„Ehrenrettung“ für den Graphiker Marc Chagall – Münster legt Schwerpunkt auf Frühwerk

Von Bernd Berke

Münster. Der im März 1985 verstorbene Marc Chagall hat sich in seinem graphischen Spätwerk oft nur noch spannungslos-süßlich selbst zitiert. Es fällt schwer, dies zu schreiben: Auf seine alten Tage hat Chagall manche Belanglosigkeit zu Papier gebracht. Zudem tauchen immer häufiger „wilde“, nicht autorisierte Nachdrucke auf.

Jetzt präsentiert das Westfälische Landesmuseum in Münster rund 300 graphische Arbeiten Chagalls, und just zu diesem Zeitpunkt steigt ein örtliches Kaufhaus massiv in den Kommerz mit Chagall-Drucken ein.

Chagalls graphisches Spätwerk rangiert im Urteil der Fachwelt niedrig. Gleichviel, ob den Experten vielleicht gerade die außerordentliche Popularität des Chagall’schen Figurenkosmos verdächtig ist – das Landesmuseum versucht sich nun sozusagen an einer „Ehrenrettung“, indem es den Schwerpunkt aufs graphische Frühwerk legt, das noch vor lauter unverbrauchter Fabulierlust sprüht.

Ernst-Gerhard Güse, der die Auswahl für Münster zusammenstellte: „Wir haben viel aussortieren müssen, weil es einfach nicht unseren Qualitätsvorstellungen entsprach.“ Chagall, der Weltkünstler – ein Stümper? Das nun doch nicht! Was für Münster ausgesucht wurde, reicht allemal für einen Platz in der Kunstgeschichte.

Im Mittelpunkt stehen große Graphikzyklen, die zwar nicht vollständig, aber in beachtlichen Anteilen zu sehen sind. Am Beginn: Chagalls Illustrationen zu seiner Autobiographie „Mein Leben“ von 1922, die auf’Anregung des Berliner Galeristen Paul Cassirer entstanden, durch den Chagall überhaupt erst (mit 35 Jahren!) auf die Möglichkeiten der Graphik aufmerksam wurde. Diese Radierungen zeigen noch ganz die dörfliche Welt, in der Chagall aufwuchs. Dichtung und Wahrheit verfließen aufs Herrlichste ineinander. Da sitzt etwa auf dem Blatt „Haus des Großvaters“ selbiger rittlings auf dem Dach – und Chagall behauptete in seiner Biographie, dies sei tatsachlich so vorgefallen.

Der Graphiker Chagall widmete sich vor allem Illustrationen dichterischer Vorlagen, zuerst (1923) zum satirischen Gogol-Roman „Die toten Seelen“. Gogol zeigt sich in diesem Werk als Meister der gekonnten Abschweifung, und Chagall kommt es genau auf jene „Nebensachen“ an, die die Atmosphäre ausmachen. Die Gogol’sche Sozialkritik blendet er allerdings weitgehend aus. Es folgen Illustrationen zu La Fontaines Tierfabeln. Chagall, zuvor mit leichter Linienführung arbeitend, bündelt und schraffiert, findet seinen unverwechselbaren Stil. Zugleich verdeutlicht die La Fontaine-Serie sein Heimischwerden im französischen Kulturkreis. Weiterhin sehenswert: Illustrationen zu „1001 Nacht“(„Arabische Nächte“), Bilder zum Alten Testament und Farblithographien zu Longus‘ klassischem Roman „Daphnis und Chloe“.




Malerei als eine Form der Liebe – zum Tod von Marc Chagall

Von Bernd Berke

„Malerei ist nichts, als eine andere Form zu lieben“, hat Marc Chagall einmal seine Kunstauffassung umschrieben. Und er bekannte: „Die innere Welt ist vielleicht wirklicher als die sichtbare äußere.“ Marc Chagall, in der Nacht zu gestern im biblischen Alter von 97 Jahren gestorben, ist ein Maler der warmen, leuchtenden Farben und der Innerlichkeit.

Zwar unmittelbar das Gefühl ansprechend, entstanden seine Bilder dennoch vor einem Hintergrund, dessen Kenntnis Voraussetzung für tieferes Verständnis ist: Die russische Heimat und die Sehnsucht nach ihr, das jüdische Elternhaus, der Chassidismus, der in jeder Erscheinung einen „Funken Gottes“ erblickt – diese Einflüsse seiner Jugend blieben auch lebendig, als Chagall in Paris in den Aufruhr der künstlerischen Moderne geriet.

Zeitlebens ist er nicht von figürlich-gegenständlicher Darstellung abgerückt. Kunsthistoriker rechnen ihn zu den Anregern des Expressionismus (Signal dafür: die von Hewarth Walden veranstaltete Chagall-Ausstellung 1914 in Berlin) und des Surrealismus.

Chagall wude am 7. Juli 1887 in Liosno bei Witebsk als Kind armer Leute geboren. Seine zeichnerische Begabung entfaltete sich früh. 1907 wurde er in Petersburg Schüler von Leon Bakst. Mit einem Stipendium versehen, kommt er 1910 erstmals nach Paris, die damals unbestrittene Weltkunstmetropole. Er lernt dort u.a. Guillaume Apollinaire und Amedeo Modigliani kennen. Chagalls Palette – bis dahin von fahlen Braun- und Grautönen beherrscht – wird in Paris zusehends farbiger, sprühender.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht ihn bei einem Heimataufenthalt. Er leistet Wehrdienst ab, wird nach der Oktoberrevolution von den Sowjets zum Gebietskommissar für Kunst ernannt. Bald aber kommt es zum Zerwürfnis und Chagall reist via Berlin nach Paris (wo er 1939 die französische Staatsbürgerschaft annimmt). Von 1931 bis 1937 sieht er u.a. Palästina. Dort sammelt er Anregungen für seine berühmten Bibelillustrationen.

Beweis für Chagalls visionäre Kraft: Lange vor den Nazi-Exzessen malte er brennende Synagogen. Der Einmarsch der Deutschen in Frankreich bedeutet für ihn den Beginn des Exils in den USA, wo seine erste Frau Bella Rosenfeld stirbt. Chagall kehrte 1947 nach Frankreich zurück, heiratete 1952 Valentina Brodsky („Vava“).

Chagall hinterläßt ein Riesenwerk, über 5000 Arbeiten. Mit Retrospektiven in Hannover und London wurden noch zu Beginn dieses Jahres weithin unbekannte Aspekte dieser Vielfalt deutlich. Chagalls Welt: Dörfliche Szenen, hier eine rote Kuh auf dem Hausdach, zu der eine kopflose Melkerin herabschwebt, dort die blaue Ziege mit dem Leuchter – Figurationen, schwerelose Gestalten zwisehen Traum und Wirklichkeit. Figurationen, von einer märchenhaft reichen (und frommen) Phantasie ersonnen.

Chagall gestaltete das Foyer der Metropolitan Opera in New York (1966), ein Kirchenfenster in Mainz (1978), die Decke im Zuschauerraum der Pariser Oper (1964). Seine Wahlheimat Frankreich erteilte ihm spät diesen ersten öffentlichen Auftrag. Dafür war Chagall der einzige Künstler, dem zu Lebzeiten eine Retrospektive im Louvre gewidmet wurde.