Die Pein, ein Mensch und noch dazu man selbst zu sein – Genazinos „Lieber Gott mach mich blind“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Körperlicher Verfall, wohin man auch blickt. Runzeln, Falten und Warzen breiten sich aus, die Haut wird teigig, übler Schweiß rinnt ohne Unterlass. Die Haare der einen stinken „nach Maggi“, das Gesicht des anderen sieht grässlich kastenförmig aus.

Am liebsten möchte man die ganze Hässlichkeit gar nicht mehr wahrnehmen: „Lieber Gott mach mich blind“ heißt denn auch Wilhelm Genazinos neues Stück, das jetzt in Bochum Premiere hatte. Stimmiger Ort ist das „Theater unter Tage“, sozusagen der Keller des Schauspielhauses. Bloß kein Licht hereinlassen!

Büchner-Preisträger Genazino, zumal als Prosa-Autor famos, unterhöhlt hier den landläufigen Jugend- und Schönheitswahn. Fünf nahezu abgestorbene, gleichwohl geschwätzige Figuren betreten die Bühne: Robert und Martha (Klaus Weiss und die geradezu gläsern zerbrechlich wirkende Margit Carstensen) sind ein älteres Paar. Sie haben sich längst nichts mehr zu sagen, werden aber gewiss für alle verbleibende Lebenszeit nebeneinander her leben. Sodann ihr Sohn Andreas und dessen trennungswillige Frau Tessa (Mark Oliver Bögel, Veronika Nickl).

Vom südlichen Liebestraum bleibt nur die Schürze mit Capri-Motiven

Schließlich die verblühte Iris (Veronika Bayer), die früher mal was mit Robert hatte und immer noch lachhaft frivol an die „Vögelei“ von damals anknüpfen möchte. Doch zu Roberts Leidwesen bringt sie nicht mal mehr eine anständige Perversion zuwege. Vom südlichen Liebestraum bleibt der kessen Iris nur die kitschige Schürze mit Capri-Motiven.

Diese absonderlichen Menschen beklagen unentwegt ihre leiblichen Schwundstufen – und halten sie sich auch gegenseitig vor. Die allgemeine Hypochondrie wirkt zuweilen äußerst komisch. Doch Vorsicht! Es ist eine schmerzliche Farce der Vergänglichkeit nach Samuel Becketts Art. Das Stück reicht tief ins Existenzielle, es handelt überhaupt von der Pein, ein Mensch und noch dazu man selbst zu sein. Linderung besteht nur darin, der Qualwenigstens Namen zu geben. Einzig und allein dieser Wille treibt die Sprache an.

Etwaige Eingriffe der Regle (Christian Tschirner) sind kaum zu spüren, und das ist gut so. Denn dies ist ein Stück für Schauspieler. Die starke Bochumer Besetzung holt auf karger Szenerie (nur eine Matratze und ein Wasserbecken) viele Nuancen heraus. Kein eintöniger Jammer, sondern reiche Ernte im Absurden.

Termine: 21. Dez. 2005 – 3., 26., 27. und 31. Jan. 2006. Karten: 0234/3333-5555.




Eine Frau sucht Abstand von der Männerwelt – Ferdinand Bruckners „Marquise von O.“ nach Kleist

Von Bernd Berke

Bochum. Ein Puppenheim: In cremiges Harmonie-Licht getaucht und zwischendurch von einer Art Kaufhausmusik umspült, erhebt sich die luftige Stube in zwei Stockwerken. Oben, auf einer schrägen Scheibe, gibt’s eine Kuschelecke mit allerlei Stofftieren.

Es ist das Kleinmädchenzimmer, in das sich die früh verwitwete „Marquise von O.“ zurückgezogen hat, als wäre sie wieder Kind. Doch üble Welt dringt ins fragile Idyll ein.

Im Krieg durchziehende Soldaten haben sie vergewaltigen wollen, davor rettet sie ein Hauptmann. Doch dieser, von ihr ganz bezaubert, vergeht sich seinerseits an der Ohnmächtigen. Wenn er zum nächsten Schlachtfeld auf und davon ist, wird sie nicht wissen, wer sie geschwängert hat.

Ferdinand Bruckner (1891-1958) hat Heinrich von Kleists berühmten Erzählstoff 1932 dramatisiert und in die Zeit des napoleonischen Russland-Feldzuges von 1812 verlegt. Gar nicht expressionistisch aufgesteilt klingt der Text, sondern wie aus dem Geiste der Neuen Sachlichkeit geflossen.

Heimat findet hier niemand

In seiner Bochumer Inszenierung lauscht Ernst Stötzner den Dialogen staunenswert viele Nuancen ab. Nicht mit einem fertigen „Konzept“ nähert er sich der Vorlage, sondern Szene für Szene mit nicht ermattender Wachheit. Er gönnt sich enorm viel Zeit und erkundet das Stück drei Stunden lang. Auf schnelle Deutungs-„Klarheit“ kommt es ihm eben nicht an, gar manches erscheint so unübersichtlich wie das Dasein selbst.

„Home“ steht auf dem Vorhang. Heim also – oder auch „Heimat“, jenes deutsche Wort, für das es in keiner anderen Sprache eine genaue Entsprechung gibt. Doch Heimat findet hier keiner. Die Menschen wirken wie Versprengte. Man sieht also besagte Puppenstube (Bühnenbild: Petra Korink), die doch keine Schutzzone ist. Es ist, als wolle die Marquise (Dörte Lyssewski) in einer eigenen Zeit leben, getrennt von einer männlich dominierten Welt. Facettenreich ausgespielt wird vor allem die Beziehung zu ihrem Vater (Hans Diehl), der das „traute“ Heim als Keimzelle für Volk und Nation preist.

Die private Sphäre gerinnt zum Phantom. Der Vater hat das große Ganze im Sinn und wird dafür am Ende in den Krieg taumeln. Ein Gesellschafts-Huber, der das Glück seiner Tochter im Konfliktfalle opfern würde. Schon sein behütender Gestus am Anfang verbirgt kaum die inzestuösen Zugriffs-Wünsche. Wenn er seine Tochter tätschelt, ist es fast ein Tatschen. Die im bürgerlichen Alltag verhärmte, zuweilen in Rest-Lüsternheit erglühende Mutter (Margit Carstensen) flüchtet sich in die edlen Schlupfwinkel der Kultur, sie geigt Beethoven.

Einsamer Traum von einem anderen Leben

In diesem Umfeld das Recht auf ihr Kind gegen alle Welt für sich zu reklamieren, ist ein seelischer Kraftakt, den Dörte Lyssewski in schmerzlichen Windungen beglaubigt (wobei Lukas Gregorowicz als Hauptmann oft nur Stichwortgeber bleibt). Die Marquise vollbringt, ihrer selbst endlich bewusst, noch eine Anstrengung: Obgleich sie eine vage innere Liebes-Vision vom Hauptmann hegt, weist sie ihn doch (anders als bei Kleist) am Ende unversöhnlich ab. Er gehöre aufs Pferd und ins Feld.

Sie aber ist unterwegs zum Freiheitstraum, der eine andere (Männer)-Welt jenseits des Heldentums (Hauptmann) und grotesker Biederkeit (ihr Sandkastenfreund, karikierend gespielt von Martin Horn) einschließt und vorerst nicht eingelöst werden kann.

Clowns geistern über die Bühne, es rieselt Theaterschnee. Der Zeichen sind viele, der Hoffnungen wenige. Am Schluss ist die Marquise als schwarze Welten-Witwe vollends zur Einsamkeit befreit; allen entkommen, allen entglitten. Man fragt sich ratlos, was sie nun beginnen soll…

Nächste Termine: 15., 24. Nov. Karten: 0234/3333-111.




Der wahre Traum vom Theater – Auftakt zur Ära Hartmann mit Turrinis „Die Eröffnung“ und Marivaux‘ „Triumph der Liebe“

Von Bernd Berke

Bochum. Am Samstag pochte in Bochum das Herz unserer Theaterwelt. Die Spitzenkräfte der „Großkritik“ waren angereist – endlich einmal wieder, nach jahrelanger Ignoranz, mit der sie den vormaligen Intendanten Leander Haußmann abgestraft hatten. Nun aber galt es, den Beginn der neuen Ära Matthias Hartmann zu begutachten.

Gleich zwei Premieren wurden aufgeboten: Als Uraufführung gab’s Peter Turrinis dem Anlass angegossenes Stück „Die Eröffnung“ (Regie: Hartmann), hernach vollzog sich der „Triumph der Liebe“ (Regie: Patrick Schlösser) von Pierre Carlet de Marivaux, ein rokokohaft abgezirkeltes erotisches Intrigenspiel des 18. Jahrhunderts, als Vorbotschaft heutiger „Coolness“ und taktisehen Kalküls im Umgang der Geschlechter zu deuten. Keine schwere Kost also, doch beileibe keine Leichtgewichte.

„Ich eröffne Ihnen mein Leben. Ich bin für die Bühne geboren…“ So beginnt Turrinis Text, den „Der Mann“ (Michael Maertens) praktisch im Alleingang bewältigt. So vieles wird er uns noch „eröffnen“: sein Glück und Unglück, sein Jauchzen und sein Krächzen zum Tode. Vor allem aber seinen Traum vom Theater. Hierzu führt er einen weißen Kasten mit sich, in dem sich eine verkleinerte Maschinerie verbirgt – samt goldener Souffleusen-Muschel und einem Pappkrönchen für den „König der Schauspieler“. Für diesen hält sich jener Mann, der zunächst Handys feilgeboten hat. Denn irgendwann hat er alle großen Rollen gespielt – vom „Faust“ bis zum „Hamlet“ und retour. Auch den „Jeeeedermann“-Drohruf des Todes hat er parat, wirklich zum Steinerweichen.

Gefangen ist er im engen Bühnen-Geviert. Später windet er sich gar in einer Zwangsjacke, doch immer wieder träumt er sich weit über derlei Bedrängnis hinaus. Aber, ach, das Leben löst die Träume nicht ein: Der „Arsch“ seiner Freundin erscheint ihm plötzlich viel zu breit. Die Trennung von ihr macht ihn „Herz-los“, später findet er (oh, Anspielung auf Haußmanns liebstes Bühnen-Emblem) ein „dreckiges Herz“ im Staube. Kaum hat sich ein einzelner Zuschauer darob ein „Buh“ abgerungen, so erweist sich die unzerstörbare Theater-Lebendigkeit des Organs. Es pulsiert und blutet noch.

Auch dieser Text pulsiert. Zwischen Schmerz und Groteske wirbelt er gar vieles vom Urgrund des Theaterdaseins auf. Das Theater scherzt mit sich selbst (mal wie eine Bierzeitung, mal subtil), es ist auch bestürzt über sich, scheint jedoch rettende Kräfte zu bergen. Und es ist viel mehr als ein Kabinettstück, was Michael Maertens dem abgewinnt. Von Comedy bis Tragödie, von gepresstem Frust bis zum haltlosen Jubel durchmisst er die Gefühls-Skala. Rasender Beifall. Das Publikum war im Handstreich gewonnen.

Sodann: „Triumph der Liebe“. Bei Kerzengeflacker war die Bühne anfangs so düster wie nur je in in der Steckel-Epoche des Hauses. Ratternd raste der Text dahin, als sei er abgespeichert und werde nur nur angeklickt. Doch das betraf die erotischen Finten. Sobald sich daraus Gefühle (oder deren Surrogate) ergeben, fließt die Rede schmeichelnd; bis zum illuminierten Schlussbild, das in ein fernes Märchenreich zu weisen scheint. Dieser Triumph der Liebe dürfte eine bloße Illusion sein, nur Widerhall der Wünsche.

Hier entsteht Tiefgang ganz von selbst

Leonida, Prinzessin von Sparta (herb sich gebende Entschlusskraft: Johanna Gastdorf), will das Herz des jungen Agis (Patrick Heyn) gewinnen. Einst raubte ihr Geschlecht dem Seinen den Thron. Sie muss nun seinen Sippen-Hass überwinden. Zudem muss sie in jene Einsiedelei vordringen, in der Agis vom Philosophen Hermokrates und dessen Schwester Leonine vor der Welt beschirmt wird.

Ergo: Sie hat, um ihr Ziel zu erreichen, diese beiden in sich verliebt zu machen. Umstellt von Lauschern, setzt sie die zittrige Mechanik der Täuschungen in Gang. Köstlich, wie jene Versteinerten, die noch nie geliebt haben, allmählich errötend zu hoffen wagen: der eitle Philosoph (Armin Rohde), die altjüngferliche Schwester (Margit Carstensen). Zwei wunderbare Darsteller!

Einmal wird Bernd Spiers Gassenhauer „Das kannst du mir nicht verbieten“ gesungen, dazu leuchtet ein Gemälde von Michelangelo auf. Doch derlei Überwürzung ist schon ein rarer Ausrutscher ins Spaßtheater. Insgesamt geht die Sache einen anderen Gang, wobei Tiefgang wie von selbst entsteht. Auch zeugt der Zugriff erlesene Gestalt: Patrick Schlösser arbeitet souverän mit Symmetrien und deren Auflösung im zuckenden Taumel, mit Licht- und Schattenwerten sowie fast filmischen Einblendungen.

Nochmals Jubel. Nehmt alles nur in allem: ein verdammt starker Auftakt in Bochum.

Termine: 27, 28. Okt, 2., 10., 11., 15. und 16. Nov. (Die Eröffnung); 26. Okt, 4., 8. und 9. Nov. (Triumph der Liebe). Karten: 02 34/3333-111.




Unsagbares Leiden am Verlust der Tugend – Werner Schroeter inszeniert Racines „Phädra“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Grau in Grau dunkelt der karge Raum; vielleicht ein Wartesaal in alle Ewigkeit, eine Gruft, eine Einbunkerung. Hier, so scheint es, können keine Leidenschaften mehr glühen, hier gibt es nur noch die Asche. An solch einer Stätte lässt der Regisseur Werner Schroeter seine Bochumer Inszenierung der „Phädra“ (1677) von Jean Racine (in Schillers Übersetzung von 1804) spielen.

Alle Personen betreten die Bühne zugleich. Fortan gibt es keine Auf- und Abgänge mehr. Wer nicht spricht, bleibt dennoch da, setzt sich auf jene umlaufende Bank am Bühnenrand, mit unbewegter Miene. Alle Gestalten befinden sich stets auf der Szene. Gerade deshalb wirken sie, als seien sie nur geisterhaft vorhanden. Hören wir etwa einem Gespräch der toten Seelen zu?

Verbotene Liebe: Phädra begehrt ihren Stiefsohn Hippolyt. Als die Nachricht vom vermeintlichen Tod ihres Gatten, des Königs Theseus, eintrifft, offenbart sie ihre inzestuösen Gefühle. Hippolyt (Andreas Pietschmann) weist sie ab, denn er liebt Aricia (Annika Kuhl), die aus feindlichem Geschlechte stammt. Noch so eine „unmögliche“ Leidenschaft.

Theseus aber hat seine Kriegsabenteuer doch überlebt und kehrt heim. Die verwirrte Phädra erliegt den Einflüsterungen ihrer Vertrauten Oenone (Eva-Maria Hofmann) und lässt es zu, dass diese den Spieß umdreht und Hippolyt beim Vater anschwärzt: Sein Sohn habe Phädra verführen wollen.

Der Rest ist Verdammung, ist Tod im Wasser (Oenone), durch ein Ungeheuer (Hippolyt) und durch Gift (Phädra).

Beschwörung in abgezirkelten Sätzen

Auf der Bühne geschieht derweil nicht viel, es wird alles nur – in abgezirkelten Sätzen beschworen. Schroeter hat eine einleuchtend strenge Form gefunden, die ein wenig an japanisches Traditions-Theater erinnert. Ein Gong und anderlei leichtes Schlagwerk begleiten die Sprech-Akte. Die Nebenfiguren balancieren mit Stangen oder pflanzen sie neben sich auf, als gelte es, ein Samurai-Ritual zu bestehen.

Der Boden ist gläsern, wirft gespenstische Spiegelungen zurück, von unten dringt Licht herauf. Auf solch unsicherem Geläuf werden die Schritte zumeist vorsichtig gesetzt wie auf zu dünnem Eis. Deutliche Kontrapunkte zu allem, was man „Bochumer Spaßtheater“ zu nennen beliebt.

Eine Glaskugel rollt über den Glasboden

Spannend ist es zu verfolgen, wie die Sprache das Regiment übernimmt, wie die Personen die Schwellen zu ihren vielfach fälligen Liebes- und Schuld-Geständnissen überwinden. Freilich gibt es ein paar „verlorene“ Regie-Ideen, die sich im Kontext nicht recht erschließen wollen: Mit Kreide wird das Wort „gern“ an die Wand geschrieben. Zwischendurch rollt eine Glaskugel über den Glasboden. Selbstgenügsame poetische Zeichen?

Es ist der große Abend der Margit Carstensen, die aus dem insgesamt sehr inspirierten Ensemble herausragt. Sie ist eine höchst zerbrechliche Phädra, unsagbar leidend am Verlust der Tugend, aber wohl auch am heraufziehenden Alter und dem Verlust erotischer Vorzüge. Eine gespaltene, schwankende, wahrlich geisterhafte Gestalt, ganz in Weiß und schon dem Tod anheimgegeben.

Theseus (Ralf Dittrich) erscheint hier moralisch fragwürdiger und gewissenloser als Phädra – in seinen verblendeten Zorneslaunen, die sich wechselweise gegen Götter, Sohn und Gattin richten. Auf seinen Feldzügen verübte er stets (sexuellen) Frauenraub, doch duldet er selbst keine Untreue. Wer da nicht zum „Feministen“ wird…

Langer Beifall, etliche Bravos für Regie und Darsteller.

Termine: 11., 14., 17., 23.12. Karten: 0234/33 33-111




Willkommen im Land der Gespenster – Leander Haußmann inszeniert Ibsens „John Gabriel Borkman“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Dumpfe Schritte hallen aus dem Zimmer oben. Auf und ab, auf und ab. Da stapft er umher, der frühere Bankdirektor John Gabriel Borkman, dieser einsame Wolf. Man hat ihn des Betruges überführt und abserviert. Seither hat er sich nicht blicken lassen, hat acht Jahre in Klausur verbracht und krude Phantasien ausgebrütet („Wir Ausnahmemenschen“). Doch das ganze Unglück ist noch nicht heraus. Erst jetzt wird es in Henrik Ibsens Stück enthüllt.

Vor vielen Jahren hat Borkman – der Karriere wegen – die Frau seines Lebens von sich gewiesen. Statt Ella hat er aus purem Opportunismus deren Schwester Gunhild geheiratet. Davon hat sich keine der drei Seelen mehr erholt. Es war ein Mord am Geist der Liebe. In Leander Haußmanns Bochumer Inszenierung des innigen Gesprächs-Dramas macht sich folglich die Eiszeit breit.

Nur noch das Versäumte betrauern

Die Bühne (Franz Havemann) ist anfangs vollgestellt mit staubigem Mobiliar. Man spürt, wie die Menschen, die in diesem Raum allmählich erstarren, körperlich eingezwängt werden durch lauter Plunder und Lasten der Vergangenheit. Die Zeit des Tuns ist längst vorüber, die Figuren können nur noch bitterlich dem Ungenügen nachsinnen.

Wenn die Schwestern Ella (Traute Hoess) und Gunhild (Margit Carstensen) einander hier nach vielen Jahren erstmals wieder begegnen, so ist auch jedes Wort anstößig. Jede Bemerkung enthält Sprengstoff. Denn Ella hat John Gabriel Borkmans und Gunhilds Sohn Erhard großgezogen, und nun – von tödlicher Krankheit bedroht – möchte sie ihn für den kleinen Rest ihres Lebens noch einmal zu sich nehmen. Die Mutter wiederum will ihn auch nie wieder loslassen.

Die Rivalinnen von einst haben ein Ersatz-Streitfeld gefunden. So zerren sie beiderseits an ihm und zehren von ihm. Erhard (Andreas Pietschmann) soll zur Linderung der Leiden herhalten, er soll alle Enttäuschungen tilgen. Dabei will der Student doch unbeschwert seine Jugend genießen. Einmal japst und rülpst er herum, um sich Luft zu verschaffen in der ihm zugemuteten Enge. Einer der ganz wenigen billig verjuxten Momente.

Das schmerzliche Verwehen der Zeit

Der junge Mann wirkt fahrig, haltlos, nervös. Das Scheitern ist auch ihm schon eingeschrieben. Unrettbar verpfuschtes Dasein allenthalben. Haußmann beweist haarfeines Gespür fürs schmerzliche Verwehen der Zeit. Obwohl er und die SchauSpieler (vor allem Peter Rauch als Hilfsschreiber Foldal – mehr als ein Kabinettstück!) dem Text komödiantische Facetten abgewinnen, bleibt der Grundton doch elegisch. Einmal bedecken angegilbte Zeitungsseiten den Fußboden. Ein Sinnbild all der vergeudeten Tage, Wochen, Jahre.

Die Schwestern sind – durchaus sinnvoll – etwas „gegen den Strich“ besetzt. Traute Hoess sieht robuster aus, als es die Rolle eigentlich zulässt, Margit Carstensen hingegen beklagenswert verhärmt. Ihr früherer „Sieg“ (die Heirat) blieb ohne Ertrag. Ebenso wie Borkman (Ezard Haußmann, der sein Elend im schlaksigen Konversationston vorzeigt) lassen die Schwestern sich nie ganz von Emotionen hinreißen (was verteufelt schwer zu spielen ist). Es ist, als gebe es da eine Bremsvorrichtung.

Die wahren Gefühle sind eben längst erstorben und wohl auch erstickt unter kitschigen Erwartungen: Ella findet gar die Muße, ein blinkendes Eiffelturm-Modell auf den Tisch zu wuchten, als Erhard seine Geliebte Fany (Maren Eggert) vorstellt, mit der er vor all dem flüchten will. Dazu ertönt der Schläger „Ganz Paris träumt von der Liebe“.

Bei eisiger Kälte ins Nirgendwo

Es sind Szenen von grotesker Art, die jederzeit in eine böse Endlos-Schleife eingefädelt werden könnten, in furchtbar-komisch verewigte Wiederholungen à la Thomas Bernhard oder Samuel Beckett.

Gegen Ende brechen Borkman und Ella bei eisiger Kälte ins Nirgendwo auf. Die mit Hub und Schub vielbewegte Bühne ist nun beinahe leer. Schneewehen vernebeln den Blick wie im Traum, und es huschen trollhafte Geister herbei. Bereits im Jenseits angelangt, schneidet Borkman ihnen Grimassen. Schließlich sagt er belustigt: „Schön hier bei euch.“ – Willkommen im Gespensterland!

Furioser Premieren-Applaus.

Termine: 25., 26. Sept; 3., 8. Okt. Karten: 0234/3333-111.




Apokalypse mit Abwasch – Leander Haußmann inszeniert die Uraufführung von Edward Bonds „Das Verbrechen des Einundzwanzigsten Jahrhunderts“

Von Bernd Berke

Bochum. Links kauert eine Ruine. Auf schräger Holzplanke kann man bis auf einen beengten Platz balancieren. In dessen Mitte steht ein wackeliger Tisch, rechts erhebt sich windschief ein notdürftig gezimmerter Verschlag als kaum menschenwürdige Behausung. Das wie für alle restlichen Zeiten unwandelbare Elendsquartier (Bühnenbild: Franz Havemann) ist Schauplatz eines Endzeit-Spiels.

Der Brite Edward Bond (64) läßt sein Stück „Das Verbrechen des Einundzwanzigsten Jahrhunderts“ anno 2090 spielen. Die Welt besteht weithin nur noch aus Schutt und Asche, eine brutale, fürchterlich anonyme Militärmacht kontrolliert die abgeriegelten Bezirke. Von den Tätern erfährt man nichts Näheres, man schaut nur den Opfern eine Weile beim Vegetieren zu.

Das Drama, jetzt unter Regie von Leander Haußmann in Bochum uraufgeführt, stößt uns ins „Säuberungsgebiet“, in dem versprengte Flüchtlinge umherirren und um die letzten kargen Wasser- und Nahrungs-Reserven kämpfen. Man muß nicht 91 Jahre vorausdenken, um derlei Verhältnisse zu imaginieren…

Auch die Sprache ist nur noch Ruine

Bond, der seine Stücke gern wortkarg betitelt („Sommer“, „Gerettet“), verwendet auch hier eine Sprache, die vielfach aus Ein- oder Zweiwortsätzen besteht. Mit hervorgeschnappten Wortbrocken beginnt der anfängliche Disput um einen Becher Wasser, den Grig (Ralf Dittrich) von Hoxton (Margit Carstensen) erfleht. Nicht nur die Häuser, auch die Sätze sind Ruinen. Und menschliches Verhalten ist zurückgestutzt auf elementare Antriebe des bloßen Überlebenswillens. Die Figuren  nehmen einander durch Witterung wahr, sie erschnuppern die vermutlich gefährliche Gegenwart der anderen.

Der Abend hangelt sich zuweilen zäh über manche Leerstellen hinweg – und wahrscheinlich gibt das Stück auch nicht mehr her. Bond bastelt sich seine apokalyptische Vision aus Versatzstücken zurecht. Es treten keine „Charaktere“ auf, sondern wandelnde Chiffren der Katastrophe. Auch gibt es keine erzählbare Entwicklung, keinen Fortgang. Alles ist schon zu Beginn ausweglos und bleibt so. Es beschleicht einen das Gefühl, man habe solche Befunde bei Samuel Beckett schon wesentlich konsequenter und gültiger gestaltet gesehen. Und Sätze wie „Wir rammeln die Sterne vom Himmel“ hätte der Ire nicht im Traum benutzt.

Mit Bond betreten wir gar einen vergleichsweise gemütlichen Flecken im Niemandsland. Immer wieder sehen wir, wie aus einem Kanister (mit komfortabler Zapf-Vorrichtung) Waschtage und Geschirrspülen bestritten werden. Fehlt nur das Bügeleisen. Der Alltag, wie bruchstückhaft auch immer, geht selbst in dieser Zivilisations-Wüste unterm öden Bildschirm-Himmel irgendwie weiter. Oder sollte gerade in solcher „Normalität“ am Ende aller Geschichte der eigentliche Schrecken bestehen?

Zwei weitere Personen betreten die Szene: Grace (Annika Kuhl) will ihre vermeintliche Mutter Hoxton steinigen. Und der als Schmerzensmann geradezu auftrumpfende Kriminelle namens Sweden (Andreas Pietschmann), der seinen Kontroll-Chip aus dem Leibe geschnitten hat und deshalb von der Armee des Augenlichts beraubt wird, ersticht buchstäblich blindlings die beiden Frauen. Nach finaler Selbstamputation wankt er auf blutigen Beinstümpfen.

Eifriges Theater der Grausamkeit

Derlei morbide Akte wirken hier wie willkürlich schockierende „Zugaben“, die fast ebenso gut unterbleiben könnten. Es ist, als hätte Bond mit seinem Theater der Grausamkeit der kürzlich verstorbenen Sarah Kane (ihr ist der Text gewidmet) nacheifern wollen. Und es scheint so, als vollführe Sweden seine Morde vor allem deshalb, weil er merkt, daß er diese Frauen braucht (als Pflegerinnen, Wegweiserinnen, Huren), sie ihn hingegen nicht. Es ist nicht zum Aushalten.. .

Von wegen „Bochumer Spaß-Theater“. Sie können auch anders: Sieben erbärmliche Heullaute, ausgestoßen in einem klinisch weißen Raum, verhallen am Schluß. Die Darsteller stehen alles Klagen tapfer durch. Doch die Apokalypse haben sie über weite Strecken nur behauptet, selten aber zutiefst gezeigt.

Dennoch unbändiger Premierenjubel des Haußmann-Fanclubs. Ob das Abo-Publikum auch so reagieren wird, darf bezweifelt werden.

 




Ein deutscher Alptraum – Heiner Müllers „Germania 3 – Gespenster am Toten Mann“ in Bochum uraufgeführt

Von Bernd Berke

Bochum. „Mach’s leicht!“ soll der Dramatiker Heiner Müller (1929-1995) dem Regisseur Leander Haußmann geraten haben. Haußmann war schon zu Lebzeiten Müllers ausersehen, dessen Stück „Germania 3 – Gespenster am Toten Mann“ in Bochum zur ersten Bühnengeburt zu verhelfen. Nun hat der gewaltige, ungeheuerliche Text das Scheinwerferlicht erblickt. Und siehe da: Er birgt unverhoffte Spiellust, zugleich aber unaufhörlichen Schmerz.

Die alptraumartige Collage zur deutschen Historie erfaßt – einem reißenden Strom vergleichbar – Bruchstücke der germanischen Sagenwelt und schwemmt auf ihrem Weg in die Gegenwart z.B. auch Wagner, Nietzsche, Hitler und Ulbricht mit sich. Heerschau unter den Gespenstern und Untoten der Geschichte. Und so viel Mord, daß das Blut in Bochum gelegentlich mit der Schöpfkelle ausgeteilt wird. Absurde Menschenopfer allenthalben, ob in Stalingrad oder an der deutschen Mauer. „Gott ist ein Virus“, der die der Welt schon in den Griff bekommen werde, heißt es im zynischen Prolog.

Dreieinhalb Stunden Chaos

Ein bunter Harlekin (Steffen Schult) geleitet uns durch das dreieinhalbstündige Chaos. Mal mit verzweifeltem Witz, mal kleinlaut verzagend. Haußmann hat sich – Müllers Ratschlag folgend – nicht der Düsternis hingegeben, sondern den Text mit einer Unzahl von szenischen EinfäIIen geradezu übersät. Vielerlei Spielformen werden in diesem Unter-Welttheater erprobt. Manche Figuren bewegen sich wie mechanische Marionetten oder agieren in verfremdender Zeitlupe, dann wieder wird heftiger Theaterdonner oder auch unbändiger Unsinn entfesselt. Auch wenn es im Detail noch nicht durchweg „stimmt“: So muß man eine solche Collage anpacken, sie verträgt es durchaus.

Mit Nebelmaschine, Schneekanone und höllischem Krach werden wir – nach einer blutrünstigen Ansprache Josef Stalins (Gennadi Vengerov) – in den Zweiten Weltkrieg versetzt, die nahezu nackte Bühne ist alsbald ein Schlachtfeld mit rieselndem Schutt und raunenden Geistern. Bewegende Bilderfolgen hat Haußmann für die spukhaften Verwandlungen und das Gleiten geschichtlicher Zustände gefunden. Da mutiert der kroatische SS-Mann von 1945 zum kroatischen Gastarbeiter anno 1960, oder die drei hinterbliebenen Frauen Bertolt Brechts zum Hexentrio à la Shakespeares „Macbeth“.

Die Sequenz mit den resoluten Brecht-„Witwen“ (Margit Carstensen, Traute Hoess, Irene Christ) gehört, ebenso wie eine abstruse DDR-Party der 50er Jahre, zu den Glanzpunkten. Doch stets kann solche Komik in ihr brutales Gegenteil umschlagen. Wenn etwa zum Brecht-Gedicht von den „finsteren Zeiten“ plötzlich ein seltsames elektrisches Reptil über den Bühnenboden schnürt, so ist dies grausiger, als man sagen kann. Haußmann entkräftet das Vorurteil, er kaspere nur mit dem Theater herum. „Mach’s leicht!“ Das hat er getan. Aber er hat es sich nicht leicht gemacht.

Hitler säuselt eine jiddische Melodie

Gesungen wird viel. Auf der Ziehharmonika werden die Hymnen von BRD und DDR intoniert, der besiegte Hitler (Heiner Stadelmann) säuselt gar eine jiddische Melodie, später gibt es „Kein Bier auf Hawaii“. Gipfel ist ein realsozialistisches Traktoristenlied, das zum Putzen des eisernen „Schollenfressers“ ermuntert. An ihren Liedern sollt ihr sie erkennen. Es klingt oft zum Verrücktwerden komisch…

Tags darauf wurde Heiner Müllers 1969 uraufgeführter „Prometheus“ (Regie: Marold Langer-Philippsen)“ nachgereicht. Man mag in der Anverwandlung des antiken Mythos‘ dies mitlesen: Kultur- und Lichtbringer Prometheus wird letztlich von einer Staatsmacht (Göttervater Zeus) an den Felsen geschmiedet.

Prometheus (Steve Karier) steckt in einer kafkaesken Zwangs-Apparatur, die karge Bühne mit metallischem Gerüst wirkt wie eine apokalyptische Werkshalle. Durch die dauernde Gefangenschaft der Hauptperson hat das Stück einen engen Radius, man müßte also desto mehr auf die Sprache achtgeben. Hier aber werden die Worte der ersten halben Stunde mit diktatorischem Gleichschritt buchstäblich zerstampft. Da mögen sich – in wechselnden Rollen – Joana Schümer, Andreas Edelblut und Samuel Zach noch so stilwillig mühen, die Sache ist damit schon weitgehend hinüber.

Termine: „Germania 3″ am 30. Mai, 11., 16. und 26. Juni / „Prometheus“ am 30. Mai, 8., 14. und 15. Juni. Karten: (0234) 3333-111.




Kambodschas Geschichte als fünfstündiges Bühnendrama – Hansgünther Heyme inszeniert Hélène Cixous in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Verkehrte Verhältnisse im Essener Grillo-Theater: Die Sitzreihen befinden sich im Bühnenraum, die Szene ist dort, wo sonst die Zuschauer Platz nehmen.

Wenn das Publikum die umgebaute Theaterstätte betritt, platzt es mitten in den Prolog der Gemüseverkäuferin Khieu Samnol (Astrid Gorvin) {Astriâ ‚Gorvin), die – wie auf einem Jahrmarkt – die Leiden des kambodschanischen Volkes ausruft. Gedränge und Geschiebe der Zuschauer, die Plätze sind nicht numeriert; und wenn man sitzt, muß man sich recken, um etwas zu sehen. Man kommt sich vor wie inmitten einer Volksmenge. Doch mit diesem Gefühl und den Klagen der Khieu Samnol hat das Volk auch schon ausgespielt. In den folgenden fünf Stunden ist es nur noch Manövriermasse.

„Die schreckliche, aber unvollendete Geschichte von Norodom Sihanouk, König von Kambodscha“, das Stück von Hélène Cixous, 1985 im Pariser „Théâtre du Soleil“ der Ariane Mnouchkine uraufgeführt und am Samstag in Hansgünther Heymes Regie erstmals deutschsprachig gezeigt, ist (auch) ein Schnellkurs in kambodschanischer Historie. Was zur Premiere als Doppelabend (Epoche 1955-1970/1970-1979) herauskam, wird später auf zwei Abende verteilt.

Wer sich nicht gerade einen Südostasienexperten nennen kann, tut gut daran, die theatralische Tour durch 24 Jahre kambodschanischer Geschichte anhand der Nacherzählung im Programmheft zu verfolgen. Vom feudalen Gerichtstag Sihanouks (1955) bis zum Einmarsch vietnamesischer Truppen in Kambodscha (1979) verdichtet sich das Netz politischer Intrigen im Kräftefeld zwischen USA, UdSSR, China, Vietnam und den Roten Khmer. Die von Prinz Sihanouk angestrebte Neutralität Kambodschas gerät zur Farce. Das Land wird in den Vietnam-Krieg hineingezogen und später von Pol Pots Revolutionsgarden mit Terror überzogen.

Dabei scheint anfangs alles wie ein Spiel: Sihanouk (großartig: Volker K. Bauer) schlängelt sich körperlich wie stimmlich zwischen den Fronten hindurch, bedient sich der geschichtlichen Bedingungen, als lägen sie frei verfügbar in einer Spielzeugkiste. Doch das Ziel einer weltpolitisch neutralen, sozialistischen Monarchie erweist sich sehr bald als naiv. Sihanouk, zunehmend eine tragische Figur, muß Konzessionen nach allen Seiten machen und Geister anrufen, die er nicht mehr loswird.

Das große Welttheater, in dem Kissinger, Kossygin und Tschu Enlai die Fäden ziehen, endet im Geisterreich. Tote (u. a. Sihanouks Eltern, gespielt von Wolfgang Robert und Margit Carstensen) huschen gespenstisch durch den zweiten Teil.

Cixous Geschichtsdrama (passend: Alfons Nowackis Musik, die oft an Brechtsche Songs erinnert), ist streckenweise zu geschwätzig, um die Größe des mehrfach beschworenen Shakespeare zu erreichen, liefert aber viele Szenen für pralles Theater, das in Essen auch Rauch und Theaterdonner nicht verschmäht. Die Ensemble-Leistung kann sich sehen lassen. Sehr zu loben: Wolf Münzners Bühnenbild und Kostüme, die jeden falschen Exotismus meiden.

Immenser Beifall, der sich für Hauptdarsteller Volker K. Bauer zum Bravo-Orkan steigerte und auch die Regle einschloß.