Diktatur und Schnäppchen: „Aufregende Zeiten“ in der Türkei

Unerfindliches (Foto: Bernd Berke)

Unerfindliches (Foto: Bernd Berke)

Wusstet ihr schon Folgendes: „Die Türkei geht durch aufregende Zeiten“. Luft holen. Tief durchatmen.

Doch es nützt nichts. Man muss sich einfach aufregen. Da ich gestern zufällig den Wüterich Gernot Hassknecht („Heute-Show“) in Dortmund auf der Bühne gesehen habe, müsste man sich den nächsten Absatz im Brüllton vorstellen:

Da wird ein Land in die Diktatur getrieben, da werden Abertausende entlassen, drangsaliert oder eingesperrt, da droht die Einführung der Todesstrafe – und da findet jemand das alles „aufregend“? Wie verkommen kann man sein?

Jetzt fragt ihr euch vielleicht noch, in welchem Kontext das vorkommt?

Der unfassbare Satz steht heute in der FAZ-Sonntagszeitung (FAS), und zwar gleich im Vorspann eines Berichts über den türkischen Ferienimmobilien-Markt, auf dem nun das eine oder andere „Schnäppchen“ zu machen sei. Da ist man im allzeit investorenfreundlichen, aber längst nicht immer geschmackssicheren „Wohnen“-Teil des Blattes gleich freudig erregt.

Aus offenbar unerfindlichen Gründen ist die Zahl der deutschen und schwedischen Käufer jüngst zurückgegangen. Käufer aus Saudi-Arabien und anderen Ländern des Nahen Ostens springen freilich „in die Bresche“, wie es heißt. Und auch die reichen Russen kehren zurück. Über Menschenrechte machen die sich halt in der Regel nicht so einen Kopf.

Und so plätschert das Marktgeplänkel des FAS-Artikels weiter reichlich verantwortungslos dahin. Es speist sich wohl vornehmlich aus einer gepflegten Plauderei mit einer Geschäftsführerin des Edelmaklers Engel & Völkers im türkischen Bodrum. Der eine oder andere Ratschlag zum Einstieg gehört natürlich dazu.

Wie wohl deutsche Immobilien in den mittleren 1930er Jahren angepriesen worden sind? Manche sollen ja angeblich besonders preisgünstig gewesen sein. Aus unerfindlichen Gründen.

 




Denkwürdige Vokabeln (2): „Märkte“

„Märkte“, sie herrschen, sie beherrschen Schlagzeilen, sie haben die Macht, politisches Handeln zu steuern – nur, wer oder was sind diese „Märkte“, namentlich die Finanzmärkte?

Nun, erst einmal sind sie in der Mehrzahl, was einerseits den Vorteil hat, dass sie Überzahl signalisieren, weiterhin den Vorzug mit sich bringt, Anonymität zu heucheln.

Dann scheinen sie ebenso menschenleer zu sein wie seelenfrei. Sie haben nur ein wirklich signifikantes Merkmal: Sie sind ungemein empfindsam und reagieren postwendend auf ein wie auch immer geartetes menschliches Fingerschnippen.

Weiterhin scheinen diese „Märkte“ ein stillschweigendes gemeinsames Einverständnis zu haben, jeden gegen sie gerichteten Angriff, wo er auch auf der Welt von wem geführt wird, mit einem Tsunamigleichen inneren Beben zu beantworten, und zwar weltweit im Gleichschritt. Wohlgemerkt, dies alles geschieht offenbar ohne jedes menschliche Zutun – „Märkte“ sind autonom und ihre Reaktionen kommen Naturereignissen gleich.

Dass möglicherweise hinter diesen Märkten doch noch so ein Pole Poppenspäler, so ein Josef Ackermann in jeweiliger Landestracht stehen könnte, muss natürlich ausgeschlossen werden. „Märkte“ lassen sich nicht von Menschen lenken, sie sind gelenkt, dass sie Menschen lenken.

Stelle ich mir nur solche blöden Fragen und gebe mir Antwort, oder unternehmen das auch die Kolleginnen und Kollegen, die so unverdrossen veröffentlichen, dass die „Märkte“ mal wieder nervös werden? Sicher nicht durch mein Geschreibsel.

Ausschnitt aus den heutigen Finanzmarkt-Tabellen der FAZ (Bild: Berke)




Was soll das?

Man fragt sich das im Straßenverkehr, im Garten,

am Herd, an der Theke, vorm Fernseher,

im Bett, an der Tastatur, bei H&M,

in der Badewanne, im Café, an der Ampel…

Immer fragt man sich: was soll das?

Man liest die Zeitung: was soll das?

Man bohrt in der Nase: was soll das?

Zweifellos suchen wir nach Erklärung, manchmal nach Sinn.

Das kann man auch Bestandschutz nennen.

In einer dynamisierten Welt sehnen wir uns nach Schutz.

Wir zweifeln, ob wir das Tempo mithalten können…

Alles geht so rasant.

Das Diktat der Rasanz.

Wir hecheln hinterher, bitten um Zeit, bitten um Gnade.

Aber es gibt keine Gnade, sagt man uns.

Wir seien auf dem freien Markt und hätten den Richtlinien zu folgen.

Hart müssten wir sein, hart zu jedermann & jeder Frau.

Alles Konkurrenten.

Auch Kinder.

Für den Erfolg werden auch Kinder getötet.

Das senkt die Preise und wir nennen es Fortschritt.

Immer reden wir von Aufschwung.

Alle schwingen sich auf, so sagt man.

Von denen, die untergehen, redet man nicht.

Die lässt man einfach absaufen, in rostige Nägel treten

oder man lässt einfach die Bahnschranke oben,

wenn der nächste Zug kommt.

„Ups, Herr Kollege ! Pech gehabt!“

Alle auf der Suche nach dem Platz an der Sonne.

Ja, ob es denn am freien Markt keine Wärme gibt? – so fragt man den Marktleiter.

Wärme würde nur träge machen, antwortet er.

Er hat ein glattes Gesicht und eine sehr markante Aussprache.

Er ist zweifelsfrei.

Der Marktleiter kennt keine Zweifel.

Was für ein Mensch!

Man fragt sich – er ist doch ein Mensch, oder?

Und wenn er keiner wäre, der Herr Marktleiter,

dann fragt man sich, was soll das?

Was soll diese Unmenschlichkeit – diese Gnadenlosigkeit?

Wie wird so ein Mensch – also falls er einer ist – ein Leiter,

ein Herdenführer, ein Vorbild, ein Anweiser, ein Entlasser…

ein mieser, ganz mieser Clown?

Wer hat ihn berufen?

Wie gelangte er zur Ehre?

Worin besteht sein Verdienst?

Fragen. Immer wieder diese Fragen.

Und dann muss man tippen.

Man meint, man müsse tippen.

Es kann doch nicht angehen, dass die deutsche Literatur ständig schweigt,

sich auf Herrn Grass verlässt.

Wie lange lebt der noch?

Und was ist mit der schreibenden Jugend,

diese jungen Autoren – Deutschlands geistige Zukunft?

Das Hegemann-Syndrom.

Im Abschreiben: Note 1

Na, das war aber billig und sowas von glänzend in den Gazetten,

dass man nur staunen konnte.

Über sowas staunt man heute.

Da fragt man sich, wie ist sowas möglich…?

Aber irgendwann hören die Fragen auf.

Man hat tausende von Runden gedreht,

wie ein Läufer im Stadion.

Man hat geschwitzt, man hat gehechelt, man ist gerannt.

Man dachte, man könnte nicht mehr.

Alles tat einem weh.

Die Luft wurde knapp.

Aber man schrieb weiter.

Irgendwann hatte man dann die Ziellinie im Blick…

Jetzt musste man nur noch durchhalten.

Aber das war leichter gesagt als getan…

P.S. Spenden Sie für diesen Text und retten Sie einem „freien“ Autor das Leben !

Morgen können Sie dann wieder Frösche & Singvögel retten.

Der Autor dankt

Stefan Dernbach ( LiteraTour )




Lesen als „Gehirn-Jogging“ gegen die Flut der Bilder – Frankfurter Buchmesse: Branche in der Defensive

Aus Frankfurt berichtet
Bernd Berke

Frankfurt. „Zum Wachstum verdammt“ – so sieht Messedirektor Peter Weidhaas die Frankfurter Buchmesse, die heute zum 37. Mal ihre Pforten öffnet und natürlich wieder mit neuen Rekordzahlen aufwartet. 6598 Verlage aus 77 Ländern präsentieren bis zum 14. Oktober 320000 Titel, davon über 90000 Neuerscheinungen.

Trotz der imponierenden Zahlen: Das Buch ist ganz offenkundig arg in die Defensive geraten. Daher wird unter anderem erstmals ein „Zentrum Leseförderung“ als „Antwort auf die neuen Medien“ eingerichtet, wie es Günther Christiansen, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, gestern bei der Eröffnungspressekonferenz formulierte. In der „Leseförderungs“-Zeltstadt sollen rund 40 einschlägige Initiativen (von „Das lesende Klassenzimmer“ bis zum Zeitungsverlegerverband) fürs Lesen aktiv werden. Eine „Zweiklassengesellschaft“ von Lesern und Nichtlesern, so befürchtet Ulrich Wechsler, Aufsichtsratsvorsitzender der Messegesellschaft, könnte heraufdämmern, wenn nicht aktiver für das Buch geworben werde. Wechsler empfahl das Lesen als „Gehirn-Jogging“, mit dem man Herrschaft über die allgegenwärtige Bilderflut erlangen könne.

Verlage wollen den Markt sichern

Eher vorsichtig gab sich Günther Christiansen. Zwar wolle man es nicht „bei apokalyptischen Tönen bewenden lassen“, doch, so gestand er zu,  es gehe nunmehr um die „existentielle Zukunft“ der Verlage und des Buchhandels sowie um „Marktsicherung“. Umsatzzuwächse von rund sechs Prozent in den ersten acht Monaten dieses Jähres geben allerdings Anlaß zu vorsichtigem Optimismus.

„Man stelle sich vor, über die Bildschirme würde nur die Realität flimmern!“ Mit diesen Worten unterstrich Bundeswirtschaftsminister Martin Bangemann gestern Abend die Bedeutung der Kultur in seiner Eröffnungsansprache zur Buchmesse. Kultur als Realitätsflucht? Das denn doch nicht. Das Buch, so Bangemann, helfe vor allem, den „technischen Fortschritt auch geistig“ zu bewältigen. Und: „Ein Wirtschaftsminister darf sich den kulturellen Werten und Strömungen nicht entziehen, Kunst und Kultur einerseits, Wirtschaft andererseits erhalten und beleben sich wechselseitig.“ Gleichzeitig sprach sich Bangemann allerdings für eine stärkere Förderung der europäischen audiovisuellen Programmindustrie aus. Ob die Buchmesse dafür der rechte Anlaß ist, sei dahingestellt.

Recht deutlich schälen sich schon bei einem flüchtigen ersten Messerundgang Trends heraus: Bücher zum 150. Eisenbahnjubiläum, zum Jahr der Musik und – wohl ein längerfristiger Trend – zu den Schönheiten deutscher Landschaften werdenbesonders auffällig postiert. Weiterhin bemerkenswert: Video wird nur noch sehr dezent als Präsentationshilfe eingesetzt, beziehungsweise fällt es kaum noch als Fremdkörper auf.

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Kommentar

Die Angst der Verlage vor den bunten Bildern

Lesen – egal, was?

Buchhandel und Verlage gehen in Abwehrstellung gegen die immer größere elektronische Bilderflut. Kassandra-Rufe über den Zerfall der Lesekultur gehören zwar seit jeher zum kulturkritischen Begleitprogramm der Buchmesse. Jetzt aber scheint es nicht mehr um feinsinnige Auseinandersetzungen zu gehen, sondern schlicht und einfach „ums Eingemachte“. Eine wirkliche Angst vor übermächtiger Konkurrenz durch Fernsehen und Video ist spürbar.

Auffallend ist, daß nun gar nicht mehr eine bestimmte Lesekultur gefordert wird, sondern Lesen überhaupt und in jeder Form. Das zeugt sicher von größerem Realismus und Pragmatismus. Man will eben niemandem vorschreiben, was Niveau zu sein hat. Es zeugt aber wohl auch von der Defensive, in die die Buchmacher und Verkäufer geraten sind.

Von „Marktsicherung“ ist die Rede, also von dem, was am Markt noch durchsetzbar ist. Eine durchweg solide, vielleicht konservative Position, die von Inhalten absehen zu können glaubt. Dabei kommt es, so könnte man entgegenhalten doch auch ein bißchen darauf an, welche Bücher gelesen werden. Wichtig ist nicht nur, d a ß, sondern auch w i e man mit ihnen umgeht.

Bernd Berke, z. Z. Frankfurt