Theatertiere, tragikomisch: Das Berliner Ensemble gastiert mit „Warten auf Godot“ bei den Ruhrfestspielen

Sie können nicht mit und nicht ohne einander: Estragon (Matthias Brandt, mit Brille) und Wladimir (Paul Herwig). (Foto: Jörg Brüggemann)

Die Gräuel des Zweiten Weltkriegs waren noch allgegenwärtig, als der Ire Samuel Beckett 1948 das Schauspiel „Warten auf Godot“ schrieb: jenes Endzeitstück um zwei tragikomische Landstreicher, die an einem undefinierten Ort zu unbestimmter Zeit auf einen Herrn warten, den sie gar nicht richtig kennen. Godot aber bleibt fern, seine Existenz bloße Behauptung, ein mythenumwobenes Hörensagen. Er könnte auch der Messias sein oder der Herrscher aus Franz Kafkas Roman „Das Schloss“. Oder ein Sinnbild für die immerwährende Hoffnung auf ein besseres Morgen.

Die Ruhrfestspiele Recklinghausen zeigen diesen Klassiker des absurden Theaters jetzt in einer Version, die der belgische Regisseur Luk Perceval mit dem Berliner Ensemble (BE) erarbeitet hat. Die exzellente Darstellerriege aus der Hauptstadt wird um den prominenten Namen eines festen Gastes ergänzt: Matthias Brandt, jüngster Sohn des Alt-Bundeskanzlers, spielt Estragon, den grantig-depressiven Weggefährten von Wladimir, den Paul Herwig mit hoffnungstoller Virtuosität verkörpert.

Die Bühne ist angemessen leer und düster. Statt unter einem Baum zu warten, tappen die beiden Clochards hilflos in einem Wald aus Scheinwerfern umher. Auf dieser Bühne (Katrin Brack) wird keine Natur mehr angedeutet, sondern von vorneherein Theater gespielt. Die Souffleuse, für alle sichtbar auf der Seitenbühne platziert, spricht Regieanweisungen ein. Wladimir und Estragon schauen sie dann so irritiert an, als widerstrebte es ihnen zu gehorchen. Dabei haben sie längst kein eigenes Leben mehr. Sie sind im Vakuum des Wartens erstarrt, in der Ausweglosigkeit des Nicht-anders-Könnens, zur Zweisamkeit verdammt.

Wie Yin und Yang: Der aktive, ums Überleben bemühte Wladimir (Paul Herwig r.) und der depressive, todessehnsüchtige Estragon (Matthias Brandt, l. Foto: Jan Brüggemann)

Groß wird dieser Theaterabend nicht durch die berühmten Namen, sondern weil Luk Perceval und das Ensemble Becketts Dystopie zu einem schillernden Ozean von Bedeutungen weiten. Unter der Oberfläche lakonischer Sätze tut sich ungeahntes Leben auf. Tiefer und tiefer führt diese Reise in die Widersprüche menschlicher Existenz. Todtrauriges vermischt sich mit Groteskem. Wladimir und Estragon, der Lebensmutige und der Todessehnsüchtige, verhalten sich wie ein altes Ehepaar, das laut über eine Trennung nachdenkt, den Worten aber nie Taten folgen lässt. Mit ihren Erinnerungslücken und dem ständigen An- und Ausziehen von Kleidungsstücken könnten sie aber auch leicht demente Insassen eines Altersheims sein.

Matthias Brandt (Estragon) zeichnet mit rauer Stimme einen Zyniker, der vom Leben gleichermaßen gequält wirkt wie von seinen ständig schmerzenden Füßen. Von ihm geht eine dauerdepressive Stimmung aus, die immer wieder in Wut umschlägt. Dann beschimpft er Wladimir, lässt aber selbst in seinem Gebrüll noch Nuancen der Anhänglichkeit mitschwingen.

Noch differenzierter spielt der großartige Paul Herwig (Wladimir). Als optimistischerer Gegenpart setzt er Brandts Urgewalt eine vibrierende Nervosität entgegen, die viele feine Nuancen kennt. Beständig mit dem Kopf zitternd, tapst und wankt und tänzelt er über die Bühne, als suchte er nach einem Ausweg aus der Sinnleere. Es grenzt an ein Wunder, dass er sich bei seinen umständlichen An- und Ausziehmanövern nicht den Hals bricht.

Als der Herrenmensch Pozzo auftaucht, Lucky wie ein Tier am Strick führend und immer wieder auspeitschend, ist es Wladimir, der sich über diese Unmenschlichkeit empört. Oliver Kraushaar spielt Pozzo so aasig aufgeräumt, dass sich leichte Übelkeit regt. Da gibt sich Brutalität den Anstrich von Rechtschaffenheit: Es ist zum Fürchten, wie bekannt einem das vorkommt.

Der Herrenmensch Pozzo (Oliver Kraushaar, 2. v.l.) und der von ihm geknechtete Lucky (Jannik Mühlenweg, 3. v.l. Foto: Jörg Brüggemann)

Jannik Mühlenweg wird als Lucky zu einer beängstigend animalischen Kreatur, die mit einem blinden weißen Auge in die Welt starrt. Einmal von der Leine gelassen, pflügt er während seines langen Monologs wie ein Berserker durch die Sitzreihen. Es gibt Szenenapplaus für diese brachiale Suada, mit der er das Haus vom Parkett bis zu den Rängen aufmischt.

Das Geschehen wird von Live-Musik von Philipp Haagen untermalt, der auf der Tuba und dem präparierten Klavier fremdartige Klänge durch den Raum schickt. Luk Perceval stellt die Brillanz des Ensembles vollkommen in den Dienst der Sache. Der Hintersinn von Becketts Dialogen wirkt so prägnant, dass mancher Satz sich wie ein Pfeil ins Gedächtnis bohrt. Vermutlich wird jeder sich an anderer Stelle getroffen fühlen von dieser großen Etüde der Vergeblichkeit, dieser zeitlos gültigen Studie über Macht und Ohnmacht. „Es ist eine Schande, aber es ist so“, sagt Pozzo. Und Estragon erwidert: „Man kann es nicht ändern.“

(Informationen und Karten: www.ruhrfestspiele.de)




Sucht, Hass und Selbstzerstörung: Luk Perceval inszeniert „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ in Köln

Foto: Krafft Angerer

Regen, Regen, Regen: Szenenbild aus der Kölner O’Neill-Aufführung. (Foto: Krafft Angerer)

Sie leben in einem Haus zusammen und sind doch isoliert voneinander: Jeder für sich eingeschlossen in ein kleines Zimmer, leiden die Mitglieder der Familie Tyrone an ihrer Sucht und an den anderen, die die Hölle sind.

Luk Perceval hat für das Schauspiel Köln Eugene O`Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ inszeniert und dafür gemeinsam mit dem Bühnenbildner Philipp Bußmann einen Bungalow konzipiert, dessen Räume zwar clean und hell erleuchtet sind, aber für die Bewohner zur Einzelzelle werden. Symbol dafür, dass Mary, James, Jamie und Edmund Tyrone zwar unablässig reden, aber nie wirklich miteinander sprechen. Zu gefangen ist jeder in seinem Schmerz und seiner Abhängigkeit, als dass sie wirklich miteinander kommunizieren, geschweige denn sich gegenseitig helfen könnten.

In dem Stück von 1956 verarbeitet der Nobelpreisträger (1936) O`Neill auch seine eigene Familiengeschichte: Die Handlung spielt im Sommer 1912, die Mutter Mary (Astrid Meyerfeldt) ist gerade aus dem Sanatorium zurück, wo ihre Morphiumsucht behandelt wurde – nicht sehr erfolgreich, wie die weitere Handlung zeigt. Der Vater James (André Jung), ein alternder Schauspieler und ebenso egozentrisch wie geizig, versucht auf heile Welt zu machen, hält das aber nur mit Whisky durch. Ebenso wie sein Sohn Jamie (Seán McDonagh), der dem Vater zuliebe ebenfalls Schauspieler wurde, dabei leider nur mäßig erfolgreich, ihm auch im Trinken nacheifert, wo er ihn aber inzwischen übertrifft. Sein jüngerer Bruder Edmund (Nikolay Sidorenko) dagegen ist ernstlich krank, er hat Krebs, den er ebenfalls versucht, mit Whisky zu kurieren.

Foto: Krafft Angerer

Die Figuren, in ihren Zimmern isoliert… (Foto: Krafft Angerer)

Die Regieanweisungen lässt Perceval von Maria Shulga sprechen, die außerdem das Hausmädchen Cathleen verkörpert. Sie stehen im Widerspruch zur gezeigten Handlung und rufen so eine eigentümliche Distanz zwischen Spiel und Text hervor, als wollten die Schauspieler sagen: „Ihr scheint alles über uns zu wissen, aber ihr täuscht euch; die Seelenqual eines Menschen kann niemand wirklich verstehen.“ Noch dazu erlebt auf diese Weise das Publikum den Widerspruch zwischen Lüge und Wahrheit: Denn die Süchtigen müssen ihren Konsum verheimlichen, verbergen oder schönreden, im verzweifelten Versuch, die Selbstachtung zu wahren, was natürlich kläglich scheitert. Dazu spielt Cathleen außerdem Klavier, was die melancholische Stimmung des Abends einmal mehr unterstreicht.

Schauspielerisch ist die Premiere eine Glanzleistung: André Jung gibt den abgehalfterten Mimen in seiner ganzen Vielschichtigkeit und spielt dessen Witz, den Egoismus, aber auch den krankhaften Geiz und dessen Weinerlichkeit grandios aus. Und wie Astrid Meyerfeldt das verzweifelte, labile Gefühlsdilemma der morphiumsüchtigen Mary verkörpert, all die Höhen und Tiefen, all die Aggressionen und Wehleidigkeiten sowie den ungeheuren Selbstbetrug, den sie mit großen Gesten und immer neuen Abendkleidern zur Schau stellt, das geht einem wirklich nahe.

Starke Ensembleleistung

Auch die Söhne überzeugen in ihren Rollen: Seán McDonagh als Jamie, der sich mit 30 schon restlos auf- und der Selbstzerstörung hingegeben hat und Nikolay Sidorenko als sein kranker kleiner Bruder, der sich zwar einen Rest von psychischer Authentizität bewahrt hat, dessen Körper aber schon jetzt nicht mehr mitspielt. Als Sinnbild gestörter Kommunikation ist das Zusammenspiel aller Figuren, das Hass, Abhängigkeit und Schuldgefühle zum Ausdruck bringt, eine äußerst gelungene Ensembleleistung.

Das Leitmotiv in Eugene O`Neills Stück ist der Nebel, der die trüben Tage der Familie zusätzlich verschleiert: Zugedröhnt nehmen sie die Außenwelt nur noch durch den Dunst wahr. Aktueller Bezug ist dabei die Opioid-Krise in den USA, die viele Schmerzmittelpatienten zu Heroinsüchtigen gemacht hat. Ähnlich wie Mary im Stück, die bei der Geburt Edmunds mit Morphium behandelt wurde und dann nicht mehr davon loskam. Bei Luk Perceval wird der Nebel zum Regen, der unablässig auf die Bühne prasselt. Das heißt, wir müssen der Wahrheit ins Augen sehen, auch wenn sie kalt und nass ist.

Nächste Vorstellungen: 12., 14., 15. und 29. Dezember im Depot 1. Karten, Termine und weitere Infos: www.schauspiel.koeln