Was wäre ich geworden, wenn…? – Uraufführung der Oper „Septembersonate“ von Manfred Trojahn in Düsseldorf

Surreale Treppen auf der Bühne von Heike Scheele: „Septembersonate“ von Manfred Trojahn in der Inszenierung von Johannes Erath in Düsseldorf mit Holger Falk (Osbert Brydon) und Juliane Banse (Ellice Staverton). (Foto: Wolf Silveri)

Spätestens, seit die Romantik die Welten hinter der Welt entdeckt hat, werden die Grenzen zwischen der positivistischen Realität in einer aufklärerisch-rationalen Perspektive und der Fiktion brüchig.

Einer Fiktion, die sich als mächtiger Einfluss auf das offenbart, was gemeinhin als „real“ beschrieben wird. Einer Fiktion, die sich im Begriff manifestiert, jenem denkerischen Instrument, mit dem wir unsere Welt „begreifen“. Aber auch, wenn Gott ein Hirngespinst sein sollte, auch, wenn Heilige und Helden nie leibhaftig gelebt haben, so existieren sie doch, haben auf den Lauf der Ereignisse gewaltigen Einfluss. Doktor Faust oder Harry Potter: Die Erinnerung, die Erzählung macht sie zu Personen unserer inneren Welten.

Erfahrungen und Erinnerungen, Träume und Traumata, Visionen und Projektionen: Die Antriebskräfte, die das Leben mit vitaler Dynamik aufladen, balancieren zwischen Realem und Fiktionalem, durchdringen das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, geben ihm Sinn, Motiv und Richtung.

In Manfred Trojahns neuer Oper „Septembersonate“ treffen sich zwei Menschen, die schon in ihrer Existenz die Grenzüberschreitung in sich tragen: Er, Osbert Brydon, hat vor Jahrzehnten die auf realen Gelderwerb zielenden Aktivitäten seiner vermögenden Familie verlassen und ist nach „dort drüben“ gegangen, um ein Schriftsteller zu werden – also jemand, der fiktive Welten gestaltet. Sie, Ellice Staverton, ist Schauspielerin geworden, wechselt die Rollen und verleiht im Spiel fiktiven Personen eine leibhaftige Existenz. Beide liebten einst als Kinder das Puppentheater, in dem die Frauen Königin werden – oder das Krokodil.

Manfred Trojahn. (Foto: Dietlind Kobold)

Eine „Konjunktiv-Oper“ nannte Dramaturgin Anna Melcher Trojahns gut 100 Minuten wenig dramatisches, aber intensiv meditatives Musiktheater. Ein Satz der früheren Jugendfreundin bringt Osbert zum Nachdenken: „Was hätte ich dafür gegeben, Sie als junge Frau so getroffen zu haben, ich hätte mich auf der Stelle in Sie verliebt.“ Die Möglichkeit – die Frage „Was wäre, wenn?“ – lässt den Schriftsteller nicht mehr los. Im Traum, so Ellice, habe sie den anderen Osbert gesehen – den, der er geworden wäre, hätte er sich den Konten und Häusern seiner Familie gewidmet.

Wer ist dieser „Andere“? In einer surrealen Vision – oder ist es eine gespenstische Manifestation? – trifft Osbert auf sein anderes Ich: „Voll Wehmut grüßt der, der ich bin, den, der ich hätte sein können.“ Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ geben den Protagonisten die letzten Worte: „Du machst mich allein ….“ Das Ende bleibt offen.

Trojahn hat sein eigenes Libretto nach der Erzählung „The Jolly Corner“ von Henry James entworfen – jenem amerikanischen Schriftsteller, dessen Biografie sich in seiner 1908 erschienenen Story spiegelt. James ist ein Meister des Ungesagten, des Uneindeutigen, des dunkel Ungreifbaren – Benjamin Britten hat das in „The Turn of the Screw“ in unerreichter Meisterschaft in Musik gefasst. Auch bei Trojahn findet sich diese Atmosphäre mit dem Hauch des Surrealen und einer dämonischen Transzendenz wieder.

Blasen aus leiser Grundierung

Zitiert wird Richard Strauss‘ „Tod und Verklärung“, über Reminiszenzen an „Arabella“ oder an Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire“ berichtet der Komponist im Programmbuch. Erinnerungen werden wach, an Korngolds „Die tote Stadt“, an Debussys „Pelléas et Mélisande“, an Richard Rodney Bennetts „The Mines of Sulphur“ oder an Philip Glass‘ „The Fall of the House of Usher“. Aber das fünfzehnköpfige Orchester, schon vor dem ersten Ton von einem ständigen Herzschlag-Pochen grundiert, findet nicht oft zu klangfülligem Ausbruch, bewegt sich meist in unendlichen Variationen von trüben Piano- bis delikatesten Pianissimo-Klängen, intim bis zum verschwimmenden Verschwinden.

Juliane Banse (Ellice Staverton) in der „Septembersonate“ in Düsseldorf. (Foto: Wolf Silveri)

Musikalisch erinnert nichts an eine „Sonate“: der Komponist hat den Begriff nicht strukturell, sondern eher atmosphärisch verstanden. Stattdessen sind flexibel-flächige Tonfolgen zu hören, die lange gleich bleiben, um sich plötzlich wie Blasen aus leiser Grundierung zu einem kurzen Forte aufzuwölben. Ihre Klangglätte wird aufgeraut, wenn Trojahn von den Ketten der Triolen oder Quintolen Staccato oder Marcato fordert. Die Gruppe der fünf Bläser (Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn) agiert im Kontrast oder in Wechselwirkung mit den Streichern, bei denen die Violinen fehlen, dafür die tiefen Instrumente in extreme Höhen getrieben werden. Die Folge ist ein melancholischer, an signifikanten Stellen unwirklich schwebender Flageolett-Klang.

Harfe, Klavier und Schlagzeug akzentuieren sparsam, brechen aber ebenfalls punktuell kraftvoller durch das Gewebe der Töne. Die Celesta taucht erstmals in der zweiten Szene auf, in der Osbert in seine Vergangenheit, in seine Erinnerung tanzt. Ihr entrückter Klang umschwebt das Bedrohliche der Erinnerung, vor dem die Haushälterin Mrs. Muldoon warnt: Sie versucht, das Nachwirken des Gewesenen zu verdrängen und auszulöschen – wie Mrs. Grose in „Turn of the Screw“.

Ein Meister des Uneigentlichen

Ein Meister des Uneigentlichen ist auch Regisseur Johannes Erath, der an der Deutschen Oper am Rhein zuletzt mit Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“ ein anderes Werk mit schwankendem Realitätsbegriff inszeniert hat. Er nimmt die Statisterie der Rheinoper in Beschlag, um den geheimnisvoll in schwärzliche Fernen geöffneten Bühnenraum Heike Scheeles mit stummen Menschen(gruppen) zu füllen – einzig durch ihr Dasein sprechende Resonanzkörper zu den vier Akteuren.

Bibi Abel erweitert die Raumwirkung mit Video-Stills surrealer Treppenkonstruktionen – manchmal scharf definiert, als wären sie gegenständlich in drei Dimensionen erbaut, manchmal nur in Konturen in den wunderbar plastisch geführten Lichtakzenten Nicol Hungsbergs zu erahnen, dann wieder deutlich als Projektionen erkennbar, in denen sich dennoch die Protagonisten wie schwarze Schatten bewegen, so als seien die Stufen aus fester Materie.

Erath wechselt zwischen handfester Aktion und traumnahen Bewegungssequenzen. Osberts zweites Ich – der Kampf beider spielt sich in cineastisch wirkender Großaufnahme ab – wankt mit wunderliche Eselsohren durch die Szene. Ellice, die Schauspielerin, manifestiert sich in vielerlei „Rollen“-Kostümen, vom Zwanziger-Jahre-Girl über die Projektion einer ikonischen Szene von Marylin Monroe mit aufgebauschtem Kleid bis hin zur Diva, die auf einem lackweißem Krokodil reitet und von Bibi Abel einen opulenten Theatervorhang – als Projektion! – bekommt. Erath legt sich bewusst nicht fest, stellt eher Fragen als Antworten zu geben. Der Abend endet mit einem Coup, einer weiteren Ebene von Fiktionalität, die den Zuschauer von vielleicht mühsam errungenen Gewissheitsinseln in finale Unsicherheit vertreibt.

Souveräner Dirigent

Unter der souveränen Leitung des designierten Chefdirigenten der Deutschen Oper am Rhein, Vitali Alekseenok, sind die Solisten der Düsseldorfer Symphoniker hochkonzentriert und mit Klangsinn am Werk. Die vier singenden Darsteller gehen in ihren Rollen auf: Holger Falk als zunehmend an Boden verlierender Osbert Brydon, mit sprechstimmenhaft zurückgenommenem Bariton, aber exzellent deklamierend, kämpft manchmal mit dem Orchester. Juliane Banse als Ellice setzt all ihre Stimmkoloristik, all ihre körperhafte Präsenz, all ihre variablen Tonbildungskünste ein, um eine schillernde, kraftvolle Frauenfigur auf die Bühne zu zaubern.

Roman Hoza ist das andere Ich Osberts und achtet in seinen wenigen Sätzen darauf, das Spannungsfeld zwischen Distanz und Identifikation nicht zu verletzen. Susan Maclean (Mrs. Muldoon) wirkt zunächst tief in der Vergangenheit erstarrt, wie ihr pompöses viktorianisches Kostüm signalisiert, deutet aber am Ende eine überraschende Wendung an: Zögernd schlägt sie eine Taste der Schreibmaschine an, deren Geklapper am Beginn der Oper, vielfach multipliziert, als Signet für jene andere Welt steht, in der sich Osbert und Ellice ihre erinnerungsgetränkten Wenn-Fragen gestellt haben.

Manfred Trojahns „Septembersonate“ steht am 9.,14., 29. Dezember 2023 und am 3., 14. und 27. Januar 2024 auf dem Spielplan der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/a-z/septembersonate/

Am Sonntag, 10. Dezember, 11 Uhr, zeigt das Opernhaus den halbstündigen Film „Das weiße Blatt“ mit anschließendem Publikumsgespräch. Der Film von Jo Alex Berg zeigt, wie die Uraufführung entstanden ist. Er begleitet die Künstler von der Arbeit an der Partitur bis zur ersten Hauptprobe auf der Bühne. Der Eintritt ist frei.




Schrill, prall und tragikomisch: Die Staatsoper Hannover gibt Manfred Trojahns „Was ihr wollt“ eine neue Chance

Weihnachten naht. Und damit die Zeit der Geschenkpakete. Fehlen in Hannover in der Neuinszenierung von Manfred Trojahns „Was ihr wollt“ nur Schleifchen und Glanzpapier, und der Stapel von verpackten Präsenten wäre komplett. Denn es wird viel ein- und ausgepackt in Hermann Feuchters Kartonlager, das er für die Oper des in Düsseldorf lebenden Komponisten nach Shakespeares Vorlage ersonnen hat.

Manfred Trojahn. Foto: Werner Häußner

Komponist Manfred Trojahn. (Foto: Werner Häußner)

Ein gewaltiger Turm aus braunen Pappschachteln steht da, massiv und doch fragil, bedrohlich überhängend und bröckelnd. Es dauert nur eine Szene, und von oben regnet es die ersten losen Packungen herab. Einem der Kartons, unter Aufsicht eines Mannes in wuschigem Tutu hereingekarrt, entsteigt ein junges Paar in Weiß – die an den Strand von Illyrien angeschwemmten Geschwister Viola und Sebastiano. Ihre Einheit wird jäh zerrissen: Arbeiter schieben eine riesige, braune Fläche zwischen die Beiden, das Mädchen zerreißt das Papier, ein Rahmen kommt zum Vorschein, leer, aber unüberwindlich. Viola schaut auf die Fläche, und wen sie auf der anderen Seite sieht, ist auf einmal nicht mehr klar. Sich selbst? Ihren Bruder? Ihr Spiegelbild? Oder gar nichts mehr? Und das Orchester brüllt schmerzhaft auf, als habe es soeben Verdis Othello siegreich an Land geworfen.

Die Welt endet in einem Haufen Kartonagen

Die vermeintliche Klarheit des Anfangs ist vorüber wie die Einheit der Kugelmenschen in Platons philosophischer Ursprungserzählung – und sie wird auch nicht mehr gewonnen, wenn am Schluss der zweieinviertel Stunden Oper die Geschwister wieder in ihrer Kiste landen. Im Gegenteil: Das Chaos ist unheilbar; auch der Narr im Tutu kann ihm keinen Sinn geben, selbst wenn er ganz im shakespearischen Sinne ein volkstümliches Liedchen singt. Eher trifft zu, was der unglückliche Malvolio – der mit den gelben Strümpfen – vor der Schwärze des Spiegel-Rahmens klagt: „Ich sehe nichts. Es ist so dunkel hier.“

So beschreibt er bitter-treffend die Welt, die nach der Komödie der Verwechslungen übrig bleibt. Figuren, die nur mehr um zitathafte Fetzen ihrer Vergangenheit kreisen, eine delirische Musik ohne Zielambitionen und Finalgehabe. Und ein Haufen Kartons, der durchlöchert ist und noch einsturzgefährdeter wirkt als zu Beginn. Man mag Feuchters Bühnenlösung für allzu gewählt und auf Dauer ermüdend halten, aber in diesem Moment schlägt die Wirkung zu – jenseits oberflächlicher ästhetischer Erwägung.

Verwirrspiel der Geschlechter

Balázs Kovalik setzt in seiner Inszenierung vor allem auf das Verwirrspiel der Geschlechter. Schon das Shakespeare-Theater hatte mit seinen von Epheben gespielten Frauenrollen auf die Reize des Uneindeutigen, das Spiel mit dem Feuer sündiger Homoerotik gesetzt. Kovalik nun gibt, kräftig unterstützt von den Kostümen Angelika Höckners, dem Changieren der Geschlechter breiten Raum: Die Dienerin Maria (stimmlich einigermaßen schrill: Julia Sitkovetzky) trägt ihre Brüste als knallbunt betonte Embleme praller Weiblichkeit vor sich her; auch der Diener Antonio, der kernig singende Michael Dries, ist eindeutig männlich konnotiert.

Bei den komischen Figuren Sir Toby, zunächst mit Schlafanzug und Karomütze, und Sir Andrew wird die Sache schon weniger greifbar: Ihre Schottenröcke sind nicht bloß folkloristische Anklänge, sondern verschieben die Wahrnehmung ins Weibliche, auch wenn der würdig-füllige und beinah zu nobel singende Stefan Adam mehr noch als der burleske Edward Mout noch in ihrer maskulinen Rolle verharren.

Das Spiel mit den Identitäten entfaltet sich dort, wo die Figuren die Liebe über die pralle Sexualität hinaus ins Spiel bringen: Bei den Geschwistern verhüllen weiße Overalls die Geschlechtsmerkmale; Orsino, der hoffnungs- und hemmungslos in Olivia verliebte Herzog, changiert in Kleidung und Gebaren und ist bald von den „rosenfeuchten Lippen“ des vermeintlichen Knaben Cesario angezogen.

Dass Olivia und der Herzog Orsino nacheinander eine nahezu parallele Szene in einer Badewanne spielen, ist ein deutliches Zeichen der Regie. „Nichts ist so, wie es ist“, sagt der Narr (Martin Berner) zutreffend. Und die Menschen auf der Bühne nähern sich immer wieder dem Zauberrahmen, in dem erscheint, wen sie erahnen, erträumen, ersehnen. So spitzt Kovalik mit einer deutlich jeden „Realismus“ transzendierenden Personenführung die Fragen zu – nach der Existenz der Menschen zwischen Sinn und Bedeutung, Schein und Sein, Angst und Sehnen. Eine in sich stimmige Lösung, die sich vor einem dezidierten Standpunkt dem Stück gegenüber nicht scheut.

Dramatische Unmittelbarkeit der Musik

Manfred Trojahns stilistisch souverän unbekümmerte Musik zu dieser seiner zweiten Oper wurde nach der Uraufführung 1998 in München teils heftig kritisiert: zu ästhetisch reaktionär, zu weit weg von wirklicher Zeitgenossenschaft. Mag sein, dass das temporeiche, schräge Stück deswegen nach der Übernahme von Peter Mussbachs Münchner Inszenierung 2001 an die Deutsche Oper am Rhein und einer Produktion in Weimar 2002 – inszeniert vom jetzigen Gelsenkirchener Generalintendant Michael Schulz – den Weg zur Bühne verloren hat. In Hannover bewundert man heute, 20 Jahre nach dem Entstehen, die agile, detailreiche Musik, die souveräne Ökonomie im Einsatz des Orchesters, die Finesse der Klangfarben, die dramatische Unmittelbarkeit, die einer Komödie mit tragischer Einfärbung durchaus angemessen erscheint.

Mark Rohde und das Niedersächsische Staatsorchester lassen es nicht an Detailarbeit und Klangbewusstheit fehlen, reißen aber den Fluss der Musik immer wieder auseinander, wenn sie – aus szenischen Gründen? – innehalten. Simon Bode muss als Orsino erst seine Position finden, die er im Lauf des Abends mit Nachdruck und Glanz zu sichern weiß – etwa in wehmütigen Kantilenen seiner Klage zum Englischhorn.

Dorothea Maria Marx gibt der Olivia Wärme und Selbstbewusstsein, Charme und Koketterie. Ania Vegry turnt sich mit stimmlicher Verve durch die Sprünge und Koloraturen der Partie der Viola, kann aber schrill angestrengte Momente nicht verhindern: Der Kopf ist eine begrenzte Quelle der Resonanz. Jonas Böhm als ihr Pendant Sebastiano hat eine wesentlich blassere Rolle auszufüllen, anders als Brian Davis als Malvolio, der mit seinem korrekten blauen Anzug mit Krawatte auch die Kontrolle über seine Existenz verliert.

Nach der Tragödie „Orest“ (2012/13) macht die Staatsoper Hannover nun mit dieser abgründigen Tragikomödie wieder auf Manfred Trojahns Opernschaffen aufmerksam, der in der vergangenen Spielzeit auch mit seinem Erstling „Enrico“ in Frankfurt wieder einen Erfolg erzielen konnte. In beiden Fällen bleibt als Fazit: gut spielbares zeitgenössisches Musiktheater, geistvoll, sinnlich, theaterprall und musikalisch anregend. Öfter zeigen!

Nächste Vorstellungen: 14. und 27. Dezember 2018 – 5., 8. und 20. Januar 2019. Weitere Infos: https://oper-hannover.de/index.php?m=&f=03_werkdetail&ID_Stueck=558




Zerbrechliche „Realität“: In Mönchengladbach und Frankfurt spielen zeitgenössische Opern mit Wahn oder Wirklichkeit

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, wird in Rheydt von Andrew Nolan dargestellt. Seine Frau Mrs. P. ist Debra Hays. Foto: Matthias Stutte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, wird in Rheydt von Andrew Nolan dargestellt. Seine Frau Mrs. P. ist Debra Hays. Foto: Matthias Stutte

Die Oper und der Film sind von allen Künsten vielleicht am besten geeignet, unterschiedliche Wahrnehmungs- und Bewusstseins-Ebenen sinnlich darzustellen. Die Musik ermöglicht es, Tatsachen und Vorstellungen, Gegenstand und Begriff, Außen und Innen, die äußere empirische und die innere seelische Welt quasi gleichzeitig zum Vorschein zu bringen. Die psychische Störung, der „Wahnsinn“, ist dafür ein Ausdrucksmittel, das in der Oper eine lange und erfolgreiche Karriere hinter sich hat.

Dass dieser geistige Extrem- oder Ausnahmezustand auch in der zeitgenössischen Oper nicht vergessen ist, zeigen in diesem Tagen zwei bemerkenswerte Neuinszenierungen: In Rheydt hat Robert Nemack – als Wiederaufnahme aus der letzten Saison aus Krefeld – Michael Nymans Kammeroper „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ auf die Bühne gebracht; Frankfurt zeigt im Bockenheimer Depot „Enrico“ des in Düsseldorf lebenden Komponisten Manfred Trojahn.

In beiden Opern wird auf je eigene Weise „Realität“ in Frage gestellt: Nyman geht auf der Basis einer Erzählung von Oliver Sacks von einem medizinischen Befund aus, einer visuellen Agnosie. Trojahn adaptiert ein Drama von Luigi Pirandello, in dem es um Maskerade, Täuschung und das Verschwimmen von Wirklichkeit geht.

Ein rotes Etwas mit grünem Anhängsel

Im Theater von Mönchengladbachs Stadtteil Rheydt sitzen die Zuschauer auf der Bühne um eine Scheibe, auf der die Lebenssphäre des Doktor P. aufgebaut ist: Der begabte Musiker und berühmte Sänger war in zunehmendem Maße außerstande, Gesichter zu erkennen und konnte seine Studenten nur noch an der Stimme identifizieren. Mehr noch: Er sah auch Gesichter, wo keine waren, und konnte Gegenstände nicht mehr zutreffend mit einem Begriff belegen. Eine Rose etwas beschreibt er als rotes, gefaltetes Etwas mit grünem Anhängsel. Da Dr. P. aber ein ausgezeichneter Musiker ist, organisiert er seine Welt mit musikalischen Begriffen und findet sich so im Alltag zurecht.

Oliver Sacks, der selbst Neurologe, Musiktheoretiker und erfolgreicher Autor allgemeinverständlicher Sachbücher war, erinnert in dieser Geschichte daran, wie fragil unsere Fähigkeit ist, zu erkennen und zu verstehen: Unsere Koordinatensysteme sind alles andere als „objektiv“; unser Gehirn spielt uns seltsame oder erschreckende Streiche.

Szene aus Michael Nymans Kammeroper mit Andrew Nolan (Dr. P., links), dem Arzt Dr. S. (Markus Heinrich, Mitte) und Mrs. P. (Debra Hays). Foto: Matthias Stutte

Szene aus Michael Nymans Kammeroper mit Andrew Nolan (Dr. P., links), dem Arzt Dr. S. (Markus Heinrich, Mitte) und Mrs. P. (Debra Hays). Foto: Matthias Stutte

Nymans Kammeroper nimmt die Zuschauer in fünfzehn Szenen, einem Prolog und einer abschließenden Prognose mit hinein in die erstaunliche, manchmal befremdliche, manchmal skurril-komische Welt des Dr. P. Ein Arzt, Dr. S., tritt an ein Rednerpult, als halte er einen Vortrag auf einem medizinischen Kongress, kommentiert die Szenen, als seien sie Versuchsanordnungen oder Fallbeispiele und gibt am Ende eine wissenschaftliche Einschätzung. Markus Heinrich gestaltet den seriösen, aber auch mitfühlenden Mediziner mit der nötigen, distanzierenden Seriosität.

Wir können mit der erschütterten Beziehung zur Realität – wie der Patient Dr. P. – mit rührend-wissender Heiterkeit umgehen: Andrew Nolan verkörpert den kultivierten älteren Herrn, der sich mit Hilfe seiner umsorgenden Frau (sensibel in der Darstellung, aber leider nicht immer textverständlich: Debra Hays) auch in der Unbill der ihm entfremdeten visuellen Welt zurechtfindet. Ein Mensch, der seine Würde gerade in seiner Begrenztheit findet.

Die Bühne von Clement und Sanôu, ein sorgfältig ausgestattetes Wohnzimmer, spielt mit dem Realismus-Begriff, wenn sich eine Stehlampe nach oben verabschiedet oder der Flügel sich spaltet, sobald die Scheibe beginnt, sich zu drehen. Michael Preiser und seine sieben Musiker lassen die sanft harmonisch angelegte Musik Nymans weich und samtig die Stimmen umspielen; ihr Minimalismus ist anders als bei Philip Glass oder John Adams vor allem auf verschmelzenden Wohlklang angelegt. Die Zuschauer bleiben berührt und – im besten Fall – auch ein wenig irritiert zurück.

Eine böse Maskerade als konstruierte Wirklichkeit

Holger Falk als Enrico in Manfred Trojahns gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Holger Falk als Enrico in Manfred Trojahns gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

So versöhnlich und kuschelig geht es in Manfred Trojahns „Enrico“ nicht zu: Die „dramatische Komödie“ geht nicht von der einfühlenden Sympathie mit einem Patienten aus, sondern stellt die „Krankheit“ von vornherein in Frage: Vor zwanzig Jahren fiel ein Mann namens Enrico bei einer Maskerade vom Pferd, bei der er König Heinrich IV. dargestellt hat. Aus seinem Koma erwacht, wird er Opfer seiner Freunde, die ihm vorspielen, er sei tatsächlich der mittelalterliche deutsche Herrscher.

Nach zwanzig Jahren soll das Spiel mit Hilfe eines Arztes aufgelöst werden. Aber die Realität der Maskerade hat längst alle Beteiligten eingeholt und in ihre Wahnwelt gezwungen. Fragt sich nur, wo der vermeintliche König steht: Glaubt er an seine Rolle? Hat er jemals daran geglaubt, Heinrich IV. zu sein? Ist er derjenige, der mit seiner Umwelt spielt statt jene mit ihm? Und sind die Akteure der zynischen Komödie nicht selbst längst in ihrer Spielwelt aufgegangen?

Tobias Heyder macht aus dieser faszinierend vielschichtigen Geschichte ein spannend verdichtetes Kammerspiel, für das Britta Tönne (Bühne) und Verena Polkowksi (Kostüme) den Schein fragmentarisch oder hyperrealistisch, die Handlungsebene schattenhaft, theatralisch, bisweilen mit einem grotesken Zug ausstaffieren: Die Bücherwand, die am Ende ausgeräumt wird und den Blick auf ein Foto des nächtlich erleuchteten Frankfurt freigibt, steht für die virtuelle Realität der Romane – aber die Fotografie ist auch nur vermeintlich wirklichkeitstreu.

Holger Falk hält die Figur des Enrico – fabelhaft charakterisierend gesungen – in der Schwebe. Der Wahn wirkt nicht gespielt, der Fall in die Selbsterkenntnis hat einen Rest des Unaufgelösten: Einbildung, Hirngespinste, Weltflucht oder Wachtraum? Heyder hütet sich, Eindeutiges zu behaupten; das böse Spiel will sich nicht auflösen, der Mord am Ende ist nur furchtbar konsequent.

Meisterwerk der Andeutung und Verdichtung

Manfred Trojahn. Foto: Werner Häußner

Manfred Trojahn. Foto: Werner Häußner

Trojahns Musik ist ein Meisterwerk der Andeutung, der doppelbödigen Verdichtung bei gleichzeitiger Distanz vor jeder „romantischen“ Verschleierung – doch gerade das ermöglicht der Musik, romantische Vielschichtigkeit einzuholen. Roland Böer entlockt dem kleinen Ensemble vielfarbige Klangfacetten, gläsern unbestimmt, grell aufblitzend, mit kühlem Schmelz oder grantiger Härte kammermusikalisch fein oder wuchtig zupackend.

Auf der Bühne stehen Frankfurter Sängerinnen und Sänger, die ein weiteres Mal beweisen, wie richtig Intendant Bernd Loebe mit seiner langfristig angelegten Ensemblebildung liegt: Juanita Lascarro als präzise artikulierende Marchesa Matilda, Sebastian Geyer als differenziert Wort und Klänge wägender Belcredi, Angela Vallone als aparte Frida, Dietrich Volle als posaunengestützte medizinische Pseudo-Autorität, Theo Lebow, Peter Marsh, Samuel Levine, Björn Bürger, Frederic Jost und Doğuş Güney in spritzigen, komödiantisch zugespitzten Ensembleszenen, die an Rossini, aber auch an skurrile Momente bei Igor Strawinsky oder Bohuslav Martinů erinnern.

Die Oper wurde 1991 in Schwetzingen uraufgeführt; die Inszenierung in Frankfurt zeigt, dass es sich lohnt, immer wieder auf zeitgenössische Werke aufmerksam zu machen, ohne stets auf den Hype der Uraufführung zu kalkulieren. „Enrico“ ist eine Empfehlung fürs Repertoire.