Szenisch demontiert, musikalisch erhöht: Mozarts römischer Kaiser Titus an der Rheinoper Düsseldorf

Maria Kataeva als Sesto in Mozarts „La Clemenza di Tito“ an der Rheinoper in Düsseldorf. (Foto: Bettina Stöß)

Ein Fest der noblen Töne und der durchgearbeiteten Details: Die Dirigentin Marie Jacquot hebt in luziden Klang, was Wolfgang Amadé Mozart in seine kurz vor der „Zauberflöte“ uraufgeführte Krönungsoper „La Clemenza di Tito“ an kompositorischen Kostbarkeiten eingeschrieben hat.

Trotz der Herkunft des Stoffs aus der Opera seria des Wiener Hofdichters Pietro Metastasio ist die alte Manier an vielen entscheidenden Stellen überschrieben. Äußerlich mag die Folge von Arien und Rezitativen noch an Althergebrachtes erinnern; innerlich haben es Librettist Caterino Mazzolà und Mozart mit seiner Kunst des Ensembles, aber auch mit der Aufwertung der Rolle des Orchesters gründlich hinter sich gelassen. Da ändern auch die Rezitative nichts, die vermutlich aus Zeitmangel von Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayr in Töne gesetzt wurden.

Die „Milde des Titus“ also. Zuletzt im Mozartjahr 2006 in Düsseldorf, diesmal unter dem so analytischen wie leidenschaftlichen Blick der jungen französischen Kapellmeisterin, die sich gerade an der Deutschen Oper am Rhein und bei einer Reihe von Gastdirigaten erfolgreich ihre Sporen verdient. Mit dem „Barbier von Sevilla“ war sie zu Beginn der Spielzeit schon mit viel Willen zu lockerer Beweglichkeit und witzig-spritziger Rossini-Verve unterwegs, ausgebremst freilich von einem nicht entsprechend alert reagierenden Orchester und einer wenig inspirierten Inszenierung von Maurice Lenhart.

Staatsaktion mit beseelten Menschen

Jetzt kommt ihr in diesem Lehrstück eines exemplarisch-idealen Regierungsstils die Regie von Michael Schulz ebenfalls nicht gerade entgegen. Aber die Düsseldorfer Symphoniker verstehen sich auf Mozart weit einfühlsamer als auf den trockenen Humor des Italieners. Und so wird der Abend in erster Linie ein musikalisches Erlebnis. Man mag sich den Kopf heiß reden über die Frage, ob das innere Pathos der Musik dem rückwärtsgewandten Auftragsstoff geschuldet ist – die böhmischen Stände als Auftraggeber wollten unbedingt einen „Titus“ haben –, oder ob Mozart nicht doch ein feines Ohr für die aus Frankreich kommende, neue musikalische Ausdruckssphäre hatte. Spannend auch zu hören, was Mozart seinen Zeitgenossen Christoph Willibald Gluck und Antonio Salieri an die Seite stellt, die beide auf ihre Weise bewegende Seelentöne trafen, ohne Mozart in seiner unendlich einfallsreich variativen musikalischen Sprache zu erreichen.

Marie Jacquot. (Foto: Werner Kmetitsch)

Marie Jacquot jedenfalls treibt das Pathos nicht auf die Spitze, entdeckt aber die Subtilität der Komposition, wie sie sich in der Ouvertüre nach der Dreiklangseröffnung und einem gekonnt gesteigerten Mannheimer Crescendo in der Verarbeitung des eigentlich simplen Themas mit seinen schreitenden, durch Pausen getrennten Achteln zeigt. Bei ihr klingen diese Momente nicht kühl poliert, sondern erfüllt mit lyrischer Wärme – denn es geht ja nicht (nur) um eine Staatsaktion oder ein Herrscherideal, sondern ebenso um beseelte Menschen. Jacquot lässt sie in sensibler Finesse und Liebe zum Detail vor unser musikalisches Ohr treten: Man hört das Fagott im Aufzugsmarsch des Kaisers, man folgt den Halbtonschritt-Sequenzen, die Titus als abgeklärten, in sich ruhenden Charakter in die Nähe Sarastros rücken. Wolfgang Esch mit seiner Bassettklarinette und Ege Banaz mit dem Bassetthorn haben den Raum, den Reiz des Instrumentalklangs wunderschön zu entfalten.

Auch die hohe Kunst der Ensembleführung wird vom Dirigentenpult aus gepflegt. Ob im Finalquintett des ersten Akts, das Friedrich Rochlitz ein „großes Meisterstück“ nannte, oder in der erregten Hektik des Terzetts „Vengo! Aspettate …“: Marie Jacquot übertreibt die Ausdrucksmittel nicht, hält Tempi und Dynamik stets ausgewogen im Zaum, ergreift aber gerade dadurch die Chance, sie mit innerem Leben und mit eleganter Expressivität zu erfüllen. Da sie die Sänger diskret und rücksichtsvoll begleitet, haben sie die Chance, sich stimmlich ohne Druck zu entfalten.

Utopische Milde contra Zynismus der Macht

Das glückt nicht durchgängig: Immer wieder setzen sie sich unter Spannung, wo die Dirigentin eigentlich locker führen will. Aber Maria Kataeva singt sich schon nach dem ersten, noch etwas gehemmten Einstand frei und gestaltet vor allem ihre Arie „Parto, parto“ und das große, zum Finale überleitende Rezitativ „Oh Dei, che smania e questa“ mit dramatischem Gespür und flexibler Beweglichkeit. Das Freundschafts-Duettino mit Annio leidet unter der Manier von Anna Harvey, Töne zu „stoßen“ statt gleichmäßig auf dem Atem zu führen; in der Arie „Tu fosti tradito“ im zweiten Akt gelingt es Harvey besser, den Ton zu fokussieren und strömen zu lassen.

Als eine mit allen kriminellen Wassern gewaschene Zynikerin der Macht hat Titus‘ Gegenspielerin Vitellia ein breites Spektrum von Affekten vokal zu bewältigen, von zupackender Aggressivität über fiebrige Erregung bis hin zu – für die Figur erstaunlichen – Äußerungen weicher Empfindung. Dem strahlkräftigen, mit funkelndem Metall angereicherten Sopran von Sarah Ferede kommen die energischen und dunklen Seiten dieses Charakters eher entgegen; gleichwohl gelingt es ihr, ihre erste Arie („Deh, se piacer mi vuoi“) differenziert zu singen.

Jussi Myllys hat die undankbare Aufgabe, mit dem Kaiser eine Figur ohne innere Entwicklung und Handlungsmacht darzustellen. Der Edelmut des Herrschers – ganz im Gegensatz zum historischen Titus Flavius Vespasianus, wie ihn der römische Historiker Sueton sicher in tendenziöser Absicht schildert – ergießt sich in Betrachtungen etwa über die Rolle der Wahrheit vor Fürstenthronen, macht aber auch den Schmerz und die Enttäuschung deutlich, über die Titus dennoch seine „clemenza“ siegen lassen will. Die trocken-unbeteiligte Farbe des Tenors von Jussi Myllys und eine introvertierte, öfter belegt wirkende Tongebung mache die Rolle nicht eben interessanter. Auch Beniamin Pop als Publio kann – anders als Lavinia Dames als anmutige Servilia – keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Dirk Beckers Bühne zu Mozarts Oper. Foto: Bettina Stöß

Für seine Inszenierung hat der erstmals an der Rheinoper inszenierende Gelsenkirchener Generalintendant Michael Schulz genau eine Idee – und die stellt sich nach langen, umständlichen Auftritten und Abgängen in einem unspezifischen, für alle möglichen Werke recycelbaren Bühnenaufbau von Dirk Becker erst am Ende ein. Milde, Verzeihung, Menschlichkeit? Alles nur Show. Mit dieser Desavouierung von Mozarts hochgestimmtem Fürstenspiegel entlässt Schulz die Zuschauer in eine Realität, die leider allzu oft einen ähnlichen Eindruck nahelegt. Ob allerdings auf diese Weise „Macht, Güte, Milde und Weisheit als Korruption, Schmeichelei und devoter Untertanengeist“ enttarnt werden, wie Wolfgang Willaschek in einem provokanten Programmheftbeitrag meint, bleibe dahingestellt.




Innere Katastrophe, nach außen gekehrt: Duisburger „Madama Butterfly“ in den Ruinen von Nagasaki

Innere und äußere Katastrophe: Liana Aleksanyan in Juan Anton Rechis Inszenierung von Giacomo Puccinis "Madama Butterfly" an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg. Foto: Hans Jörg Michel

Innere und äußere Katastrophe: Liana Aleksanyan in Juan Anton Rechis Inszenierung von Giacomo Puccinis „Madama Butterfly“ an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg. (Foto: Hans Jörg Michel)

Da mag die Melodie Puccinis noch so schwärmen, da mögen die Harmonien noch so schmeicheln: Das Duett im ersten Akt von Puccinis „Madama Butterfly“ ist falsch, von Anfang an. Es stimmt höchstens für einen der Wirklichkeit enthobenen Augenblick.

Denn die verfließende Zeit sagt etwas anderes: Sie lässt offenbar werden, wie fundamental unterschiedlich die beiden Menschen denken und fühlen: Für Benjamin Franklin Pinkerton ist diese Liebesnacht mit der japanischen Bimba und ihren melancholischen Augen ein vorübergehendes, exotisch-erotisches Abenteuer mit einer geheimnisvoll fremden Kindfrau. Für Cio-Cio San dagegen ist die Nacht die Folge einer Lebensentscheidung: Sie ist jetzt für alle Zeit Ehefrau des Amerikaners, dessen Religion sie annimmt und sich damit in ihren existenziellen Tiefenschichten mit ihm verbindet.

Die Katastrophe ist vorhersehbar – und sie tritt in der Neuinszenierung von „Madama Butterfly“ an der Deutschen Oper am Rhein nicht als stilles, schmerzvolles, allmähliches Zerbrechen ins Leben des „kleinen Fräulein Schmetterling“, sondern als erdbebenhafter Aufruhr. Das verlassene Mädchen sitzt im Ehebett, als ein Flugzeug dröhnt, eine Detonation die Bühne erschüttert. Die Erinnerung an die Bombe von Nagasaki – dort spielt die Oper ja auch – drängt sich auf.

Eine Welt in Trümmern: Szene aus dem Finale von "Madama Butterfly" in Duisburg. Foto: Hans Jörg Michel

Eine Welt in Trümmern: Szene aus dem Finale von „Madama Butterfly“ in Duisburg. (Foto: Hans Jörg Michel)

Wenn der Vorhang zum zweiten Akt sich öffnet, ist nichts mehr wie vorher. Die Welt liegt auf Alfons Flores‘ Bühne in Trümmern. „Madama B.F. Pinkerton“ hat sich ein Zelt aus der angesengten amerikanischen Flagge gebaut. Ein krude gezimmerter Hochstand dient als Ausguck, symbolisiert Warten und Sehnsucht. Eine Endzeitstimmung, die das Innere der Cio-Cio-San nach außen kehrt. Individuelles und Allgemeines durchdringen sich: Die japanische Tragödie wird weitergedacht, über die existenzielle Katastrophe eines einzelnen Menschen hinaus. Der Clash hat, was ja historisch entsetzliche Wirklichkeit geworden ist, umfassende Konsequenzen.

Bildgewaltige Tragödie einer Lebenswelt

Regisseur Juan Anton Rechi hat in Duisburg Puccinis lange ans Sentiment verratene Oper in beinahe wagnerischem Ausmaß zur Tragödie einer ganzen Lebenswelt erweitert, ohne ihren individuellen Kern zu entwerten. Rechi hat damit eine Arbeit geschaffen, die dem Rang der Deutschen Oper am Rhein endlich wieder einmal adäquat ist. Bildgewaltiges Theater, aber kein Bildertheater; ein bewegendes Schicksal, aber in einen umfassenden Horizont gestellt; gegenwärtige Brisanz, ohne ins Allgemein-Zeitlose zu driften oder das Stück für eine Idee zurechtzubiegen wie vor Jahren Calixto Bieito in seiner Green-Card-Butterfly an der Komischen Oper Berlin.

Rechi inszeniert seine Personen bewundernswert genau: Da ist der unbekümmerte Leutnant, für den das einzige „forever“ das Bekenntnis zu Amerika ist. Seine Begegnung mit der fremden Welt Japans – in Person Suzukis, später in der verlegenen Begrüßung der Familie Cio-Cio-Sans – zeigt ihn hilflos überfordert und gleichzeitig desinteressiert. Die Warnungen des Konsuls, dem Schmetterling nicht die zarten Flügel zu brechen und ein gutgläubiges Herz zu verwüsten, werden mit Whisky überspült. Der Offizier betritt die japanische Welt nie wirklich: Das „Liebesnest“ lässt er sich von Goro – messerscharf charakterisiert von Florian Simson – nur als Modell zeigen; die romantische Nacht findet in der repräsentativ-wuchtigen Säulenhalle des amerikanischen Konsulats statt.

Eduardo Aladrén zeigt in der leicht hingeworfenen Konversation mit dem Diplomaten Sharpless durchaus tenorale Tugenden: Er gewichtet die Worte, er nimmt den Ton zurück, sein angenehmes Timbre und die Eleganz der Formulierung machen den jungen, sympathischen Leichtfuß glaubwürdig. Aber bald fährt sich sein Tenor fest und er singt im Stil eines kruden Verismo, mit athletischen Höhen und furios-unflexibler Tongebung. „Addio fiorito asil“ gestaltet er, ganz im Sinne der Regie, als sentimentale Reminiszenz.

Prägnante Personenstudien und profunde Sänger

Auch Stefan Heidemann lässt sich von innen heraus auf das Konzept ein: Er gibt Sharpless ebenso noble wie hilflose Züge, ein Mann voll Verständnis für die fremde Kultur, aber auch unfähig, sich gegen die zupackende Gedankenlosigkeit Pinkertons durchzusetzen. Ein Mann ohne Schärfe, fürwahr, nicht aber ohne Format. Maria Kataeva singt mit metallisch schimmerndem, differenziert gebildetem Stimmklang eine sorgfältig artikulierende Suzuki, deren unauffällige Präsenz im Hintergrund ebenso viel szenisches Gewicht hat wie ihre pointierten Auftritte. Profiliert gestaltet Bruce Rankin den unermüdlich werbenden Fürsten Yamadori – ein Mann beständiger und ernsthafter Gefühle in einer knapp gehaltenen, aber wichtigen Szene im Zentrum des Stücks.

Maria Boiko macht aus dem undankbaren Kurzauftritt der Kate Pinkerton eine prägnante Studie: Sie stellt sich gemeinsam mit dem Konsul der Verantwortung, vor der Pinkerton flieht, glaubt aber, mit einer Perlenkette als Geschenk Butterflys Verzweiflung lindern zu können. Die Farbe ihres Kleides, ein samtenes Rot, wird durch Blau und Weiß ergänzt – in diesen Farben der amerikanischen Flagge schickt Butterfly auch ihr Kind in eine ungewisse Zukunft. Mercè Palomas Kostüme meiden den modischen Bühnen-Trash, sind liebevoll gestaltet und zeigen die japanische Gesellschaft als angepasst – selbst der stimmgewaltige Vertreter der Tradition, der Onkel Bonze (Lukasz Konieczny) trägt einen westlichen Anzug.

Nur Madama Butterfly hält an der traditionellen Kleidung fest. Das verwundert etwas, denn gerade sie reißt am radikalsten ihre japanischen Wurzeln aus. Mag sein, dass Rechi im Kostüm ein Symbol ihrer inneren Konstanz sieht – aber so ganz schlüssig vermittelt sich die Idee dahinter nicht. Mit Liana Aleksanyan hat die Rheinoper eine Sängerin, die den vokalen Facetten der Partie mit profunder Technik gerecht wird. Die Sängerin hat zwischen 2011 und 2013 viele Partien am Aalto-Theater gesungen und erst zu Jahresbeginn die „Butterfly“ an der Scala gegeben.

Sie ist keine leichte Stimme wie einst etwa Toti dal Monte und ihre Kolleginnen, die das Mädchenhafte der Figur betont haben: Aleksanyan nimmt die intensiv erfüllten Linien und Bögen, die klangvollen Legati, die auftrumpfenden dramatischen Momente aus dem Geist des Verismo, verrät sie aber nicht an vordergründig gestisches Singen, sondern kleidet sie in einen ausgeglichenen, strömenden Fluss des Klangs. Dafür bringt sie ein passendes Timbre und eine prachtvoll beherrschte Stütze mit, dramatische Entschiedenheit und Süße im Mezzoforte – und vor allem den Gestaltungswillen, der jede vokale Geste in den Dienst einer Aussage stellt.

Kein Schwelgen in den Melodiebögen

Auf diese Weise geistig durchdringen will auch der Dirigent Aziz Shokhakimov die Musik Puccinis. Schwelgen ist nicht angesagt – im Gegenteil: Der junge usbekische Kapellmeister, Preisträger des Bamberger Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerbs, behandelt die Klangbögen Puccinis recht peripher. Das ist die einzige Schwäche in einem ansonsten fabelhaft überzeugenden Dirigat. Denn in Zusammenarbeit mit den bestens disponierten Duisburger Philharmonikern legt Shokhakimov frei, wie modern Puccini komponiert hat: Die scharfen Staccati des Beginns, die polyphonen Verwebungen der Eingangsszene nimmt er entschieden konturiert. In der Chorszene vor dem ersten Auftritt Butterflys – szenisch in ein zauberhaftes Schattenbild mit der dominierenden amerikanischen Flagge gefasst – beleuchtet er die impressionistische Klangerfindung Puccinis.

Der Szene zwischen Pinkerton und Sharpless entzieht er jegliche Wärme. Der Rhythmus gewinnt konstitutive Bedeutung, die Neben- und Mittelstimmen verdeutlichen, wie komplex Puccini harmonisch in die Tiefe denken konnte. Dabei lässt Shokhakimov die Poesie der Musik nicht zu kurz kommen – erwähnt sei nur die lange Entwicklung in der Nacht des Wartens auf den zurückgekehrten Pinkerton, in der sich Christoph Kurigs Chor – wie schon im ersten Akt – vorzüglich bewährt. Diese „Butterfly“ hat alles, um ein Schmuckstück im Repertoire der Deutschen Oper am Rhein zu werden.

Vorstellungen in Duisburg am 6. und 26. Mai und am 3. Juni.
Karten Tel.: (0203) 283 62 100. www.operamrhein.de