All der furchtbare Kleinkram des Lebens – Marlene Streeruwitz‘ Roman „Verführungen“

Von Bernd Berke

Eine unerbittliche Beobachterin schleichend katastrophaler Verhältnisse zumal zwischen den Geschlechtern ist Marlene Streeruwitz. In Theaterstücken wie „Waikiki Beach“ und „Sloane Square“ hat die österreichische Autorin dies auf beunruhigende Art bewiesen. Nun gibt es ihren Roman „Verführungen“. Und der ist nicht nur stilistisch ein Ereignis.

Typisches Zitat: „Der Tierarzt bestand nicht mehr auf Einschläfern. Frau Sprecher war glücklich. Der Kater hatte Leberkrebs. – Die Kinder hatten Osterferien. Hélène hatte nicht frei. Ihre Schwester wollte Barbara ins Waldviertel mitnehmen. Zu Bekannten. Mit Kindern. Auf einen Bauernhof.“

Stakkato aus atemlosen Sätzen

In einem solchen Stakkato äußerst knapper, atemloser Sätze oder Satzfetzen ist praktisch der ganze Roman verfaßt. Was auf den ersten Seiten noch gewöhnungsbedürftig ist oder gar etwas unbeholfen wirken mag, erweist sich mit wachsender Lesestrecke als angemessenes Kunstmittel. Denn Marlene Streeruwitz schildert den allmählich zerbröselnden Alltag einer alleinerziehenden Frau mit zwei Töchtern. Diese Wienerin namens Hélène gerät tatsächlich zusehends außer Atem. Und sie erleidet ihr Unglück wie in gestochen scharfen Einzelbildern und Nahaufnahmen.

Der ganze Kleinkram ihres Lebens türmt sich angsterregend auf. Einzelteile des anschwellenden Unglücks: Der ziemlich miese „Mädchen-für-alles“-Job in einem etwas zwielichtigen Werbebüro, das sich für obskure Heilmittel stark macht. Der ständige Ärger mit dem Macho-Chef, mit der fiesen Schwiegermutter. Die unabweisbaren Bedürfnisse der Kinder. Die daraus entspringende Zeitnot. Die Erinnerungen an den Vater, der Hélène geschlagen hat. Das nur noch haßerfüllte Verhältnis zum Ehemann, der Hélène verlassen hat und keinen Schilling herausrücken will. Die finanzielle Bedrängnis.

Ein angeblicher Pianist als Phantom

Und schließlich Helenes Sehnsucht nach Geborgenheit. Von Zeit zu Zeit trifft sich sich mit einem Schweden, angeblich Pianist mit Tournee-Verpflichtungen (den sie aber nie am Klavier zu Gesicht bekommt), der von großer Liebe redet, sich ihr freilich immer wieder wochenlang ins Unerreichbare entzieht, plötzlich doch wieder fordernd auf der Türschwelle steht und dann erneut nach Italien abtaucht. Ein Phantom.

All diese Verletzungen nimmt der Roman mit gnadenloser Präzision unter die Lupe, er zeigt sozusagen jeden Haarriss. So wird ein vermeintlich „gewöhnliches“ Leben buchstäblich bemerkenswert.

Die Menetekel mehren sich

Was der Handlung zudem Spannung verleiht: Es kommt, kaum unterbrochen von seltenen Glücksaufwallungen, eine immer bedrohlichere Stimmung auf; es mehren sich die Menetekel: Helenes Freundin kollabiert im Tablettenrausch, Ex-Ehemann Gregor entwickelt gefährlichen Jähzorn. Mal denkt die so vielfach heimgesuchte Hélène an Selbstmord, dann hegt sie nach außen gerichtete Gewalt-Phantasien. Auch dies – neben der sexuellen Lust – meint der Titel „Verführungen“.

Es herrscht in dem Buch eine ungeheure, stets sprungbereite Wachsamkeit gegen kleinste Anzeichen männlicher Machtausübung. Doch zum einen sind diese Passagen oft mit erschreckender Folgerichtigkeit entwickelt, und zum anderen gelangt Marlene Streeruwitz weit über begrenzt feministische Positionen hinaus. Sie spricht vom Glück, das allen Menschen zusteht.

Marlene Streeruwitz: „Verführungen“. Roman. Suhrkamp-Verlag. 295 Seiten. 38 DM.




Das Abendland endet auf dem Herrenklo – Dramen von Marlene Streeruwitz und Volker Braun bei „Stücke ’93“

Von Bernd Berke

Mülheim. Es war fast wie im Fußballstadion, wenn die eigene Elf gar nichts zustande bringt. „Aufhören-Aufhören!“-Rufe dröhnten durch die Mülheimer Stadthalle, etwa ein Viertel des Publikums suchte während der Darbietung das Weite. Marlene Streeruwitz‘ Drama „New York. New York.“ lag beim Wettbewerb „Stücke ’93“ am Rande des Theaterskandals.

Schauplatz ist eine Wiener Herrentoilette, in die auch zahlreiche Damen strömen. Das Personal besteht vornehmlich aus Nutten, Strichern und anderen Gestrandeten. Wir werden Zeugen ungebrochener Gewalt. Da schlägt etwa der Zuhälter eine Dirne blutig. Anschließend vergreifen sich andere Toilettenbesucher an ihr und schleifen die Schwerverletzte halbnackt über die Bühne. Dann taucht eine japanische Reisegruppe auf. Eigentlich wollen sie ja das historische Klo besichtigen, auf dem schon Kaiser Franz Joseph huldvoll seine Notdurft verrichtet haben soll. Doch dann nutzen sie wieselnd die Gelegenheit und fotografieren die Mißhandlung der Frau.

In diesem Stile geht es zwei pausenlose Stunden lang weiter. Jens-Daniel Herzogs Inszenierung (Münchner Kammerspiele) führt nur bizarre Zustände am Rande der Gesellschaft vor Augen, verweigert jederlei Sinngebung. Wie im abgedroschensten naturalistischen Drama wird alles in quälender Echtzeit durchlitten. Auch wenn die alte Toilettenfrau Horvath (Heide von Strombeck), die bei all dem Geschehen strickend dasitzt wie eine Höllenwächterin, einmal die Emailschüsseln reinigt, sehen wir das ungekürzt.

Welche Kultur-Mafia steckt wohl dahinter?

Irgendwann denkt man: Welche Kultur-Mafia hat nur dieses Werk in die Auswahl zum besten Stück des Jahres bugsiert? Natürlich sollte man sich an diesem Punkt sogleich selbstkritisch fragen, woher das Unbehagen kommt. Liegt’s daran, daß man so hilflos im Sessel sitzt, jeglicher Gewalt optisch ausgeliefert? Und warum erträgt man Abbilder der Realität in den Fernsehnachrichten so viel kühler?

Doch derlei Gedanken machen das jammervolle Abort-Stück, das aus unerfindlichen Gründen mit Mythen aus Antike und Hollywood-Kino durchsetzt ist, kaum besser. Diese Mythen werden mit in den apokalyptischen Orkus gezogen: Spülung betätigen und weg mit dem ganzen Abendland. Wenn denn Marlene Streeruwitz als große Hoffnung des deutschsprachigen Theaters gilt, so lasset uns verzagen!

Theater auf dein Rückzug – das gilt auch für Volker Brauns „Iphigenie in Freiheit“. Der Ex-DDR-Autor trauert dem zweiten deutschen Staat oder einer verbesserten Neuauflage desselben nach. Er verdeutlicht seine Resignation in einem Kalauer: „Wir sind das Volk“ habe es einst geheißen, jetzt nur noch: „Ich bin Volker.“ Rette sich, wer kann – vor der Wiedervereinigung. Doch da ist keine Rettung, nur Vereinzelung; so auch bei jener Iphigenie, die gleichsam an den Westen verhökert wird und darüber bittere Klage erhebt.

Das Staatstheater Cottbus (Regie: Karlheinz Liefers) müht sich, den wie eine Ursuppe wirkenden Text zu gliedern. Die Chorpassagen erinnern in ihrem Stakkato an Agitprop. Doch das Ensemble steht auch für individuelle Sprechkultur. Trotzdem: Viel mehr, als diesen an der Bühne vorbei geschriebenen Text zu Gehör zu bringen, vermag man nicht.

Nun folgen beim Mülheimer Wettbewerb noch Stücke von Peter Handke, Dea Loher und Rainald Götz. Hoffen wir also darauf.