Die Hoffnung auf Befreiung in der Geschichte: Luigi Nonos „Intolleranza“ als Stream aus Wuppertal

Die Tristesse von Containerbehausungen moderner Arbeitssklaven. Szene aus „Intolleranza“ in Wuppertal. (Foto: Bettina Stöß)

Luigi Nonos Musiktheater ist eine Ikone der Moderne. Immer wenn eines der Werke aufgeführt wird, umweht ein Hauch säkularen Weihrauchs die Stätte, fühlen sich Musiker und Publikum besonders herausgefordert. Eher bewundert als geliebt, stellen „Al gran sole carico d’amore (1975) und sein Erstling „Intolleranza 1960“ (1961) immense Ansprüche an die Ausführenden.

In Wuppertal wurden sie überzeugend eingelöst: Aus Anlass des 200. Geburtstags von Friedrich Engels war die Inszenierung von „Intolleranza“ (mit dem aktualisierenden Zusatz „2021“) dazu gedacht, an das Schaffen des in Barmen geborenen Urvaters des Marxismus zu erinnern. Tatsächlich ist Nonos Protagonist, ein Gastarbeiter in einer schmutzigen Mine eines fremden Landes, ein Prototyp eines Menschen, der seiner selbst als Subjekt der Geschichte bewusst wird und den Kampf mit den ökonomischen Verhältnissen aufnimmt. Auch Nonos Begriff von der Geschichte, in der sich ein Befreiungsprozess vollzieht, lässt sich auf philosophische Vorstellungen Engels‘ zurückführen.

Dass die Premiere von „Intolleranza 2021“ im Wuppertaler Opernhaus erst ein halbes Jahr nach Engels‘ Geburtstag stattfindet, ist der Corona-Pandemie geschuldet. Es bleibt – aus diesem Grund – auch bei einer einzigen Live-Vorstellung für die Presse. Das Publikum bekommt die „szenische Handlung“ ab 18. Juni als Stream zu sehen. Was in diesem Fall bedauerlich ist, weil Johannes Harneit als musikalischer Leiter die sonst kaum gewährte Chance nutzt, nach Nonos Vorstellungen einen mehrdimensionalen Raumklang zu entwickeln, der im Stream wohl kaum akustisch nachvollziehbar wird.

Aus der Not der Pandemie macht Wuppertal eine Tugend: Das Publikum – in diesem Fall die Musikjournalisten – sitzen im Parkett, haben vor sich auf der Hinterbühne, zehn Meter hoch gestaffelt, 12 Schlagzeuger und 12 Blechbläser, im Graben Streicher, Celesta und Harfen, auf den Rängen 12 Holzbläser und die 24 Sängerinnen und Sänger des Wuppertaler Opernchores, verstärkt durch Einspielungen des Chorwerks Ruhr. Harneit dirigiert im Graben und wird durch einen zweiten Dirigenten, Stefan Schreiber, hinter der Bühne unterstützt.

Das Ergebnis ist eine musikalische Wucht: breit gesplitteter Klang, extreme Transparenz, Reibungen statt Vermischung. Harneits präzise Führung der Ensembles und seine minutiöse Klangkalkulation im Raum führen auch zu verdichteten und verschmelzenden Klängen, zu sphärischen Interferenzen und schwebenden Tongespinsten. Harneit entdeckt in Nonos weiterentwickelter Zwölftonmusik nicht nur die scharf geschnittenen Schläge, die schmerzhaften Dissonanzen, die Spannungen zwischen extremen Registerfarben von Instrumenten, sondern auch die Stille, die Finesse, den von den Solisten des Sinfonieorchesters Wuppertal wohlgeformten Klang.

Mit der Bezeichnung „azione scenica“ (szenische Handlung) setzt sich Nono bewusst von der „Oper“ ab. „Intolleranza“ erzählt nur skizzenhaft eine äußere Handlung, reiht eher innere Prozesse aneinander und verknüpft diese mit politischen Statements, die vor sechzig Jahren als so brisant angesehen wurden, dass der Schott-Verlag in der deutschen Übersetzung auf Entschärfung drängte. Schon Peter Konwitschny hat in seiner Berliner Inszenierung 2001 darauf hingewirkt, die Geschichte klar und unmissverständlich zu erzählen. Dem ist auch Dietrich Hilsdorf in Wuppertal gefolgt.

Dietrich Hilsdorf aktualisiert die 60 Jahre alte szenische Handlung: Anspielung auf den Fleischskandal während der Corona-Pandemie. (Foto: Bettina Stöß)

Dieter Richter stellt die Bühne voll mit einem unwirtlichen Wohncontainer-Aufbau, eine schäbig eingerichtete Behausung für den Arbeitsmigranten. Ein Datum wird eingeblendet, der 11. Januar 2021, der Tag, an dem die zweite Verschärfung des Lockdowns bekanntgegeben wurde. Gestalten in weißer Schutzkleidung mit blutigen Schürzen hecheln über die dunkle Bühne (Kostüme: Nicola Reichert). Markus Sung-Keun Park, der Emigrant, klagt mit gequält positioniertem, aber dramatisch effektvoll attackierendem Tenor über die verzehrende Sehnsucht nach seiner Heimat, beschließt, seine Geliebte (Solen Mainguené) zu verlassen und zurückzukehren. Er gerät durch Zufall in eine Demonstration, wird festgenommen, verhört, erfährt in Folter und Konzentrationslager die Allmacht des Staates und die Ohnmacht des Einzelnen. Das Verlangen nach seiner Heimat verwandelt sich in den Willen zur Freiheit. Eine neue Gefährtin (Annette Schönmüller) gibt ihm neue Hoffnung in der Einsamkeit; beide versinken in einer gewaltigen Sintflut.

Hilsdorfs Verweise auf den Tönnies-Fleischarbeiterskandal und das Schicksal moderner Arbeitssklaven aktualisieren das Provokante des Stücks. Die Videos Gregor Eisenmanns sind im Sinne Nonos, der Filmeinblendungen und Projektionen vorgesehen hatte. Sie holen das Außen nach Innen, lassen sich aber auch als überhöhende Momente lesen, die das Einzelschicksal transzendieren. Und während sich – so eine Regieanweisung Nonos – die Projektionen von „Albträumen der Intoleranz“ fortsetzen, sieht man in den Fenstern des Containers die Flut steigen: Die Natur übernimmt am Ende den Willen der marschierenden Arbeiter, „mit dem Hochwasser einer zweiten Sintflut die Städte der Welten zu waschen“. Spätestens in diesem Bild mündet Nonos politisch gemeinte Aktion in eine apokalyptischen Vision, für die er im Schlusschor Textteile aus Bertolt Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ montiert. Hilsdorf inszeniert dazu sparsam-stille Bilder, die an ein Oratorium erinnern. Was bleibt, ist die Hoffnung auf eine Zeit, in der „der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“.

Luigi Nonos „Intolleranza“ 2021 ist ab 18. Juni im Online-Streaming zu sehen. Weitere Termine, jeweils um 19.30 Uhr, sind 26. Juni, 2. Juli, 13. und 27. August 2021. Tickets zu 12 Euro über die Webseite der Wuppertaler Bühnen: www.oper-wuppertal.de




Durch Nacht zum Licht: Die Triennale feiert Nonos „Prometeo“ in Form eines Kirchgangs

Auf diesigem Weg zum verheißungsvollen Ziel: Triennale-Besucher als Teil einer Inszenierung. Foto: Wonge Bergmann

Auf diesigem Weg zum verheißungsvollen Ziel: Triennale-Besucher als Teil der Inszenierung. Foto: Wonge Bergmann

Der Weg ist nicht immer das Ziel. Mitunter kann er mühselig sein, uns verunsichern, ja höchst irritieren. Umso schöner, wenn es dann erreicht ist, das hehre, glänzende Ziel, auf dass wir uns denn in Seligkeit hingeben. Wie jetzt bei der Triennale. Wo das Publikum gewissermaßen durch eine nebelnasse Nacht zum Licht geführt wird. Behutsam, in kleinen Gruppen. Und am Ende einer Schleuse wartet die ultimative Symbiose von Werk und Spielstätte: Luigi Nonos „Prometeo“ in der Duisburger Kraftzentrale.

Soviel Kirchgang war nie. Denn drinnen verschachteln sich harte Holzbänke, die an Gottesdienstaskese gemahnen, zum Sitzgruppenlabyrinth. Heizstrahler an den Füßen inklusive, die indes nach und nach ihren Dienst einstellen. Dünne Platzkissen sollen das Exerzitium, das satte 140 Minuten währen wird, ein bisschen angenehmer machen. Vorn dirigieren Ingo Metzmacher und Matilda Hofman aus Partituren groß wie Folianten, die auf Pulten breit wie Altäre liegen. Sie koordinieren die Einsätze der Vokal- und Instrumentalsolisten, des Chores (Schola Heidelberg), des Ensemble Modern Orchestra und der Live-Elektronik (Experimentalstudio des SWR).

Matilda Hofman an einem der beiden riesigen Dirigentenpulte. Foto: Wonge Bergmann

Matilda Hofman an einem der beiden riesigen Dirigentenpulte. Foto: Wonge Bergmann

Nono nennt sein Werk, entstanden Anfang der 1980er Jahre, tatsächlich in einer Kirche uraufgeführt, eine „Tragödie des Hörens“ Dabei bezieht sich die Tragödie durchaus auf den Prometheusstoff, die allerdings eben nur hörend erfahren werden kann. Denn Musiktheater bedeutete für den italienischen Komponisten keine Interaktion oder Szenerie im herkömmlichen Sinne. Das Publikum darf sich allein auf die Klänge konzentrieren, auf das gesprochene, gemurmelte, hervorgestoßene, auch gesungene Wort, auf die Verbreitung im Raum. Und weil diese Art der Rezeption ungemein schwierig ist, weil der Musik insgesamt ja die Linearität abgeht, heißt es immer wieder „Ascolta“! (Höre!).

Vorn musizieren Chor und Orchester, neben und hinter uns, auf kleinen Emporen, weitere Sänger sowie Streicher- und Bläsergruppen. Die Elektronik tut ein übriges, um das Wandern des Tönenden zu untermauern, arbeitet mit Hall-, Echo- und Geräuscheffekten. Solisten und Ensembles liefern Sprachfetzen, etwa aus dem „Prometheus“ des Aischylos, aus Texten von Hölderlin, Walter Benjamin oder Hesiod (Libretto von Massimo Cacciari). Zudem erklingen Melodiefragmente, rhythmische Ausbrüche, vor allem aber üppige Klangschichtungen. Und alles in gehöriger Langsamkeit, als sei das hier ein archaisches Ritual, eine Unterweisung im richtigen Hören.

Dirigent Ingo Metzmacher mit präzisen Einsätzen. Foto: Wonge Bergmann

Dirigent Ingo Metzmacher (r.) und Matilda Hofman mit präzisen Einsätzen. Foto: Wonge Bergmann

Nun, nach den ersten 20 Minuten tröpfelten manche dem Ausgang zu, einmal sogar eine größere Gruppe. Nonos radikaler Ansatz, so scheint’s, ist ohne weiteres kaum zu vermitteln, trägt nicht über die Zeit. Ob die intellektuell anspruchsvollen Aufsätze im Programmheftchen da weiterhelfen, bleibt eine diskutable Frage. Dass der Komponist die Mehrchörigkeit der alten Venezianer und franco-flämischen Schule genauestens studiert hatte und geschickt in die Moderne des seriellen Komponierens zu transformieren wusste, sei unbenommen. Dass zudem Chöre, Solisten und Orchester das Spiel der Klänge wirkmächtig umsetzen, sei herzlichst anerkannt. Doch Nonos Denken wirkt wie aus ferner Zeit. Sein Schüler Helmut Lachenmann jedenfalls hat mit dem Musiktheaterwerk „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, das kompositorisch die Emanzipation des Geräuschs vorantreibt, einen weit interessanteren Vorstoß gewagt.

Die Triennale aber lässt Nono feiern wie einen Heiligen. In einer „Industriekathedrale“. Und wir, die wir aus dem Dunkeln ins Helle geführt werden wie Auserwählte, sollen uns berauschen lassen, uns gleichzeitig (bewundernd?) der industriellen Vergangenheit stellen – die Zusammenhänge lernt, wer’s Programm liest. Einst hieß es für die Kulturhauptstadt Ruhrgebiet: „Wandel durch Kultur“. Die Triennale weckt mit hehrer Kultur allerdings eher manch nostalgisch angehauchte Seele. Musiktheater für Sentimentale – ach, vielen Dank.