berezovsky. Mozarts „Jupiter“, Bruckners Dritte unter Hans Graf, Mahlers Sechste und Schostakowitschs Fünfte, beide mit Netopil am Pult, umschreiben den Kreis der Sinfonien.

Namhafte Solisten wecken Erwartungen

180 Jahre alt wird der Philharmonische Chor Essen, der mit Janáčeks Messe eine erste Bewährungsprobe erfolgreich bestanden hat und sich am 22./23. November Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ stellen wird. Erwartungen wecken die Namen der Solisten, unter ihnen der amerikanische Pianist Tzimon Barto mit dem B-Dur-Klavierkonzert Johannes Brahms‘ am 10./11. Januar 2019, Christiane Karg mit Maurice Ravels „Shéhérazade“ am 7./8. März, der Geiger Daniel Bell mit Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ am 4./5. April oder Gautier Capuçon, der am 20./21. Juni das Erste Konzert für Violoncello und Orchester op. 33 von Camille Saint-Saëns spielt.

Selten zu hörende Werke wie Arthur Honeggers witzige Sport-Adaption „Rugby“ oder Ottorino Respighis musikalische Annäherung an den magischen Lichtglanz bunter Kirchenfenster „Vetrate di Chiesa“ stehen eher am Rand – in diesem Fall etwa als Einleitung zu Carl Orffs unverwüstlichen „Carmina burana“ mit Ivor Bolton und dem Collegium Vocale Gent am 25./26. April.

Schon am 27. und 28. September setzt sich die Reihe der Sinfoniekonzerte fort, wenn Gastdirigent Alexander Liebreich als zentralen populären Programmpunkt Modest Mussorgskys „Bilder eine Ausstellung“ dirigiert.

Tel.: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de




Ein warmer, tragender Klang: Der Kammermusiksaal des Musikforums Bochum ist ein Glücksfall

Das „Viktoria Quartett“ mit Philipp Willerding-Bach, Jiwon Kim, Aliaksandr Senazhenski und Esiona Stefani (v.l.n.r.). (Foto: Christoph Fein)

Streichquartett-Abende sind immer einen Besuch wert. Darf sich das geneigte Publikum doch gewissermaßen auf einem Olymp der Kunst wähnen. Hier wird die reine Vierstimmigkeit zelebriert, geht es mithin um nicht weniger als die Königsgattung der Kammermusik.

Kein Komponist, der was auf sich hielt oder hält, der nicht für Streichquartett schrieb oder schreibt. Von Haydn und Vorläufern bis hin zu Wolfgang Rihm und Jüngeren – kaum ein Kanon kommt ohne Werke für die Kombination von zwei Geigen, Bratsche und Cello aus.

Was Wunder: Der große Goethe hat dazu, ganz im Geiste der Aufklärung, seinen Segen gegeben. „Man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.“ Da ist es zudem wenig verwunderlich, dass bis heute immer wieder neue Streichquartett-Ensembles sich der Herausforderung des rationalen musikalischen Gesprächs stellen wollen.

Bei den Bochumer Symphonikern haben sich im Laufe der Zeit zwei entsprechende Formationen gebildet. Zunächst „Bermuda4“ und später, genauer gesagt vor etwa drei Jahren, das „Viktoria Quartett“. Beide haben für diese Saison eine eigene Reihe eingerichtet. Allein, aktuell gestaltet ausschließlich das „Viktoria Quartett“ die Konzerte, „Bermuda4“ befindet sich in einer Phase der Neuorientierung. Selbstreflexionen dieser Art sind beileibe nichts Ungewöhnliches, auch berühmte Ensembles sind davor nicht gefeit. Über Binnenspannungen im Quartettbetrieb wurden schon Bücher geschrieben – und es bleibt nur der Wunsch, dass sich am Ende alles wieder aufs Beste einrenkt.

Nun also: Das „Viktoria Quartett“ hat den dritten Abend der Reihe übernommen, das wohl kurzfristig zusammengestellte Programm weist Prokofjews 1. (op. 50) und Beethovens 4. Quartett (aus op. 18) aus. Für uns ist es im übrigen die erste Gelegenheit, den Kammermusiksaal des neuen Bochumer Musikforums zu testen. Und es sei gesagt: Das Hörerlebnis ist außerordentlich.

Der Klang umfängt das Publikum mit angenehmer Wärme, wer die Augen schließt, mag kaum glauben, dass alle Töne doch von vorn kommen. Dazu verhelfen die reflektierenden Flächen der Seitenwände, wie andererseits zwei raumhohe schwere Vorhänge die prinzipiell trockene Akustik abmildern. Gleichwohl wird jede noch so filigrane Klangnuance bis in die hinterste Reihe getragen. Selbst das leiseste Pianissimo findet in kristalliner Klarheit jedes Ohr. Andererseits: Dissonante Schärfen, wie sie Prokofjew oft genug vorschreibt, versagen sich in hoher Lage jedes Klirren. Diese kleine Schuhschachtel, maximal auf 325 Plätze ausgerichtet, ist für Kammermusiker ein Glücksfall.

Gleichzeitig jedoch eine Herausforderung. Wo nichts ungehört bleibt, ist Präzision gefragt. Das fängt bei der Intonation an, ist in Sachen Tongebung von Bedeutung, betrifft nicht zuletzt die Kunst des Zusammenspiels. Der rationale Diskurs ist das eine, das konzentrierte Hören aufeinander die andere Seite der musikalischen Medaille. Wie schön, dass sich das „Viktoria Quartett“ als Organismus präsentiert, dessen Solisten nie in den Vordergrund drängen. Interessant ist vielmehr, dass kaum eine Führungsrolle auszumachen ist. Esiona Stefani (1. Violine), Jiwon Kim (2. Violine), Aliaksandr Senazhenski (Viola) und Philipp Willerding-Bach (Violoncello) verstehen einander ziemlich gut, intonieren äußerst sauber, nur hier und da fehlt es an präziser Tonfokussierung.

Bei Prokofjew gelingt die Balance zwischen akzentuierter Motorik und stimmungsvollem Legato-Ton überzeugend. Das Spiel des Quartetts ist energiegeladen, zielt aber vor allem auf die expressive Ausgestaltung des Finales, einem Lamento von erheblicher Dramatik. Beethovens Werk wiederum hätte insgesamt mehr Biss verdient, andererseits wird die Modernität des Stückes (frühe Anklänge an die Romantik) fein herausgearbeitet. Ja, der Besuch dieses Konzerts hat sich gelohnt.

 




Erfrischend neu: Philippe Herreweghe eröffnet Beethoven-Zyklus in der Essener Philharmonie

Der Residenz-Künstler der Philharmonie Essen: Philippe Herreweghe. Foto: Bert Hulselmans

Der Residenz-Künstler der Philharmonie Essen: Philippe Herreweghe. Foto: Bert Hulselmans

Ein Beethoven-Zyklus. Wieder einer. Muss man das haben? Nein. Heerscharen von Dirigenten haben sich an Beethoven abgearbeitet, mehr als ein Dutzend Zyklen sind auf dem Tonträgermarkt verfügbar. Kaum ein Orchester kommt in seiner Spielzeit ohne Beethoven aus. Lesarten von Furtwängler bis Harnoncourt erschließen jeden denkbaren Zugang zur musikalischen Welt dieses Titanen – der diesen mythischen Titel wirklich verdient, weil er in seiner Zeit und noch ein Jahrhundert danach weltumwälzend gewirkt hat.

Also, was soll die Aneinanderreihung der neun Symphonien in den nächsten beiden Jahren in der Essener Philharmonie? Wäre es nicht aufschlussreicher gewesen, Beethoven mit der Symphonik seiner Zeit über Haydn und Mozart hinaus zu konfrontieren, um den revolutionären Zug seiner Musik einmal hörbar und nicht nur in musikwissenschaftlichen Traktaten nachlesbar zu machen? Wäre es nicht ergiebiger, Beethoven mit denen zu konfrontieren, die an ihm gelitten haben, gewachsen sind oder ihn kühn und keck hinter sich gelassen haben? Nein – Beethoven pur muss es sein – so verkauft sich’s am besten!

Es muss also nicht sein, aber man ist trotzdem dankbar, dass es so ist. Weil in Essen ein Dirigent Beethoven verantwortet, der vielleicht doch noch etwas mehr zu sagen hat als üblich. Weil dieser Mann Philippe Herreweghe heißt. Und weil er mit einem Orchester kommt, das seit 1991 auf ihn, seinen Gründer, eingeschworen ist.

Herreweghe gehört zu den Musikern, die erfolgreich Kurs halten – zwischen dem Traditionalismus eines Christian Thielemann oder Kurt Masur und den umstürzlerischen Neudeutungen, wie sie auf die grandiosen Entdeckungen Nikolaus Harnoncourts folgten und heute von Stars wie Teodor Currentzis weitergesponnen werden – am 9. Januar 2016 etwa in der Kölner Philharmonie mit Beethovens Fünfter.

Genauer Blick auf innovatives Potenzial

Herreweghe schaut genau hin, welche klanglichen Ergebnisse jenseits des Sinnenreizes des Ungewohnten für ein strukturelles Erforschen der Musik geeignet sind. Er übertreibt nichts, sondern liebäugelt mit der Eleganz und Gemessenheit des frühen 19. Jahrhunderts. Aber er verharmlost Beethoven damit nicht, sondern legt sein innovatives Potenzial für heutige Ohren vernehmbar frei.

Das ist nicht einfach: Die Dritte zum Beispiel, die das Eröffnungskonzert des Zyklus’ abschließt, Ist so bekannt, dass sich der Zuhörer gar nicht mehr vorstellen kann, was daran so neu und unerhört gewesen sein soll. Der unbestreitbar appellative Charakter des „Ideenkunstwerks“ Beethovens und die damit zusammenhängende Neuheit der Sinfonie erregen nicht mehr. Aber Herreweghe macht hörbar, dass der gewaltige erste Satz mit den formalen Kriterien des Sonatensatzes kaum in den Griff zu bekommen ist. Er holt mit kalkulierten dynamischen Effekten den „Trauermarsch“ aus der Sphäre des emotional berührenden Charakterstücks und betont, dass der Typus des Marsches aufgebrochen ist durch ein Fugato mit zwei neuen Themen.

Und er erschließt den letzten Satz als höchst ungewöhnlichen, formal ebenfalls kaum festzulegenden Variationensatz mit zwei Fugen, gestaltet aus dem Kontretanz und dem ungarischen Vérbunkos – und einem Geschwindmarsch als Coda dazu. Peter Schleuning hat dieses Finale als „das wagemutigste formale Experiment der gesamten Symphonie-Geschichte“ bezeichnet: Sicher einer der Gründe, Beethovens Dritte, gegen den „Genuss“ gebürstet, immer wieder zur Diskussion zu stellen.

Beethovens Zweite – wirklich „wild“ und „grell“?

Noch aufschlussreicher als die „Eroica“ gerät Herreweghe die seltener gespielte und oft unterschätzte Zweite. „Wild“ und „grell“ fand der Kritiker Friedrich Rochlitz Beethovens neues Werk. Herreweghe lässt mit einem deutlichen Ruck im Tonfall den Abstand zur Ersten erleben: Die heftig akzentuierten Schläge des Orchesters werden irritierender, die Tremoli hitziger, das Cantabile intensiver.

Das Orchestre des Champs-Élysèes ist für diese Demonstration bestens gerüstet: Die Bläser spielen farbenreiche, akzentuierungsfreudige historische Instrumente (bzw. Nachbauten), die tiefen Streicher sind ausreichend groß besetzt, die Geigen huldigen weder papieren-flachem Historisieren noch einer dogmatischen Vibrato-Abstinenz. So wird das motivische Wechselspiel zwischen den Instrumenten im ersten Satz lebendig und spannend, sind die Akzente „wild“ und eine Farbe wie die der Fagott-Stellen im zweiten Satz mehr als eine Anekdote. Die Schroffheit nimmt zu, die harten Pauken geben den Sforzati Nachdruck und machen die Orchestertutti „grell“. Man hört, wie Beethovens insistierende Energie seine Zeitgenossen irritiert haben dürfte.

Und die Erste? Die scheint Herreweghe bewusst aus „Haydns Geist“ zu gestalten – als Hommage an den Mann, dem Beethoven unendlich viel zu verdanken hatte. Locker der Ton, lyrisch anmutig das eröffnende Adagio, leicht und transparent die Durchführung des ersten Satzes. Aber Herreweghe verleugnet nicht, dass hier ein Feuerkopf am Werke war, der den Wienern gehörig einheizte – und das nicht nur durch seine rüden Manieren. Die Dynamik und Bewegungsenergie bleibt etwa im herrlich federnden Spiel des Orchesters im Finale nicht bloß eine pikante Zutat, sondern kündigt die Expressivität an, mit der Beethoven sehr bald über „Mozarts Geist aus Haydens Händen“ hinauswachsen sollte.

Mit Spannung darf erwartet werden, wie der Residenz-Künstler der Essener Philharmonie in dieser Spielzeit mit den mittleren Symphonien des Genies aus dem rheinischen Bonn das Unbekannte im allzu bekannt Scheinenden aufdecken wird: Am 5. März 2016 folgen die Vierte und die Fünfte – und dazu ein weiteres Werk, das Musikgeschichte geschrieben hat: das Violinkonzert.




Magierin am Schlagzeug – Evelyn Glennie und die Dortmunder Philharmoniker retten Alberich

Evelyn Glennie, Schlagzeugerin von Gnaden, gastierte bei den Dortmunder Philharmoniker. Foto: Jim Callaghan

Evelyn Glennie, Schlagzeugerin von Gnaden, gab sich die Ehre bei  den Dortmunder Philharmonikern. Foto: Jim Callaghan

Am Ende von Richard Wagners „Götterdämmerung“, die den vierteiligen „Ring des Nibelungen“ beschließt, ist eben jener Nibelung, Alberich, mit dem alles begann, verschwunden. „Er ist entmachtet – schlimmer: er scheint vergessen“, schreibt der Wagnerexeget Peter Wapnewski. Und in der Tat: Alberichs letzter Auftritt, eine düster somnambule Begegnung mit dem Sohn Hagen inmitten der „Götterdämmerung“, ist zugleich sein gespenstischer Abschied aus dem Zyklus.

Wagners Opernmythos im Allgemeinen, besonders aber das geheimnisvolle Abtauchen des Auslösers dieses Strudels aus Fluch, Verrat und Mord, endend erst im reinigenden Weltenbrand, inspirierte den Amerikaner Christopher Rouse zur Komposition des Stücks „Der gerettete Alberich“.

Es soll offenbar eine Art Ehrenrettung sein. Der Nibelung darf sich noch einmal austoben, in Form eines Konzerts für Schlagzeug und Orchester. Weil Rouse diesen Fiesling als Getriebenen, Ausgegrenzten sieht, dessen üble Taten als Abwehr zu verstehen sind. Der musikalische Fortgang ist indes alles andere als ein Freispruch: Das Wüten fasziniert, verschreckt zugleich und endet nicht in Wohlgefallen. Im Grunde verschwindet Alberich erneut.

Nun haben die Dortmunder Philharmoniker dieses außergewöhnliche Werk in ihr Programm genommen. Und mit der Solistin Evelyn Glennie die Grande Dame des Schlagzeugs gewonnen, eine Könnerin von Gnaden, Magierin des Rhythmus, die gleichermaßen impulsiv wie konzentriert zu Werke geht. Ja, die britische Musikerin ist ein Phänomen, hat sie doch bereits im Kindesalter den Großteil ihres Gehörs verloren.

Mario Venzago, Gastdirigent des Dortmunder Orchesters. Foto: Alberto Venzago

Mario Venzago, Gastdirigent des Dortmunder Orchesters. Foto: Alberto Venzago

Das wilde Spiel des Alberich beginnt ohne ihn – wenn das Orchester unter Leitung von Mario Venzago die letzten Takte eben der „Götterdämmerung“ intoniert, noch einmal das Liebesmotiv aufklingen lässt. Dann erst ergreift Glennie, kniend, als gelte es, eine Beschwörung einzuleiten, das hölzerne, hohle Guiro (ein lateinamerikanisches Schrapinstrument), und erzeugt durch Reibung eine krächzende Geräuschkulisse. Fast klingt es wie das hämische Lachen des Nibelungen.

Das Orchester grummelt einstweilen vor sich hin, dann aber steigt die Erregung, die Solistin hämmert auf Woodblocks und Tom Tom ein, das Tempo zieht massiv an, um sich alsbald zu beruhigen. Das Fluch-Motiv macht sich breit, Glennie nutzt es zu einer Kadenz auf dem Marimbaphon, bis sich schließlich die Musik in einem dissonanten Schrei entlädt. Höhepunkt vor dem Ausklang: das orgiastisch anmutende perkussive Duell zwischen der Solistin und den wunderbaren Schlagzeugern der Philharmoniker.

Trotzdem ist der Komponist Rouse kein Neutöner. Er nimmt Wagners Motive, teils im Original, teils verfremdet oder in Verschränkung, und webt sie ein in seine Musik, die auf die Collagetechnik Charles Ives’ verweist, mitunter auch die „Rock meets classics“-Abteilung streift. Aufregend ist das allemal, zumal die Solistin, die das Stück bereits zur Uraufführung spielte, voller Elan zu Werke geht. Da bleibt kein Auge trocken, vielleicht aber der eine oder andere Wagnerianer ratlos zurück.

Umringt wird dieser „Alberich“ von Richard Strauss’ Tondichtung „Don Juan“ und Beethovens 7. Sinfonie. Alle drei Werke dirigiert Mario Venzago mit nervöser Energie, stets nach vorn gebeugt, wenn auch ohne größere körperliche Mätzchen. Gleichwohl schafft er es kaum, wo nötig, die Musik zu beruhigen. Oft fehlt es an dynamischer Ausgewogenheit. Der berühmte rauschhafte Aufschwung des „Don Juan“ klingt nicht wie aus einem Guss, die unterschwellige, betörende Erotik kann sich selten großzügig verströmen. Die Feinheiten der Strauss’schen Instrumentationskunst gehen im fahrigen Dirigat unter. Dieser Verführer rast wie ein Gespenst an uns vorbei.

In Beethovens großer Sinfonie vom Rhythmus wiederum geht es kontrollierter zu, klingen die Aufschwünge des 1. Satzes aber ziemlich kurzatmig, wird die dynamische Sprengkraft, der eruptive Gestus dieser Musik nicht wirklich ausgereizt. Und wo die Holzbläser es verstehen, schöne, warme Linien zu formen, bleiben andererseits die Hörner ungewöhnlich blass. So pendelt dieser Konzertabend zwischen Spannung und Enttäuschung.




Schöne Stellen und irritierende Tempi – Gabriel Feltz und die Dortmunder Philharmoniker

Gabriel Fels steht seit einem Jahr als Chefdirigent am Pult der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Thomas Jauk/Stage Pictures

Gabriel Feltz steht seit einem Jahr als Chefdirigent am Pult der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Thomas Jauk/Stage Pictures

Gabriel Feltz ist nun seit einem Jahr Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker. Zu Beginn seiner Amtszeit, im Spätsommer 2013, hat er mit dem Orchester Beethovens „Pastorale“ und Richard Strauss’ „Alpensinfonie“ interpretiert. Und während die Musik des Wiener Klassikers noch eher harmlos daherkam, atmete das Werk des spätromantischen Orchestrierungsmeisters revolutionären Geist. Hier ging es nicht mehr um alpine Idylle oder Naturmystik, sondern um Leben und Tod, Himmel und Hölle. Anders gesagt: Es ging ums Ganze.

Dirigent und Philharmoniker musizierten mit offenem Visier. Auch um den Preis, dass manche Schwäche offenbar wurde, etwa seltsame Ungereimtheiten hinsichtlich Tempo und Dynamik, sowie bisweilen der Mangel an Transparenz. Schnell konstatierten kundige Beobachter im Laufe dieser ersten Saison, dass Feltz eher dem Credo der Langsamkeit diene. Dies konnte, sei es bei Wagners „Tannhäuser“ oder bei Bruckner, bis hin zur lästigen Zerfaserung ausufern.

Andererseits ist der Dirigent, mit jedem kleinsten Fingerzeig seines Bewegungsvokabulars, offenbar auf alle Schönheit einer Partitur geradezu versessen. Was dann eben seine Zeit braucht. Und nicht unterschlagen sei, dass sein Carmen-Dirigat vor Energie nur so strotzte, die Musik Charme wie Esprit ausstrahlte, so licht wie dramatisch an uns vorbei sauste. Das Orchester schien beinahe wie verwandelt.

Nach dieser durchaus gemischten Bilanz lohnt der Blick auf die neue Saison allemal. Weil Feltz und sein Orchester uns auch einen Vergleich erlauben. Denn  diesmal stehen, zum 1. Philharmonischen Konzert der Spielzeit, wiederum Beethoven (2. Leonoren-Ouvertüre) und Strauss (Ein Heldenleben) auf dem Programm. Besondere Beachtung verdient darüberhinaus Viktor Ullmanns Klavierkonzert aus dem Jahr 1939, hier gespielt von dem jungen Pianisten Moritz Ernst. Das Programm trägt im übrigen den Titel „helden_haft“, passend zu jenen wahren, Möchtegern- und verzweifelten Helden, die an diesem Abend im Konzerthaus Dortmund musikalisch verhandelt werden.

Szene aus dem 3. Akt der Oper "Fidelio" (Leonore), Théâtre Lyrique, Paris, 1860. Foto: Bibliothèque nationale de France

Szene aus dem 3. Akt der Oper „Fidelio“ (Leonore), Théâtre Lyrique, Paris, 1860. Foto: Bibliothèque nationale de France

Bei Beethoven ist der wahre Held eine Frau. Leonore, die unter dem falschen Namen Fidelio ihren Mann Florestan im Kerker vor dem Tode bewahrt. Dunkles Raunen steht in der Ouvertüre für die Verzweiflung im Verlies, Feltz zelebriert es, in schönen dynamischen Abstufungen. Doch bisweilen, im Fortgang, scheint die Musik wie eingefroren, wie im luftleeren Raum schwebend. Erst langsam steigern sich Bewegung und Dramatik, das Klangbild ist dabei nicht immer plastisch.  Die hektischen Phrasen aber, kurz vor den signalhaften Trompetentönen, zeugen von atemloser Spannung. Dann jedoch beschränken sich Orchester und Dirigent auf einen eher gezähmten Jubel über den Triumph der Freiheit.

Davon kann bei Viktor Ullmann nicht die Rede sein. Der österreichische Komponist wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Das Klavierkonzert entstand fünf Jahre zuvor in Prag, wurde aber ob der schrecklichen Umstände erst 1992 uraufgeführt. Die Musik ist zumindest teilweise ein Spiegel von Ullmanns rastlosem Lebensweg, der im Grauen endete. Verfolgung, Verzweiflung, auch bitterer Sarkasmus finden sich, andererseits lyrisch-romantische Passagen, die wie eine Reminiszenz an gute alte Zeiten wirken.

Der Pianist Moritz Ernst gilt als Experte für die Klaviermusik Viktor Ullmanns.Foto: Michael Baker

Der Pianist Moritz Ernst gilt als Experte für die Klaviermusik Viktor Ullmanns. Foto: Michael Baker

Und es ist erstaunlich, wie sehr das Orchester sowie der vorzügliche Pianist Moritz Ernst die Stimmungen in aller Klarheit nachzeichnen. Aufregend attackierend der Beginn, fein das lyrische Fortschreiten in regelmäßigem Puls, frech der skurrile, scherzohafte Teil à la Mahler, versehen mit einer Prise Jazz. Der Solist, der ganz unspektakulär zu Werke geht, entpuppt sich allerdings als unerbittlicher Rhythmiker. Bar jeden virtuosen Gehabes erschließt er uns besonders die bedrohliche Atmosphäre des Stücks. Die Dortmunder Philharmoniker wiederum sind Partner auf Augenhöhe.

Bleibt Richard Strauss’ „Heldenleben“. Feltz scheint mit seinem Dirigat an die Interpretation der „Alpensinfonie“ anzuknüpfen. Was Ironie, was Glanz – geht es doch in erster Linie um Kampf. Und dabei oft um Überzeichnung. Das Holzbläserplärren (Des Helden Widersacher) hat mehr beleidigenden denn humoristischen Charakter. Die große Schlacht ist ein wütendes Lärmen der Welt. Feltz’ athletisches Dirigieren hat etwas vom Agieren eines Dompteurs. Doch muss, um im zirzensischen Bild zu bleiben, der Tiger gleich durch drei brennende Reifen springen?

Zuviel, zuviel: Dieser Held ist ein Narziss, der es in allem übertreibt. Das schränkt, musikalisch gesehen, die Durchhörbarkeit spürbar ein. Die Strauss’sche Klangschönheit, aus der Leidenschaft heraus, kommt zu kurz. Einiges lässt immerhin aufhorchen: die Präzision der Horngruppe etwa oder der balsamisch dunkle Ton der Soloklarinette. Schön gestaltet auch das Violinsolo (Des Helden Gefährtin). Doch der Dialog mit dem Orchester kehrt sich ob breiter Tempi zu einem doppelten Monolog um.

Ein Jahr also ist Gabriel Feltz nun Leiter der Dortmunder Philharmoniker. Er hat seine eigenen Vorstellungen. Worauf das, was die Entwicklung des Orchesters angeht, hinauslaufen soll, ist bisher kaum zu erkennen. Das Potenzial des Klangkörpers jedenfalls ist enorm. Doch noch wechseln überzeugende Abende mit enttäuschenden.




Träume, Ahnungen und Heldentum – das 1. Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker

Tomás Netopil ist seit einem Jahr Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Tomáš Netopil ist seit einem Jahr Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Die neue Saison beginnt mit Tomáš Netopil und den Essener Philharmonikern. Dirigent und Orchester markieren den konzertanten Auftakt der Spielzeit 2014/15, geben sich dabei, nicht zuletzt, dem Zauber des Anfangs hin. Claude Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faun“ ist nämlich ein so sanfter, fragiler, berauschender wie eben zauberhafter Einstieg. Der Kontrast wiederum könnte kaum größer sein: sowohl zu Bohuslav Martinůs Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken, als auch zu Beethovens „Eroica“-Sinfonie.

Netopil ist nun seit einem Jahr neuer Chef des Essener Orchesters, und mehr und mehr scheint es ihm zu gelingen, aus dem Schatten seines Vorgängers, Stefan Soltesz, herauszutreten. Es ist ja nicht leicht für einen Neuling, in die großen Fußstapfen eines Dirigenten zu treten, der den Philharmonikern einen allseits bewunderten Qualitätsschub gebracht hat. Soltesz galt (und gilt) zudem als Fachmann für die Musik Wagners und besonders Richard Strauss’, manche Opernaufführung im Aalto-Theater wurde entsprechend zum großen Ereignis.

Netopil indessen fühlt sich dem tschechischen Repertoire verpflichtet – Dvořák und Janáček, Suk und eben Martinů sind seine „Hausgötter“. Hinzu kommt des Dirigenten stets bekundete Liebe zu Mozart. Solcherart Perspektivwechsel verlangt vom Opernfreund und Konzertgänger eine gewisse Bereitschaft, ja den Mut, sich auf Veränderungen einzulassen. Doch auf eines kann sich das geneigte Publikum verlassen, die Qualität des Orchesters. Erinnert sei nur an das tolle Dirigat Netopils der Janáček-Oper „Jenúfa“.

Nun aber, nach einem Jahr im Amt, vermag Netopil zunehmend, die Philharmoniker auch auf dem Konzertparkett mitzuziehen. Unter Soltesz nämlich gab es manches Raunen, dass das Orchester in erster Linie im Operngraben glänze. Doch inzwischen, das zeigt eben das erste Sinfoniekonzert der neuen Spielzeit, erobern sich die Musiker mehr und mehr das Terrain auf dem Podium. Und der doch stürmische Applaus der Abonnentenschar zum Ende der „Eroica“ macht deutlich, wie sehr dieser qualitative Zugewinn vom Publikum geschätzt wird.

Ludwig van Beethoven zu Zeiten der "Eroica". Gemälde von W.J. Mähler (1804).

Ludwig van Beethoven zu Zeiten der „Eroica“. Gemälde von Joseph W. Mähler (1805).

Nicht alles mag glänzen an diesem Abend in Essens Philharmonie, aber vieles strahlt, verzaubert, entwickelt Suggestivkraft. Debussys „Faun“, ein Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier, träumt von der Verführung zweier Nymphen. Flirrende Hitze will die Musik ausstrahlen, erotisch aufgeladen ist sie, zugleich lasziv-schillernd. Auf- und abschwellende Klänge mäandern durch den Raum. Nur kleine rhythmische Episoden durchbrechen das stete Fließen, gewinnen aber kaum eigene Kontur. Dies alles dirigiert Netopil, musizieren die Essener Philharmoniker in größter Sorgfalt. Delikat klingen die Holzbläser (mit der Soloflöte als Leitinstrument), sinnlich die Streicher. Schöne Stellen en masse gelangen ans Ohr, und wenn es an etwas fehlt, dann an der einen großen Linie. Dirigent und Orchester scheinen hier zu sehr den Strukturen verhaftet.

In Martinůs Doppelkonzert liegen die Dinge anders. Bekenntnismusik statt Traumgespinst, treibendes Pulsieren statt Transzendenz. Das Werk fesselt mit seinen auf- und absteigenden Erregungskurven, der Schichtung von Streicherstimmen, nicht zuletzt mit der formalen Strenge, die dem barocken Concerto-grosso-Prinzip entlehnt ist. Bartóks Divertimento für Streicher diente hier offenbar als Vorbild. Gleichwohl ist das Stück kein Konzert im klassischen Sinne – hier Solo, dort Tutti. Vielmehr ist das Klavier als Saiteninstrument lediglich eine Klangfarbe inmitten der Streicherflut, die Pauken wiederum geben Akzente. Und der Pianist Ivo Kahánek darf erst im langsamen Satz, der düster und traurig wirkt, sein gestalterisches Können unter Beweis stellen.

Martinů schrieb das Werk 1938, er selbst hat es als eine Vorausahnung bezeichnet, mit Blick auf das Münchner Abkommen, das Teile seiner tschechischen Heimat dem Deutschen Reich zuschlug – mit all den schrecklichen Folgen. Die dunkel grundierte, aufgewühlte Musik interpretieren Orchester und Solist in aller Dringlichkeit. Mag manches plakativ klingen, so ist die Wirkung doch enorm.

Emotional jedenfalls ist dies der stärkste Moment während des Konzerts. Da kann selbst Netopils Deutung der „Eroica“ nur bedingt mithalten. Weil Dirigent und Orchester anfangs wiederum zu sehr der Form verhaftet sind. Das Heldische kommt zunächst etwas schmalbrüstig daher, manche dynamische Steigerung erstickt im mulmigen Klang. Schön auch hier wiederum die Holzbläserlinien, sicher und markant das Spiel der Hörner.

Erst im Scherzo und im groß angelegten Variationen-Finalsatz gewinnt die Musik an Stringenz, baut sich Spannung auf, setzt Netopil gewissermaßen Beethovensche Energien frei. Sodass, wie gesagt, in der voll besetzten Philharmonie der Beifall üppig ist.




Markus Becker beim Klavier-Festival in Essen: Für links geht nicht „mit links“

Der Pianist Markus Becker. Foto: KFR/Roland Schmidt

Der Pianist Markus Becker. Foto: KFR/Roland Schmidt

Verlässt das Klavier-Festival Ruhr die breite Straße, um sich auf verschlungenen Wegen in abgelegene Regionen der Klaviermusik zu begeben, eröffnen sich oft reizvolle Ausblicke. So im Konzert mit Markus Becker und den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane. Becker spielte zwei kaum gehörte Werke für die linke Hand.

Das eine hat Alexandre Tansman für den berühmten einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein 1943 skizziert, aber nicht vollendet. In Polen geboren, im Paris der Zwischenkriegszeit sozialisiert, als Emigrant in den USA geschätzt, nach dem Krieg bis ins hohe Alter in Paris aktiv, gehört Tansman zu den erfolgreichen, heute weitgehend vergessenen Komponisten des wechselvollen 20. Jahrhunderts. Die „Pièce concertante“ für die linke Hand und Orchester hat – wie in vielen anderen Fällen – der einarmige Pianist Paul Wittgenstein bestellt. Ausgeführt wurde das einsätzige Werk jedoch nicht. Es lag lange im Nachlass Tansmans, bis es sein polnischer Landsmann Piotr Moss 2008 vollendete.

Die Bochumer Symphoniker unter ihrem Chef Steven Sloane stellten sich brillant der farbenprächtigen Instrumentation von Moss: Strawinsky-Anklänge und Tanzrhythmen, üppige Filmmusik und virtuose Einwürfe fordern ihren Klangsinn; Schellen, Glöckchen und allerlei anderes unterhaltsames Schlagwerk zünden Mini-Eruptionen.

Der Rhythmus klingt manchmal nach Jazzband, manchmal nach gezähmtem Schostakowitsch. Becker nimmt Skalen, Figuren und Sprünge als sportliche Herausforderung für seine Treffsicherheit. Eine schräge Fuge mit drei Blasinstrumenten, Klavier und Xylophon wirkt wie ein ironischer Kommentar auf deutsche Gelehrsamkeit – oder auf das Wiederentdecken alter musikalischer Formen, das damals von Ravel bis Respighi sehr en vogue war.

Auch das andere Werk für links lässt sich nicht „mit links“ nehmen: Franz Schmidt – im Klassik-Betrieb ebenso ungerecht wie Tansman an den Rand gedrängt – hat mehr als den glühenden Zwischenspiel-Hit aus seiner Oper „Notre Dame“ geschrieben. Seine Variationen über ein Thema von Beethoven verorten sich in bester Spätromantik: süffige Harmonik, Bruckner’sches Leuchten und die Eleganz Korngold’scher Klanglust.

Für Becker sind die wasserfallartigen Kaskaden, groß bemessenen Arpeggien und die gestochene Präzision der Finger ebenso wenig ein Problem wie die apart rhythmisierten Tanzmusik-Variationen. Wenn ihm da die Holzbläser der Bochumer folgen, zeigen sie die nötige Präzision und den Sinn für die Balance im Klang, die das Orchester an anderen Stellen recht burschikos rüberkommen lässt.

Schmidts süße Harmonien und der leuchtende, an Antonín Dvořák erinnernde Klangschmelz bleiben streckenweise unerfüllt. Vor allem die Hörner fanden sich diesmal im Klang nicht zusammen; auch das Blech intonierte eher schrill als pastos-samtig.

Was Steven Sloane getrieben hat, die „Eroica“ in zwei Teile zu reißen und je zwei Sätze an den Beginn und das Ende des Konzerts zu stellen, weiß wohl niemand außer ihm. Der Sinn erschließt sich nicht; eher wirkt Beethovens Musik nach der Präsentation spätromantischer Üppigkeit karg. Wenn dann noch die Konzentrationslücken der Symphoniker dazukommen, wirkt Beethovens Dritte umso deutlicher fehlplatziert. Zumal sich Steven Sloane im gestaltenden Zugriff zurückhält, unentschlossen wirkt und im letzten Satz das Tempo schleppt. Zeit wird’s, dass die Ferien kommen …




Leidenschaft und Selbstfindung – der Auftritt Thomas Wypiors beim Klavier-Festival Ruhr

Thomas Wypior, mehrfacher Preisträger und Gast des Klavier-Festivals. Foto: KFR

Thomas Wypior, mehrfacher Preisträger und Gast des Klavier-Festivals. Foto: KFR

Wenn er Franz Schuberts 14. Sonate beginnt, mit ihren akkordischen Fortgängen, den Generalpausen und einem schwarzen, schweren Grollen, dann scheint’s, als wolle uns der Pianist Thomas Wypior in eine düstere Trauermarschwelt führen. Er musiziert das so starr wie markant, gibt jeder Phrase Gewicht und zeichnet so den Komponisten als einen Zerrissenen. Dass die aufgehellten, sanglichen Passagen des 2. Satzes entsprechend gebrochen klingen – dieses Risiko geht der Solist mutig ein. Um desto heftiger in die vermeintliche Idylle dreinzufahren.

Keine Frage: Wypior hat ein Konzept, das so aufregend wie des Diskutierens würdig ist. Doch dies erklärt sein Spiel nicht allein. Das nämlich mit technischen Problemen behaftet ist, sich also mischt aus der Gedanken Stärke und einer bisweilen manuellen Schwäche. So ist seine Schubert-Interpretation auch ein Spiegel für des Solisten Befindlichkeiten.

Der Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr in der Reihe „Die Besten der Besten“ zeugt von gewisser Nervosität, gespeist wohl von einer Sensibilität, die ihn zum Suchenden, ja Zweifelnden macht. Daraus leitet sich, im Dortmunder Harenberg-Haus, einerseits Wypiors Hang zum Zelebrieren ab, auf der anderen Seite der Drang, Selbstbestätigung in kantig-markanten Ausbrüchen zu suchen.

Die Sensiblen, sie haben oft das Glück, Liebling der Zuhörer zu werden. Das brachte dem 1985 geborenen Künstler 2013 den Publikumspreis beim Deutschen Pianistenpreis in Frankfurt ein, sowie beim Bonner Beethoven-Wettbewerb einen Favoritenpreis. Thomas Wypior ist ja auch, trotz aller Sturm-und-Drang-Mentalität, beileibe kein Kraftprotz, was etwa bei den Rasereien in Beethovens „Appassionata“ nur allzu deutlich wird. Vielmehr gleicht das wilde Figurieren einem dramatischen Drahtseilakt – und noch sind kleine Fehltritte, die der Pianist indes wieder auszubalancieren weiß, nicht zu überhören.

Wenn dann aber Robert Schumanns „Kreisleriana“ erklingt, teils fiebrig nervös, teils sich in dunkler Schwärmerei ergehend, wenn Wypior zum leidenschaftlichen Gestalter wird, uns aufs Schönste die Wirkmacht von Modulationen beweist, dann scheint der Interpret ganz seiner selbst sicher. Des Komponisten Poesie mag auch hier aufgebrochen sein, oder durch ein herb expressives Klangbild überlagert, anderes jedoch zeugt von bestechend reflektierendem Zugriff. Viel Applaus.




Revolution und Esprit: Mitsuko Uchida spielt und erklärt Beethovens Diabelli-Variationen

Uchida2_Decca_Justin_Pumfrey_sml„Ach, ich könnte Ihnen stundenlang etwas erzählen“! Ja, die japanische Pianistin Mitsuko Uchida, die in Wien aufwuchs, dort ihre Karriere begann und inzwischen längst eine Meistersolistin ist, hat den Kopf voller Worte. Die ihr nur so heraussprudeln, ganz unbändig, sodass sie immer wieder die Ordnung der Gedanken nahezu erzwingen muss. Ihre so lustvoll bewältigte Last ist aber zugleich des Publikums Freude. Das lauscht in Essens Philharmonie so amüsiert wie konzentriert den Ausführungen Uchidas zu Beethovens Diabelli-Variationen.

„Piano Lecture“ nennen die Veranstalter dieses Format. Berühmte Solisten spielen nicht nur ihr Programm, sondern erläutern es auch. Dabei bleibt es den Klavier-Künstlern selbst überlassen, wie sie diesen Abend zwischen musikalischer und verbaler Interpretation gestalten. Uchida wählt, wohl aus Gründen der besseren Konzentration, den Weg, das klingende Werk vor die Erläuterungen zu stellen.

Ludwig van Beethoven vollendete die 33 Variationen über ein Thema Anton Diabellis 1823, da waren die letzten drei großen Sonaten bereits komponiert. Skizzen reichen indes auf das Jahr 1819 zurück. Der Dirigent und Pianist Hans von Bülow nannte die Variationen einen Mikrokosmos des Beethovenschen Genius. Tatsächlich findet sich in diesem gut 50 Minuten langen Werk des Meisters revolutionärer Geist, zarteste Empfindsamkeit und ironisches Augenzwinkern aufs Schönste gespiegelt. Verbunden mit klingenden Verbeugungen vor Johann Sebastian Bach und Mozart.

Uchidas Zugang konzentriert sich entsprechend darauf, die Variationen in ihrem jeweiligen Charakter zu erfassen, mit variablem Anschlag, Leidenschaft und Kraft, mit Sinn für die Reflexion des Poetischen. Das gelingt ihr zunächst nur bedingt, die Pianistin wirkt ein wenig verkrampft, wenn sie auf Beethovens Unerbittlichkeit pocht und Spannungsverläufe hervorheben will. Doch mehr und mehr reichert Uchida ihre Deutung mit Klangnuancen, variabler Gestaltung oder quirliger Virtuosität (ganz ohne Attitüde) an. Sie dringt in Tiefen vor, im Stile einer philosophische Reflexion.

Später sagt sie: „Beethoven wollte mit jeder Note die Welt ändern“, oder „Die letzte Variation, Tempo di minuetto moderato, ist die Weisheit selbst“. So pendelt diese „Piano Lecture“ zwischen dem Ernst des Musizierens und dem Überschwang des Erklärens. Erhabenes dort, Esprit hier – das Publikum applaudiert begeistert.

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Die nächste „Piano Lecture“ in der Essener Philharmonie gestaltet die französische Pianistin Lise de la Salle am 16. Februar 2014 (Sonntag, 11 Uhr). Thema sind die 24 Préludes von Frédéric Chopin.

www.philharmonie-essen.de




Phänomen an der Orgel: Giampaolo di Rosas meisterliches Konzert im Essener Dom

Es gibt viele vorzügliche Organisten, aber dieser Mann ist ein Phänomen: Giampaolo di Rosa, Titularorganist der portugiesischen Nationalkirche S. Antonio in Rom, weltweit als Organisator von Orgelfestivals, musikalischer Berater, Lehrer und Inspirator unterwegs. Di Rosa beschloss mit einem Konzert den 10. Internationalen Orgelzyklus am Essener Dom: Schlusspunkt unter einer Reihe von Auftritten weltbekannter Virtuosen an der „Königin der Instrumente“.

Zu nennen sind unter den fünf Gästen etwa die Londonerin Jane Parker-Smith, wegen ihrer atemberaubenden Virtuosität und ihres unstillbaren Temperaments die „Martha Argerich der Orgel“ genannt. Oder Hans Fagius aus Kopenhagen, der für die traditionsreiche skandinavische Orgelkunst steht. Das Eröffnungskonzert spielte Jörg Josef Schwab. Der seit 2008 amtierende Domorganist verantwortete den Internationalen Orgelzyklus zum letzten Mal: Er verlässt Essen und tritt schon im Oktober eine neue Stelle als Münsterorganist in Freiburg an. Wie weit die Nachfolge für Schwab gediehen ist, war trotz mehrmaliger Nachfrage bei der Bischöflichen Pressestelle nicht zu erfahren.

Di Rosa ist in der Region kein Unbekannter: In Wuppertal spielte er im Mai an der Sauer-Orgel der historischen Stadthalle Liszts B-A-C-H-Fantasie, dazu Guilmant und Widor. Bei den 33. Bochumer Orgeltagen im April war er in St. Marien in Witten zu Gast – mit demselben Programm, das er jetzt in Essen spielte. Auch bei den Orgelwelten Ratingen ließ sich der Schüler des legendären Jean Gouillou hören.

Ob die Wahl der von ihm selbst für Orgel bearbeiteten „Pathétique“ von Ludwig van Beethoven eine glückliche sei, ist trotz der ambitionierten Gestaltung di Rosas in Frage zu stellen: Beethovens Klaviersonate verändert sich zu einer üppigen romantischen Pièce, die ohne Ecken und Kanten durch die Werke fließt. Die Register der Orgel geben Farbe, die spieltechnische Brillanz des Organisten verbindet sich mit seinem Formgefühl. Der sangliche zweite Satz strömt erlesen dahin. Aber Konturen verschwimmen; Beethovens harsche Kontraste, sein Widerstand gegen allzu glatte Verläufe geht verloren. Vom Standpunkt Beethovens misslungen – vom Standpunkt des Orgelvirtuosen ein glückliches Experiment!

Anders bei Julius Reubkes 94. Psalm. Im monumentalen Werk des schon mit 24 Jahren verstorbenen Liszt-Schülers nutzt Giampaolo di Rosa die exquisite Farbpalette der Rieger-Orgel aus. Die dichten Akkorde leuchten; die leisen Momente geben dem Organisten Gelegenheit zu reizvollen Pianissimo-Finessen. Und über das Eingangsthema des Kirchenlieds „Ave Maria zart, du edler Rosengart“ improvisiert di Rosa fern jeder konventionellen Entwicklung bis zur Apotheose des Themas in einem rhythmisch hinreißenden Parforceritts. Der Beifall des Publikums war begeistert und ließ di Rosa noch einmal an die Orgelbank zurückkehren – zu einer weiteren kurzen Improvisation über Marc-Antoine Charpentiers bekanntes „Te Deum“.




Gestochene Klarheit: Nikolai Tokarev beim Klavier-Festival Ruhr in Mülheim

Um mal gleich die Kleiderfrage zu beantworten: Beim Klavier-Festival Ruhr in Mülheim trat Nikolai Tokarev im schwarzen Hemd über nur wenig hellerer Hose an den Flügel. Keine Nadelstreifen, keine Chucks, und beim gut gelaunten Signieren nach dem Konzert ein eng anliegendes, helles Shirt.

Soweit die Nebensächlichkeiten, nun kann folgen, worum es jenseits der Styling-Masche eigentlich gehen soll: Der Pianist, mittlerweile dreißig Jahre alt, setzte nicht (nur) auf Glamour und die sichere Wirkung seines bravourösen Spiels. Sondern nahm sich mit Beethovens Opus 111 eine der heikelsten Sonaten der Klavierliteratur vor. Problematisch nicht so sehr durch technische Schwierigkeiten, sondern durch eine lange Interpretations- und eine philosophisch überhöhte Rezeptionsgeschichte: Was wurde nicht alles in Beethovens letzten Beitrag zur Gattung der Klaviersonate hineingedeutet!

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Tokarev spielt – und das zeigt der prüfende Blick in die Noten – so nah wie möglich an Beethovens Text. In der „Maestoso“-Einleitung fordern die ersten Takte sogleich einen Wechsel zwischen forte und piano, dazwischen einen heftig betonten Triller („sforzando“) und eine rhythmisch pointierte Pianissimo-Kette. Tokarev überspielt nicht mit dem „großen“ Ton diese differenzierten Details, sondern versucht sie einzuholen, pflegt dafür einen unvernebelten Anschlag, der klar macht, warum er an den Konzertanfang Bachs e-Moll-Toccata BWV 914 gesetzt hat: Die strukturelle Transparenz im Werk des einzigartigen Kontrapunktikers ist auch der Maßstab für den Zugang zu Beethoven.

Man mag sagen, diese Lesart rücke das „brio“ und das „appassionato“ des Allegros in den Hintergrund. Doch die gestochene Klarheit, ein volltönender, farbrauchfreier Ton, die bestechend dynamische Differenzierung und die sinnstiftende Beachtung des „ritenente“, einem leichten Nachgeben des Tempos in Übergängen lässt – im Gegenteil – die dramatische Beredsamkeit dieses Satzes noch schlüssiger, noch unmittelbarer hervortreten.

Die Arietta beginnt Tokarev mit dem erhabenen Leuchten einer tragischen Gluck-Arie; man ist geneigt, die Winkelmann’sche Formel von der edlen Einfalt und stillen Größe zu zitieren, von der Beethovens Ästhetik wohl nicht unberührt geblieben ist. Tokarev betont weniger das Legato als das rhythmische Glasperlenspiel, das er – mit Igor Strawinsky im Kopf und Friedrich Gulda vor dem inneren Ohr? – bis zum Ragtime-Rhythmus der dritten Variation radikalisiert: Befremdlich, aber genau gelesen.

Am Ende, in fast unerträglich langen, brillant artikulierten Trillern, stellt er Beethovens insistierende Energie noch einmal ungeschützt aus, bis er das Stück pianissimo mit mattem Sforzando-Aufbäumen verklingen lässt. Die Suche nach der musikalischen Wahrheit, die Tokarev vor fünf Jahren im Eröffnungskonzert des Klavier-Festivals mit Schubert und Liszt demonstriert hat, die auch seine CD-Aufnahmen mit wechselndem Erfolg belegen, die führt er nun mit Beethoven auf einem faszinierenden individuellem Weg fort.

Nikolai Tokarev. Foto: Felix Broede

Nikolai Tokarev. Foto: Felix Broede

Manuelles hält ihn dabei nicht auf, auch wenn zwei, drei Mini-Blackouts die menschlichen Grenzen von Tokarevs viel gepriesenem, überlegenem Klavierspiel markieren. Wenn der Virtuose in ihm erwacht, gibt es für die glühende Rasanz seiner Hände, für den voluminösen Klang seines Anschlags kein Halten mehr. Das geeignete Material stammt, zum Leitmotiv des Klavier-Festivals passend, von Jahres-Genius Richard Wagner.

Die „Wagneriana“ von Tokarevs Freund Alexander Rosenblatt sind, glaubt man den Schott-Internetseiten, sogar eine Uraufführung gewesen. Das gut viertelstündige, vor Klangopulenz schier berstende Stück verarbeitet Themen von Tannhäuser über Tristan bis zum Fliegenden Holländer. Der russische Komponist des Jahrgangs 1956 ruft manuelle Reminiszenzen an die alte Virtuosenliteratur auf, bezieht sich augenzwinkernd auf Liszts raffinierte Schaustücke. Von der schwärmerischen Arabeske bis zur unendlich zelebrierten Chromatik sind Bezüge zur Salonmusik unüberhörbar. Das gibt dem Stück den ironischen Touch, der es vor der Banalität rettet. Wer vor Venusrausch und Geisterquinten im Salon keine Scheu hat, wird mit Vergnügen folgen, wer darüber nicht froh werden kann, entwickelt rasch Überdruss.

Tokarev widmet sich dem Werk mit der Passion, mit der er 2006 schon Goldenblatts Paganini-Variationen beim Klavier-Festival gespielt hat – nachzuhören auf der CD des Jahrgangs. Die symphonischen Episoden aus Wagners „Ring“ von Sergej Pavtschinski (1909 bis 1976) hatte Tokarev bei seinem Klavier-Festival-Debüt 2005 in Düsseldorf schon einmal vorgestellt. Sie beweisen ein weiteres Mal, wie aussichtslos es ist, den Zauber von Wagners Orchesterklang auf den Flügel reduzieren zu müssen. Es webt und klingt nichts; das dürre Gerüst von Wagners Motiven, Melodien und Materialbruchstücken verbreitet keinen Bann.




Im Schatten Alfred Brendels: Paul Lewis deutet Schubert-Sonaten beim Klavier-Festival Ruhr

Der britische Pianist Paul Lewis geht mit Schubert eigene Wege. Foto: Jack Liebeck

Der britische Pianist Paul Lewis geht mit Schubert selbstbewusst eigene Wege. Foto: Jack Liebeck

Der britische Pianist Paul Lewis „studierte bei Joan Havill an der Londoner ,Guildhall School of Music and Drama’, bevor er weiter privat bei Alfred Brendel ausgebildet wurde“.

So sachlich verlautet’s zumeist in offiziellen Künstlerbiographien, doch nicht nur in diesem Fall sprechen Fakten Bände. Zeugen zudem von großer Last, von riesigen Fußstapfen, in die zu treten eine immense Herausforderung bedeutet. Wie findet ein junger Künstler seinen Weg des Interpretierens, ohne der Versuchung zu verfallen, den „Übervater“ kopieren zu wollen? Wie kann es der Eleve andererseits vermeiden, sich ins trotzige Abseits zu begeben, frei nach dem Moto „Ich mache alles anders“?

Nun, für Paul Lewis darf gelten, dass er mutig und selbstbewusst, durchdacht und differenziert ans Werk geht. Das hat er jetzt als Gast des Klavier-Festivals Ruhr in Mülheim bewiesen. Indem er sich den drei letzten Sonaten Franz Schuberts widmet, allesamt in des Komponisten Todesjahr, 1828, entstanden. Indem der Interpret sich also ausgerechnet des Werkes annimmt, das Alfred Brendel wie kaum ein anderer poetisch aufs Schönste auszuleuchten vermochte.

Das erfordert vom „Schüler“ Mut und Umsicht. Da kommt Lewis das britische Understatement, das sein Spiel auch ausmacht, gerade recht. Konzentration statt großer Geste, Denken in Strukturen statt Zurschaustellung von Virtuosität – der Pianist nähert sich Schubert (und Brendel) mit allem Respekt. Und er weiß um die poetische Kraft dieser Musik. Lewis zieht dann alle Register in Sachen Klanggestaltung und Beleuchtungswechsel.

Der große Schubert-Exeget Alfred Brendel hat Paul Lewis unterrichtet. Foto: KFR

Der große Schubert-Exeget Alfred Brendel ist wohl der bedeutendste Lehrer von Paul Lewis. Foto: KFR

Auf der anderen Seite, konkret mit dem Beginn der c-moll-Sonate, offenbart uns der Solist in kraftstrotzendem, fiebrigem Tonfall Schuberts Nähe zu Beethoven. Dieses Moment der Unruhe ist immer wieder Bestandteil von Lewis’ Deutung, wie er andererseits den oft liedhaften Charakter einzelner Sätze betont. Und jedes Mal steigt die Aufmerksamkeit, wenn der Pianist die Generalpausen, die Stille also, sprechen lässt. Für Schubert könnte dies heißen: „Ich bin trotz Beethoven auch noch da und habe Originäres mitzuteilen“.

Die Aufzählung vieler Interpretationsaspekte macht indes noch nicht das große Ganze aus. Und hier scheint ein Problem Lewis’ im Umgang mit den Sonaten zu liegen. Der starke analytische Zugriff führt zu formalen Zerklüftungen, Binnenspannung kann sich nur bedingt entwickeln. Poesie ist da nur ein Element, von Weltenschmerz bleibt lediglich eine Ahnung. Kurzum: Der Solist ist letzthin fixiert auf die Deutung absoluter Musik.

Schuberts himmlische Längen werden so im Irdischen verortet. Mitunter verliert sich der Pianist in ihnen, wie er andererseits, so im Andantino der A-Dur-Sonate, Sommernachtstraumschweben neben furiose Klangsprengsel, die der Moderne entlehnt scheinen, wie tönende Inseln setzt. Lewis’ Spiel ist voll von solchen Kontrasten, das Poetische will gewissermaßen beiseite geschubst werden.

Und damit entfernt er sich vom Mentor Alfred Brendel, eigenwillig, gleichwohl aussagekräftig. Nicht trotzig, aber konsequent. Ein wenig aber distanziert sich Lewis so auch von Schubert – in einer Welt von interpretatorischen Ambivalenzen.




Glühende Eruptionen: Federico Colli debütiert beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund

Mit Federico Colli, dem Sieger der renommierten Leeds International Piano Competition 2012, hat Italien nach längerer Zeit wieder einmal einen jungen Pianisten im Rennen, der alle Chancen hat, an die große Tradition von Arturo Benedetti Michelangeli über Maurizio Pollini und den oft unterschätzten Bruno Canino bis Andrea Lucchesini anzuknüpfen. Colli setzte sich – offenbar in einer knappen Entscheidung – gegen den gleichaltrigen Schweizer Louis Schwizgebel durch, der zumindest einen Teil der Kritiker auf seiner Seite hatte und 2013/14 Stipendiat der Dortmunder Mozart-Gesellschaft sein wird.

Federico Colli. Foto: Sirio Serugetti

Federico Colli. Foto: Sirio Serugetti

Dass die Hoffnungen auf Colli nicht eitler Public-Relations-Hochglanzschaum sind, konnte der 25jährige aus Brescia mit seinem Debut beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund fulminant beweisen. Beethovens „Appassionata“ op. 57 ist in ihrer stürmischen Unentwegtheit ein geeigneteres Stück für einen jungen Pianisten, sich vorzustellen, als die philosophische Spätsonate Opus 111, die der Franzose Ismael Margain im Harenberg Center gespielt hatte.

Collis zupackender Art kommt Beethovens Allegro- und Presto-Furor ideal entgegen: Sein Sinn für scharfe Kontraste, für einen sprühenden, entschiedenen Anschlag zielen auf Leidenschaft. Seine atemberaubende Konsequenz im Arpeggio-Spiel und seine Aufmerksamkeit für wechselnde Beleuchtungen erschöpfen sich nicht im virtuosen Vorzeigen, sondern dienen der strukturellen Klärung des Werks. Wenn Colli mit Wucht und Kraft die dynamische Skala nach oben öffnet, „meißelt“ er die Akkorde nicht heraus, um glanzvoll zu demonstrieren, was er „drauf“ hat. Sondern er trifft mit ihnen die insistierende Haltung, das Hineinsteigern in die Expression, die „furchtbaren, wilden Ausbrüche“, wie sie Willibald Nagel in seiner Analyse beschrieben hat.

Der Unterschied zur Kraftmeierei russischer Herkunft ist evident: Colli geht es um Erklärung, nicht um Überwältigung. Zwar ist sein Temperament kaum domestiziert, aber er findet den richtigen Moment, um im Sinne der musikalischen Gliederung die Eruption zu beruhigen. Das Magma der Klänge wird nicht mehr herausgeschleudert, sondern fließt: glühend zwar, aber ruhig und gelassen.

Und dann kann Colli etwa den resignativen Beginn der Sonate leicht und verhalten formulieren, auch zu Momenten gesanglicher Intensität finden. Im zweiten Satz verwechselt er das „con moto“ mit einem Entspannungs-Verbot: Der ruhigen Melodik des Andante wäre eine fließend kantable Haltung besser bekommen als Collis mechanistisches Beharren auf dem Rhythmus. Aber man registriert die Absicht: Colli will den hymnischen Frieden als gefährdet erweisen. Die Figurationen sind keine freundliche Dekoration eines frommen Gesangs, sondern das Nachbeben des lodernden Querfeuers, das Beethoven seinem thematischen Material im ersten Satz entgegengejagt hat. Der dritte Satz bringt dann wieder kompromisslose Klarheit, kaltes Feuer, traumhaft sichere Skalen.

Das feine Gespür für Nuancen und Atmosphäre, das die englische Presse dem Sieger von Leeds bescheinigt, ließ sich in Dortmund in Schuberts vier Impromptus op. 142 (D 935) wiederentdecken. Ein wenig Gelassenheit fehlt dem jungen Mann mit dem kecken Halstuch in schillerndem Türkis noch, aber das Liedhafte verzärtelt er nicht, die Kontraste nivelliert er nicht. Colli spielt einen klaren, rhythmisch pointierten, eher intellektuell als emotional phrasierten Schubert: Elegant der Walzer im B-Dur-Impromptus, beeindruckend die choralartige Steigerung am Ende. Und keine Spur vom „heiteren Capriccio“ im „Allegro scherzando“, dem Impromptus Nr. 4 in f-Moll. Sondern zupackender Rhythmus, scharf umgrenzte Akkorde und wilder Staccato-Schwung in der Coda – Beethoven lässt grüßen.

Keine Frage, dass Colli der musikalischen Idee von Ferruccio Busonis Transkription von Siegfrieds Trauermarsch aus Wagners „Götterdämmerung“ gewachsen ist. Und den manuellen Herausforderungen von Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“ ebenso. Die gläserne Präsenz der „Ondine“, die rhythmische Akkuratesse und die grellen Kontraste zwischen Gewalt und Subtilität in „Scarbo“ lassen keinen Zweifel: Von diesem Pianisten wird man noch hören. Ende Juni nimmt er seine erste Solo-CD auf, unter anderem mit der „Appassionata“ und Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“; im Herbst gastiert er in Japan. Im Dezember spielt Colli in Wien Beethovens Zweites Klavierkonzert und am 18. November 2013 debütiert er im Herkulessaal in München: Spätestens dann, so wage ich zu prophezeien, wird die deutsche Musikszene von Federico Colli nachhaltig Notiz nehmen.




Offene Wege der Jugend: Ismael Margain beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund

Müssen junge Debütanten immer gleich nach den Sternen greifen? Müssen sie sich mit den Gipfelwerken der Klavierliteratur Vergleichen aussetzen, die wie eine gewaltige Last aus 100 Jahren dokumentierter Rezeptionsgeschichte auf ihnen lasten?

Ismael Margain, der 20-jährige aus einem – wie das Programmheft extra betont – mittelalterlichen Städtchen in der Dordogne, hat die Frage auf seine Weise beantwortet. Er bestritt beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund in der Reihe „Die Besten der Besten“ sein Debut mit Beethovens Opus 111, einem der Prüfsteine der Klaviermusik und für Generationen von Pianisten eine lebenslange Herausforderung.

Ismael Margain. Foto: KFR/Caroline Doutre

Ismael Margain. Foto: KFR/Caroline Doutre

Nun ist es, nähert man sich einem solchen abgründigen Werk, kein Dogma, sich gleich auch der aufgenommenen und geschriebenen Hinterlassenschaft der Kulturgeschichte stellen zu müssen. Denn man darf legitimerweise fragen: Ist die c-Moll-Sonate denn tatsächlich ein „Abschiedswerk“? Muss man Beethovens Opus 32 so lesen, wie Thomas Mann in „Doktor Faustus“ geraunt hat: als Schicksalswerk für die Sonate als Gattung, historischer Abschied einer Kunstform? Müssen wir in den sich verlaufenden Trillern und Triolen Beethovens eigene Todesahnung erlauschen? Oder gar das tragische Wehen des Weltgeistes rauschen hören, der auf seinen dialektischen Wegen etwas Großes, Erhabenes ins Wirbeln der Geschichte entlässt?

Im Harenberg Center kommt ein junger Franzose, von deutscher Grübelei offensichtlich nicht angekränkelt, und spielt tapfer gegen den Deutungsballast an. Er senkt den Kopf nicht lastend über das Maestoso, sondern spielt es erhobenen Auges: kraftvoll, mit überlegten Akzenten im Bass und sonnigem Ton. Er nimmt das Allegro „con brio“, wie notiert, mit drängender Energie und formaler Clarté, nicht angekränkelt von dunklem Pathos und dräuendem Abschiedsschmerz, sondern mit dem Streben nach Aufwärts im Blick.

So hält Margain es auch mit dem zweiten Satz. Und in diesem anscheinend harmonisch so unkompliziertem C-Dur überholt dann doch die gewichtige Philosophie den jugendlichen Sprinter. Denn wie liebevoll er auch die Noten modelliert: Der Variationensatz (sehr einfach und sanglich will ihn Beethoven haben) erschöpft sich zu schnell, wenn ein Pianist dem „Einfachen“ keine Tiefe mitgibt. Insofern ist Beethovens Sonate – und da trifft sie sich gemeinerweise mit seinem Konkurrenten Rossini – ein sehr „modernes“ Werk: In den Noten steht wenig, in den Händen des Interpreten liegt viel. Um diesen Satz mit Sinn zu erfüllen, reicht Margains Zugang nicht, sind seine Anschlagskultur und die Variabilität seiner Dynamik – um es technisch zu sagen – zu begrenzt. Es war erfrischend zu erleben, wie unbefangen er sich Beethoven genähert hat, aber bei diesem Impuls der Bewunderung jugendlicher Unbekümmertheit bleibt es. Transzendierung – wohin auch immer – findet nicht statt.

In Franz Liszts Bearbeitung des Schlussgesangs aus Wagners „Tristan und Isolde“ hinterlässt Ismael Margain den Eindruck, noch keinen Liebestod gestorben zu sein. Er steuert zielsicher den harmonischen Kulminationspunkt an, er kann steigern und intensivieren, aber am Schluss lässt er nicht los: Das weite Ausschwingen der sanglichen Linie, das Ersterben des Tons bleibt zu irdisch, zu gewollt.

Mag sein, dass der dritte Preisträger des Pariser Concours International Long Thibaud 2012 auch hier einen anderen Ansatz verficht, als den der gängigen und beliebten Romantik des süffig-schmerzlichen sich Vergessens. Seine Sicht auf Franz Schubert scheint das nahezulegen: Denn die A-Dur-Sonate (D 664) spielt er ganz auf Klarheit, unbeschwerte Eleganz, bewegliches Tempo ausgerichtet – ein Schubert mit den Augen von Claude Debussy oder Darius Milhaud.

Man möchte diesen sachlich-unbeschwerten Blick nicht gleich mit dem Adjektiv „vordergründig“ belegen. Aber wenn sich Margain in Wiederholungen keinen Wechsel der Beleuchtung erlaubt, wenn er die Bässe absichtslos leicht und damit bedeutungslos behandelt, muss man keinen „Geist“ einklagen, um schon am „Buchstaben“ Zweifel anzumelden. Und man entscheidet sich dann doch für eine reifere, bedeutsamere Interpretation, ohne die lichtvolle Frische von Margains Spiel betrüben zu wollen. Wohin die offenen Wege der Jugend führen, muss sich bei ihm noch zeigen.

 




Emotionaler Ausnahmezustand: Grigory Sokolov in Köln – und bald in Gelsenkirchen

Grigory Sokolov braucht kein „Einspielstück“. Er ist sofort mittendrin. Die einstimmige Melodie zu Beginn von Schuberts Impromptus c-Moll (op. 90,1) spielt er zurückhaltend, tastend, als müsse sie sich ihrer selbst versichern. Dann, sobald sie ihre akkordische Verdichtung erfährt, formuliert er sie zunehmend selbstsicher. Ein zögernder Einwand, eine harmonisch klare Antwort in selbstbewusstem Forte.

Harmonische Erweiterungen, Schärfungen, Modulationen: Sokolov behandelt Schuberts verwickelte Wanderungen wie die Rhetorik einer nuancenreichen Sprache. Nichts ist dem Zufall überlassen, alles in einem dichten Geflecht aufeinander bezogen. Intellektuelle Höchstleistung korrespondiert mit sinnlicher Klarheit. Dieser Schubert sucht seinesgleichen.

Sokolov hat in der Kölner Philharmonie mit den vier Impromptus op. 90 (D 899), mit Schuberts drei Klavierstücken (D 946) und mit der „Hammerklaviersonate“ Ludwig van Beethovens ein denkbar schwieriges Programm in gewohnter Souveränität gemeistert. Wie das c-Moll-Impromptus aus seinen simplen Anfängen in bescheidene Zweistimmigkeit zurücksinkt, dazwischen aber ein riesiger Bogen zu schlagen ist, stellt manuell wenig Probleme, geistig aber umso anspruchsvollere Herausforderungen.

Franz Schubert. Lithografie des 19. Jahrhunderts

Franz Schubert. Lithografie des 19. Jahrhunderts

Auch das zweite in Es-Dur will in seinem Gegensatz von rauschender, brillanter Bewegung und dramatischer Zuspitzung bewältigt sein. Sokolov gelingt das eine so überzeugend wie das andere; er formuliert zu Beginn vollgriffig, in silbrigem Strahlen, ändert aber die Beleuchtung bald und führt das Thema in grandiosem Ton zu Ende. Man ist geneigt, an Franz Liszt zu denken – und in der Tat: Über Karl Czerny, der bis heute zu Unrecht als bloß äußerlicher Virtuose gilt – schlägt sich die Brücke von dem früh verstorbenen Wiener Genius zu dem zwischen Paris, Weimar, Rom und Bayreuth vagierenden Schöpfer des späten romantischen Virtuosentums. Sokolov lässt etwas von der Faszination solcher hexerischer Expression aufblitzen und ruft spontanen Beifall hervor.

Mag sein, dass ihm das dritte Impromptu in Ges-Dur am schönsten, innigsten gelingt: ein Gesang in erlesenem Legatissimo, schwärmerische Crescendi, die in leuchtende Piani zurücksinken, ein romantischer Puls im Rhythmus, eine magische Kunst des rubatogestützten Steigerns. Wie Sokolov die „einfache“ Linie in Bewegung hält, wie er – auch im As-Dur-Impromptus – die Melodie dynamisch vielfältig gestaltet fließen lässt, wie er den formenden Gedanken durch kantable Differenzierung gestaltet: Das würde man sich von so manchem Operndirigenten wünschen!

Sokolov sieht die sieben Klavierstücke als Folge – beim Beifall nach den vier Impromptus erhebt er sich nicht vom Flügel, sondern wartet angespannt, bis er mit den rollenden Triolen des „Allegro assai“ in es-Moll weitermachen kann. Sokolov treibt dieses Stück energisch an, schärft die Punktierungen schroff und schneidend, erinnert im rastlosen Tempo und der leuchtenden Akkordik ein weiteres Mal an Franz Liszt. Im zweiten Stück, in Es-Dur, betont er wieder das Sangliche; im dritten arbeitet er den Rhythmus in trockenem Anschlag aus. Drängend und heftig zupackend verwandelt er Schuberts romantische Anmutung in ein expressionistisches Charakterstück, das mit vollem Recht den ersten enthusiastischen Beifall der vollbesetzten Kölner Philharmonie entzündet.

Und noch einmal Franz Liszt: Er hat die „unspielbare“ Große Sonate für das Hammerklavier nach Beethovens Tod erstmals wieder gespielt. Und Sokolov erinnert daran, dass es in op. 106 nicht mit dem herrischen Fanfarenton des Beginns oder den pathetischen Rhythmen der Durchführung, nicht mit den grotesken Fortissimo-Oktaven des Scherzo oder den hämmernden, kontrapunktischen Sechzehntelläufen des Finalsatzes getan ist. Sondern er zeigt mit seinem Sensus für die Poesie des Beginns, für das Zarte und Leise, wie Beethoven in diesem Sonaten-Ungetüm mit Kontrasten, mit musikalischen Schattenwelten ebenso arbeitet wie mit dem virtuosen Gipfelsturm.

Sokolov artikuliert heftig und kraftvoll, aber noch bewundernswerter ist, wie er im Adagio durch klugen Pedaleinsatz den Zusammenhang wahrt, wie er das langsame Tempo ausfüllt durch einen unendlichen Atem, wie er aber auch Figurationen herb anschlagen und damit aus einer Sphäre wohliger Piano-Wattierung lösen kann. Denn dieses Adagio gewinnt seine schmerzliche Intensität nicht durch Klavier-Belcanto, sondern durch eine extreme Innenspannung, die Sokolov in einer geradezu anti-romantischen Klarheit fördert. Der Beifall war riesig und ließ erst nach einer halben Stunde und sechs Zugaben erschöpft nach. Auf Sokolovs Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr am 9. Juli in Gelsenkirchen – übrigens mit dem gleichen Programm – darf man sich jetzt schon freuen.




Rätselhafter Ausklang: Strauss‘ „Alpensinfonie“ in der Philharmonie Essen

Aufführungen der „Alpensinfonie“ von Richard Strauss sind stets ein herausforderndes Ereignis: Gebraucht wird ein Riesenorchester und ein Dirigent, der die Klangmassen nicht nur wuchtig und monumental ausspielt, sondern gliedert, staffelt und zügelt.

Marc Albrecht versuchte mit dem Nederlands Philharmonisch Orkest in der Philharmonie Essen sein Bestes: Er hielt die Dynamik im Zaum, damit die Höhepunkte wirken. Er nahm die lautmalerischen und die effektvollen Stellen zurück, damit das Werk nicht allzu sehr zu einer tönenden Gebirgspostkarte verkommt.

Vor allem aber konnte er zeigen, dass Strauss nicht bloß gewaltige Filmmusik geschrieben hat, sondern die literarischen Naturbilder im Sinne der Romantik aufzufassen sind: Aus der tonal verdunkelten Tiefe steigt der musikalische „Wanderer“ auf zu leuchtend ungebrochener C-Dur-Vollkommenheit, um sich dann Stürmen und Gewittern zu stellen und in einem rätselhaften Cluster in der Tonart b-Moll die Wanderung „ausklingen“ zu lassen. Die „Nacht“, die sich am Ende einstellt, ist nicht mehr romantisch-samten, sondern irritierend dunkel; das b-Moll des Nebels lässt sie undurchsichtig werden.

Wer die Sinfonie vom Ende her betrachtet, fragt sich, ob die filmischen Schauplatz-Bezeichnungen der Sätze nicht eher ihren Sinn verschleiern als erhellen. Und es schleicht sich ein Verdacht ein, den der Komponist Helmut Lachenmann einmal geäußert hat: Dass Strauss hier näher an Mahler und Schostakowitsch rückt, als die Bewunderer und Verächter des umstrittenen Werks wahrnehmen. Albrechts Verdienst war es, die Sprödigkeiten nicht zum samtenen Klang zu glätten, sondern als Ausdrucks-Ausrufezeichen stehen zu lassen. Reibungslose Schönheit hatten die Niederländer nicht im Sinn. Andererseits will Albrecht auch das Illustrative, das Vordergründige nicht leugnen. Aber die „gespenstische Emphase“, die Lachenmann in dieser Musik vernehmen will, macht er greifbar.

Einige Besucher des Pro-Arte-Konzerts wollten sich der Wanderung nicht aussetzen. Sie ließen sich in der Pause die Mäntel geben und begnügten sich mit Beethovens Viertem Klavierkonzert – wohl in der Meinung, diese Musik sei tiefgründiger oder verständlicher als der Strauss-Brocken. Irrtum: Sie ist nur vertrauter. Alexei Volodin spielte mit lockerer, eleganter Hand, klassizistischer Noblesse, Detail-Aufmerksamkeit und emotionaler Betroffenheit, vor allem im mittleren Satz, den er gemeinsam mit dem Dirigenten zum expressiven Adagio verlangsamte. Über den Gebrauch des Pedals und die saloppe Präzision mancher Stelle ließe sich streiten; ebenso über das überdrehte Tempo in der Chopin-Zugabe.




Die Wiener Symphoniker in Essen: Sachte pocht das Schicksal …

Die Wiener Symphoniker waren auf Tournee in Deutschland, unter anderem in Köln, Düsseldorf und Essen. Mit Alison Balsom, neben Tine Thing Helseth eine der jungen Startrompeterinnen der Klassik-Szene, und mit Gerhard Oppitz, dem gereiften, stets gesetzte Ernsthaftigkeit ausstrahlenden deutschen Pianisten.

In der Essener Philharmonie präsentierte das Orchester unter Dmitrij Kitajenko ein durch und durch wienerisches Programm: Beethovens Fünfte und Haydns Trompetenkonzert. Dazu die „Rosenkavalier“-Suite als kleinen Vorgeschmack auf das Strauss-Jahr 2014; eines der Stücke, in denen sich der nostalgische Blick auf ein barockes Ideal-Wien erfüllt. Der nächste Strauss-Jahr „Preview“ wird übrigens schon am 12. März geboten: Das Nederlands Philharmonisch Orkest spielt dann in der Essener Philharmonie die „Alpensinfonie“.

Doch vor dem „Rosenkavalier“ pochte es erst wieder einmal an die imaginäre Pforte, das legendäre Schicksal: Kitajenko ließ das so berühmte wie unscheinbare Beethoven’sche Motiv jedoch nicht die künftigliche heroische Entwicklung dräuen, sondern setzte es in luftigem Piano in den Saal, ließ das Orchester dann ein dumpfes Forte spielen und hatte eigentlich erst im Seitenthema den „Bogen“ raus: Die Wiener ließen es in ihrem sanften, unverwechselbaren Streicherklang erblühen; auch die warmen Holzbläser weckten schönste Erwartungen.

Instrumental wurden die auch eingelöst, „szenisch“ allerdings nicht immer: Beethovens suggestive Rhetorik ließ Kitajenko ziemlich kalt. Er befrachtete das Eingangsmotiv nicht mit poetisch-romantischer Schwere, sondern beließ es bei dem Hinweis auf seine zunehmend strukturgebende Bedeutung. Das war eher ein Beethoven aus dem Geiste Haydns, weniger jener politisch-musikalische Feuerkopf, der in seine Fünfte Symphonie ungeniert französische Revolutionsmusik einbaute.

Neben den Details, in denen sich Kitajenko als genau beobachtender, konzeptuell denkender Kopf erwies, neben spannenden Crescendi und Momenten schwungvoller Frische stand eine merkwürdige Erschlaffung von Beethovens hochgespannter Idee: die drängende Dynamik, das ungeduldige Losbrechen aus Stauungen, der stürmerische Gestus blieben altmeisterlich distanziert.

So wechselte man ohne Bruch zu Haydn hinüber: Der hatte im Wien des Jahrhundertwechsels 1800 andere Revolutionen im Sinn als sein Kollege drei Jahre später. Er schrieb für Anton Weidingers „Klappentrompete“, die damals eine aufmerksam registrierte, grundlegende Verbesserung dieses Blechblasinstruments brachte. Haydn kostet die Innovation genüsslich aus und verwandelt die Trompete zu einer Primadonna, der er musikalische Kabinettstückerln geschrieben hat, wie sie die Zuhörer wohl aus der letzten opéra comique im Ohr hatten.

Für Alison Balsom genau das richtige Material, um souveräne Könnerschaft zu demonstrieren, von virtuosen Sprüngen bis zum schmeichelnden Dolce, vom tackernden Staccato bis zum kantablen Legato, vom schmetternden militärischen Fanfarenklang bis zu einem Piano, dessen Süße jedem Wiener Zuckerbäcker Konkurrenz androht. Dass Balsom auch anders kann, dass sie auch die „schmutzigen“, zwielichtigen Töne beherrscht, zeigte sie nach dem begeisterten Beifall in Astor Piazzollas „Libertango“ als Zugabe.

Im „Rosenkavalier“ schien sich Kitajenko eher in die derbe lerchenauische Ochsen-Gemütlichkeit verguckt zu haben als in die wehmütig verblassende Rokoko-Finesse der Marschallin und ihres Liebhaber-Buben. Recht behäbig zeigt schon das Hornsignal zu Beginn, dass wir mit dem Beisl rechnen müssen, weniger mit dem Ballsaal. Für ein rundum farbenfrohes Porträt des rustikalen Barons freilich ließ Kitajenko das Metrum zu wenig schlendern; auch der Kontrast zur Raffinesse der gläsern-ätherischen Welt der „Silbernen Rose“ erinnerte eher an den Stil einer ländlichen Skizze als an eine verfeinerte Silberstift-Zeichnung.

Die herzlich applaudierenden Zuhörer in diesem wieder fast ausverkauften „Pro Arte“-Konzert schickten Kitajenko und die Wiener Musiker dann „Ohne Sorgen“ ins „Krapfenwald’l“, wo der Kuckuck auch mal aufwärts schlägt und die Vogerln tirilieren: die Strauß-Polkas erweisen sich eben immer wieder als Sorgenkiller und Stimmungsraketen!