Mindestens ein Manuel Harder – in Carsten Brandaus Stück „Die Anmaßung“

Manuel Harder in "Die Anmaßung". (Quelle: Theater Dortmund)

Manuel Harder in „Die Anmaßung“. (Quelle: Theater Dortmund)

Die titelgebende „Anmaßung“ in dem Stück von Carsten Brandau beginnt schon mit der Regieanweisung: Es brauche „mindestens einen Manuel Harder“. Ein Stück, nur für einen Schauspieler geschrieben, versetzt mit biographischen Versatzstücken: Es ist ein Vexierspiel zwischen Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Illusion, dem der Zuschauer ausgesetzt wird – zu sehen als Gastspiel im Bochumer Zeitmaultheater.

Schon einmal gab es im Ruhrgebiet ein denkwürdiges Zusammentreffen von Manuel Harder mit Carsten Brandau: Der Schauspieler hatte „Wir sind nicht das Ende“ in Dortmund inszeniert – ein Stück über die Frau eines der Terrorpiloten von 9/11, aufgeführt in einem klaustrophobisch kleinen Container.

Ähnlich dicht auf die Pelle rückt einem Manuel Harder auch in „Die Anmaßung“ – so scheinbar tief geht der Blick in den Menschen, der da vor einem steht. Oder doch nicht?

Wer spricht mit wem?

„Manuel Harder“ ist in großen Lettern auf die Bühne projiziert: Doch so, wie eine Projektion ja auch ein Spiel mit Licht ist, spielt auch dieser Abend mit Wirklichkeit und Illusion. Am Anfang führt Harder ein Zweigespräch, fordert von sich, alles zu zeigen, auf die Bühne zu gehen, aufrecht zu stehen.

Doch wer spricht hier mit wem? Der Manuel mit dem Harder, wie der den Namen trennende Vorhang nahelegt (Bühne: Julian Marbach) – der Autor, der dem Schauspieler die Worte in den Mund legt oder der Regisseur, der Anweisungen erteilt? „Ich war nie dabei, es war immer nur eine Möglichkeit“, sagt Manuel Harder selbst. Und kurzerhand macht Regisseur Florian von Hoermann „Die Anmaßung“ zu einer Reflexion über die Wechselwirkungen von Bühne und Kunst, Mensch und Leben: Wieviel von dem, was wir sehen, ist echt – und gibt es das überhaupt, die Echtheit? Was ist der Schauspieler bereit, von sich selbst zu geben? Und wie sehr kitzelt uns dieser voyeuristische Moment?

Geteert und gefedert

Nach dieser eher intellektuellen Kitzelei ändert „Die Anmaßung“ ihren Ton: Manuel Harder lässt wortwörtlich die Hosen runter, reißt sich bildlich das Herz aus dem Leib und teert und federt sich selbst. Dafür, dass er eine Entscheidung gefällt hat: Er hat einen Menschen verlassen, den er womöglich noch geliebt hat. Tiefe Verzweiflung, zerreißender Schmerz über eine Trennung, einen Verlust – womöglich auch eines Teils von sich selbst.

Carsten Brandau hat absolut recht, wenn er für ein Stück wie dieses einen Manuel Harder fordert: zynisch, dämonisch, herausfordernd, verzweifelt, verletzlich – mit atemberaubender Wahrhaftigkeit geht er von einem ins andere über. Manuel Harder lebt das Stück und das Stück lebt ihn.




Proust auf dem Boulevard – Dortmund bringt Harold Pinters Drama über die „Suche nach der verlorenen Zeit“ heraus

Von Bernd Berke

Dortmund. Viele nennen ihn mit Ehrfurcht, die allerwenigsten dürften ihn je gänzlich gelesen haben: Marcel Prousts vielbändigen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Am Dortmunder Schauspiel kann man das Epos jetzt in rund zweieinhalb Stunden durchmessen. Wie das?

Nun, der britische Dramatiker Harold Pinter hat anno 1972 auf der Basis seiner Proust-Lektüre ein Script erstellt, das von Joseph Losey verfilmt werden sollte. Dazu kam es nie. Viele Jahre später aber hat die Regisseurin Di Trevis den Text für die Bühne hergerichtet und fürs National Theatre in London inszeniert. Dortmunds Fassung (Regle: Hermann Schmidt-Rahmer) firmiert als deutschsprachige Erstaufführung.

Um die Wahrheit zu sagen: Mit Proust hat das Resultat nur noch von ungefähr zu tun. Schon Pinter sah sich genötigt, ungeheuer viele Feinheiten und Hunderte von Figuren des Ur-Textes zu opfern, er konnte nur Essenzen destillieren und Tupfer setzen. Gleichwohl ist’s ein Werk aus eigenem Recht.

Eine weitere Verlustmeldung betrifft die deutsche Übersetzung von Ingrid Rencher, in der gelegentlich unschöne Anglizismen („Das würdest du nicht“) durchscheinen. Eine schwierige Vorlage also.

Endlich beginnen – mit dem Leben und dem Schreiben

So sehen wir denn Prousts literarische Stellvertreter-Figur Marcel (entschieden gegen Prousts Typus besetzt, weil blond, sportlich und frisch: Manuel Harder) zumeist verhalten durch sein Werk und Leben (Leiden der Kindheit, Pariser Salons usw.) geistern. Oft sinniert er nur still, gelegentlich lacht er auf im Blitz nachträglicher Erkenntnis. Sein Fazit: Etliches hat er versäumt im unmittelbaren Dasein. Erinnerung tut schmerzlich not. Sein letzter Satz lautet, es sei „Zeit zu beginnen“. Mit dem Leben? Mit dem Schreiben?

Vor allem aber driftet Marcel durch einen triebgesteuerten Menschenreigen. Gar manches schnurrt hier letztlich auf boulevardeske Fragen an eine schrille „Szene“ zusammen: Wer trieb’s wann mit wem? Wer war schwul oder lesbisch? Ach, welch ein munterer Tratsch.

Durch sieben Türen müssen sie gehen: Im meist gleißend weißen Halbrund der minimalistischen Szenerie (Bühnenbild: Herbert Neubecker) kommen und verschwinden die Gestalten Proustscher Erinnerung. Ein Effekt, der anfangs überzeugt, sich aber abnutzt. Jedenfalls geht’s in dieser dekadenten Gesellschaft im Vorfeld des Ersten Weltkrieges vorwiegend kaltherzig, gierig und intrigant zu. Was wohlfeil zu beweisen war.

Sieben Türen und keine Erfüllung

Hier gleitet, auf spiegelglattem Boden, die Zeit gespenstisch rasch. Die Jahre überlagern sich, sie flackern mitunter fast simultan auf: Kaum sahen wir Marcel als kleinen Jungen, da erscheint er schon als kranker Mann. Denkwürdige Folge und eine Stärke des Textes, der irgendwie auch die mäandernde Vielfalt des Romans abbildet: Todesnähe folgt direkt auf selbstvergessenes Leben, Eifersucht stellt sich gleich nach erster Liebesblüte ein. Überhaupt findet hier niemand Erfüllung in Zweisamkeit. Da wähnt man sich in Gefilden von Botho Strauß.

Nicht leicht ist’s, sich im Gewimmel der aus Prousts Universum verbliebenen Gestalten zurechtzufinden. Ein pragmatischer Kritiker stellte in London die Frage: „Who is who?“ Auch in Dortmund ließe sich manches Rollenprofil wohl noch etwas schärfen (was freilich nicht im Sinne einer steilen Typisierung geschehen sollte). So aber bleibt es stellenweise bei Türenschlagen, Getrappel und Kostumvorführung.

Doch einige Figuren schleichen sich ins Gedächtnis ein, so besonders der ziemlich originalgetreue Dandy Baron de Charlus (Jens Weisser), die vor Sehnsucht waidwunde Odette (Silvia Fink) oder der linkisch sich aus dem Leben davonstehlende Swann (Bernhard Bauer); womit wir die Leistung der Anderen nicht schlankweg schmälern wollen.

Freundlicher Beifall fürs spürbare, jedoch nur zum Teil fruchtende Bemühen um einen problematischen Text. Ob andere Bühnen ihn nachspielen werden?

Termine: 13., 21., 29. November. 5.. 14, 20. Dezember. Karten: 0231/50 27 222.




Am Abgrund des politischen Mordes – Dortmunds heikelste Inszenierung trifft den Ton: „Die Gerechten“ von Camus

Von Bernd Berke

Dortmund. Es dürfte die thematisch heikelste Dortmunder Schauspiel-Produktion dieser Saison sein: „Die Gerechten“ von Albert Camus (1913-1960) handelt von einer russischen Terroristen-Gruppe, die 1905 ein Bombenattentat auf einen zaristischen Großfürsten verübt. Der grenzgängerische Existenzialist erwog in seinem 1949 uraufgeführten Text auch die Frage, ob es politisch gerechtfertigte Morde geben könne.

Schauspielchef Michael Gruner hatte das Stück lange vor dem 11. September geplant. Das mag von einem gewissen Instinkt zeugen. Nach den Anschlägen von New York und Washington verschob er freilich die Premiere, um alles noch einmal zu überdenken. Dies wiederum zeugt von Verantwortungsbewusstsein. Und tatsächlich zieht er die Inszenierung aus der Affäre, sie enthält keinerlei falschen Zungenschlag.

Ein mit grauen Vorhängen verhängtes Gestell dominiert die karge Bühne. Es ist ein aussichtsloser, konspirativer Ort, an dem die Terroristen von vornherein in die Enge getrieben sind. Selbst wenn sie einander hier umarmen oder in wehmütigen Singsang verfallen, scheint dies alles in eines trostloses Nichts hinein zu ragen. Gleich zu Beginn markieren dumpf-metallische Schläge das Verhängnis.

Keine oberflächliche „Aktualisierung“

Claus Peymann hat 1977 in Stuttgart, mit jener legendären Kamerafahrt vom Theater bis zum Stammheimer Hochsicherheits-Gefängnis, dieses Stück auf den deutschen RAF-Terrorherbst bezogen. Das mochte angemessen sein. Doch den islamistischen Furor träfe das Drama nur am Rande, denn der ist mit europäischen oder gar Freud’schen Kategorien (Kindheit, Angst, Schuld und Sühne) wohl kaum zu erschöpfen.

Ganz anders als kürzlich Karin Beier in Bochum mit Shakespeares „Richard III.“ verfuhr, hütet sich Gruner denn auch, Camus oberflächlich zu „aktualisieren“. Er rückt ihn zwar nicht in historische Ferne, doch er grapscht auch nicht gierig nach etwaigen heutigen Zeitbezügen, sondern wahrt eine respektvolle Mitteldistanz. Das ist richtig, denn so tritt der Text plastisch hervor. Wir sehen keine bloßen Thesenträger, sondern wirkliche Menschen auf der Studiobühne – mit Vorgeschichten, Stärken, Schwächen und Widersprüchen.

Gruppenanführer Borja (Urs Peter Halter) und Janek (Michael Kamp) wägen vor dem Anschlag noch Zweck und Mittel ab. Sie sind nicht bereit, den Tod von Kindern in Kauf zu nehmen, die zunächst mit in der Großfürsten-Kutsche sitzen. Über solche Bedenken kann auch gelegentlicher, fratzenhafter Gruppen-Taumel nicht hinweghelfen.

Wenn sogar der Hass erkaltet ist

Recht präzise zeigen die Darsteller die unterschiedlichen Triebkräfte der Handlungsweisen. Der Eine betrachtet die Dinge eher pragmatisch, den Anderen drängt Leidenschaft. Während Janek mit hitzigem Herzen dabei ist und Alexej (Pit-Jan Lößer) vor Angst kaum schläft, scheint der einst von Zaristen gefolterte Stepan (Manuel Harder) seelisch vollends erloschen zu sein, sogar sein Hass ist erkaltet. Für ihn zählt nur noch größtmögliche Vernichtung: „Alles muss weg“, sagt er einmal. Abgründig. Auch er ein Menschenwesen zwar, doch ein monströs gewordenes.

In ihrer Empfindungskraft den Männern weit voraus ist die Bomben-Bauerin Dora (Birgit Unterweger). Im Grunde ist sie beseelt von einer allergreifenden Liebe. Nur sie spürt, dass die vermeintliche Zuneigung der Revolutionäre zum Volk eine erdrückende ist. Doch ihre Opferbereitschaft („Alles opfern heißt lieben“) verquickt sich nach Janeks Hinrichtung fatal mit dem nächsten Anschlag. Sie will beim Attentat sterben, denn sie wähnt sich schon mit dem Liebsten im Jenseits vereint – wie einst Julia mit Romeo: „Gebt mir die Bombe!“ ruft sie daher, entrückt und verzückt. Und immer wieder: „Es wird leicht sein!“ Ein todgeweihter Liebeswahn, der eigene Untergang als Erlösungs-Phantasie…

Beifall für ein homogenes Ensemble, in das sich auch Jürgen Hartmann als zynischer Geheimpolizist, Monika Bujinski als verstört-exaltierte Großfürstin und Dominik Freiberger als Janeks Mit-Gefangener Foka bestens einfügen.

Nächster Termin: 23. November/Karten: 0231/50 27 222.