Gottsucher auf den finsteren Klippen – Späte Uraufführung des 1938 geschriebenen Stücks „Nacht“ von Gertrud Kolmar

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Regisseur Frank-Patrick Steckel war schon zu seiner Bochumer Intendantenzeit in einem Punkte der Schrecken der schreibenden Zunft: Meist war es bei ihm auf der Bühne so düster, dass sich kein Kritiker Notizen machen konnte, sofern er nicht über einen dieser albernen Leuchtstifte verfügte. Nun hat Steckel am Düsseldorfer Schauspiel ein Terrain tiefster Finsternis aufgetan. Das Stück heisst „Nacht“, und es bleibt in jeglichem Sinne dunkel.

Geschrieben hat es die als Lyrikerin äußerst sprachmächtige und formbewusste, einer Droste oder Lasker-Schüler ebenbürtige Gertrud Kolmar (geboren 1894). Die Tochter eines jüdischen Rechtsanwaltes in Berlin, der sich gänzlich assimilierte und deutscher Patriot war, blieb auch nach 1933 im Lande, als dies bedrohlich wurde. Aufopferungsvoll unterrichtete sie taubstumme Kinder und pflegte ihren Vater. Ab 1941 war sie Zwangsarbeiterin in der Rüstungsindustrie. Im März 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert.

Das Stück „Nacht“ entstand 1938 und erfährt hier seine späte Uraufführung. Hauptperson ist Tiberius Claudius Nero, nachmals römischer Kaiser. Im Jahr 2 n. Chr. befindet er sich – mit einigen Gefährten – noch im selbstgewählten Exil auf Rhodos, derweil sein Stiefvater mitsamt Günstlingen in Rom herrscht.

Wir erleben diesen Tiberius als unerbittlichen Gottsucher. An der römischen Göttervielfait zweifelnd, befragt er mancherlei zweideutiges Orakel. Die Begegnung mit der jungen Ischta aus Judäa (die felsenfest an einen einzigen Gott glaubt) führt schließlich zu Szenen, die vollends fremd in unsere profanen Zeiten ragen.

Magische Sprache und ein Pathos der höchsten Werte

In einer erotisch getönten religiösen Aufwallung gibt sich Ischta dem Tiberius als Sklavin anheim, und er wird sie den höheren Mächten als Menschenopfer darbringen. Klar und einfach wie ein Quell sprechend, nimmt Ischta die vermeintliche Bestimmung auf sich. Eine unendlich zarte und doch überlebensgroße Figur, von Birgit Stöger mit bewegendem Ernst gespielt.

Dennoch ist das Ganze eine Gratwanderung am Rande des Unfassbaren, ein Opfergang bis zum Saum des Schwülstigen. Es ist jedoch auch ein erschütterndes Dokument der verzweifelten Suche nach jüdischer Identität in finstersten Zeiten. Dinge also, an die man gar nicht zu rühren wagt.

Somnambules Passionsspiel

Lange geriert sich Tiberius (Marcus Kiepe), der sich am Ende doch wieder in die Niederungen politischer Herrschaft begibt, weltenfern, abweisend und ziellos drangvoll zugleich. Ein Mann, an dessen Schicksal man keinen unmittelbaren Anteil nehmen kann, vielleicht gerade deshalb ein Faszinosum. Außerdem passen derlei Figuren wohl zur neuesten Unterströmung unseres Zeitgeistes, die sich von aller Ironie abwenden und ein neues Pathos der höchsten Werte aufrichten will.

Ein Botho Strauß fände vermutlich Gefallen daran; auch an einer immerzu ans Firmament greifenden Sprache, die mit kostbaren Wendungen wie „gunstbedeutender Traum“ und „tagverborgenes Geheimnis“ edelsten Tones einher wandelt. Die Magie der Worte fügt sich zum Klang-Ereignis jenseits eines sofort nachvollziehbaren Sinnes.

Das Bühnenbild (Johannes Schütz) zeigt düster zerklüftete Klippen, auf denen sich Menschen wie bleiche Geistwesen bewegen, stets auf die größten und letzten Dinge gefasst. Hier vollzieht sich ein somnambules Passionsspiel wie aus unvordenklichen Zeiten.

Steckel und sein Ensemble behandeln den immens schwierigen Text mit Noblesse. Zuweilen werden Worte nur behaucht, als könnten sie sonst klirrend zerbrechen. So umschifft man jede etwaige Peinlichkeit, und es kommt die Würde zum Vorschein, die dem Drama innewohnt.

Termine: 11., 22., 25. und 29. März. Karten: 0211/36 99 11.




Nur ein kleinbürgerliches Ferkel – Uraufführung von Franz Xaver Kroetz‘ „Der Dichter als Schwein“

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Man stelle sich vor, jemand ließe immerzu ein Tonbandgerät etwa in seiner Wohnküche mitlaufen. Alle Worte und auch jeder Mist, den man schwätzt, würden aufgezeichnet und sodann schriftlich für Mit- und Nachwelt festgehalten. Schrecklicher Gedanke. Und schon eine schnurgerade Hinleitung zu Franz Xaver Kroetz‘ Stück „Der Dichter als Schwein“, das jetzt in Düsseldorf zur Uraufführung gelangte.

Bereits zwischen 1986 und 1988 hat Kroetz diesen ungefügen Text aus seiner Feder rinnen lassen. Mit guten Gründen hat sich seither niemand heranwagen wollen an dieses allseits ausufernde, so gut wie unverdichtete Geplapper, das – je nach Durchgangstempo – ungekürzt wohl für vier bis fünf Stunden Spieldauer gut wäre, von der Substanz her aber auf einige gedrechselte Aphorismen zusammenschnurren müßte.

In Düsseldorf, wo derzeit offenbar auch das Telefonbuch eine reelle Bühnenchance hätte, erlebt man nun die vorweihnachtliehe Bescherung, eine seltsame Mixtur aus Kraftmeierei und Weinerlichkeit.

Gipfelsturm zum fäkalischen Frohsinn

Rund um den Dichter Toni Keck (Jörg Pose) hat Kroetz all das aufgehäuft, was für unbürgerlich gilt. Dieser Keck ist ein Säufer, er treibt’s heftig bisexueil mit Inge (Veronika Bayer) und dem Schauspieler Max (Marcus Kiepe), die er ansonsten beide wie Sklaven behandelt, und er hat sich bei den Eskapaden wohl einen Tripper eingefangen.

Trotz all der Bemühungen bringt’s der Mann aber nicht zum wirklichen Schwein, sondern bloß zum kleinbürgerlichen Ferkel. Er wirkt wie ein reichlich unseriöser Verkäufer in eigener Sache.

So beginnt das Stück: Gerade hat Keck wegen eines Vorabendsuffs eine Lesereise nach Kairo platzen lassen (Ach, wäre er doch abgeflogen!), da klingeln auch schon seine drei Telefone: Regiegrößen wie Zadek und Peymann oder das Goethe-Institut wollen ihn unbedingt sprechen. Anhand dieser Telefonate serviert Kroetz klägliche Bruchstücke einer „Dramentheorie“. Wir erfahren beispielsweise, daß Gentechnik schwer fürs Theater umzusetzen sei, da man ja die Gene nicht sehen und zeigen könne. Potzblitz!

Hernach ist manchmal von der Nichtigkeit der Welt und oft von Sperma oder Exkrementen die ungebremste Rede. Als Keck seine bäuerlichen Bekannten in Bayern aufsucht, darf sich jeder mal so richtig vollsudeln, indem er/sie auf dicken Haufen von Hundescheiße ausgleitet und sich die stinkenden Schuhe sogleich am TV-Gerät abstreift. Welch ein Gipfelsturm fäkalischen Frohsinns!

Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen

Genug. Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen, man kann ihm nur ein paar Applikationen aufnähen – oder besser gleich: auf einen Schelmen anderthalbe setzen. Die Dramaturgie und die tapfere Regisseurin Thirza Bruncken haben zu mindest ein Drittel der Textmasse gekürzt. Dafür Dank.

Kroetz‘ Figuren werden wie Genre-Marionetten behandelt, und das läßt sich mit den versierten Darstellern auch passabel an. Mal agieren sie gravitätisch mit gepuderten Perücken, sozusagen in Opernkluft, dann wieder verfallen sie gezielt in dumpfes Bauerntheater oder hampeln in Revue- und Slapstick-Manier herum. Vermutlich sind derlei Wechselspiele ja auch postmodern – oder so ähnlich.

Man verbirgt zudem keineswegs, daß man über eine Drehbühne verfügt. Die saust in einem Akt ohne Unterlaß wie ein Karussell umher. Dabei bekommt man doch schon vom bloßen Text einen Drehwurm.

Das Stück konnte also nicht gerettet werden. Die Schauspieler hatten halt was zu spielen. Der Betrieb geht weiter. Fragt sich nur, wie: Bei dieser Uraufführung klafften enorme Lücken im Parkett, der Beifall war begrenzt. Erosionserscheinungen?

Termine: 27., 30. Dezember 1996 – 3. und 10. Januar 1997.