Esprit in Musik: Mit Aubers „Le Domino noir“ legt die Opéra de Wallonie in Liège einen funkelnden kleinen Edelstein frei

Die Uhr als Räderwerk des Schicksals: Szene aus Aubers "Le Domino Noir" in Liège mit Cyrille Dubois und Anne-Catherine Gillet. Foto © Lorraine Wauters/Opéra Royal de Wallonie

Die Uhr als Räderwerk des Schicksals: Szene aus Aubers „Le Domino Noir“ in Liège mit Cyrille Dubois und Anne-Catherine Gillet. Foto © Lorraine Wauters/Opéra Royal de Wallonie

Das Leichte hat es schwer – und nicht nur in deutschen Landen. Die Operette siecht schon seit Jahrzehnten und scheint sich erst in den letzten Jahren zu erholen. Die „komische“ Oper aber stirbt vor sich hin, ungeachtet einiger unverwüstlicher Exemplare von Rossini, Donizetti oder Albert Lortzing. Und in der zeitgenössischen Oper hat die Komödie einen schweren Stand, wenn sie sich nicht gerade in Surreales oder Groteskerie auflöst. Schlechte Zeiten für Komponisten wie Daniel François Esprit Auber.

Auber, ein eingefleischter, jeder Reise abholder Pariser, ist mit seinen rund 70 Opern einer der erfolgreichsten europäischen Komponisten des 19. Jahrhunderts gewesen. Sein dritter Vorname ist Programm: Spritzige, rhythmisch delikate Musik, federleicht hingeworfene Melodik, stets den Ohren angenehm in gefällig-fassliche Harmonik gefasst. Die Sujets, nicht provokant, aber nicht selten frivol, bedienen den bürgerlichen Geschmack der Epochen, die Auber durchlebt hat: Geboren ist er 1782 noch vor der französischen Revolution, gestorben hochbetagt mitten im deutsch-französischen Krieg 1871

Wahrhaftig eine Jahrhundertfigur, von der man allerdings kaum etwas weiß. Gehörte seine hinreißende Gaunerkomödie „Fra Diavolo“ früher zum eisernen Repertoire, darf man heute froh sein, dem Titel alle paar Jahre mal in einem kleinen Theater zu begegnen, wo noch ein alter Unterhaltungstheater-Haudegen sich seiner erinnert hat. Von anderen einstigen Erfolgen ganz zu schweigen: „Le Domino noir“ etwa, der es allein in Paris zwischen 1837 und 1909 auf 1200 Vorstellungen gebracht hat und auch in Deutschland als „Der schwarze Domino“ weit verbreitet gespielt wurde, ist völlig verschwunden. Seit der Ausgrabung des Stücks 2003 in Venedig dürfte es keine weitere Inszenierung gegeben haben.

Die Opéra Royal de Wallonie in Liège. Foto: Werner Häußner

Die Opéra Royal de Wallonie in Liège. Foto: Werner Häußner

In französisch sprechenden Landen wurde das eigene musikalische Erbe lange nachlässig gepflegt; das hat sich gewandelt. So nimmt man gerne die Gelegenheit wahr, im belgischen Liège Aubers einst berühmtes Werk zu erkunden: „Le Domino noir“ steht, nach 180 Jahren, wieder auf dem Spielplan der Opéra Royal de Wallonie. Eine Aufführung, die den Reiz, aber auch die Problematik dieser entzückenden, aber stark epochengebundenen Musik deutlich macht.

Das Regieteam Valérie Lesort und Christian Hecq hat sich in der Koproduktion mit der Opéra comique in Paris für eine fantasievoll gesteigerte Erzählweise entschieden. Eine riesige Uhr setzt auf der Bühne Laurent Peduzzis die Zeit präsent, die in Eugène Scribes verwickeltem Stoff eine maßgebliche Rolle spielt. Da geht die designierte Äbtissin eines Klosters auf einen Maskenball am Weihnachtsabend, verkleidet als jener „schwarze Domino“, der dem Stück den Titel gibt. Sie verpasst den rechtzeitigen Aufbruch und kommt – nach Mitternacht – nicht mehr ins Kloster zurück. Verwechseln, Vertauschen, Vertuschen, Verkleiden: Das Personal der Oper wird ganz nach Art der Intrigen-Komödien Scribes durcheinandergewirbelt, bis am Ende ein Brief der Königin alle Malaisen wohlgefällig auflöst.

Probleme mit Text und Wortlastigkeit

Drastische Komik: Marie Lenormand in Aubers "Le Domino Noir". Foto: © Lorraine Wauters - Opéra Royal de Wallonie

Drastische Komik: Marie Lenormand in Aubers „Le Domino Noir“. Foto: © Lorraine Wauters – Opéra Royal de Wallonie

Die Probleme liegen auf der Hand: Was Anno 1837 als pikant und frivol empfunden wurde, wirkt heute oft kraftlos und schal. Um das Stück als dramatisches Kunstwerk zu retten, genügt es nicht, wie Kostümbildnerin Vanessa Sannino eine Galerie wunderlich übertriebener Roben zu schaffen und den Domino durch ein ästhetisch raffiniertes Schwarzer-Schwan-Kostüm zu ersetzen. Auch nicht, wie im kargen Kirchenraum des dritten Aktes, Wandskulpturen lebendig werden zu lassen. Das sind szenische Effekte, die illustrieren mögen, aber nichts erklären. Der geistige Hintergrund, der vor 200 Jahren noch präsent war, zieht sich so in den Nebel unerklärlicher Umstände zurück und verliert seinen Belang.

Eine weitere Schwierigkeit bei Auber – und anderen seiner damaligen Kollegen auch – ist der hohe Wortanteil ihrer Opern. „Le Domino Noir“ mutiert zeitweise zur Sprech-Komödie mit rasanten Wortwechseln, deren Details aber zum Verständnis des Stücks unerlässlich sind. Liège hat eine Riege wortgewandter, wenn auch gnadenlos outrierender französischer Sänger zur Verfügung – aber man möchte sich nicht vorstellen, wie ein solches Stück von einem internationalen Ensemble sprachlich realisiert würde.

Musik ruft nach Wiederbelebung

Während also, was Wort uns Szene betrifft, einfallsreiche Bearbeiter und Regisseure gefragt wären, ruft die Musik förmlich nach Wiederbelebung. Was aus dem Graben kommt, ist jeder Mühe wert: Auber ist ein Meister des Rhythmus, der lichtvollen Instrumentierung, der koketten Melodie, der pikanten Camouflage von Gefühlen, der Balance von Sentiment und Komik. Ein Virtuose des Leichten, der Geschmack nie an Wirkung verrät.

Obwohl Patrick Davin die eher mit italienischem Schmelz und entsprechend saftigem Ton an Auber herangehenden Musiker des Orchesters der Opéra Royal de Wallonie immer wieder zu bändigen versucht, könnte vieles filigraner federn, ließen sich die Finessen der Melodik und der Instrumentation feiner ausmodellieren. Aber auch für frankophone Musiker klingt die opéra comique ja mittlerweile wie eine vergessene Sprache, die erst wieder aktiviert werden will. Und was Schwung, rhythmische Anmut und dramatische Befeuerung betrifft, sorgen Davin und das Orchester durchaus für einen reizvollen Nachmittag.

Koloraturenreiches Stimm-Entzücken

Selbiges lässt sich von den Sängern sagen: Sie überzeugen nicht so sehr als Darsteller, weil sie die Regie statt zu nuancen- und beziehungsreichem Spiel zu Bauernkomödien-Drastik drängt. Aber stimmlich entzückt Anne-Catherine Gillet als „schwarzer Domino“ Angèle in ihren koloraturenreich ornamentierten Arien ebenso wie ihre Begleiterin Brigitte, Antoinette Dennefeld.

Marie Lenormand darf als Haushälterin Jacinthe mit enormem Umfang Brust und Bauch als Klischee einsetzen, damit ihre komische Rolle noch komischer werde – gelacht haben die Zuschauer trotzdem nur spärlich. Sylvia Bergé bringt als Ursula einen herben Ton ins Stück: Die Konkurrentin Angèles, die gerne selbst zur Äbtissin aufsteigen würde, ist die „böse“ Intrigantin, die dem dritten Akt noch einmal eine neue Farbe gibt.

In der Herrenriege gibt es zwei Rollen, die einen Charakterkomödianten fordern: Der trottelige Hausmeister des Kloster – wie viel eleganter klingt das französische „concierge“! – und der Engländer vom Dienst, Lord Elfort. Beiden gewinnen Laurent Kubla und Laurent Montel nicht viel mehr als polternd überzogene Drastik ab. Stimmlich sehr elegant dagegen Cyrille Dubois als Liebhaber Horace de Massarena. Und auch François Rougier als sein Gefährte Juliano lässt sich nicht auf vokale Grobheiten ein.

Der heimliche Star der Szene war ein Spanferkel, das sich – zum Tranchieren auf der Tafel hergerichtet – plötzlich sehr lebendig in die Handlung einmischt; der Muppets-Effekt wirkt eben zuverlässig. Liège bot einen Nachmittag, bei dem getrost „die Vernunft in ihrem Bette schläft“: für knappe drei Stunden einmal ein willkommener Zustand. Auber freilich harrt weiter darauf, unserer Zeit zurückgegeben zu werden.




Eingestaubtes Juwel bleibt unpoliert: Aubers „Manon Lescaut“ in Liège

Daniel Francois Esprit Auber auf einem Foto von 1869.

Daniel Francois Esprit Auber auf einem Foto von 1869.

Bücher binden Staub. Kein Wunder, dass auch manche Opernpartituren feingrau überzogen in stillen Regalen abseits der vielbegangenen Wege des Tages harren, da ihnen jemand Interesse und Liebe entgegenbringt und sie wieder in die Hand nimmt. Daniel François Esprit Aubers rund 70 Bühnenwerke sind typische Kandidaten für die zweite Reihe im Opernarchiv. Und so freut es Kenner und Liebhaber, wenn jemand wie Stefano Mazzonis di Pralafera, der Chef der Oper im belgischen Liège, Aubers „Manon Lescaut“ aus dem Dämmer der Geschichte erlöst – wenigstens für fünf kurz hintereinander getaktete Vorstellungen.

Regisseur Paul-Èmile Fourny, im französisch sprechenden Raum eine Größe des Theaters, mag darauf anspielen, wenn er in der funkelnden Ouvertüre den Blick auf den Lesesaal einer Bibliothek fallen lässt und eine kleine Geschichte erzählt: Ein Buch fasziniert ein junges Mädchen aus der Schar der uniformierten College-Studenten, aber auch ein verträumter junger Mann an einem der Pulte zieht ihre Blicke magisch an. Der Bühnenbau von Benoît Dugardyn spielt ein wenig auf die Glas-Eisen-Konstruktionen an, die mit dem „Crystal Palace“ bei der Londoner Weltausstellung 1851 in Mode gekommen waren und mit dem Eiffelturm ihren Höhepunkt erreicht hatten. Der eiserne Rundbogen der Halle rahmt die Bühne in den folgenden zweieinhalb Stunden, bis das Buch am Ende wieder ins Regal gestellt wird.

Auch Aubers „Manon Lescaut“ wurde immer wieder weggestellt: Liège unternimmt nicht den ersten Versuch, das reizvolle Stück dem Vergessen zu entreißen. 1856 war das Gemeinschaftswerk des 74-jährigen Meisters der Opéra comique und des renommierten Opernverseschmieds Eugène Scribe ein Achtungserfolg, wurde 63 Mal an der Opéra-Comique gespielt und stand – etwa in Berlin, Stockholm und übrigens auch in Liège – bis 1882 immer wieder einmal auf einem Spielplan. 1975 entdeckte Jean-Pierre Marty das Werk neu und spielte es für die Platte ein; neun Jahre später dirigierte er es in einer szenischen Produktion von Dominique Delouche in Veronas Teatro Filarmonico. Aber weder diese Inszenierung noch die weiteren in Paris und Caen (1990), Wexford (2002) und Los Angeles (2006) beflügelten die Fortune dieser Opernversion des einst berühmten Romans von Abbé Prévost.

Dem Geist des Romans treu geblieben

Das hat seine Gründe: Auber und Scribe verändern zwar das Personal des Romans, gewichten die Figuren anders als Jules Massenet in seiner „Manon“ (1884)  und Giacomo Puccini in „Manon Lescaut“ (1893), bleiben aber dem Geist des Autors treu: Manon ist keine leidenschaftsentflammte Heroine, sondern ein einfaches Mädchen, das sich nach angenehmem Luxus sehnt. Der Marquis d’Hérigny vereint alle Liebhaber Manons in sich: Er ist der geldschwere Bewerber um die sexuelle Gunst der jungen Frau, über die leidenschaftslos, fast lapidar verhandelt wird.

Des Grieux tritt als Liebhaber weit zurück, wirkt eher wie ein nachpubertär überspannter Junge, der Züge Don Josés („Carmen“) vorwegahnen lässt, wenn er sich ans Regiment des Marquis verkauft, weil Manons Cousin Lescaut sein Geld verspielt hat, und später seinen Vorgesetzten im Streit verletzt. Die Nachbarin Manons, Marguerite, ist eine von Scribe auf die Soziologie seiner Zuschauer zugeschnittene Figur: Mit ihren Mahnungen, das Vergnügen nicht zu übertreiben, repräsentiert sie die Werte wohlanständiger Bürgerlichkeit.

So zollt – wie Aubers pfiffige Musik – die federleichte Handlung der Erwartung eines Publikums Tribut, das unterhalten und nur in schicklichen Maßen gerührt werden wollte. Damit hat es Aubers Manon-Version schwer gegen die späteren, expressiv aufgeheizten Dramen. Dass es der Komponist nicht ganz bei harmlosem Divertissement belassen wollte, zeigen der zunehmend ernster werdende Tonfall des zweiten Akts und vor allem der bewegende Schluss: Wenn Manon in der Wüste von Louisiana in den Armen des hilflosen Des Grieux verdurstet, erreicht Aubers Musik einen Ernst und eine emotionale Tiefe, die sich in der intensiven Melodik ebenso wiederspiegelt wie in der empfindsamen, jedes Dekor meidenden Gesangslinie.

Reizvolle melodische und rhythmische Erfindungen

Mit diesem Finale – es soll das erste tragische in der Opéra-Comique gewesen sein – hat Auber ein spätes Meisterstück hinterlassen, das weit in die Ausdruckswelt der „tragédie lyrique“ hineinreicht und eine Aufführung seiner Oper rechtfertigt. Wobei Auber mit seinen melodischen und vor allem rhythmischen Erfindungen durchaus noch mehr zu bieten hat: die spritzige Bourbonnaise am Ende des ersten Akts etwa, ein glitzerndes Paradestück für jeden Koloratursopran, das als „Éclat de rire“ als Einzelstück berühmt wurde. Oder die – weniger formal als melodisch – inspirierte Ouvertüre mit ihrem atemlosen Galopp.

Die Opera Royale de Wallonie in Liège. Foto: Werner Häußner

Die Opera Royale de Wallonie in Liège. Foto: Werner Häußner

In Liège schien es zunächst, als hätte Regisseur Paul-Èmile Fourny einen Weg gefunden, die Brücke zwischen einer vergangenen Epoche und der Gegenwart zu schlagen. Als aber dann die Figuren des Dramas in den unreflektiert historisierenden Kostümen Giovanna Fiorentinis in die Szene einsickern, als Sumi Jo ihren Auftritt als Manon mit dem Gestengehabe der Oper von anno Tobak bestreitet, als sich die Personen mit behäbigen, klischierten Bewegungen in angenehme Positionen schieben und ihre Interaktion die Lebendigkeit und Schlüssigkeit eines Guckkastenbilds aufweist, weiß man: Fourny sind die Ideen schnell ausgegangen.

Der Rest ist altbackenes Arrangement. Das steuert unaufhaltsam zum Höhepunkt, wenn in der Wüste der Tenor vor Manon gemessen auf die Knie sinkt und, mit der erhabenen Gestik der Comédie-Française erhoben, seinen Schmerz über die Rampe singt. Manon zieht sich derweil zum Sterben auf die Landkarte Louisianas zurück, die in einem riesigen, aufgeklappten Buch erscheint: das Maximum intellektueller Zumutung ist erreicht.

Die Sänger entschädigen nur zum Teil für die hilflose Blutleere der Szene, die schon zur Pause mit zwei kräftigen Buhs quittiert wurde. Sumi Jo lässt sich zwar in der Agilität ihrer Koloratur nichts vormachen, hat aber weder im Timbre noch in ihren püppchenhaften Bewegungen die unbekümmerte, natürliche Eleganz eines jungen Mädchens. Enrico Casari als Des Grieux erweist sich als Sänger, der nicht nur – wie an seinem Haus in Strasbourg – mit Charakterrollen, sondern auch mit der feinen Linie, dem eleganten Tonfall und den exponierten Hochtönen Aubers erfolgreich fraternisieren kann.

Wiard Withold hat als Hérigny mit geläufigen Passagen Probleme; auch die Höhe will dem Bariton nicht sicher gelingen. Sabine Conzen überzeugt als „vernünftige“ Marguerite mit einem gut gebildeten, ausgeglichenen Sopran. Das Orchester der Opéra Royale de Wallonie trifft den federleichten, spritzigen, rhythmisch beweglichen Ton der Musik Aubers, nur die Violinen können, vor allem in der Höhe, mehr Schliff vertragen; Cyril Englebert dirigiert ohne Schwere und achtet auf die Piano- und Pianissimo-Vorschriften der Partitur.

Wie lange heißt es nun abzuwarten, bis ein sensibler Regisseur dieses feine Juwel aufpoliert? Bis jemand die zeitbedingten Limits von Stoff und Musik in ein überzeugendes Konzept übersetzt und für die Gegenwart erhellt?

Noch eine Vorstellung am 19. April. Info: www.operaliege.be