Der wahre Traum vom Theater – Auftakt zur Ära Hartmann mit Turrinis „Die Eröffnung“ und Marivaux‘ „Triumph der Liebe“

Von Bernd Berke

Bochum. Am Samstag pochte in Bochum das Herz unserer Theaterwelt. Die Spitzenkräfte der „Großkritik“ waren angereist – endlich einmal wieder, nach jahrelanger Ignoranz, mit der sie den vormaligen Intendanten Leander Haußmann abgestraft hatten. Nun aber galt es, den Beginn der neuen Ära Matthias Hartmann zu begutachten.

Gleich zwei Premieren wurden aufgeboten: Als Uraufführung gab’s Peter Turrinis dem Anlass angegossenes Stück „Die Eröffnung“ (Regie: Hartmann), hernach vollzog sich der „Triumph der Liebe“ (Regie: Patrick Schlösser) von Pierre Carlet de Marivaux, ein rokokohaft abgezirkeltes erotisches Intrigenspiel des 18. Jahrhunderts, als Vorbotschaft heutiger „Coolness“ und taktisehen Kalküls im Umgang der Geschlechter zu deuten. Keine schwere Kost also, doch beileibe keine Leichtgewichte.

„Ich eröffne Ihnen mein Leben. Ich bin für die Bühne geboren…“ So beginnt Turrinis Text, den „Der Mann“ (Michael Maertens) praktisch im Alleingang bewältigt. So vieles wird er uns noch „eröffnen“: sein Glück und Unglück, sein Jauchzen und sein Krächzen zum Tode. Vor allem aber seinen Traum vom Theater. Hierzu führt er einen weißen Kasten mit sich, in dem sich eine verkleinerte Maschinerie verbirgt – samt goldener Souffleusen-Muschel und einem Pappkrönchen für den „König der Schauspieler“. Für diesen hält sich jener Mann, der zunächst Handys feilgeboten hat. Denn irgendwann hat er alle großen Rollen gespielt – vom „Faust“ bis zum „Hamlet“ und retour. Auch den „Jeeeedermann“-Drohruf des Todes hat er parat, wirklich zum Steinerweichen.

Gefangen ist er im engen Bühnen-Geviert. Später windet er sich gar in einer Zwangsjacke, doch immer wieder träumt er sich weit über derlei Bedrängnis hinaus. Aber, ach, das Leben löst die Träume nicht ein: Der „Arsch“ seiner Freundin erscheint ihm plötzlich viel zu breit. Die Trennung von ihr macht ihn „Herz-los“, später findet er (oh, Anspielung auf Haußmanns liebstes Bühnen-Emblem) ein „dreckiges Herz“ im Staube. Kaum hat sich ein einzelner Zuschauer darob ein „Buh“ abgerungen, so erweist sich die unzerstörbare Theater-Lebendigkeit des Organs. Es pulsiert und blutet noch.

Auch dieser Text pulsiert. Zwischen Schmerz und Groteske wirbelt er gar vieles vom Urgrund des Theaterdaseins auf. Das Theater scherzt mit sich selbst (mal wie eine Bierzeitung, mal subtil), es ist auch bestürzt über sich, scheint jedoch rettende Kräfte zu bergen. Und es ist viel mehr als ein Kabinettstück, was Michael Maertens dem abgewinnt. Von Comedy bis Tragödie, von gepresstem Frust bis zum haltlosen Jubel durchmisst er die Gefühls-Skala. Rasender Beifall. Das Publikum war im Handstreich gewonnen.

Sodann: „Triumph der Liebe“. Bei Kerzengeflacker war die Bühne anfangs so düster wie nur je in in der Steckel-Epoche des Hauses. Ratternd raste der Text dahin, als sei er abgespeichert und werde nur nur angeklickt. Doch das betraf die erotischen Finten. Sobald sich daraus Gefühle (oder deren Surrogate) ergeben, fließt die Rede schmeichelnd; bis zum illuminierten Schlussbild, das in ein fernes Märchenreich zu weisen scheint. Dieser Triumph der Liebe dürfte eine bloße Illusion sein, nur Widerhall der Wünsche.

Hier entsteht Tiefgang ganz von selbst

Leonida, Prinzessin von Sparta (herb sich gebende Entschlusskraft: Johanna Gastdorf), will das Herz des jungen Agis (Patrick Heyn) gewinnen. Einst raubte ihr Geschlecht dem Seinen den Thron. Sie muss nun seinen Sippen-Hass überwinden. Zudem muss sie in jene Einsiedelei vordringen, in der Agis vom Philosophen Hermokrates und dessen Schwester Leonine vor der Welt beschirmt wird.

Ergo: Sie hat, um ihr Ziel zu erreichen, diese beiden in sich verliebt zu machen. Umstellt von Lauschern, setzt sie die zittrige Mechanik der Täuschungen in Gang. Köstlich, wie jene Versteinerten, die noch nie geliebt haben, allmählich errötend zu hoffen wagen: der eitle Philosoph (Armin Rohde), die altjüngferliche Schwester (Margit Carstensen). Zwei wunderbare Darsteller!

Einmal wird Bernd Spiers Gassenhauer „Das kannst du mir nicht verbieten“ gesungen, dazu leuchtet ein Gemälde von Michelangelo auf. Doch derlei Überwürzung ist schon ein rarer Ausrutscher ins Spaßtheater. Insgesamt geht die Sache einen anderen Gang, wobei Tiefgang wie von selbst entsteht. Auch zeugt der Zugriff erlesene Gestalt: Patrick Schlösser arbeitet souverän mit Symmetrien und deren Auflösung im zuckenden Taumel, mit Licht- und Schattenwerten sowie fast filmischen Einblendungen.

Nochmals Jubel. Nehmt alles nur in allem: ein verdammt starker Auftakt in Bochum.

Termine: 27, 28. Okt, 2., 10., 11., 15. und 16. Nov. (Die Eröffnung); 26. Okt, 4., 8. und 9. Nov. (Triumph der Liebe). Karten: 02 34/3333-111.




Auf dem Karussell der Gefühle – Marivaux‘ „Die falsche Zofe“ in Essen

Von Bernd Berke

Die Komödien des Pierre Carlet de Marivaux sind in den letzten Jahren wieder in Mode gekommen. Der französische Rokoko-Dichter wurde als früher Kronzeuge für eine gleichermaßen verspielte wie eiskalte Mechanik der Gefühle herangezogen, Ähnlichkeiten mit heutigen „Beziehungen“ waren augenscheinlich.

Dass Marivaux ein Neuerer der italienischen Commedia dell’arte war, der diese Typenkomödie mit „Innenleben“ und fein gesponnener Psychologie anreicherte, geriet dabei in den Hintergrund. In Essen, wo jetzt Marivaux‘ Stück „Die falsche Zofe“ Premiere hatte, spielt man weder „Commedia“ noch Gefühlslabor, sondern einfach eine publikumswirksame Komödie, die mit leichtem Wort-Florett oft tiefer trifft als mancher verquälte Grübeltext.

Kurz zum Inhalt: Eine junge Dame aus Paris verkleidet sich als „Chevalier“, um in solch männlicher Gestalt das Gefühlsleben Lelios zu testen, der um sie freit, vor allem jedoch auf ihr Geld scharf ist, wie sich herausstellt. Als strahlender Jüngling mit Dreispitz und Degen gewinnt sie Lelios Freundschaft und entlockt ihm nach und nach die niederen Motive. Lelio stiftet den vermeintlichen Chevalier sogar an, die Gräfin in sich verliebt zu machen, damit er – Lelio – sich schadlos aus seiner Liason mit der Gräfin lösen und sich der weitaus reicheren Dame aus Paris zuwenden kann. Für zusätzlichen Schwung auf dem Karussell der Empfindungen sorgen die Diener der Hauptpersonen. Ein glückhaftes Ende gibt es nicht, keine Liebesverbindung kommt zustande: Alle waren auf Gewinn aus, am Ende sind sie betrogene Betrüger, jede(r) für sich allein.

In der Essener Aufführung (Regie: Herbert König) gibt es ein eindeutiges Opfer des Intrigenspiels, nämlich die Gräfin (Elisabeth Krejcir), die – ersichtlich nicht mehr in voller Jugendblüte – als einzige Person auf Liebesbezeigungen angewiesen zu sein scheint. So wird sie zum Spielball der anderen, weil sie Gefühle investiert. Immerhin denkbar wäre eine Inszenierung, in der auch die Gräfin zu den kühl berechnenden „Mitspielern“ zählt.

Brigitte Horn als Chevalier kann gut auf Stimmverstellung in Richtung Männerbaß verzichten. Sie spielt so frisch und frech, daß man ihr den kecken Jüngling, wüßte man’s nicht anders, beinahe abnimmt. Dietrich Adam als Lelio gibt einen gerissenen, aalglatten Vorteilsnehmer. Während Ulrich Wiggers als Chevalier-Diener Trivelin eine erdnahe Gestalt verkörpert, spielt Klaus von Mirbach in der köstlichen Paraderolle des Lelio-Bediensteten Arlequin einen naiven Luftikus, der sich immer wieder Schrammen auf dem Boden der Tatsachen holt.

Bühnenbildner Hans Brosch hat seine Phantasie-Produkte enorm ausbreiten dürfen. Die Spielfläche ist vollgestellt mit allerlei unpraktischen Aufbauten, die zwar optische Effekte erzielen, die Darsteller aber behindern. Dazu gehört auch die offenbar unvermeidliche Schräge, die die Schauspieler zu „Bergtouren“ nötigt.